Leseprobe - Das Unvorstellbare wagen

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Das Unvorstellbare wagen VERLAG DIE WERKSTATT

Wolfgang Kulow

Mein Leben als Extremsportler


INHALT Vorwort.

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ABENTEUER VOR DER HAUSTÜR

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MIT KIND UND KEGEL Unterwasserleben

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Große Freiheit Bundeswehr . Luxusleben mit Kind .

VOM WORKAHOLIC ZUM SPORTAHOLIC Aller Anfang ist schwer

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Der schmale Grat zwischen Leidenschaft und Sucht Last als Lust .

ZEHNFACH-IRONMAN ODER: AUS ERFAHRUNG LERNEN .

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Durch extreme Belastung wächst man zusammen . Sex als Ablenkung vom Schmerz . Letztes Andenken aus Mexiko .

Menschen an meiner Seite: Daan Rob

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DIE UNERKLÄRLICHE SEHNSUCHT NACH WÜSTE . Wohnzimmer im Rucksack .

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Der Körper lechzt nach Salz . Operation Wüstensturm .

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Auf dem Boden der Tatsachen . NEUE LIEBE, NEUES LEBEN . Wasser ist mein Element.

Ein Wechselbad der Gefühle

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Freiheitsschwimmer Grenzwertig .

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Die Wüste hat ihre eigenen Gesetze .

Ostseeflucht .

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Leben in der Runde . (Alb-)Traumberuf .

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RACE ACROSS AMERICA: EIN LANGGEHEGTER TRAUM WIRD WAHR

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Risiko oder die Bereitschaft, neue Wege zu gehen . Vorwärtskommen als reiner Willensakt Der Preis ist zu hoch .

Menschen an meiner Seite: Matthias „Pelzi“ Plümer

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EXTREMTEST TAKLAMAKAN: WÜSTE OHNE WIEDERKEHR .

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Über die teuerste Straße der Welt . Außer Fotos nichts zu holen

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Probleme sind zum Lösen da . Wie Himmel und Hölle .

Am Ende siegt die Vernunft .

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UNBEKANNTE UNTERWASSERWELT Unterwasser-Wolfgang.

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Auf Backbord kommt ein Radfahrer . DIE EISWÜSTE RUFT .

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Den Widrigkeiten trotzen .

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Drink, Germanski – oder das Leben auf dem See Njet!

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Mit 89.000 Schritten zum Rekord . Unterwasserliebe .

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Baikalsee 2.0: Ständiges Krisenmanagement . Bringt besser den Schwimmanzug mit .

ÜBER DEN TELLERRAND: COACH, REFERENT, VERANSTALTER Im Hier und Jetzt .

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EXTREMSPORT IST EINE LEBENSEINSTELLUNG .

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Immer wieder aufbrechen Anhang .

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Danksagung . Quellen .

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Die Co-Autorin Bildnachweis



DIE EISWÜSTE RUFT


„S

ibirien?“ Ein eisiger Schauer durchlief meinen Körper. Kalt, menschenleer, weit weg und wenig zu futtern. Fröstelnd schüttelte ich mich. Kein anderer Landstrich der

Welt war für mich seit jeher so negativ behaftet wie Sibirien. Viele deutsche Soldaten hat-

ten dort im Zweiten Weltkrieg ihr Leben verloren. Sie waren erfroren, verhungert oder in Arbeitslager gesteckt worden. Sibirien ist schlecht, das hatte ich als Kind oft genug gehört. Und nun erzählte mir Joey, dass er dort 2013 beim Siberian Black Ice Race starten wolle. Einem Wettkampf, bei dem der zugefrorene Baikalsee mit gesamter Ausrüstung zu Fuß, per Rad, mit Skiern, Schlittschuhen oder wie auch immer auf einer Länge von 600 Kilometer bewältigt werden musste. „Dafür hast du maximal zwölf Tage Zeit“, schloss er begeistert. Das Rennen sollte im kommenden März stattfinden. Jetzt war es November, und ich war nach Köln gereist, um Joey bei seinen abenteuerlichen Aktionen für den RTL-Spendenmarathon zugunsten der Stiftung „Wir helfen Kindern“ zu unterstützen. In diesem Jahr sollte er 24 Stunden lang eine in Gegenrichtung fahrende Rolltreppe hochlaufen. Natürlich meisterte er auch diese Herausforderung mit Bravour, was ihm mit über 50.000 bewältigten Stufen und 11.700 erklommenen Höhenmetern einen Eintrag ins GuinnessBuch der Rekorde einbrachte. „Komm doch einfach mit nach Sibirien“, forderte er mich auf. „Du kannst das Rennen auch mit dem Rad absolvieren!“, versuchte er mich beim Abschied zu ködern. Erneut blitzten für Sekundenbruchteile die negativen Assoziationen in meinem Kopf auf. „Ja, mal schauen“, erwiderte ich daher wenig euphorisch. Im Prinzip war ich gedanklich meilenweit vom Baikalsee entfernt. Nicht mal im Traum hatte ich bisher irgendwelche Ambitionen verspürt, ausgerechnet dorthin zu fahren. Dennoch tauchte der Begriff nun mit schöner Regelmäßigkeit vor meinem geistigen Auge auf – nur eben nicht mehr als graues Horrorszenario aus Weltkriegstagen, son16 8

dern als Synonym für Abenteuer, Wettkampf, grandiose Landschaften und einzigartige Natur. Je mehr ich mich mit dem Thema beschäftigte, desto mehr faszinierte es mich. Je mehr ich recherchierte, desto größer wurde meine Neugierde, das Land kennenzulernen. Und je größer meine Neugierde wurde, desto stärker wuchs die Motivation, mich dieser sportlichen Herausforderung zu stellen. Also meldete ich mich kurzerhand ebenfalls für das Siberian Black Ice Race an und überwies die üppige Teilnahmegebühr von 1.500 Euro. Darin enthalten war neben dem Start beim selbsternannten härtesten Rennen der Welt auch eine Versicherung, die bei einem Notfall die Bergung der Teilnehmer vom Eis gewährleistete. In der Vergangenheit hatte es zahlreiche Verletzungen, Knochenbrüche, Erfrierungen oder Fälle gegeben, in denen die Teilnehmer ihr eigenes Zelt abgefackelt hatten. Das konnte ja heiter werden! Ohne lange zu zögern, waren meine Sponsoren zur Stelle und unterstützten die Aktion. Alle waren von der Idee fasziniert, über das Eis des tiefsten und ältesten Süßwassersees dieser Erde zu fahren. Das Kaufhaus Stolz stellte mir in Zusammenarbeit mit The North Face


