Leseprobe – Das goldene Buch der Fußball-Weltmeisterschaft

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D A S

G O L D E N E

B U C H

FUSSBALL

D E R

WELTMEISTERSCHAFT

mit

WM-Sie g

2014

VERLAG DIE WERKSTATT


INHALT Im Zeitgeist: Die WM-Plakate

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6

1930 Uruguay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

Premiere in Übersee (Bernd-M. Beyer) . . . . . . . . . . . . . . . 10 Südamerikanische Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 José Leandro Andrade, das »schwarze Wunder« . . . . . . . 24

1934 Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

Fritz Walter, der verlegene Sieger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Was den Ungarn geschah . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 1958 Schweden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

Die magische Formel 4-2-4 (Matti Lieske) . . . . . . . . . . . . 108 Ein beleidigter Titelverteidiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 Garrincha, der tanzende König . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

Sieg für Italien, Erfolg für Mussolinis Faschismus (Matthias Marschik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Italien und seine Argentinier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Giampiero Combi, Frantisek Plánicka, Ricardo Zamora Drei Große zwischen den Pfosten . . . . . . . . . . . . . . . . 40

1962 Chile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

Magisch: Die Turnierbälle der Fußball-Weltmeisterschaften

Ramseys Geheimstrategie (Jonathan Wilson) . . . . . . . . . 146 Das Wembley-Tor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Gentleman am Ball: Sir Robert »Bobby« Charlton . . . . 162

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1938 Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

6 + 5 Freunde müsst ihr sein (David Forster / Georg Spitaler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Ernst Willimowski, der »größte aller Torjäger« . . . . . . . . 58 Die FIFA, die Nazis und die WM 1942 . . . . . . . . . . . . . . . 60

1950 Brasilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

Das brasilianische Trauma (Martin Curi) . . . . . . . . . . . . . 64 Brasiliens Torwart-Drama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Harmlose Löwen – Die englischen WM-Pleiten . . . . . . . 76

Fußball brutal (Hardy Grüne) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Lew Jaschin, die freundliche Krake . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Deutsche »Legionäre« auf dem Weg zur WM . . . . . . . . 140

1966 England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

1970 Mexiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164

Die größte Legende der WM-Geschichte (Ludger Schulze) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Pelé, der Fußballer des Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Emanuel Schaffers langer Weg zur WM . . . . . . . . . . . . . 182

1974 Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

78

Die niederländische Revolution (David Winner) . . . . . . 186 Der Kaiser und der König . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 João Havelange und Joseph Blatter: Herrscher im »größten Land der Welt« . . . . . . . . . . 205

1954 Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

1978 Argentinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

Begehrt: Die WM-Endspieltickets

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Ein Favorit wird gestürzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 Ein Wunder zur rechten Zeit (Arthur Heinrich) . . . . . . . . 90

Fußball, Folter, Schiebung (Dietrich Schulze-Marmeling)

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Die Wunden von Córdoba . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 César Luis Menotti – Gegen die »Diktatur der Taktik« . . . . . . . . . . . . . . . . 222 1982 Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

Gerissenheit siegt (Hardy Grüne) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 El gran fracaso – Die Misere des spanischen Fußballs . . . . . . . . . . . . . 238 Michel Platini – Der Champagner-Fußballer . . . . . . . . . 242

1986 Mexiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

Maradonas Gala (Christoph Bausenwein) . . . . . . . . . . . . 246 Diego, der ewige Spieler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Die DDR und die WM – Eine Geschichte des Scheiterns . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

1990 Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

Die Tränen des Paul Gascoigne (Ulrich Hesse) . . . . . . . . 264 Roger Milla, der tanzende Torjäger . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 Globalisierte Weltmeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

1994 USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

Fußball in der Neuen Welt (Markus Hesselmann) . . . . . 284 Die Lothar-Matthäus-Passion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Schlechtes Finale, verdienter Sieger . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Die Ermordung des Andrés Escobar . . . . . . . . . . . . . . . . 300

1998 Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

Triumph für »Black - Blanc - Beur« (Harald Kaiser) . . . . 304 Ronaldos wahre Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Die Bluttat von Lens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320

2002 Japan und Südkorea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

Fernöstliche Entdeckungen (Christoph Biermann) . . . . 324 Afrika und Asien – ewige Außenseiter . . . . . . . . . . . . . . . 334 Kahn und Co. – Die Hüter des deutschen Tores . . . . . . 338 2006 Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Deutschland, ein Sommermärchen (Christof Siemes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Zinedine Zidane: mal »Yaz«, mal »Zizou« . . . . . . . . . . . . 362 Weltstars, die keine WM-Stars wurden . . . . . . . . . . . . . . 364 2010 Südafrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368

Catenaccio – aber offensiv (Dietrich Schulze-Marmeling) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 Joachim Löw, der Fußball-Ästhet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Iker Casillas und Xavi Hernández – Ein Mann aus Móstoles und ein Fußball-Romantiker . . . . . . . 388 2014 Brasilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392

Ein höflicher Weltmeister (Ronald Reng) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 Neymar, der letzte Brasilianer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Caipirinha verboten. Wie die FIFA das WM-Turnier diktiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 »People’s Game« – Ein Epilog

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Anhang

Turnierstatistiken 1930 bis 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 Länder- und Turniervergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Rekordlisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 Herausgeber und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 Impressum und Fotonachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450


»O Rei«, der »König«, bei seiner wichtigsten Krönungsmesse: In berauschender Manier gewann Pelé mit der Seleção im Azteken-Stadion seinen dritten Weltmeistertitel.


1970 MEXIKO


Das Halbfinale Deutschland gegen Italien gilt als eine der besten und dramatischsten Partien in der Geschichte der FußballWeltmeisterschaften. Deutschland kann in der 90. Minute zum 1:1 ausgleichen und scheint nach Müllers Tor zum 2:1 in der Verlängerung auf der Siegerstraße. Wenig später jedoch, in der 99. Minute, erzielt Tarcisio Burgnich das 2:2, das Sepp Maier, Berti Vogts und Siggi Held (im Foto von links) nicht verhindern können. Dann geht es Schlag auf Schlag: 2:3 durch Riva, 3:3 durch Müller, nur eine Minute später das 3:4 durch Rivera. Nach großem Spiel hat Deutschland das Endspiel verpasst.


