Leseprobe aus "George Best. Der ungezähmte Fußballer"

Page 1

Dietrich Schulze-Marmeling

VERLAG DIE WERKSTATT

GEORGE BEST DER UNGEZÄHMTE FUSSBALLER


K APITEL 5

Star in einem mittelmäßigen Team Nach dem Gewinn des Europapokals geht es mit Manchester United stetig bergab. Nur ein Jahr nach dem Triumph im Wembleystadion verschwindet United von der internationalen Bühne. Best ist zu diesem Zeitpunkt erst 23 und Europas Fußballer des Jahres. Aber seine Europapokalkarriere ist beendet. Frustriert sucht er Zuflucht im Saufen und bei der irischen Schauspielerin Sinéad Cusack, was in der Boulevardpresse hohe Wellen schlägt. Derweil wird seine Heimat von einem Bürgerkrieg heimgesucht, der das Alltagsleben radikal verändert. Und seine Mutter verfällt ebenfalls dem Alkohol.

Europa ade In der Saison 1968/69 bestreitet ein starker George Best 41 von 42 Ligaspielen und schießt dabei 19 Tore. Aber große Teile der Mannschaft funktionieren nicht mehr, sodass United in der Endabrechnung nur Elfter wird. Der Abstand zum neuen Meister Leeds beträgt 25 Punkte, zum ersten Absteiger Leicester City sind es nur zwölf. Don Revies Leeds United steht für einen anderen Fußball als Matt Busbys Manchester United. Revies Team ist technisch stark, aber auch hart und zynisch – nichts für Liebhaber des schönen Spiels. George Best bringt Leeds Fußball am besten auf den Punkt: „Sie spielen auf Zeit, sie zerren an deinem Trikot. Bei einem Eckstoß ziehen sie dir an den Haaren. Aber das Schlimmste war, dass sie auch sehr gut spielen konnten.“ Im Dezember 1964 hatte Leeds nach einem harten, ja brutalen Spiel Busbys United mit 1:0 geschlagen. George Best trug bis zu diesem Tag niemals Schienbeinschoner, da sie unbequem waren und verrutschten. 85


„Aber nach diesem Spiel trug ich sie immer gegen Leeds. Sonst wäre meine Karriere viel früher zu Ende gewesen.“ Im Europapokal der Landesmeister erreicht Titelverteidiger Manchester United das Halbfinale. Dort trifft man auf den AC Mailand, der u.a. mit Karl-Heinz Schnellinger, Giovanni Trapattoni und Giovanni Rivera antritt. Im San Siro unterliegt United mit 0:2. Beim Rückspiel am 15. Mai 1969 im Old Trafford erzielt Bobby Charlton das Tor zum 1:0, doch das reicht nicht. United ist ausgeschieden. Für Best ist es sein letzter Auftritt in einem europäischen Klubwettbewerb, und das, obwohl er eine Woche später erst 23 wird. Best bleibt United treu, aber die „Red Devils“ werden erst acht Jahre später wieder europäisch spielen, in der Saison 1976/77. Für den Weltklassefußballer ist die Situation im Klub nun ähnlich wie in der Nationalelf. Hier wie dort mangelt es ihm an Mitspielern, mit denen sich das höchste Niveau erklimmen lässt. Heute hält es keinen 23-jährigen Weltstar bei seinem Klub, wenn der sich nicht für die Champions League qualifiziert und die europäischen Abende wegfallen. Oder er lässt sich den Verzicht auf die große internationale Bühne fürstlich entschädigen. Team ohne Zukunft Matt Busby hatte es versäumt, seinen Kader rechtzeitig zu erneuern. Das United-Team, das zehn Jahre nach der Katastrophe von München den Europapokal gewonnen hat, war nicht nur älter, sondern auch leidenschaftsloser als die „Busby Babes“ von 1958. Außerdem war es so sehr auf ein (letztes) Ziel fokussiert, dass es anschließend in eine Sinnkrise geraten musste. Für eine Zukunft jenseits des Europapokalsiegs hat Busby nicht geplant. Seit Mitte der 1960er hatte die gesamte Konzentration der Besteigung des Mount Everest gegolten, wie der Manager den Europacup nannte. Die weitsichtige Personalpolitik, für die Busbys Name einst stand und deren letztes prominentes Produkt George Best war, wurde darüber geopfert. Als United die Spitze erreicht hatte und die Dämonen von München 1958 besiegt waren, befiel den Klub plötzlich eine große Leere. Best: „Als wir den Europacup holten, herrschte nicht 86