Die Eiswüste ruft Kleidung zur Verfügung, mit der ich selbst härtesten Extrembergsteigern Konkurrenz gemacht hätte. Und von Stevens erhielt ich ein äußerst robustes und speziell für die Kälte aufgerüstetes Tourenrad, dessen Laufräder mit Spikes ausgestattet wurden, um auf dem Eis den richtigen Grip zu finden. Auch die empfindlichen Komponenten des Rades, wie Schaltung und Bremsen, waren in der Lage, frostige Temperaturen bis minus 40 Grad zu überstehen. Die Medien berichteten teils fasziniert, teils ungläubig darüber, wie ich mein Fahrrad im Schnee auf dessen Fahrtauglichkeit testete oder mit Ausrüstung und Technik am winterlichen Ostseestrand hantierte. Ein Redakteur jedoch wollte nicht nur darüber schreiben. „Beim nächsten Zelten bin ich mit dabei!“, kündigte er an. Es war Januar und eisig kalt. Aber der Journalist ließ sich nicht beirren und wollte am eigenen Körper spüren, was es hieß, bei Minustemperaturen eine Nacht im Freien zu verbringen. „Zieh deine beste Outdoorkleidung an! Das wird verdammt kalt“, warnte ich ihn vor. „Ja, ja … kein Problem!“, hörte ich nur und vermutete, es hier mit einem erfahrenen Camper zu tun zu haben. Aber weit gefehlt. Abends warf ich den Benzinkocher an und machte uns zur Einstimmung einen schönen heißen Tee. Gemeinsam saßen wir vor dem Zelt am Klosterseestrand in Cismar, jeder einen Teebecher in der Hand, und blickten versonnen auf die Ostsee. Männerromantik pur. „Schön, oder?“ Ich sah zufrieden zum Zeitungsmann hinüber. Er schlotterte am ganzen Körper. Schon beim Zeltaufbau war er von einem Fuß auf den anderen getreten, um sich warm zu halten. Und jetzt zitterte er wie Espenlaub! Dabei war es noch nicht mal richtig dunkel. „Frierst du?“, fragte ich ungläubig. „Ein bisschen“, gab er verlegen lachend zu und schlang die Arme um seinen Körper. „Du kannst meine Jacke haben!“ Ich reichte ihm meine dicke Everest-Jacke, die er dankbar überzog. „Willst du auch meine Hose haben?“ Erleichtert schaute er mich an. Wie eine Mutter, die ihr Kind betüddelt, gab ich ihm nach und nach die Einzelteile meiner kompletten Hightech-Ausrüstung: Jacke, Hose, Handschuhe, Mütze. Und was war das Ende vom Lied? Als wir zum Schlafen in das Zelt krochen, trug er meine gesamten eistauglichen Klamotten. Einmal im Schlafsack, schlief er sofort wie ein Stein und rührte sich die gesamte Nacht nicht von der Stelle. Ein wenig fröstelnd lag ich stumm daneben und starrte noch lange an die vereiste Zeltdecke. Zwei Wochen vor dem Aufbruch nach Russland erhielt ich eine wahre Hiobsbotschaft: Der Wettkampf war storniert worden! Der Veranstalter würde das Rennen in diesem Jahr nicht wie geplant durchführen und blies die gesamte Sache ab! Nun stand ich da, mit meiner Vorfreude, der Motivation, meiner Begeisterung, meiner kompletten Ausrüstung, mit dem Geld meiner Sponsoren und den Medien, die umfangreich über meine bevorstehende Teilnahme berichtet hatten. Vor allem aber stand ich da mit meinen unerfüllten Träumen vom Baikalsee. Die anderen Teilnehmer fackelten nicht lange. Alle stornierten ihre Reise. Alle suchten nach Alternativen. Alle – außer mir. Ich blieb alleine übrig.

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Karte des Baikalsees: Die orange Linie zeigt den Verlauf meiner 2013er-Tour, die blaue den von 2015.

Tagelang überlegte ich hin und her. Was sollte ich tun? Der See war ja da. Das Eis auch. Das Ziel in meinem Kopf fest einprogrammiert. Meine Begeisterung ungebrochen. Und der Flug schließlich gebucht. Warum sollte ich also auf all das verzichten? Warum sollte ich nicht auf eigene Faust die ganze Sache durchziehen? Iris blieb vor Schreck der Mund offen stehen, als ich ihr von meiner Entscheidung erzählte. „Was willst du?“, fragte sie ungläubig. „Das ist doch kein Ding“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Vor mir haben das schon ganz andere geschafft.“ Dabei wusste ich, dass es eher die Seltenheit war, diese Strecke im Alleingang zu bewältigen. Aber meine Begeisterung war in dem Moment weitaus größer als mein Sicherheitsempfinden. „Außerdem bin ich gut ausgerüstet und hab im Notfall das Satellitentelefon dabei!“, sagte ich bestimmt. „Und du weißt, die Kälte macht mir auch nix aus!“ Dass Sibirien aber eine ganz andere Hausnummer war und das Telefon von Anfang an streiken würde, konnte ich da noch nicht ahnen …


Die Eiswüste ruft

Den Widrigkeiten trotzen Um das Gepäck zu minimieren, trug ich alles am Körper, was unnötiges Übergewicht zur Folge hätte. Also zog ich neben meiner dicken Expeditionsjacke auch meine klobigen Ausrüstungsstiefel an, die viel zu riesig für den Seesack waren. Wie ein Michelin-Männchen stieg ich beim Zwischenstopp in Moskau in den kleinen, altgedienten Flieger, der mich per Nachtflug nach Irkutsk bringen sollte. „Oh Mann“, dachte ich nur, als ich mich durch die engen Sitzreihen quälte und schließlich zu meinem Platz gelangte, der natürlich ausgerechnet der schmalste im gesamten Flugzeug war. Aber kein Problem, beruhigte ich mich, die beiden Sitze neben mir waren ja frei. Darauf wollte ich mich während des Zwölf-Stunden-Flugs genüsslich ausbreiten. Doch was passierte? Immer mehr Passagiere boardeten, und kurz vor Abflug war der Flieger rappelvoll. Auch die Sitzplätze neben mir waren komplett belegt. Eingezwängt saß ich schwitzend zwischen den anderen Fluggästen und konnte mich kaum bewegen. „Na, das wird ja ein Spaß!“ Ich war bereits seit Stunden unterwegs, und so übermannte mich in der stickigen Hitze recht schnell eine bleierne Müdigkeit, nachdem das Flugzeug abgehoben hatte. Immer wieder nickte ich kurz ein. Mein Kopf fiel nach vorn, nach rechts, nach links – und jedes Mal schreckte ich kurz hoch, um in der nächsten Sekunde sofort wieder einzuschlafen. Neben mir saß eine junge Russin, die das gleiche Problem hatte. Und ohne dass es einer Absprache bedurfte – wir hätten uns sowieso nicht verständigen können –, lehnten wir unsere Köpfe aneinander. Wie selbstverständlich saßen wir irgendwann engumschlungen in unseren Sitzen und schliefen tief und fest, bis das Fahrwerk die Landebahn berührte. Ein kurzes Nicken, ein letztes freundliches Lächeln beim Ausstieg, und jeder ging wieder seines eigenen Weges. Blauer Himmel, minus 28 Grad und traumhafter Sonnenschein, so empfing mich Sibirien, als ich aus dem Flieger stieg. Eine wunderschöne Landschaft umgab mich, und ich realisierte augenblicklich, dass meine Vorstellungen aus Kindheitstagen auf Vorurteilen und einer totalen Fehleinschätzung beruhten. Aber noch war ich nicht an meinem Zielort angelangt. Meine Solotour über den Baikalsee sollte im 60 Kilometer entfernten Listwjanka starten. Von dort wollte ich mit dem Rad zur nördlichen Spitze des Sees gelangen, um mit der Transsibirischen Eisenbahn gemütlich wieder zurück nach Irkutsk zu fahren. Listwjanka erwies sich als gemütliches, sonniges Örtchen und war etwa so groß wie Großenbrode. Ein paar Unterkünfte, ein paar Restaurants, ein großer Basar. Mehr wurde dort nicht geboten. Also machte ich es mir in meiner Unterkunft „Bei Olga“ bequem. Olga hatte in ihrem Holzhaus kurzerhand das heimische Wohnzimmer leergeräumt und mit zwei Betten versehen, die durch eine dünne Wand provisorisch voneinander ge-

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Listwjanka: meine Unterkunft bei Olga

trennt waren. Diese beiden „Zimmer“ wurden nun an die wenigen Touristen vermietet, die sich in diese Ecke des Landes verirrten. In jedem Abteil befanden sich ein Bett und eine Lampe. Kein Schrank, kein Tisch, kein Stuhl. Nichts. Aber dafür war es mollig warm. Innen herrschten Temperaturen von weit über 30 Grad, während draußen bitterkalt der Wind um die Häuser pfiff. Trat man von den völlig überhitzten Räumen ins Freie, lief man förmlich gegen eine Wand. So krass war der Temperaturunterschied von teilweise 60 Grad.