1970 167


168 1970

Weltmeister: Brasilien | 2. Italien | 3. Deutschland

Ludger Schulze

DIE GRÖSSTE LEGENDE DER WM-GESCHICHTE E

nes, mit dessen Namen heute Amtsmissbrauch, Korruption und Vetternwirtschaft verbunden sind. Guillermo Canedo war leitender Angestellter beim Medienkonzern Televisa, einem der einflussreichsten Unternehmen Lateinamerikas, El Estadio Azteca, rinde homenaje a las selecciones de: Chef des mexikanischen Fußballverbandes und VizepräsiItalia (4) y Alemania (3) dent des Weltverbandes FIFA. Die beiden, Ramirez und CaProtagonistas en el Mundial de 1970, nedo, hatten viel gemeinsam: Geschäftsinteressen, Profitdel »Partido del siglo« 17 de Junio de 1970. gier, einflussreiche Amigos und eine verblüffende Vielzahl Zu Deutsch: »Das Azteken-Stadion erweist den National- von nebenberuflichen Tätigkeiten. Und selbstverständlich mannschaften Italiens (4) und Deutschlands (3), Hauptdar- gehörten beide zu den entschiedensten Parteigängern der PRI, der »Partei der Institutionalisierten Revolution«, die stellern des ›Jahrhundertspiels‹ vom 17. Juni 1970 bei der sich seit 1929 ununterbrochen an der Macht gehalten hatte. Weltmeisterschaft, die Ehre.« Dieser Satz ist die auf Stein verewigte Verneigung vor einem denkwürdigen Fußball- Wenn’s sein musste, auch mit Waffengewalt, wie im Oktospiel, das viele, die es sehen durften, für das beste halten, ber 1968, als sie mit Gewehren auf demonstrierende Studenten schießen ließ. 200 bis 300 wehrlose junge Menschen das je gespielt wurde. Und das bei einer WM, die viele, die kamen bei diesem »Massaker von Tlatelolco« ums Leben, sie miterleben durften, für die beste halten, die je stattfand. Tausende wurden eingesperrt, nur weil sie Dies ist, wie vieles im Fußball, Ermesnach demokratischen Verhältnissen riefen. senssache. Sicher hingegen ist, dass dem »Ein farbenfrohes Davon hielten Ramirez und Canedo herzTurnier von 1970 in Mexiko eine besonders Spektakel in einem lich wenig, von einträglichen Geschäften glanzvolle Rolle zukommt. Auf die beiden vor Lebenslust wiederum sehr viel. Mit Hilfe der Staatsvorhergegangenen Turniere, die – von glovibrierenden Land« partei trieben sie früh in den 1960er Jahren riosen Ausnahmen wie dem 66er Endspiel die Errichtung eines monumentalen Stazwischen England und Deutschland abgesehen – eher ein globales Krisentreffen von Betonköpfen, dions in Mexiko-City voran. Diese Arena, die sie AztekenTaktikstalinisten und Knochenpolierern gewesen waren, Stadion nannten, sollte das Fundament werden, auf dem sie folgte die Erlösung und die Rückkehr zum schönen Fußball. ihren Traum von Macht und Reichtum gründen wollten. Die Mundial wurde zum farbenfrohen Spektakel in einem Den offiziellen Architekten-Wettbewerb gewann, welch vor Stolz und Lebenslust vibrierenden Land, zum Festival Überraschung, der Star-Architekt Pedro Ramirez. Canedos der Spielfreude, getragen von Mannschaften, die ihre vor- Televisa war von Anfang an mit im Boot, der Club America, nehmliche Pflicht in der beschwingten Jagd nach Toren sa- der FC Bayern Mexikos, trägt bis heute seine Heimspiele hen und nicht in deren Verhinderung. Bevor die WM jedoch dort aus; der Verein ist im Besitz von Televisa, wie auch zahlihre sportliche Pracht entfalten konnte, wurde sie in ein La- reiche Fernsehsender und Zeitungen in ganz Lateinamerika. byrinth von Kommerz und Selbstbereicherung geschickt. Das Azteken-Stadion war schon vor dem ersten Spatenstich eine Goldgrube, es sollte nicht nur 105.000 Zuschauern Platz edro Ramirez Vazquez war ein bekannter Architekt, bieten, sondern auch den schwerreichen Besitzern von 631 mexikanisches Mitglied des Internationalen Olym- Logen samt deren Freunden und Firmenpartnern. Diese Logen wurden für den seinerzeit beträchtlichen Preis von rund pischen Komitees und enger Freund des brasilianischen Fußballverbands-Präsidenten João Havelange, eines Man- 50.000 DM für 99 Jahre verpachtet. Dank dieser fulminaninige Zeit nach der WM hat man an der Mauer des Azteken-Stadions eine bronzene Tafel angebracht. Darauf steht geschrieben:

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ten Geschäftsidee, die später weltweit kopiert wurde, hatten Ramirez und Canedo genug Geld beisammen, um ihr Prestigeprojekt sorglos in Angriff zu nehmen. Nachdem Mexiko bereits den Zuschlag für Olympia 1968 erhalten hatte, bewarb sich das Land auch um die Ausrichtung der Fußball-WM zwei Jahre später. Aussichtslos, urteilten die Kenner, zwei Welt-Sportfeste in so kurzer Zeit bekomme kein Land der Erde, und erst recht keines, das eher zu den Entwicklungs- als zu den führenden Industrienationen zählte. Canedo focht dies nicht an. Beim Wahlkongress im Oktober 1964 in Tokio betrieb er eine so penetrante und ausgekochte Lobbyarbeit, wie sie in den bis dahin eher distinguierten FIFA-Kreisen unbekannt war. In Hinterzimmergesprächen, notfalls mit kleineren Aufmerksamkeiten oder größeren Geschenken wurden Wackelwähler auf den rechten Kurs getrimmt, ein einziges Schmierentheater, berichteten Beobachter. Am Ende triumphierte Mexiko mit 56 gegen 32 Stimmen über den haushohen Favoriten Argentinien. FIFA-Präsident Sir Stanley Rous aus good old England war entsetzt über diese Verstöße gegen Fairplay und gute Sitten. Vier Jahre später war der wackere Brite noch entsetzter, als ihn Nachfolger Havelange und die Latino-Amigos um Canedo aus dem Amt katapultierten. Eines der wichtigsten Argumente der mexikanischen Bewerbung war die Verheißung einer richtigen Fernseh-WM

gewesen. Erstmals sollten die Spiele live und in Farbe übertragen werden – von Televisa versteht sich. Die Verhandlungsgespräche zwischen dem Fußball-Weltverband und dem Medienkonzern fanden in prächtigem Einvernehmen statt; kein Wunder, denn im Prinzip saß dem TelevisaUnternehmer Guillermo Canedo ein guter, alter Bekannter auf der FIFA-Funktionärsseite gegenüber – ein Mann mit Namen Guillermo Canedo nämlich. Der Einfachheit halber hatte dieser auch die dritte Spitze im Macht-Dreieck eingenommen, er war inzwischen auch Chef des örtlichen WM-Organisationskomitees geworden. So lag alles in einer Hand, und die Millionen dürften verlässlich von einer Jackentasche in die andere gewandert sein.

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anedo und Ramirez waren die Begründer einer beispiellosen Selbstbedienungsmentalität, die mit den Jahren vielen Sportverbänden, vor allem aber der FIFA ein hässliches Gesicht verlieh. Doch Mexiko ’70 symbolisiert nicht nur die Wandlung des bis dahin halbwegs unschuldigen, weitgehend zweck- und reklamefreien Sportfests Fußball-WM in eine Gelddruckmaschine, die ihren Profit für

Seine Entstehungsgeschichte ist nicht frei von Merkwürdigkeiten: das Azteken-Stadion, hier am Tag des Endspiels.


Spiele um zwölf Uhr mittags angesetzt, damit sie zur besten abendlichen Sendezeit in Europa über die Schirme flimmerten. High noon im Backofen – vorsätzlich wurde hier die Gesundheit der Kicker für die Geschäftsinteressen von Canedo und Konsorten aufs Spiel gesetzt.

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Eine spielstarke deutsche Mannschaft setzt in Mexiko einige Glanzlichter. Dazu zählt auch der fabelhafte Auftritt von Reinhard »Stan« Libuda gegen Bulgarien.

Wirtschaft, Werbung, Fernsehen und auch Fußballer ausspuckte. Abseits der einsetzenden Kommerzschlacht bot Mexiko Fußball auf höchstem Niveau, durchaus auch im Wortsinn. Denn schon vor Olympia ’68 hatten Skeptiker vor der Höhenlage und der dünnen, sauerstoffarmen Luft gewarnt, die besonders Ausdauersportlern schwer zu schaffen mache. Den britischen Experten und früheren MeilenWeltrekordler Roger Bannister plagten Horrorvisionen von Athleten, die wie die Fliegen umfielen: »Der Tod läuft mit«, unkte er, doch es kam nur halb so wild. Freilich, die Zeiten von Dauerläufern und Schwimmern fielen deutlich schwächer aus als im Flachland. Vielleicht hat gerade dieser Umstand die Leistungen beim Fußballturnier zwei Jahre später begünstigt. Denn in Mexiko City (2.240 m) oder Toluca (2.680 m) war es ratsam, den Ball laufen zu lassen, statt selber kopflos zu rennen, Fußball zu spielen, statt zu arbeiten. Doch nicht die Höhe setzte den Kickern schließlich am meisten zu, »die Hitze ist ein viel größeres Problem«, stöhnte der deutsche Kapitän Uwe Seeler. Mittags klettert das Thermometer in Mexiko gerne mal auf 40 Grad und mehr, in der prallen Sonne hat es dann zwischen 50 und 60 Grad, Mensch und Tier pflegen sich zur Siesta zu verkriechen. Die FIFA aber jagte die Spieler hinaus in die Glut, denn auf Wunsch von Televisa wurden wichtige

m Viertelfinale gegen Englands Team mussten auch die Deutschen an die Grenze menschlicher Leistungsfähigkeit gehen. Sie vollbrachten das »Wunder von León«, ein, wie alle dachten, nicht zu überbietendes Drama gegen England. Das hatten die mit dem Adler auf der Brust nach scheinbar hoffnungslosem 0:2-Rückstand noch gedreht und in der Verlängerung zu einem 3:2 vergoldet. »Eines der größten Spiele, die eine deutsche Nationalmannschaft je gespielt hat«, schwärmte Bundestrainer Schön. Mannschaftsarzt Prof. Schoberth aber warnte nach der kräftezehrenden Aufholjagd: »Die Mannschaft ist ausgeblutet.« Nur drei Tage später wurde sie ins Halbfinale gegen Italien gejagt. Wieder reichten 90 Minuten nicht, um einen Sieger zu ermitteln, erneut mussten die Deutschen ein ganzes Spiel plus Verlängerung rennen, so weit die Füße trugen. Die Partie im Azteken-Stadion stellte den Thriller von León noch in den Schatten und ließ das Wunder fast zu einer Randnotiz werden. Beide Teams taumelten am Ende wie in Trance über den Rasen, aber ihre Kräfte hatten gereicht, die größte Legende der WM-Geschichte zu schaffen. »Es ist unmöglich, dass sich etwas Derartiges wiederholt«, schrieb atemlos eine mexikanische Zeitung, »120 Minuten konzentrierter Fußball, Drama, Kunst, Kraft, Hysterie, alles!«. Eigentlich eine schamlose Übertreibung, denn in der regulären Spielzeit geschah lange Zeit herzlich wenig. Nach Roberto Boninsegnas frühem Führungstor (7.) beendeten die Italiener ihre Offensivbemühungen und verrammelten ihren Strafraum wie Hausbesitzer das Eigenheim vor dem Hochwasser. Dagegen stürmten die Deutschen vergeblich an. Einerseits, weil sie herrlichste Chancen vergaben, darunter zwei Lattentreffer von Spielmacher Wolfgang Overath und Seeler; aber viel mehr noch, weil die Azzurri mit einem Mann mehr spielten. So sahen es zumindest die Deutschen. Tatsächlich fielen etliche Entscheidungen des mexikanischen Schiedsrichters Arturo Yamasaki eher skurril aus. Franz Beckenbauer nannte die Leistung des Referees sogar »ein Verbrechen, jawoll – ein Verbrechen«. Zweimal war der überragende Mann in Reihen der Deutschen selbst betroffen. Einmal verweigerte ihm der Referee einen Elfmeter, ebenso wie später Uwe Seeler, und ein übles, aber von Yamasaki nicht weiter moniertes Foul von Pierluigi Cera degradierte den Mittelfeld-Hauptdarsteller von der 65. Minute an zum Statisten. Dabei stürzte Beckenbauer so heftig auf seine Schulter, dass sein rechter Arm mit einem Verband eng am Oberkörper fixiert werden musste. Schmerzgeplagt hielt er durch bis zum bitteren Ende, ein »verwun-