das Gefühl vor, dass wir von da aus weitermachen würden, sondern ein Gefühl der Erleichterung. (…) Mit etwas mehr Vorausplanung hätte 1968 der Beginn einer Dominanz in Europa werden können.“ In den Jahren 1964 bis 1968 blieb der einzige nennenswerte Neuzugang Torwart Alex Stepney. Manager Busby ist müde, fühlt sich den Helden von 1968 verpflichtet und verzichtet darauf, das Team zu verjüngen. Der hauptsächlich Leidtragende ist der junge Best. Law und Crerand steuern auf die 30 zu, Charlton ist schon darüber hinaus. Vergeblich bittet Best den Manager, ihm die Kapitänsbinde zu übergeben und um ihn herum ein neues Team aufzubauen. Frustriert stellt er fest, dass man sich nicht um die Dienste von Mike England, dem walisischen Nationalverteidiger von Tottenham, oder von Alan Ball, den für Everton spielenden Mittelfeldspieler und Weltmeister, bemüht hat. Uniteds Nachwuchsakademie liefert kaum mehr Fußballer für ein Spitzenteam. Obwohl Best in der Saison 1968/69 mit 53 Spielen nach Nobby Stiles (55) die meisten Pflichtspiele bestreitet, beginnt bereits sein Abstieg vom Zenit. Die zeitliche Koinzidenz mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Nordirland ist wohl eher zufällig. Aber die „Troubles“ bleiben nicht ohne Auswirkungen auf Best. Krieg in Belfast Am 14. August 1969 fällt im Westen Belfasts ein protestantischer/loyalistischer Mob in das katholische Lower-Falls-Gebiet ein. Die protestantische Polizei schlägt sich auf die Seite der Invasoren. Das gesamte Gebiet verwandelt sich in eine Kriegszone. In der Nacht vom 14. auf den 15. August werden sechs Menschen getötet und über 100 Häuser zerstört. Die Häuser der an der Grenze zum protestantischen ShankillGebiet gelegenen katholischen Bombay Street werden vollständig niedergebrannt. Bald greifen die Auseinandersetzungen auch auf andere Gebiete Belfasts über. Als zwei britische Armeebataillone in Belfast eintreffen, werden sie von der katholischen Bevölkerung mit Tee begrüßt. Mit seinen Angriffen kontert der protestantische/loyalistische Mob Forderungen der Bürgerrechtsbewegung nach einer Gleichstellung aller Bürger Nordirlands. Insbesondere die protestantischen Unterschichten 87


bangen um ihre Privilegien und befürchten ein Ende des „protestant state for protestant people“ und damit der nordirischen Eigenständigkeit. Nordirlands Protestanten möchten nicht in einem gesamtirischen Staat mit einer katholischen Mehrheit aufgehen. Allein im August 1969 werden in Belfast 1.820 Familien aus ihren Häusern vertrieben. 1.505 (83 Prozent) davon sind katholisch, das sind mehr als fünf Prozent aller katholischen Haushalte in der Stadt. Die Vertreibungen führen dazu, dass Belfasts Protestanten und Katholiken nun noch getrennter leben als jemals zuvor. Die Segregation nimmt also weiter zu, und besonders stark ist sie auf den unteren Stufen der sozialen Hierarchie. Bei Ausbruch der Pogrome ist die „katholische“ Irish Republican Army (IRA) nicht mehr als ein Veteranenhaufen. Aber die Schutzlosigkeit, die die katholische Bevölkerung während der August-Pogrome erfahren hat, erweckt sie zu einem neuen Leben. Als die IRA und mit ihr viele Katholiken den Eindruck gewinnen, die britische Regierung habe die Armee vor allem deshalb geschickt, um den Status quo aufrechtzuerhalten und die Republikaner einseitig zu entwaffnen, geht die IRA von der Verteidigung katholischer Viertel zum Angriff auf Soldaten und Polizisten über. Bis zum sogenannten Karfreitagsabkommen von 1998, das die bewaffnete Auseinandersetzung weitgehend beendet, werden ca. 3.500 Zivilisten, Paramilitärs, Polizisten und Soldaten getötet, ungefähr 1.400 davon in Belfast, das außerdem noch 20.000 Verletzte zu beklagen hat. Zwei Drittel der Opfer sind Zivilisten. Die Einheimischen sprechen von ihrem Bürgerkrieg als den „Troubles“. Party in Manchester Manchester befindet sich auf einem anderen Planeten als Belfast. Die beiden Industriestädte driften noch weiter auseinander. Während in der Provinzhauptstadt bald fast täglich geschossen und gebombt wird und viele Menschen ihre Viertel nicht mehr verlassen können, wird in Manchesters Nachtklubs weiter gefeiert. Zu Hause in Belfast wäre es undenkbar: Katholische und protestantische Iren oder Nordiren verstehen sich bei United bestens, nicht nur auf dem Spielfeld, sondern 88