Die Eiswüste ruft Am nächsten Tag wollte ich möglichst zeitig mit meinem Fahrrad losziehen, schließlich lag noch ein weiter Weg vor mir. Also teilte ich dies meiner Vermieterin mit. „Ich stehe um sieben Uhr auf, damit ich früh loskomme!“ Olga schaute mich mit riesigen Augen an. „So früh?“, fragte sie entsetzt. „Hm“, sagte ich, „vielleicht etwas später … So gegen acht Uhr?!“ Aber auch das schien ihr noch nicht angenehm. „Neun Uhr?“, fragte ich zögerlich. Das war okay. Da würde ich sogar noch ein Frühstück erhalten, nickte Olga zustimmend. Was ich erst später registrierte: In Sibirien beginnt der Tag weitaus später als bei uns in Deutschland. Während hierzulande die Leute zum Großteil schon um acht Uhr am Arbeitsplatz sitzen, liegt man dort teilweise noch um zehn tiefschlafend in den Kojen. Das hieß dann aber nicht zwangsläufig, dass man abends umso länger arbeitete. Nein, denn wenn im März gegen 18 oder 19 Uhr die Sonne unterging und sich die Luft auf satte minus 30 Grad abkühlte, zogen sich schnell alle in ihre Häuser zurück. Auf den Straßen war dann meist nur noch tote Hose. Schneesturm mit Windstärke sieben! Als ich am kommenden Morgen vor die Tür trat, konnte ich weder meine Hand vor Augen geschweige denn den riesige See sehen. Ratlos stand ich mit meinem Rad und dem gesamten Gepäck auf der Straße. Was mache ich jetzt? Zurück in die überhitzte Bude von Olga? Oder losfahren? Aber ging das überhaupt unter diesen Umständen? Ich war motiviert bis in die Haarspitzen und wollte endlich mit meiner Tour beginnen. Von Kopf bis Fuß war ich nach vorne und keinesfalls nach hinten ausgerichtet. Ein Zurück in die Hitze der Unterkunft kam daher auf keinen Fall in Frage. Also nix wie los! Aber wohin? Das Problem war, dass ich auf dem See keinerlei Fahrspur fand und somit auch nicht wusste, wohin ich fahren sollte und konnte. Normalerweise folgt man den Spuren der Autos. Aber jetzt, bei dem Schneesturm, waren die Spuren weggeweht. Genug hatte ich über die Gefahren auf dem Eis gelesen. Unter dem Schnee konnten sich gefährliche Eisspalten verbergen, oder das Eis konnte zu dünn sein, um mich sicher zu tragen. Jährlich passierten tödliche Unfälle, wenn Autos im See einbrachen und geradewegs in der Tiefe versanken. Ich suchte also nach Anzeichen für den richtigen Weg übers Eis. Das Einzige, was man jedoch sah, waren die Spuren der Schneemobile, deren Schneeketten tiefe Rillen im Eis hinterließen. Aber war das die Ideallinie? Keine Menschenseele weit und breit. Niemand, den ich hätte fragen können. Aber ich wollte unbedingt los. 650 Kilometer lagen vor mir, und ich wollte mein Tagespensum von 50 Kilometern pro Tag unter allen Umständen einhalten. Das war mein eigenes ehrgeiziges Ziel. Und nun das! Das war überaus enttäuschend. Was sollte ich also tun? Ich musste eine Entscheidung treffen. Erst einmal Schutz im Schatten einer Schneewehe suchen. Aber sollte ich hier bereits mein Zelt aufbauen, nach sage und schreibe 500 zurückgelegten Metern? Nein, das kam nicht in Frage. Also blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten.

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Zwei Stunden vergingen. Drei Stunden vergingen. Nur nicht aus der Ruhe bringen lassen, sagte ich mir immer wieder. Nach vier Stunden registrierte ich endlich, wie sich ganz allmählich die Sonne durch die dicken Wolken kämpfte und die Schneeflocken im Sonnenlicht zu glitzern begannen. Jetzt beruhigte sich das Wetter merklich. Auch der Baikalsee schien wieder zum Leben zu erwachen, und die ersten Autofahrer kamen aus ihren Löchern. Das war meine Chance! Wenn ich auch noch nicht auf dem Rad fahren konnte – denn der Wind war einfach noch zu stark –, so konnte ich das Rad doch wenigstens schieben. Es ging voran, zwar langsam, aber immerhin. Ich stapfte durch den Schnee und freute mich, dass ich endlich unterwegs war. Ich war auf meinem Weg und trotz aller Widrigkeiten nicht stehengeblieben oder umgekehrt! Die erste Bewährungsprobe auf dem Baikalsee war bestanden. Obwohl am Abend lediglich 20 Kilometer meinen Tacho zierten, war ich höchst zufrieden.

Drink, Germanski – oder das Leben auf dem See Pjing, Pjong, Pjing. Geräusche wie zerspringende Stahlseile drangen durch das Eis direkt in mein Ohr. Kaum hatte ich es mir total erschlagen in meinem Schlafsack gemütlich gemacht, hörte ich pausenlos diese grellen Töne, die mir glatt unter die Haut gingen. Das Eis war ununterbrochen am Arbeiten und der Schall durch die Eismassen um ein Vielfaches intensiver. Wie sollte ich da schlafen können? Das Knacken und Knirschen unmittelbar unter meinem Schlafplatz war äußerst gewöhnungsbedürftig und ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Kaum sackte ich in einen kurzen traumlosen Schlaf, saß ich beim nächsten Geräusch schon wieder hellwach in meinem Schlafsack. Das war krass, aber vollkommen normal, wie ich jetzt lernen sollte. „Der Baikalsee lebt“, sagten mir die 174

Einheimischen. Tage später schlug ich mein Zelt in einer Bucht auf, in der das Eis so laut war, dass ich dachte, die Russen werfen mit Bomben nach mir. Nichts wie weg hier, war mein einziger Gedanke, und so war die Nacht bereits zu Ende, bevor sie überhaupt angefangen hatte. Ein anderes Mal lauschte ich beim Schlafengehen äußerst angespannt, konnte aber keinerlei Geräusche vernehmen. „Ungewöhnlich“, dachte ich noch. Aber meine Güte, welch eine Wohltat! Umgehend fiel ich in einen tiefen traumlosen Schlaf. Doch irgendetwas ließ mich in der Nacht entsetzt hochschrecken. Ich horchte auf. Da war doch ein Geräusch? Aber welches? Dann hörte ich es wieder. Diesmal klang es nicht, als ob irgendwelche Stahlseile zersprängen, sondern schlimmer: Es gluckerte. Direkt unter mir. Als ob ein Topf mit Wasser überkochte. Und zwar so laut und unmittelbar unter meinem Schlafsack, dass ich mich beklommen aufsetzte. Lag ich auf einer Eisscholle? War das Eis zu dünn? Zu viele Fragen und zu laute Geräusche, die ich auf Dauer nicht ertragen konnte. Gegen vier Uhr baute ich mein Zelt wieder ab und machte mich auf den Weg. Schlafentzug!


Die Eiswüste ruft Die Nächte erschienen mir wie eine Folter und machten die harten äußeren Umstände bei Tag nicht gerade erträglicher. Irgendwann registrierte ich, dass es etwas ruhiger war, wenn ich mein Zelt dichter am Ufer aufbaute. Langsam lernte ich dazu und fing an, die Besonderheiten des Baikalsees zu deuten. Es war nicht nur das Radfahren über weite unwegsame Strecken, das mich körperlich belastete. Innerhalb weniger Tage litt ich auch an einem massiven Flüssigkeitsdefizit. Durch die Kälte verspürte ich kaum ein Durstgefühl, schwitzte gleichzeitig aber so viel, dass ich abends eine Tasse gefrorenen Schweiß aus meiner Jacke ziehen konnte. Diese Kombination verursachte nach einigen Tagen starke Krämpfe in beiden Oberschenkeln. Schmerzhaft und ohne Ankündigung biss der Krampf zu, ob beim Radfahren oder im Schlaf. Teilweise kam ich abends schon gar nicht mehr in den Schlafsack geschweige denn wieder heraus, so stark krampfte meine Muskulatur. Es half alles nichts, ich musste mehr trinken! Doch das war mühsam. Das Trinkwasser erhielt ich, indem ich Eis schmolz. Natürlich wäre es leichter gewesen, einfach den Schnee zu schmelzen. In einem Bruchteil der Zeit hätte ich genügend Wasser zum Essen und Trinken gehabt. Aber dieses Wasser hätte mich nicht mit Mineralien versorgt. Da ich mich aber auf dem Süßwassersee mit der besten Trinkwasserqualität der Welt befand, wollte ich diese Mineralien nutzen. An den Stellen, an denen breite Spalten im Eis waren, konnte ich das Wasser auch direkt aus dem See entnehmen. Das hatte ich mir bei den Russen abgeguckt. Sie hielten mit ihren Autos direkt an einer Spalte, zogen ihre Tassen durch den See und tranken. Während der Nacht diente meine Trinkflasche als Pinkelflasche. Das war zwar nicht so appetitlich, aber wer mochte sich schon bei minus 30 Grad in der Nacht aus dem kuschelig warmen Schlafsack schälen, die Stirnlampe suchen und raus in den Schnee gehen – alles nur um zu pinkeln? Ich jedenfalls nicht. Also wurde eine Thermosflasche kurzerhand zur Urinflasche umfunktioniert. Natürlich musste diese am darauffolgenden Tag, nach einem kurzen Spülgang, wieder Trinkwasser transportieren. Auch wenn es angeblich gesund sein soll, bin ich kein Urintrinker. Ich bin eher der Typ, der sich vor so etwas ekelt. Aber um ein Ziel zu erreichen, muss man manchmal eben über seinen Schatten springen – auch wenn es schwerfiel. Durch die unbarmherzige Kälte spürte man auch keinen Hunger, obwohl die strengen Minustemperaturen dem Körper reichlich Energie entzogen, da musste man sich gar nicht groß anstrengen. Auch im Ruhemodus war der Stoffwechsel des Körpers viel höher, da er ständig die Temperatur konstant halten musste. Eigentlich hätte ich unter diesen Bedingungen rund 6.000 Kalorien pro Tag benötigt. Ich hatte aber nur rund 2.000 Kalorien pro Tag dabei. Mehr konnte ich beim besten Willen nicht mitschleppen, wog mein Gepäck doch so schon um die 60 Kilogramm. So kochte ich mir morgens