Halbfinale Deutschland gegen Italien: Kurz vor Ablauf der regulären Spielzeit erzwingt Karl-Heinz Schnellinger mit seinem Tor zum 1:1 die Verlängerung (Foto oben). Unter der glühenden Hitze – es herrschen rund 50 Grad im AztekenStadion – haben alle Spieler zu leiden, Franz Beckenbauer zudem unter einer schmerzhaften Schulterverletzung. Mannschaftsarzt Hans Schoberth und Masseur Erich Deuser leisten Beistand: mit einem Verband für den Kaiser sowie feuchten Tüchern für Seeler, Vogts und die anderen.

deter, besiegter, aber stolzer preußischer Offizier« – wie der »Evening Standard« pathetisch schrieb. Ohne Beckenbauer waren die Deutschen verloren, aber das wussten sie in diesem Moment noch nicht. Als bereits die vierte Minute der Nachspielzeit angebrochen war und alle Hoffnungen wie durch eine Sanduhr gerieselt waren, machte sich der Verteidiger Karl-Heinz Schnellinger auf den Weg und überquerte die Mittellinie, eine Region, die normalerweise nicht zu seinem Arbeitsumfeld gehörte. »Ich hab die Stadionuhr gesehen, ein Riesending«, erzählte Karl-Heinz Schnellinger später, »die Zeit war abgelaufen, der letzte Angriff. Ich dachte mir, was willste noch hinten?« Und just als er am Fünfmeter-Raum angekommen war, senkte sich die Flanke von Jürgen Grabowski punktgenau auf seinen rechten Fuß, mit dem er den Ball in typischer Verteidiger-Manier ins Netz grätschte. 1:1. »Nein, nein, nein«, rief der Fernsehkommentator Ernst Huberty, »Tor durch Schnellinger. Unglaublich – ausgerechnet Schnellinger, werden die Italiener sagen.« Auf der Tribüne bemerkte sein Vereinstrainer vom AC Mailand, Nereo Rocco, trocken: »Den müssen wir verkaufen.« Mit dem Anpfiff zur Verlängerung ging das Spiel erst richtig los. Nun wogte das Geschehen majestätisch hin und her wie ein Weizenfeld im Sommerwind, die Aufregungen wechselten einander im Minuten-, oft im Sekundentakt ab. Und jetzt fielen endlich auch die Tore, die in der regulären Spielzeit nicht hatten fallen wollen. 2:1 Gerd Müller (95.), 2:2 Burgnich (99.), 2:3 Riva (104.), 3:3 Müller (110.), und

der Schlusspunkt: 3:4 Rivera (111.). Allerdings – die beinahe ehrfürchtige Bewunderung, von der die gesamte Fußballwelt anschließend ergriffen wurde, konnten einige Akteure partout nicht teilen. Besonders Franz Beckenbauer kam das Gerede vom Mythos in Anbetracht der vermutlich schmerzhaftesten Niederlage seiner Karriere wie blanker Hohn vor. Ohne Fehler würde jedes Fußballspiel null zu null ausgehen, wie langweilig. Aber so viele?! Beckenbauer jedenfalls beklagte die durch die körperliche Ermattung hervorgerufene Vielzahl von sportlichen Aussetzern in dieser poetisch besungenen Fußballschlacht. Tatsächlich gingen jedem einzelnen Treffer kapitale Böcke voraus, welche Fernsehexperten von heute auf der Stelle in die Hyperventilation treiben würden. Der Rest des Turniers ist schnell erzählt. Brasilien fertigte die restlos erschöpften Italiener im Finale 4:1 ab. Pflichtschuldigst klagte Brasiliens Ex-Trainer Moreira: »Schade, dass es kein Finale Brasilien gegen Deutschland gegeben hat. Das wäre ein Festival geworden.« Nein, es wäre ein Desaster geworden, der vom großen Pelé ausgelöste Angriffszauber hätte auch die Deutschen in den Untergang getrieben. Ob der Mythos dann weitergelebt hätte? Stattdessen durften sie im kleinen Finale um Platz drei beim 1:0 gegen Uruguay noch einmal zeigen, welche bewundernswerten Fußballer in ihren Reihen standen. So gebührt ihnen gemeinsam mit den brasilianischen Siegern die Ehre, die Irrlehre vom Mauerfußball bei dieser WM aufs Schönste widerlegt zu haben. 


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Offiziell 107.412 Zuschauer drängen sich zum Endspiel im Azteken-Stadion. Auf dem Schwarzmarkt kosten die Karten bis zu 150 Euro – nach damaliger (und mexikanischer) Kaufkraft gemessen, ein kleines Vermögen.