noch besser am Tresen. Zu Bests engsten Trinkkumpanen gehören der Glaswegian Pat Crerand und der Mancunian Shay Brennan, Söhne irisch-katholischer Einwanderer. In einer Zeit, in der die konfessionelle und politische Polarisierung der nordirischen Gesellschaft in einen blutigen Bürgerkrieg eskaliert, ignorieren die irischen Fußballprofis die politischen, kulturellen und religiösen Trennlinien. Allen voran George Best. Dabei hilft ihm, dass er seine Heimatstadt vor Ausbruch der „Troubles“ verlassen hat. Wenn die Iren im Pub beisammensitzen, wird nicht über Politik diskutiert. Pat Crerand: „Das Thema war Fußball.“ Best habe „niemals an religiöse Bigotterie geglaubt. (…) Manchmal holst du Leute aus ihrer Umgebung, glaube ich, und wenn sie da raus sind, kann das ihre ganze Sicht auf die Dinge ändern. George kam mit 15 Jahren nach Manchester, also bevor die Troubles richtig losgingen. Er hatte eine andere Sicht auf die Dinge. Und George war ein heller Kopf, und trotzdem gibt es – vor allem in den Medien – ein paar Idioten, die das Vorurteil verbreiten, Fußballer seien zu doof zum Milchholen. Zu doof zum Milchholen ist aber das Letzte, was sie – verdammte Scheiße noch mal – auf dieser Welt sind, und George gehörte ganz bestimmt nicht in diese Kategorie. Er war ein heller, kluger Kopf.“ In der Person Best verschwimmen die Konturen der unterschiedlichen irischen Identitäten. Ob Best Katholik oder Protestant ist, interessiert in England und Manchester nicht wirklich. Hier ist er einfach nur „der Ire“ oder „der Nordire“. Wobei „der Nordire“ nicht konfessionell gemeint ist, sondern eher eine Steigerung „des Iren“ darstellt: noch rebellischer, noch ungezähmter. Erst recht, wenn er auch noch aus der Bürgerkriegsmetropole Belfast kommt. Sozusagen ein genetisch bedingter „troublemaker“. Sofern der protestantische East Belfast Boy irgendwelche religiösen Klischees bedient, dann ganz bestimmt nicht das vom hart arbeitenden, gottesfürchtigen und genussfeindlichen Ulster-Protestanten. Eher schon das vom saufenden und wilden „katholischen Kelten“. Als Best 1984 wegen Trunkenheit am Steuer arrestiert wird, beschimpft ihn der Polizeioffizier als „kleinen irischen Wichser“, „irischen Abschaum“ und „Stück irischer Dreck“. Ex-Frau Angie spricht 89


von Best später als „dieser kleine Ire“, „dieser betrunkene kleine Ire“, aber auch als „the wild irish charm“, „der wilde irische Strahlemann“. Best selbst bezeichnet sich mal als „mad irish sod“, als „verrückten irischer Sausack“. Auch Nordirlands Katholiken ist Bests Konfession nicht wichtig – und dies in einer Zeit, in der sich die sektiererische Spaltung der Gesellschaft täglich vertieft. Der für den „Observer“ und den „Guardian“ schreibende Journalist Séan O’Hagan wuchs in einem katholischen Viertel von Armagh auf, wo er als Jugendlicher Steine auf die britischen Soldaten geworfen hat. Er konstatiert: „Best hat uns eine dieser viel zu seltenen Gelegenheiten gegeben, uns selbst zu feiern, unser Heimatgefühl, und hat auf dem schillernden Zenit seines Schaffens eine gewisse Trans­zendenz postuliert. Keine Frage: Sein Lebensweg war derart flüchtig und selbstbestimmt, dass er sogar die festgefügten Loyalitäten zu einer bestimmten Gruppe seiner Heimatstadt überwinden konnte. Es war unwichtig, dass er Protestant war oder aus einem protestantischen Viertel stammte. Es zählte nur, dass er Nordire war. Solch eine Freiheit wird nur den wenigsten zuteil, auch wenn Best sie sich im Grunde genommen kraft seiner Einzigartigkeit selbst verliehen hatte.“ Ob im Osten oder Westen Belfasts: Beim Straßenkick wollen alle Kids George Best sein. Er ist einfach nur der Belfast Boy, „einer von uns“, der es in England zum großen Star gebracht hat. Wann immer ein Nordire außerhalb seines Landes erfolgreich ist, wird seine Konfession zweitrangig. Für den Moment herrscht ein Stolz, der die konfessionellen und politischen Lager übergreift. Bei Best bleibt dieser Stolz nicht auf Nordirland beschränkt; er wird auch im katholischen Süden der Insel verehrt. Dabei hilft ihm, dass er mit United für einen Klub spielt, für den sich die Fußballfans in der Republik bereits vor Best erwärmten und der vielen von ihnen als zumindest katholisch angehaucht gilt. Auch im Süden ist Best also „einer von uns“. Ein Telegramm vom Premierminister Im Sommer 1969 tritt Busby nach 24 Jahren als United-Manager zurück, aber auch in den nächsten Jahren führt kein Weg an ihm vorbei. Sein 90