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oftmals nur einen Tee und aß ein Stück Schokolade dazu. Das war lecker, ging schnell von der Hand, und ich kam zeitig auf die Piste. Tagsüber musste ein Stück Mettwurst genügen, und erst am Abend gab es ein warmes Gericht: eine Tüte gefriergetrocknete Nahrung. Beutelinhalt in den Topf mit kochendem Wasser schütten und ziehen lassen. Hmmmm – roch das köstlich! Das würzige Aroma meines Jägertopfs stieg mir bereits verführerisch in die Nase. Doch ich wollte noch kurz pinkeln, damit ich im Anschluss gemütlich mein Essen genießen konnte. Also Benzinkocher aus und schnell hinter das Zelt geschlüpft. Aber was war das für ein Mist? Mit Entsetzen starrte ich nach meiner Rückkehr in den Nudeltopf. Mein Abendessen war nach dem Erlöschen der Flamme wortwörtlich zu Eis erstarrt. Sogar die Nudelreste waren am Löffel festgefroren. Eine Zeit lang starrte ich verblüfft in den Topf, bis mir klar wurde, dass sich mein Essen mit jeder Sekunde, die verLangsam lernte ich die Besonderheiten des Baikalsees zu deuten.

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Die Eiswüste ruft strich, mehr und mehr in Tiefkühleis verwandelte. Ich hätte den Kocher erneut anschmeißen können, aber das dauerte mir zu lange. Schließlich hatte ich einen Bärenhunger. Also blieb mir nichts anderes übrig, als das Essen als Eiscreme zu genießen und die Reste am Löffel als Eis am Stiel – nur eben mit Jägertopfgeschmack. Als äußerst praktisch erwies es sich daher, das heiße Wasser direkt in den Beutel mit der Trockennahrung zu schütten. Tüte gut verschließen, fünf Minuten ziehen lassen – aber keine Sekunde länger! –, und das Essen war sogar noch etwas lauwarm. Doch bald merkte ich, dass eine warme Mahlzeit am Tag eigentlich nicht ausreichte. Jeden Tag musste ich meinen Gürtel enger schnallen. Mit jedem Kilo, das ich verlor, schrumpften auch meine Muskeln und damit auch ein Stück meiner Körperkraft. Aber der Körper kann sich an Extremsituationen anpassen, wenn der Kopf mitmacht. So blieb ich bis zum Ende der Tour hoch motiviert und konzentriert, auch wenn ich in zwei Wochen satte sieben Kilo abnahm. Im ersten Drittel meiner Route traf ich öfter auf Leute, die ebenfalls auf dem See unterwegs waren. Anfangs fiel es mir schwer, diese einzuschätzen: Waren sie mir wohlgesonnen oder gar feindlich gesinnt? Waren sie nur neugierig oder musste ich mich um Hab und Gut sorgen? Mit der Zeit realisierte ich, dass es im Leben eines russischen Mannes vor allem um eines ging: Wodka! Viele meiner Artgenossen erreichten bereits bis Mittag einen Alkoholpegel, den man an den Augen, aber auch Gestik und Mimik rasch ablesen konnte. Dabei war es offiziell überhaupt nicht erlaubt, in der Öffentlichkeit Wodkaflaschen mitzuführen. Doch die Russen waren nicht dumm, sie tranken den hochprozentigen Kartoffelschnaps einfach aus Plastikflaschen. Da wurden schon mal Cola- oder Fantaflaschen umfunktioniert. Traf ich auf männliche Einheimische, ging es sofort ums Trinken, wenn die Frage meiner Herkunft erst einmal geklärt war. „Drink, Germanski!“, hieß es dann, während mir die Plastikflasche hingehalten wurde. Zunächst weigerte ich mich noch, Hochprozentiges auf leeren Magen zu trinken. Aber auf meine dankende Ablehnung hin wurde ich nur noch vehementer aufgefordert, einen kräftigen Schluck zu nehmen: „Drink, Germanski!“ Das ging so lange, bis mir am Ende nichts anderes übrig blieb, als mir – zur Zufriedenheit aller – einen beherzten Schluck aus der Pulle zu gönnen. Der Baikalsee ist mit einer Fläche von über 30.000 Quadratkilometern einer der größten Seen der Welt. Oft begegnete man tagelang keiner Menschenseele. Deshalb war höchste Vorsicht geboten, dass man sich nicht verletzte, denn einen Notarzt suchte man dort vergeblich. Jeder Schritt musste wohl überlegt sein und jeder Handschlag sitzen. Das Hantieren mit scharfen Gegenständen oder brennbaren Flüssigkeiten konnte schnell mal lebensgefährlich werden. Aber viel mehr als diese Gefahr machte mir die große Leere des Sees zu schaffen. Anfangs fand ich das noch klasse, hatte ich doch endlich meine Ruhe

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Begegnung mit Einheimischen 17 8

und die Einsamkeit, die ich mir vom Baikalsee erhofft hatte. Aber mit der Zeit suchte ich förmlich nach Leben. „Ach, da vorne sind Menschen!“, freute ich mich und steuerte mit dem Rad direkt auf die Gruppe zu. Erst beim Näherkommen bemerkte ich, dass es sich nur um Eisformationen handelte. Am kommenden Tag meinte ich ein Auto in der Ferne zu sehen. Auch hier war die Enttäuschung groß, als ich statt eines Autodaches aus Blech lediglich einen Eisblock zu fassen bekam. Daher traute ich meinen Augen kaum, als ich einen Geldschein im Eis sah. „So ein Quatsch! Das ist bestimmt nur ein weiterer Streich deiner Augen.“ Langsam fuhr ich weiter. „Und wenn es jetzt doch ein Geldschein war?“, fragte ich mich nachdenklich. Ich konnte diesen doch nicht einfach so liegen lassen! Man konnte doch nicht einfach an Geld vorbeigehen, wenn es förmlich auf der Straße lag. „Ach komm, Wolfgang, das war bestimmt nur eine Verfärbung des Eises!“ Aber die Sache ließ mir keine Ruhe. Nach ein


Die Eiswüste ruft paar Hundert Metern drehte ich abrupt mein Rad. Ich musste einfach Gewissheit haben. Schnell trat ich in die Pedale, um zu der Stelle zurückzugelangen. Nicht, dass der Schein jetzt zu allem Überfluss noch davonflog. Ein 100-Euro-Schein strahlte mir aus dem Eis entgegen. „Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ Flink sprang ich vom Rad und machte mich daran, den Schein vorsichtig aus dem Eis zu hacken, der in der Oberfläche eingefroren war. Wahnsinn, 100 Euro! Wie kamen die bloß hierher? Hatte die jemand verloren? Mitten auf dem Eis? Und wieso ein 100-Euro- und kein 100-Rubel-Schein? Ich begann mir die wildesten Geschichten zusammenzureimen. Aber weit und breit keine Menschenseele, niemand in Sicht, der den Schein verloren haben könnte. Kurzerhand steckte ich ihn ein und freute mich wie ein kleines Kind über meinen Fund. Erst in Deutschland merkte ich, dass es sich bei dabei um eine Fälschung handelte. Täuschend echt zwar, aber leider eine Blüte.