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Im Endspiel, das Brasilien 4:1 gegen Italien gewinnt, erzielt PelÊ bereits in der 18. Minute das erste Tor und bereitet in der zweiten Halbzeit zwei weitere vor. Der 29-Jährige macht sich mit diesem Sieg zur Legende.

FINALE FURIOSO


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Das 3:1 in der 71. Minute: Pelé hat den Ball per Kopf zu Jairzinho geleitet, der lässt die Italiener Facchetti (rechts) und Albertosi (am Boden) aussteigen und schiebt den Ball ins Tor. Beim anschließenden Jubellauf wissen er und Pelé (im Hintergrund), dass der Seleção der dritte WM-Titel nicht mehr zu nehmen ist.

Nach dem Sieg stürmen Anhänger das Spielfeld, in höchst friedlicher Absicht. Gemeinsam mit Gérson (Mitte), Schütze des 2:1, danken sie dem Allmächtigen dafür, dass er an diesem Tag offenbar ein Brasilianer war.


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PELÉ, DER FUSSBALLER DES JAHRHUNDERTS

I

m WM-Finale von 1970 war die italienische Mannschaft nicht nur mit einem grandios aufspielenden brasilianischen Team konfrontiert, sondern auch mit einer weltweiten Sympathiewoge, die den großen Pelé endgültig in den Olymp des Fußballs tragen wollte. Der neuerliche Titelgewinn fehlte dem mittlerweile 29-Jährigen nach allgemeiner Ansicht noch, um seine einzigartige Karriere zu krönen. 1958, bei seinem ersten Titelgewinn, war er noch das bestaunte Jungtalent, zwar maßgeblich am Siegeszug der Seleção beteiligt, aber noch kein Führungsspieler. Bei der Titelverteidigung 1962 zog er sich schon im zweiten Spiel einen Muskelfaserriss im Oberschenkel zu und fiel für den Rest des Turniers aus. Wieder vier Jahre später, in England, wurde er im ersten Spiel rüde gefoult, musste im zweiten pausieren und erlitt im dritten erneut eine Verletzung nach brutaler Attacke. Die Seleção schied frühzeitig aus, und Pelé wollte nie wieder bei einer WM auflaufen. Zu Recht, wie einige brasilianische Medien vor dem 1970er Turnier meinten – der Ausnahmespieler habe seinen Zenit überschritten. Doch Mário Zagallo, der neue Coach der Seleção, hielt an seinem Teamkollegen von 1958 und 1962 fest und machte ihn zum Kopf einer jungen Mannschaft, in deren Mittelfeld vor allem der 24-jährige schnauzbärtige Rivelino mit genialen Pässen brillierte und in dessen Sturmreihe neben Pelé der dribbelstarke Außenstürmer Jairzinho zauberte; sieben Treffer sollten allein auf sein Konto gehen. Zunächst wurde die ČSSR mit 4:1 gedemütigt, anschließend England, Rumänien, Peru und Uruguay geschlagen, alle ohne den Hauch einer Siegeschance. »Eine neue Dimension des Fußballs, eine neue Form von Magie« sah die Londoner Times beim Auftritt der Brasilianer. Das Endspiel konnten die Azzurri gerade einmal für 18 Minuten offen gestalten, dann schlug Pelé zu: Mit einem wunderschönen Kopfball markierte er die viel umjubelte 1:0-Führung. Der zwischenzeitliche Ausgleich der Italiener änderte nichts an der brasilianischen Überlegenheit, die sich schließlich als 4:1-Endstand in die Statistiken einschrieb. 19 Tore hatte die Seleção in diesem Turnier erzielt,

mehr als drei pro Spiel. Nach den vorangegangenen knüppelharten Endrunden von 1962 und 1966 erlebte man, so der englische Autor Brian Glanville, in Mexiko den Triumph »des Positiven über das Negative und des Kreativen über das Destruktive«. Und im Zenit dieses Triumphes stand Pelé, der nun unumstrittene »Fußballer des 20. Jahrhunderts«.

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nders als mancher seiner Vorgänger in Brasilien, die wie er aus ärmlichen Verhältnissen zu Fußball-Heroen aufstiegen, vermochte es Pelé nicht nur, sein Talent in Ruhm und Geld umzumünzen. Mit dem Ruhm wuchs auch seine Persönlichkeit, wobei es schien, als hätten die oft beschworenen Urtugenden des Fußballs – Fairplay und Toleranz – dabei auf ihn abgefärbt. Schon als Spieler wurde er außerhalb seines Landes nie vom Platz gestellt; auf die Frage eines Journalisten, wen er als seinen Feind ansehe, antwortete er 1963: »Ich habe nie daran gedacht, irgendwelche Feinde haben zu können.« Zur Militärdiktatur, die sich wenig später in Brasilien an die Macht putschte, mied er zu große Nähe, verzichtete allerdings auch auf offene Kritik. Nach seiner Karriere holte er das Abitur nach, führte ein weitgehend skandalfreies Leben, bekämpfte zeitweise als Minister die Korruption im brasilianischen Sport, unterstützte allerlei Sozialkampagnen und diente der Unesco als Botschafter. Pelé wurde zu einer Art moralischen Instanz im Weltfußball, eine Jahrhundert-Legende, wie sie der Sport ansonsten nur noch in der Person von Muhammad Ali hervorgebracht hat. Bei seiner offiziellen Kür zum »Weltfußballer des Jahrhunderts« (FIFA) sowie zum »Sportler des Jahrhunderts« (IOC) dürfte sein Ansehen als »sportsman« eine Rolle gespielt haben, ebenso aber auch die Bilanz seiner Karriere. Geboren wurde er am 23. Oktober 1940 als Edson Arantes do Nascimenteo in einem kleinen staubigen Nest im Bundesstaat Minas Gerais, als Sohn eines eher glücklosen Halbprofis, den sein Beruf einige Jahre später nach Baurú


Kultobjekte: die Schuhe, die Pelé beim Finale 1970 trug.