Nachfolger Wilf McGuinness findet eine Baustelle vor, auf der er nicht nach seinen Vorstellungen aufräumen und bauen darf. Denn im Hintergrund regiert unverändert Busby, der nun zunächst die Position des Generalmanagers übernimmt. Vom Dezember 1970 bis Juli 1971 fungiert er als Geschäftsführer, von 1971 bis 1980 als Klubdirektor. McGuinness will das Team verändern, aber über Neuverpflichtungen entscheidet Busby. McGuinness’ Transferwünsche werden nicht erfüllt. Stattdessen hält Busby seine Hände schützend über die Helden von 1968, insbesondere über die „Trinity“ Charlton, Law und Best. McGuinness über seine schwierige Situation: „Als ich Bobby Charlton und Denis Law nicht aufstellte, war das, als hätte ich eine Atombombe gezündet. Die Leute sagen, dass ich auch Best draußen gelassen hätte – wenn ich ihn hätte finden können.“ Aber Best fehlt des Öfteren beim Training. Der Start des neuen Trainers verläuft katastrophal. In den ersten sechs Meisterschaftsspielen bleibt United sieglos: Drei Unentschieden, drei Niederlagen und nur drei Tore stehen zu Buche. Klasse zeigt United nur noch punktuell. Am 3. Dezember 1969 unterliegt United im Halbfinale des League Cup auch dem Lokalrivalen City. Am Ende des Spiels tritt Best den Spielball aus den Händen von Schiedsrichter Jack Taylor. Er wird des Platzes verwiesen und Anfang November für vier Wochen gesperrt. Außerdem muss er eine Geldstrafe von 100 Pfund zahlen. Am 7. Februar 1970 ist er zurück im Spiel. United muss im FA Cup bei Northampton Town antreten. Best schießt ein halbes Dutzend Tore, und die „Red Devils“ gewinnen mit 8:2. Labour-Premier Harold Wilson, der erste erklärte Fußballfan an der Spitze des britischen Staates, schickt Best ein Glückwunschtelegramm. Doch der bleibt unberechenbar. Am 18. April wird er ein zweites Mal in dieser Saison vom Platz gestellt. Diesmal im Trikot von Nordirland, nachdem er beim Länderspiel gegen Schottland den Schiedsrichter bespuckt und mit Dreck beworfen hat. Den Nordiren belasten nicht nur die Situation bei United, sondern auch die politische Entwicklung in seiner Heimat und ihre Auswirkungen auf seine Familie. Als Best 1970 erstmals seit Ausbruch der „Troubles“ wieder einen Kurzurlaub in Belfast verbringt, ist er entsetzt 91