Njet! „Oh mein Gott!“ Nach sechs Tagen hatte ich etwa 250 Kilometer auf dem See zurückgelegt. Ich erreichte die Südspitze von Olchon, der größten und einzig bewohnten Insel im Baikalsee. Mein Ziel war der dortige Ort Chuschir, in dem es einen Lebensmittelladen geben sollte. Nun stand ich 15 Kilometer von Chuschir entfernt und erblickte vor mir eine Riesenbescherung: massive Packeisfelder, so weit das Auge reichte. Das durfte doch nicht wahr sein! Auf der Strecke bis Olchon war das Eis blank gewesen und ich war recht gut vorangekommen. Lediglich Eisspalten und einzelne Eisschollen waren meine Feinde gewesen. Diese fingen an zu kippen, im schlimmsten Falle rutschten sie auch weg, wenn man zu lange auf ihnen verweilte. Nun aber sah ich Packeisfelder bis zum Horizont. Wie zusammengeschobene Fensterscheiben türmten sich Eisschollen spitz und scharf übereinander. Teilweise ragten sie mehrere Meter in die Höhe! Die bizarrsten Formen und Gebilde entstanden dabei. Eigentlich wunderschön anzuschauen, doch ein Packeisfeld zu bewältigen, war bereits zu Fuß äußerst schwierig. Mit dem Fahrrad und einer sauschweren Ausrüstung schien es mir fast unmöglich. Das Pikante am Packeis ist, dass es zwischen den Eisschollen immer wieder offene Wasserflächen gibt, die man mit dem bloßen Auge oftmals nicht sieht. Aber es nützte ja nichts, ich musste da durch. Mein Weg führte schließlich nach Norden. Es holte mich ja niemand ab, wenn ich hier resignierte. Und ich konnte auch schlecht warten, bis das Eis im Frühjahr schmolz. Ich musste nach Chuschir gelangen, um meine Vorräte aufzufüllen. Das hatte jetzt Priorität. Daher galt es eine Lösung zu finden, wie ich das bewerkstelligen konnte. Es blieb nur eines: Mit voller Konzentration musste ich das Rad samt Gepäck über die Packeisfelder hieven. Das erforderte höchsten Krafteinsatz. „Komm jetzt! Komm, komm, komm!“, schrie ich mit lauter Stimme, um mich selbst

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zu motivieren. „Drüber jetzt! Ja, super!“, wenn es geschafft war. Bei einer solchen Aktion durfte nichts schieflaufen. Wäre mein Rad oder die Ausrüstung in den See gestürzt, hätte das die gesamte Unternehmung gefährden können. Hätte ich mich an den messerscharfen Schollen aufgeschlitzt, ebenso. Mit vielen Schreien bewältigte ich die Strecke von jämmerlichen 15 Kilometern in unvorstellbaren elf Stunden. Das waren mit Gewissheit die härtesten Kilometer meines Lebens. In Chuschir angekommen traf ich auf eine Gruppe von Touristen, die mit russischen Guides zu einer Fotosafari auf dem Baikalsee unterwegs waren. „Wie sieht denn die Eisbeschaffenheit weiter nördlich aus?“, wollte ich von den Guides wissen. „Besser als hier?“ „Njet!“, erhielt ich als einfache Antwort. „Ist es denn möglich, dort mit dem Fahrrad durchzukommen?“ „Njet!“, hörte ich ein weiteres Mal. „Und wenn ich ein paar Tage warte …“ „Njet!!!“, kam diesmal äußerst entschieden von meinem Gegenüber zurück. Selbst im Geländewagen sei es schwierig, den See zu passieren, ja teilweise sogar lebensgefährlich. Dabei beschränke sich das Packeis nicht nur auf eine kleine Zone, sondern auf weite Gebiete des nördlichen Baikalsees. Viele Regionen seien unpassierbar. Dazu muss man wissen, dass die Russen nicht zimperlich sind. Wenn selbst die Einheimischen ein Durchkommen für bedenklich hielten, dann war es für uns Europäer schlichtweg nicht machbar. Und wenn ich eines in Sibirien gelernt hatte, dann, dass Njet ganz klar auch Njet bedeutete. Ohne Wenn und Aber. Trotzdem wollte ich mich mit dieser Situation nicht abfinden, schließlich hatte ich ein Ziel vor Augen. So „vertrödelte“ ich weitere drei Tage, um Wege und Möglichkeiten zu finden, doch noch in den Norden vorzudringen. Ich recherchierte, machte und tat und war richtiggehend verzweifelt, aber egal was ich las oder wen ich fragte, alle wa18 0

ren der gleichen Meinung: Njet! Ich wusste, wenn ich jetzt loszog und auf Biegen und Brechen eine solche Kamikaze-Aktion startete, brachte ich mich selbst nur in Schwierigkeiten, blieb womöglich inmitten der Packeisfelder hängen. Um meinen Zug und den Flieger zurück nach Deutschland pünktlich zu erreichen, musste ich weiterhin täglich 50 Kilometer zurücklegen. Das war unter diesen Umständen völlig unrealistisch. Auch mein russisches Visum würde irgendwann abgelaufen sein – und dann hätte ich ein richtiges Problem. „Wenn ich nicht in den Norden komme, dann könnte ich doch versuchen, ganz in den Süden des Sees zu fahren“, überlegte ich vorsichtig, nachdem ich mich schließlich damit abgefunden hatte, dass mein Plan offensichtlich nicht realisierbar war. Ist der Norden unbezwingbar, dann bezwinge ich eben den Süden! Damit kam meine alte Stärke wieder durch: Ich suchte mir unwillkürlich ein neues Ziel. Eines, das mich motivierte, das mich wieder mit neuem Elan vorantrieb. Natürlich könnte ich Trübsal blasen und mich tagelang selbst bemitleiden, weil ich mein ursprüngliches Ziel nicht erreichte. Aber brachte


Die Eiswüste ruft mich das wirklich weiter? So ist es doch oftmals im Leben: Man hat ein Ziel, plant eine Strategie und merkt auf halber Strecke, dass dies nichts wird. Dann gibt es genau zwei Möglichkeiten: Man bricht an dieser Stelle die gesamte Unternehmung ab und ist komplett gescheitert oder aber man formuliert ein neues Ziel, entwickelt einen neuen Plan. Manchmal entsteht aus der Not heraus sogar ein besseres Ziel, es wird ein Weg gefunden, der vorher nicht vorhanden war oder den man ganz einfach nicht sah. Ein neues Ziel hieß immer auch neue Begeisterung. Neue Kraft. Neue Motivation. Mein neues Ziel hieß Kultuk und lag an der südlichen Spitze des Baikalsees. Die Sache hatte nur einen Haken: Den bereits mühsam überwundenen Packeisgürtel musste ich nun erneut bezwingen … Doch es hatte ja auch niemand gesagt, dass es einfach werden würde! Also machte ich mich an die Arbeit und kämpfte mich abermals durch die 15 Kilometer langen Packeisfelder. „Komm jetzt! Komm, komm, komm!“, schrie ich mir erneut die Seele aus dem Leib.

Massive Packeisfelder verwehrten mir den weiteren Weg in den Norden.


Nach 17 Tagen auf dem Eis hatte ich zwar nicht meine ursprünglich geplante Route, aber insgesamt immerhin 752 Kilometer in traumhafter Landschaft zurückgelegt. Ich hatte die volle Härte des Baikalsees erlebt, aber auch atemberaubende Naturerlebnisse und die Herzlichkeit der Menschen. Dennoch war ich nicht ganz zufrieden. Ich hatte noch eine offene Rechnung mit dem See – und offene Rechnungen sollte man begleichen! Noch bevor ich in den Flieger nach Deutschland stieg, war mir daher bewusst, dass dies nicht mein letzter Abschied von Sibirien sein sollte. Ich würde wiederkommen, das schwor ich mir! Aber nicht mehr alleine. Das nächste Mal wollte ich die Tour im Zweierteam bewältigen. Gemeinsam mit einem Gleichgesinnten, mit dem ich mir die tägliche Arbeit teilen und zudem ein Vielfaches an Sicherheit hätte – insbesondere bei Notfällen. „Na, endlich wirst du vernünftig“, war Iris’ erste Reaktion, als ich ihr noch am Telefon von meinen neuen Plänen erzählte. Sie war in großer Sorge gewesen, nachdem sie tagelang kein einziges Lebenszeichen von mir erhalten hatte. „Ich bin sofort dabei“, hörte ich Stefan Schlett am anderen Ende der Leitung sagen. Bereits fünfmal war er beim Marathon über den Baikalsee gestartet, war Finisher des Marathons in der Antarktis, am Mount Everest und in Spitzbergen. Er hatte einen Fallschirmsprung über dem Nordpol absolviert und war auf hohe Berggipfel wie den Elbrus, den Mount McKinley oder den Aconcagua gestiegen. Seit Jahrzehnten zelebrierte er das Eisbaden und bestritt in seinem Leben insgesamt 1.800 Wettkämpfe in 91 Ländern. Lange Rede kurzer Sinn: Stefan war der perfekte Mann für meine Revanche in Sibirien.