Dreifacher Weltmeister Pelé: 1958 (mit König Gustav Adolf von Schweden), 1962 (mit Brasiliens Trainer Moreira) und 1970 mit dem Coupe Jules Rimet, der nach dem Dreifachtriumph in brasilianischen Besitz übergeht.

im Staat Sao Paulo führte. Dort absolvierte Pelé ganze vier Schuljahre und verdiente sich sein Geld in den Favelas als Schuhputzer. Er spielte Straßenfußball in diversen Barfußmannschaften und war zwölf, als die Zuschauer zum ersten Mal seinen Namen skandierten. Über den AC Baurú landete Pelé 1956 beim berühmten FC Santos, für den er bis 1974 nicht weniger als 1.114 Spiele bestritt und 1.088 Tore erzielte. Bei seinem Debüt als Profifußballer war er gerade 15 Jahre alt und schoss prompt ein Tor – genauso wie bei seinem ersten Länderspiel, das er mit 16 Jahren absolvierte. Schon bald bewunderte man ihn für seinen Fintenreichtum, seine Spielübersicht und seine Dribbelstärke – Eigenschaften, mit denen er 1958 erstmals auch die Weltöffentlichkeit staunen ließ. Ihm gelangen Tore, die sich ins kollektive Gedächtnis der Brasilianer einprägten, wie 1961 gegen Fluminense Rio, als er aus dem eigenen Strafraum startend sieben Gegenspieler und auch noch den Torwart umkurvte.

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ls er 1969 sein 1.000. Tor erzielte, läuteten im ganzen Land die Kirchenglocken. Die Kinder bekamen schulfrei, die Post gab eine Sondermarke heraus, der Staatspräsident verordnete einen Feiertag, und es wurden Denkmäler enthüllt. Der Schriftsteller Carlos Drummond de Andrade schrieb über dieses Ereignis: »1.000 Tore zu schießen, wie Pelé es schaffte, ist nicht so schwierig, wie ein Tor wie Pelé zu schießen.« »O Rei« – »der König« nennt man ihn in Brasilien auch. Der deutsche »Kaiser« Franz bestätigt neidlos die wahre Hierarchie: »Pelé war der Größte in der Fußballgeschichte und ist es immer noch. Er hat Fußball in einer Erstklassigkeit gespielt, die niemand mehr erreichen wird.« Und bei alldem ist »der König« dann auch noch stolz, wenn ihn der deutsche Regionalliga-Verein Rot-Weiss Essen zum Ehrenmitglied erklärt – weil es für ihn tatsächlich »eine große Ehre ist, jetzt dem Verein anzugehören, in dem der Boss Helmut Rahn spielte«. Vielleicht ist das nur eine Höflichkeitsfloskel. Aber das Schöne ist: Man glaubt es ihm. bmb


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KURZPÄSSE Erstmals waren beim 1970er Turnier fünf (Sub-)Kontinente vertreten. Israel repräsentierte Asien, hatte in der Qualifikation allerdings nur gegen Länder aus Ozeanien gespielt; der kleinste Kontinent war damit als einziger nicht in Mexiko vertreten. Mit neun von 16 Endrunden-Teams stellte Europa mehr als die Hälfte der Teilnehmer. Dass Afrika sich noch immer mit einem einzigen Endrundenplatz begnügen musste (der in Mexiko von Marokko eingenommen wurde), sorgte für viel Kritik. Die Erhöhung des Teilnehmerfeldes auf 24, die Afrika wenigstens einen zweiten Platz einbrachte, wurde zwar innerhalb der FIFA gefordert, aber erst beim 1982er Turnier verwirklicht. In den europäischen Qualifikationsrunden waren ei-

nige Favoriten gescheitert. Der WM-Dritte von 1966, Portugal, musste Rumänien den Vortritt lassen. Entscheidend war, dass Eusébio und Co. gegen die Schweiz nicht gewinnen konnten (0:3 und 1:1), die von den Rumänen zweimal locker besiegt worden war. Ungarn, Olympiasieger von 1968, verlor im Entscheidungsspiel gegen die Tschechoslowakei. Auch die Niederlande um den aufstrebenden Stür-

Shooting II: Berti Vogts, damals 23-jähriger Jungspund aus der niederrheinischen Provinz, bannt die Wunder der weiten Welt auf Video.

merstar Johan Cruyff mussten zu Hause bleiben, weil die Elftal Bulgarien nicht besiegen konnte. Zwei Regeln, die heute als selbstverständlich gelten,

wurden erst 1970 in Mexiko auf den Fußballfeldern dieser Welt eingeführt. Novität Nummer eins war die Möglichkeit, Spieler auszuwechseln. Bisher war eine Mannschaft bei Verletzung eines ihrer Akteure gezwungen, in Unterzahl weiterzuspielen. Damit war es nun endlich vorbei. Neu waren zudem die farbigen Karten Rot und Gelb, die den Pfeifenmännern fortan eine klare Ansage erleichtern sollten. Rot musste in Mexiko dann allerdings nicht gezückt werden – deutliches Indiz dafür, dass dieses Turnier im Zeichen der filigranen Techniker und nicht der knüppelharten Rackerer stand. Das gewaltige Azteken-Stadion, das 105.000 Zuschauern Platz bot, war bereits für die Olympischen Spiele gebaut worden, die zwei Jahre zuvor in Mexiko City stattgefunden hatten. Das praktische »Double« aus direkt aufeinanderfolgendem WM- und Olympia-Turnier nutzen später noch Deutschland (1972/1974) und Brasilien (2014/2016) für Synergien, anders als die USA (1996/1994), wo das olympische Stadion nicht als WM-Arena fungierte. »Skandal« um Bobby Moore: Der Kapitän der engli-

Shooting I: Uwe Seeler in einer Foto-Session mit dem mexikanischen »Maskottchen« Juanito.

schen WM-Mannschaft wurde während der Anreise nach Mexiko bei einem Zwischenstopp in Bogotá festgenommen und unter Arrest gestellt; nur dank einer diplomatischen Intervention konnte er am Turnier in Mexiko teilnehmen. Der Vorwurf gegen Moore, er habe Juwelen geklaut, stellte sich später als Erpressungsversuch heraus.