Baikalsee 2.0: Ständiges Krisenmanagement „Du musst entschuldigen, dass ich dir nicht helfen kann“, sagte Stefan zerknirscht, als 182

er mir zusah, wie ich mit zwei Benzinkochern gleichzeitig hantierte. „Aber ich kann mit den dicken Handschuhen ja nichts greifen!“ Entschuldigend hob er seine Hände nach oben. Natürlich konnte man damit nix anpacken: Die dicken Everest-Handschuhe waren Fäustlinge. Noch bevor wir im Januar 2015 überhaupt mit unseren Rädern gestartet waren, trug Stefan bereits die dicksten Handschuhe, die eigentlich zu unserer Notfallausrüstung gehörten. Noch bevor wir auch nur einen Meter auf dem Eis zurückgelegt hatten, gab es für Stefan in puncto Handschuhe keine Steigerungsmöglichkeit mehr. Er war bereits bei der höchsten Stufe angelangt. Aber das Kuriose daran war: Er hatte noch immer kalte Finger und fror erbärmlich. Er trug die Notfallkleidung und musste sich trotzdem wärmen, indem er die Arme schützend um seinen Körper schlug. Das war eine herbe Überraschung. Für uns beide. Gerade Stefan, der bereits so viel Extremsporterfahrung in den kältesten Regionen der Welt gesammelt hatte, war im Expeditionsalltag zunächst überhaupt nicht kälteresistent. Zwar kannte er den Baikalsee nur zu gut, nachdem er hier mehrfach beim


Die Eiswüste ruft Marathon gestartet war, aber eine Tour, bei der man sich Tage oder gar Wochen nur draußen aufhielt, das war eine ganz andere Hausnummer. Hier gelangte man körperlich und geistig mehrfach an das eigene Limit. Man musste über Disziplin und eine gehörige Portion Genügsamkeit verfügen. Musste mit dem auskommen, was gerade da war. Wenn man sich bei Temperaturen von bis zu minus 30 Grad selbst um alles kümmern musste, was zum Leben nötig war, dann war das eine ganz andere Dimension – und alles andere als eine gemütliche Komfortzone. Stefan ärgerte sich selbst am allermeisten darüber, dass sein Körper ihn im Stich ließ. Jahrelang konnte er sich stets auf ihn verlassen, wusste genau, wie weit er sich belasten

Baikalsee 2.0: Gemeinsam mit Stefan startete ich 2015 erneut.

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konnte – und jetzt fror er jämmerlich. Um seinem Ärger freien Lauf zu lassen, schimpfte er wie ein Rohrspatz: „Scheißhände, ihr seid zu überhaupt nichts zu gebrauchen!“ Missmutig schaute er sie an. „Zu gar nichts seid ihr nütze!“, ging seine Tirade weiter. Aber das half uns leider auch nicht weiter. Damit unsere Tour nicht bereits vor dem Start scheiterte, blieb nun alles an mir hängen. Jetzt musste ich nicht nur ein Zelt aufbauen, sondern zwei. Musste doppelt so viele Eisschrauben eindrehen, zwei Benzinkocher bedienen, zwei Fahrräder be- und entladen. Alles doppelt. Und das bei minus 30 Grad. Das war hart, insbesondere dann, wenn wir tagsüber bereits 50 Kilometer auf dem Rad zurückgelegt hatten, ich hungrig und müde war. Zu allem Überfluss fing ich auch noch an zu schwitzen, denn das alles bedeutete körperlich schwere Arbeit. Und was tat Stefan? Er stand daneben und fror. Ging vor dem Zelt auf und ab, schlang die dick befäusteten Hände um seinen Körper und wartete ungeduldig, bis ich endlich fertig war und er sich mit einem warmen Essen ins Zelt setzen konnte. „Du musst dich mehr bewegen!“, riet ich ihm vorsichtig. „Dann wird dir warm!“ Aber Stefan bedachte mich nur mit einem genervten Seitenblick und wanderte weiter auf und ab. Mit der Zeit akklimatisierte er sich jedoch an das Leben auf dem Eis. Die Arbeitsteilung wurde fortan den Umständen entsprechend vorgenommen. Während ich kochte, hackte Stefan das Eis oder rollte unsere Isomatten in den Zelten aus – eben alles, was mit den dicken Fäustlingen noch möglich war. Seine Tätigkeiten wurden immer wieder durch heftige Schüttel- und Aufwärmaktionen unterbrochen. Aber so blieb er wenigstens auf Temperatur. Bei meiner Solotour war ich bereits um acht Uhr morgens auf der Piste gewesen, jetzt kamen wir meist erst gegen Mittag los, denn es dauerte, bis ich alle Aufgaben erledigt hatte. „Stopp!“, rief Stefan dann oft nach den ersten Kilometern auf dem Rad. „Mir ist 18 4

warm!“ Wir hielten an, damit er seine Jacke ausziehen konnte. Aber das hieß nicht nur anhalten, Jacke aus, im Rucksack verstauen. Stefan konnte das mit den dicken Handschuhen ja nicht selbst erledigen. Noch konnte er den Reißverschluss seiner Jacke zuziehen, seine Brille aufsetzen oder den Mundschutz beim Radfahren vorziehen. Das war nun alles meine Aufgabe. Ich hatte ein Déjà-vu und dachte belustigt an den Abend mit dem Zeitungsmann an der Ostsee zurück, um den ich mich ebenfalls wie eine treusorgende Mutter gekümmert hatte. „Stopp!“ Ein paar Kilometer später kamen wir erneut zum Stillstand. „Mir ist kalt!“ Eine schmerzhafte Blasenentzündung belastete Stefan zusätzlich. Eine Krankheit, bei der man sich grundsätzlich warm halten, ausruhen und auf körperliche Hygiene achten sollte. Alles denkbar schwierig, wenn man mit dem Zelt auf einem zugefrorenen See unterwegs war. Ein weiteres Mittel für eine schnelle Heilung bescherte mir zudem eine ordentliche Portion an Mehrarbeit: viel trinken! Jedoch hieß viel trinken auf dem Baikalsee leider auch: viel Eis schmelzen. Sehr viel Eis. Und das bedeutete nun für


Die Eiswüste ruft

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Ich kann eigentlich gar nicht kochen – aber Stefan war glücklicherweise nicht wählerisch.

mich, dass ich neben der normalen Menge an Wasser für Essen und Trinken noch drei Liter zusätzlich kochen musste. Unsere beiden Benzinkocher liefen auf Hochtouren und zischten nur so vor sich hin. „Und bitte bereite mir auch noch etwas Wasser für die Wärmflasche zu!“ Als ich das hörte, war ich dann doch etwas irritiert. So viel Wasser produzieren zu müssen, hieß nämlich auch, über eine Stunde am Kocher gebunden zu sein. Auf der anderen Seite hatte ich auch Respekt vor Stefan, dass er die Tour trotz seines Handicaps eisern durchzog, während andere an seiner Stelle sicher schon längst kapituliert hätten. Nach dem Eisschmelzen ging es an die Essenszubereitung. „Ich kann eigentlich gar nicht kochen“, sagte ich zu Stefan, der das aber glücklicherweise nicht so eng sah. Also


schreibliches Chaos.