Shooting III: Gegen Peru schaffte Gerd Müller einen glasklaren Hattrick.

Favoritensiege gab es allenthalben in der Vorrunde. In

der am stärksten besetzten Gruppe 3, in der Titelverteidiger England, Favorit Brasilien und die starken Teams von Rumänien und Tschechoslowakei gegeneinander antraten, erlebten Letztere ihr Waterloo: null Punkte, zwei Törchen, damit zweitschlechteste Mannschaft des Turniers. Nur El Salvador war mit neun Gegentreffern noch erfolgloser. Gerd Müller begründete in Mexiko auch international

seinen Ruf als Goalgetter und wurde überlegen Torschützenkönig des Turniers. Er traf nacheinander gegen Marokko (1), Bulgarien (3), Peru (3) England (1), Italien (2), mithin zehnmal. Nur im Spiel um den dritten Platz (1:0 gegen Uruguay) blieb er ohne Treffer.

Sowohl Pelé wie Mário Zagallo wurden in Mexiko zum

dritten Mal Weltmeister. Beide hatten bereits 1958 und 1962 als Spieler den Titel gewonnen, wobei Pelé im 62er Finale verletzungsbedingt fehlte. Pelé holte im AztekenStadion seinen dritten Titel als Spieler, was außer ihm bis heute keinem anderen gelang. Seleção-Coach Zagallo war der erste Fußballer, der sowohl als Spieler wie als Trainer Weltmeister wurde. Nach ihm schaffte dies nur noch Franz Beckenbauer. Zagallo holte sogar noch ein viertes Mal den Titel: 1994, nun als Sportdirektor der Seleção.

Gastgeber Mexiko hatte an sechs der bisherigen acht Turniere teilgenommen, allerdings fast ohne jeden Erfolg. Der einzige Sieg stammte aus dem Turnier 1962 (3:1 gegen die Tschechoslowakei). Vor eigenem Publikum gab es nach einem Unentschieden gegen die UdSSR (0:0) nun umjubelte Siege gegen El Salvador (4:0) und Belgien (1:0), womit das Team das Viertelfinale erreichte. Dort war Schluss gegen Italien (1:4), was die Azzurri fortan zu den Buhmännern des Turniers abstempelte. Die Rolle des unbeliebtesten Teams übernahmen sie damit von der Sowjetunion. Im Viertelfinale Uruguay gegen UdSSR, das nach 90 Minuten und einem torlosen Remis in die Verlängerung musste, fiel zur Erleichterung der gelangweilten Zuschauer in der 117. Minute endlich die Entscheidung für die Südamerikaner. Die Vorbehalte gegen die sowjetischen Sportler existierten in Mexiko schon bei den Olympischen Spielen und begründeten sich politisch – im August 1968 war der »Prager Frühling« durch Sowjet-Truppen gewaltsam niedergeschlagen worden.

Weltmeister als Spieler und als Trainer: Mário Zagallo.


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HEIMKEHR DER HELDEN Es sind die Jahre der Studentenrevolte und der politischen Umbrüche in Deutschland. Doch hier werden keine Anti-Vietnam- Protestierer von Polizeiketten und Wasserwerfern im Zaum gehalten. Vielmehr feiern vor dem Frankfurter Rathaus Zehntausende die Rückkehr der Fußball-Helden aus Mexiko – bis ein Platzregen zumindest das Blasorchester zur Flucht zwingt. In München gleicht die Einfahrt der bayerischen Fußballidole – vorneweg: Franz Beckenbauer nebst Gattin Brigitte – schon eher einem Staatsempfang, sponsored by BMW (Foto unten).


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EMANUEL SCHAFFERS LANGER WEG ZUR WM

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burtsjahr übersiedelte die Familie nach Recklinghausen im exiko 1970 war das erste und bisher einzige Mal, dass Israel an einer Endrunde der Weltmeisterschaft teil- Ruhrgebiet, wo Schaffer deutschsprachig aufwuchs. Nach der Machtübernahme der Nazis kehrten die Schaffers nach nehmen konnte. Die politischen Konfrontationen zwischen Drohobycz zurück, das 1939 aufgrund des Hitler-Stalindem jüdischen Staat und den arabischen Nachbarländern Paktes in den sowjetischen Machtbereich geriet. Als die hatten in der Vergangenheit auch den Fußball überschattet und bei den WM-Qualifikationsrunden zu oftmals abstru- deutsche Wehrmacht zwei Jahre später ihr »Unternehmen sen Situationen geführt. Vor der WM 1958 hatten sich sämt- Barbarossa« begann, beschloss der nun 18-jährige Emaliche Gegner aus dem asiatischen und arabischen Raum ge- nuel, gemeinsam mit anderen Jugendlichen nach Osten zu fliehen. Er kam bis Kasachstan, wo er in einem Arbeitsweigert, gegen Israel anzutreten, weshalb die Nivchéret zu lager für Flüchtlinge landete. Dort blieb er zwei Entscheidungsspielen gegen Wales anbis Kriegsende und spielte, wie er dem israetreten musste, in denen sie ausschied. Für die »Das Tor lischen Historiker Moshe Zimmermann erWM 1962 kreierte die FIFA eine eigene Ministand in Richtung zählte, Fußball in der Lagermannschaft. Bei gruppe mit Zypern und Äthiopien, in der sich Jerusalem« seiner Rückkehr nach Polen musste er erfahIsrael zwar durchsetzte, danach aber gegen ren, dass die Nazis seine Familie – Eltern und das übermächtige Italien antreten musste. drei Schwestern – in ein Ghetto geschafft und ermordet Vier Jahre später wurde das Land – wie bereits 1954 – einer hatten. Auf welche Art dies geschehen war, konnte er nicht europäischen Qualifikationsgruppe zugeschlagen, in der es mehr ermitteln. in vier Spielen vier Niederlagen kassierte. Zunächst blieb Schaffer in Polen, wo er sich jüdischen Für das Turnier 1970 wiederum kamen die Qualifikationsgegner aus Ozeanien. Gegen Neuseeland sowie Aus- Fußballvereinen anschloss. Als deren Aktivitäten von der tralien konnten die Israelis sich tatsächlich durchsetzen, polnischen Regierung verboten wurden, schlug er sich 1949 nach Israel durch. Er arbeitet als Mechaniker, spielte während sie vier Jahre später, nun abgeordnet zu einem Fußball für Hapoel Haifa und schaffte es beinahe in die Nafernöstlichen Ausscheidungsturnier in Seoul, an Südkorea tionalelf; später wurde er Trainer. scheiterten. Als danach der asiatische Fußballverband auf Bis zu diesem Zeitpunkt handelte es sich bei Schaffer, Betreiben verschiedener arabischer Nationalverbände Israel endgültig von seinen Wettbewerben ausschloss, orien- wie Zimmermann anmerkt, »um die exemplarische Fußballerkarriere eines Diasporajuden, der das Zeitalter der tierten sich die geächteten jüdischen Fußballer Richtung Lager und der Shoah bewusst erlebt und sich am Ende für Europa. Seither kicken sie unter den Fittichen der UEFA. Für die hehre Idee eines völkerverbindenden Fußballs, die zionistische Lösung entschied«. Bemerkenswert war, was dann geschah. Schaffer beschloss, seine Trainerausbilder religiöse und ethnische Schranken umdribbeln soll, sind dung ausgerechnet in dem Land zu absolvieren, aus dem diese Vorgänge nicht gerade ein überzeugender Beweis. Aber es gibt noch eine andere Geschichte, und die erzählt das Le- die Mörder seiner Familie stammten. 1958 kam er an die ben des Emanuel Schaffer, jenes jüdischen Nationaltrainers, Sporthochschule Köln, wo er Hennes Weisweiler kennenlernte und mit ihm eine Freundschaft schloss, die jahrder im Jahr 1970 seine Nivchéret nach Mexiko führte. zehntelang halten sollte. Fortan wurde Schaffer »zum Verchaffer wurde 1923 im polnischen Drohobycz gebo- bindungsmann zwischen dem deutschen und israelischen Fußball« (Zimmermann) und zum Pionier einer im Sport ren, einem kleinen galizischen »Schtetl«, in dem die Hälfte der Bevölkerung jüdisch war. Noch in seinem Ge- begründeten Verständigung.

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1970 183

Am 12. August 1969, Schaffer war inzwischen Nationaltrainer, trat erstmals eine israelische Nationalmannschaft in Deutschland an. Gegen die von Weisweiler trainierte Gladbacher »Fohlenelf« verlor sie 0:3. Wenige Monate vor dem WM-Turnier in Mexiko, im Februar 1970, kam Borussia Mönchengladbach als erste deutsche Mannschaft zum Gegenbesuch nach Israel – ein Vorgang, der dort schon deshalb honoriert wurde, weil das Land und seine Besucher seinerzeit massiv von Terroraktionen bedroht waren. Diesmal besiegten Netzer und Co. ihre Gastgeber vor 30.000 Zuschauern sogar mit 6:0 und wurden für ihre berauschende Spielweise, wie sich der dreifache Torschütze Herbert Laumen erinnert, »mit stehenden Ovationen verabschiedet«. Dies war der Beginn eines intensiven Sportaustauschs zwischen beiden Ländern. Hunderte Begegnungen zwischen deutschen und israelischen Mannschaften haben seitdem stattgefunden, allein Mönchengladbach bestritt 24 Testspiele gegen israelische Teams und verpflichtete 1972 mit Shmuel Rosenthal den ersten israelischen Profi in der Bundesliga. Viele der rund hundert Städtepartnerschaften zwischen beiden Ländern haben ihren Ursprung in diesen sportlichen Begegnungen.

Die Nivchéret, die israelische Nationalmannschaft, die 1970 in Mexiko ihre einzige WM-Endrunde bestritt.

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rotz der Klatsche gegen die »Fohlen« verfügte Israel damals durchaus über eine starke Nationalelf. Schaffer hatte sie 1968 bereits zum olympischen Fußballturnier geführt (dazu reichten zwei Siege gegen Ceylon; die übrigen Qualifikationsgegner Iran, Indien und Burma boykottierten Israel) und dort nur knapp das Halbfinale verpasst. Auch beim WM-Turnier in Mexiko schlug sich die Nivchéret achtbar, verlor zwar gegen den späteren WM-Vierten Uruguay mit 0:2, holte aber gegen die starken Italiener und Schweden jeweils ein Unentschieden. Beim 1:1 gegen Schweden erzielte Spielmacher Mordechai Spiegler den einzigen Treffer in Israels WM-Geschichte. »Das Tor muss in Richtung Jerusalem gestanden haben«, ulkte Spiegler, der zum Nationalheros avancierte, aber seinen Trainer als »wahren Vater unseres Erfolgs« bezeichnete. Israels WMTeilnahme 1970 wird in ihrer Wirkung auf das Selbstwertgefühl des jungen Staates zuweilen mit dem bundesdeutschen »Wunder von Bern« verglichen. Schaffer blieb eine geachtete Persönlichkeit in Israel und trainierte die Nationalelf nochmals von 1978 bis 1980, ohne die großen Erfolge wiederholen zu können. Danach reüssierte er als Geschäftsmann, um sich 1990 als 67-Jähriger ins Privatleben zurückzuziehen. Am 28. Dezember 2012 ist Emanuel Schaffer gestorben. Krankheitsbedingt hatte schon in den letzten Lebensjahren sein Gedächtnis gelitten, verblassten die eigenen Erinnerungen an Verfolgung, Aussöhnung und an den größten Triumph der israelischen Fußballgeschichte. bmb



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