Im Innern der Fischerhütte herrschte unbe

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schmiss ich Nudeln in einen Topf, einen Brühwürfel hinterher, ein paar Wurststücke dazu und fertig. Aß ich dann eine Portion des Nudeltopfs, verschlang Stefan gleich deren drei. „Immerhin hast du durch die Kälte deinen Appetit nicht verloren“, sagte ich erleichtert, denn ich wusste ja, dass auf dem Baikalsee ein Gewichtsverlust leicht an die Substanz gehen konnte. Dennoch konnte ich förmlich zusehen, wie sich bei Stefan ein Kilo nach dem anderen ins Nirwana verabschiedete. Das bereitete mir große Sorgen. Sicher auch aufgrund seiner gesundheitlichen Verfassung – zu der Blasenentzündung gesellte sich zu allem Überfluss noch eine schwere Erkältung – verlor er in wenigen Tagen alle Robustheit und wog am Ende nur noch 63 Kilogramm – fünf Kilo weniger als zu Beginn unserer Tour. Kein Wunder, waren wir beide überaus erfreut, als uns eines Abends vier Fischer dazu einluden, die Nacht in ihrer Hütte am Seeufer zu verbringen. In unseren Ohren klang das nach wohltuender Wärme, einem gemeinsamen Essen, einem weichen Bett und ruhigem


Die Eiswüste ruft Schlaf. Also nahmen wir die Einladung dankbar an. Doch als wir die Hütte betraten, traute ich meinen Augen kaum. Ein solches Chaos, einen solchen Schmutz hatte ich in meinem gesamten Leben noch nicht gesehen. Überall lag Müll herum. Schmutzige Kleidung. Essensreste. Leere Flaschen. Der Dreck stapelte sich meterhoch in jeder Ecke des Raumes. Doch jetzt kam uns der große Vorteil der eisigen Kälte zugute: Man roch rein gar nichts. Weder den Müll noch andere Menschen oder sich selbst. Obwohl Stefan und ich tagelang schwitzend unterwegs gewesen waren und uns weder duschen noch waschen konnten, rochen wir unseren Körpergeruch einfach nicht – auch wenn wir mit 100-prozentiger Sicherheit ausdünsteten. So war es auch mit der Hütte: Man sah zwar den Unrat, aber man roch ihn nicht. Hätte man ihn gerochen, wären wir sofort wieder rückwärts aus der Tür getaumelt. Stefan störte sich nicht weiter am Chaos und schlief augenblicklich auf einer der angebotenen Pritschen ein. Ich hingegen durfte noch mit den Russen zu Abend essen. Auf dem Tisch entdeckte ich ein paar schmutzige Teller. „Jede Hundeschüssel ist sauberer“, dachte ich noch. Als das Essen fertig war, bekam ich große Augen. Das Essen wurde nicht etwa auf einem frischen Teller serviert, sondern auf einen der ungespülten Teller auf dem Tisch geklatscht. Prall gefüllt mit dampfendem undefinierbarem Inhalt machte dieser nun die Runde. Von einem zum anderen wurde der Teller gereicht, und jeder bediente sich genüsslich daran. Der Fischer, der mir gegenübersaß, griff eifrig nach der Gabel, die mit dem Teller herumging, und stopfte das Essen gierig in sich hinein. Dabei tropfte ihm der Speichel aus den Mundwinkeln, und der Sabber lief direkt auf den Teller. Mir drehte sich der Magen um. Mein Appetit war augenblicklich vergangen. Aber als der Teller zu mir kam, konnte ich nicht ablehnen, das wäre unseren Gastgebern gegenüber äußerst unhöflich gewesen. Mit spitzen Fingern nahm ich ihn daher, pickte lustlos im Essen und versuchte, mit meinem Mund den Abstand zur Gabel zu wahren. Gar nicht so einfach. Das machte ich zwei, drei Runden mit, doch als der Speichel meines Gegenübers immer wieder auf das Essen tropfte, wurde es mir zu eklig. „Ich bin satt – hab keinen Hunger mehr“, bedeutete ich den Männern wild gestikulierend, obwohl mir der Magen bereits in den Kniekehlen hing. Aber nicht nur der Teller machte die Runde. Auch die obligatorische Wodkaflasche wurde von einem zum nächsten gereicht. Innerhalb kürzester Zeit war sie geleert und wurde kurzerhand vor der Hütte entsorgt. Aber keine Panik, die nächste stand schon bereit. Recht bald verabschiedete ich mich und zog mich in meinen Schlafsack zurück. Doch die Russen beeindruckte das wenig. Sie tranken ungeniert weiter. Immer lauter, immer gereizter und immer aggressiver wurde die Stimmung unter ihnen. An Schlaf war dabei überhaupt nicht zu denken. Schließlich wurde es uns zu heikel, so dass Stefan und ich uns mitten in der Nacht aus der Hütte schlichen, um doch noch die Zelte im

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Wunderschรถn, aber bitterkalt: der Baikalsee

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Die Eisw端ste ruft

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Freien aufzubauen. Früh am Morgen, während die Russen noch friedlich ihren Rausch ausschliefen, schaute ich beim Aufbruch ein letztes Mal zur Hütte hinüber. Ich staunte nicht schlecht, was ich da sah. Respekt! Die Männer hatten ganze Arbeit geleistet: Sage und schreibe fünf leere Wodkaflaschen von nur einem einzigen Abend hatten sich vor der Tür gesammelt. Auf dem Baikalsee unterwegs zu sein, erforderte ständiges Krisenmanagement, um die vielen Probleme zu lösen, mit denen man jeden Tag aufs Neue konfrontiert wurde. Vor allem die klimatischen Bedingungen setzten uns zu. Durch die Temperaturschwankungen innerhalb eines Tages von rund 30 Grad war das Eis des Baikalsees permanent in Bewegung. Von einem auf den anderen Tag konnte sich die Oberfläche komplett verändern und gefährliche Eisrinnen, Spalten oder Packeisfelder hervorbringen. Aber auch orkanartige Winde und Schneestürme, die immer wieder wie aus dem Nichts aufzutauchen schienen, überraschten uns mit ihrer Gewalt. Da der See zudem in einem Erdbebengebiet liegt, gab es zu allem Überfluss alleine während unserer Expedition 2015 etwa 38 kleinere Beben in der Region. Bei all dieser Härte, die Sibirien uns bot, was sollte ich mich da über die ein oder andere kleine Unpässlichkeit in unserem Team beschweren? Ich war heilfroh, dass Stefan überhaupt mitgefahren war, um das Abenteuer Baikalsee gemeinsam mit mir zu bestreiten. Obwohl es mehr Arbeit für mich bedeutete, erlebte ich die gemeinsame Zeit sehr viel intensiver. Es war gut, jemanden an der Seite zu haben, mit dem man die negativen, aber auch die vielen positiven Eindrücke der Tour teilen konnte.

Bringt besser den Schwimmanzug mit 19 0

Ein Geräusch wie ein Kanonenschlag ließ uns erschrocken zusammenzucken. Zissschhhhh! In einer riesigen Fontäne spritzte Wasser direkt neben uns empor, und in Sekundenschnelle bildete sich unter unseren Rädern ein Riss, der quer durch das Eis verlief. Stefan bremste abrupt und sprang hektisch vom Rad „Wolfgang, ich bin an der Grenze meiner Belastbarkeit angelangt“, sagte er und deutete nach vorne. „Was hat er denn jetzt schon wieder?“, dachte ich leicht genervt, als ich abbremste und mit meinen Augen seinem ausgestreckten Arm folgte. Erst jetzt sah ich die Katastrophe. Offenes Wasser! Nur 20 Meter vor uns führte das schöne spiegelblanke Eis, das schwarz in der Sonne glänzte, nahtlos in den offenen See hinein. Auf den ersten Blick konnte man keinen Unterschied zwischen Eis und Wasser erkennen. Was man sah, war lediglich eine spiegelnde schwarze Oberfläche. Erst beim genaueren Hinschauen erspähte man winzig kleine Wellen, die offenes Wasser signalisierten. Eine tödliche Falle also. Nur wenige Meter weiter und wir wären direkt in den See hineingefahren. Hätte Stefan die Wasserfläche nicht gesehen, wären unsere schweren Räder im eisigen See versunken – mit


Die Eiswüste ruft oder ohne uns wären sie in Nullkommanichts in 700 Meter Tiefe verschwunden. Beides wäre eine Tragödie gewesen. Nach meiner schmerzlichen Erfahrung der Solotour 2013 hatten wir die Route etwas modifiziert. Gleich zu Beginn waren wir mit der Transsibirischen Eisenbahn in den Norden nach Sewerobaikalsk gefahren, wo wir am nordwestlichen Ufer des Baikalsees starteten. So nahmen wir die schwierigen Packeisfelder, die mir noch in grausiger Erinnerung waren, gleich vorweg, bevor wir in Zickzacklinien etwa 1.000 Kilometer Richtung Süden fuhren. Nun befanden wir uns wenige Kilometer südlich der Insel Olchon, genau dort, wo ich das letzte Mal scheiterte. Damals waren es die Packeisfelder gewesen, die mich verzweifeln ließen, nun stießen wir auf offenes Gewässer. Es war wie verflucht! Wütend ließ ich mein Rad in den Schnee fallen. Durch den relativ milden Winter war in diesem Jahr ein Naturphänomen aufgetreten, das in Sibirien nur etwa alle 80 Jahre vorkommt: Der bis zu 1.600 Meter tiefe Baikalsee war an vielen Stellen im südlichen Bereich nicht zugefroren. In der Regel ist das Eis von Dezember bis Mitte März bis zu einem Meter dick. Nun war es teilweise gar nicht vorhanden. Die Russen scherzten wenige Tage vor unserem Abflug bereits über diese klimatische Besonderheit: „Bringt lieber einen Schwimmanzug mit. Oder noch besser: das Unterwasserfahrrad!“ Und wir hörten von vielen Unglücksfällen, bei denen Autos im Wasser versanken und die Insassen qualvoll ertranken. Aber zu diesem Zeitpunkt war unsere Reise längst gebucht und die Visa seit Wochen beantragt. „Ach, wird schon nicht so schlimm werden“, versuchte ich zu beschwichtigen. Aber es wurde genau so schlimm. Und was jetzt? Wir standen nahe der Insel Olchon, und Stefan kapitulierte. Trieb ich ihn über sein Limit oder gar in den Tod, wenn wir weitermachten? Schließlich hatten wir ein Ziel – und vielleicht konnten wir in Ufernähe testen, ob das Eis dort stabiler war. Aber wie sollte ich ihn zur Weiterfahrt motivieren? Und wäre das überhaupt machbar? Oft genug hatte ich ihn in den letzten Tagen mühevoll antreiben müssen. Was mich total erstaunte, denn früher war es immer genau umgekehrt gewesen. Beim Laufen oder in Mexiko war er stets derjenige gewesen, der mich angespornt und nach vorne gepeitscht hatte. Nun war ich es, der diesen Part übernahm, das war mir sehr unangenehm, denn schließlich war ich 15 Jahre älter – aber es war nicht zu leugnen: Stefan litt, und seine Gesundheit war total im Keller. Verzweifelt schaute ich mich um. In der Ferne konnte ich eine Hütte erkennen. Eine kleine Blechhütte, die anscheinend einsam in der Wildnis stand. „Schau“, sagte ich zu Stefan. „Der liebe Gott hat es erkannt und uns am Horizont die Lösung präsentiert.“ Ich deutete hinüber an Land, aber Stefan zuckte nur unentschlossen mit den Schultern. Doch die Behausung war ein Glücksgriff. Dort lag sogar Holz, und wir konnten den

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Ofen anfeuern, um uns zu wärmen. Einfach traumhaft, endlich mal wieder ein warmer Schlafplatz! Doch in der Nacht wurden wir jäh geweckt. Draußen wütete ein fürchterlicher Sturm. „Hoffentlich hält die Hütte dem stand und fliegt nicht weg“, scherzte ich und dachte mit Schrecken daran, was die Kraft des Windes mit unseren Zelten auf dem Eis veranstaltet hätte. Am nächsten Morgen gab es keinerlei Diskussion mehr darüber, ob wir die Tour fortsetzten oder nicht. Stefans Gesundheitszustand war übel, das war nur allzu deutlich zu erkennen. Er musste bereits starke Antibiotika nehmen und war extrem geschwächt.


Unter diesen Bedingungen wäre es höchst riskant gewesen, ihn weiter zu pushen, auch wenn ich in mir den Drang verspürte, eine Lösung zu finden, um doch noch zu unserem Zielort zu gelangen. Aber warum sollte ich unser Leben für einen Streckenabschnitt aufs Spiel setzen, den ich 2013 bereits zweimal gefahren war? Mit Erstaunen registrierte ich, dass ich bei meiner Solotour viel risikobereiter gewesen war, weil ich mit aller Macht mein Ziel erreichen wollte. Obwohl ich damals noch keine Erfahrung mit dem See gemacht hatte, waren Eisbarrieren nichts weiter als eine riesige Herausforderung gewesen. Hatte es keine Spuren auf dem Eis gegeben, hatte ich mir meinen eigenen


Eine Fischerhütte am Ufer bot uns Unterschlupf.

Weg gesucht. Und als ich nicht mehr weiterkam, hatte ich extremste Schwierigkeiten gehabt, das zu akzeptieren. Dieses Mal jedoch war ich viel entspannter. Damals wollte ich mit allen Mitteln ans Ziel, nun suchte ich umgehend nach einer Alternative. Denn 194

ich trug jetzt nicht nur die Verantwortung für mich, sondern auch für Stefan. Nördlich von Olchon präsentierte sich uns eine Traumlandschaft mit paradiesischen Eisformationen unter blauem Himmel. Eingefrorene Schiffe, versteckte Eishöhlen, skurrile Eisskulpturen: Sie alle spiegelten sich im See und glitzerten in allen Farben prachtvoll in der Sonne. Ich musste nicht lange überlegen, das neue Ziel lag praktisch vor meinen Augen. Wenn ich mein sportliches Ziel nicht erreichen konnte, dann wollte ich mich wenigstens künstlerisch ausleben. Gesagt, getan. Rasch kramte ich meine Kamera hervor und schoss ausgiebig Fotos. Jetzt nahm ich mir die Zeit, die ich mir ansonsten wohl nie gegönnt hätte. Ich lief zu kreativer Höchstform auf. Von Deltamess, einem unserer Sponsoren, hatte ich eine frostfeste Wasseruhr mitgenommen. Dieses sperrige Ding hatte ich bereits quer durch Sibirien geschleppt – jetzt wusste ich auch wofür. Ich platzierte die Uhr millimetergenau inmitten der Eisplatten und erstellte faszinierende Aufnahmen. Die Fischer im Hafen beobachteten mich ganz genau bei meinem Tun und schauten sich verwundert an. Die kannten so was nicht und hatten noch nie einen


Die Eiswüste ruft derartigen Hahn gesehen. „Drink, Germanski!“, kamen sie auf mich zu, um sich das Spektakel aus der Nähe anzuschauen. Und Stefan? „Ich will mei Ruh!“, schimpfte er im breiten Fränkisch, wenn ich mein Smartphone zückte, um ein Lebenszeichen nach Deutschland zu senden. „Wir müssen doch den Sponsoren auch mal ein paar Fotos senden“, versuchte ich ihn zu beschwichtigen. „Das ist doch kein Akt!“ „Des is mir wurscht“, begehrte Stefan auf. „Ich will hier mei Ruh!“ Und flüchtete kopfschüttelnd ins Zelt. Erleichtert atmete ich auf: Wenn er mich so anschnauzen konnte, dann war er ganz klar auf dem Weg der Besserung!

Nördlich von Olchon präsentierte sich uns eine Traumlandschaft mit paradiesischen Eisformationen unter blauem Himmel.

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Er lief 200 Kilometer durch die Sahara, fuhr mit dem Rad 5.000 Kilometer quer durch die USA, absolvierte einen zehnfachen Ironman und schwamm 90 Kilometer rund um Fehmarn. Bis heute hat Wolfgang Kulow unzählige Extremsportevents in aller Welt bestritten und zahlreiche Weltrekorde aufgestellt. Was treibt ihn an? Wie trainiert er? Und wie schafft er es, seit über 50 Jahren an seine körperlichen und mentalen Grenzen zu gehen? Wolfgang Kulow erzählt seine Geschichte. Ungeschönt. Mit den Höhen und Tiefen seines Lebens als Extremsportler. Er erzählt, wie wichtig es ist, Träume zu haben und diese zu leben. Er zeigt, wie Extremsport auch noch im Alter möglich ist. Und er berichtet davon, dass Erfolg auf einem perfekten Zeitmanagement und einem erfüllenden Privatleben basiert – eine Lektion, die er schmerzhaft lernen musste.

ISBN 978-3-7307-0261-1 VERLAG DIE WERKSTATT


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