darüber, wie sich die Stadt verändert hat. „Die Straßen waren nicht mehr voll mit fußballspielenden Kids, sondern mit britischen Soldaten und Panzerwagen. Ich hatte davon Bilder im TV gesehen, aber nun, wo ich es erstmals mit eigenen Augen sah, wurde mir klar, was dies für meine Familie täglich bedeutete. Sie mussten ständig wachsam sein und sich umschauen. Meine Schwester Carol sang in einem Kirchenchor, und manchmal musste sie durch Wolken von Tränengas zur Kirche rennen.“ Bests Schwester Barbara: „Als George zurück nach Belfast kam, um uns zu besuchen, war er ehrlich schockiert darüber, wie schlecht sich die Dinge in seiner Heimatstadt entwickelt hatten. Sektiererische Morde und Bombenanschläge waren alltäglich und erfolgten wahllos. In der Stadt war das Nachtleben abgeschafft. Sogar wenn man das Stadtzentrum bei Tageslicht betreten wollte, wurde man durchsucht. In den frühen 1970ern wurden Hunderte von Menschen ermordet. Tausende blieben für ihr Leben verkrüppelt. Belfast war wirklich eine Stadt, die von Angst beherrscht wurde. Unsere Eltern waren ständig besorgt, dass einem von uns etwas Schreckliches zustoßen könnte. Aber wenigstens waren sie froh darüber, dass George draußen sicher war.“ Que Sera United beendet die Saison 1969/70 als Achter. Best ist mit 15 Toren in der Liga und 23 in allen Wettbewerben erneut Uniteds erfolgreichster Torschütze. Er ist in 37 von 42 Meisterschaftsspielen dabei, insgesamt kommt er auf 53 Pflichtspieleinsätze. Nur Charlton (57), Sadler (57) und Keeper Stepney (54) stehen noch häufiger auf dem Platz. Dennoch wird Best immer frustrierter und ist kaum noch zu kontrollieren. Einer der weltbesten Fußballspieler spielt für einen Klub, der auch in der heimischen Liga nur noch Mittelmaß ist. 1970 zieht Best in das südöstlich von Manchester bzw. in dessen Speckgürtel liegende Bramhall. Die wohlhabende Kleinstadt zählt heute 25.000 Einwohner. Es gibt viele Restaurants und Bars, außerdem teure Bekleidungsgeschäfte und Schönheitssalons. Der prominenteste Sportverein ist der Bramhall Cricket Club. Golfenthusiasten stehen gleich zwei Plätze zur Verfügung. Bramhall ist ein Ort, wo sich angenehm leben lässt, wenn man über das notwendige Geld verfügt. 92


Best lässt sich vom Architekten Frazer Cane für viel Geld ein Haus in der Blossom Lane bauen. Für die einen ist der futuristisch wirkende Bau das Werk eines genialen Architekten, für die anderen, insbesondere die konservativen Bürger Bramhalls, eine riesige Herrentoilette. Best: „Es war ein Geistesblitz, allerdings zur falschen Zeit am falschen Ort. Man hatte zum ersten Mal diese weißen Verblendungselemente benutzt, die heute öfter mal zum Einsatz kommen. Deshalb glaube ich, dass es wohl ein bisschen nach Toilette aussah. Für mich war es aber ein wunderschönes Haus.“ Das Innenleben des Hauses gleicht einer „James-Bond-Parodie“ (so der Autor Ulrich von Berg). Alles ist vollautomatisch, „aber wenn man den Knopf drückte, durch den die Jalousien herabsinken sollten, lief die versenkbare Badewanne voll“ (von Berg). Bests Jaguar E wird unterirdisch geparkt. Das einstöckige Flachdachgebäude hat an allen Seiten hohe Panoramafenster, die aber von außen nicht einsehbar sind. Als Barbara Best ihren Bruder in seinem neuen Heim besucht, drücken sich gerade Dutzende von Neugierigen ihre Nasen an den Scheiben platt. Von Berg: „Im Vorgarten kampierten immer irgendwelche Mädels, die obendrein die Goldfische aus dem von einem Landschaftsgärtner angelegten Teich klauten.“ Best tauft sein Haus Que Sera. Während sich Frazer Cane mit dem Bauwerk einen Lebenstraum verwirklicht hat, wird für Best sein neues Heim eher zu einem Albtraum. In Que Sera kommt er nicht zur Ruhe und ist doch einsam. Das Haus, auf das er zunächst mächtig stolz ist, gerät zum Fluch. Barbara Best: „George flüchtete in den Alkohol. Er erzählte mir, dass er erst um fünf Uhr in der Früh nach Hause käme, ‚weil ich zu viel Angst habe, auf diesen Präsentierteller, der mein Heim ist, zurückzukehren‘.“ „Belfast Boy“ Im gleichen Jahr erscheint die erste musikalische Hommage an Best. Der aus Coventry stammende Sänger Don Fardon, der 1968 mit seiner Single „Indian Reservation“ die Hitparaden stürmte, veröffentlicht „Belfast Boy“.

93


When I saw you, you looked like a diamond As you played in the dust and the grime Just a boy from the country of Ireland And I knew I could make you shine Coz you move like a downtown dancer With your hair hung down like a mane And your feet play tricks like a juggler As you weave to the sound of your name Just play the way the ball bounces And bounce the way the ball plays Coz you won’t have long in the limelight No you won’t have many days When you live and you play for United With your life and your blood and your soul You run and you kick and you fight it And you learn every way to the goal Georgie, Georgie, they call you the Belfast Boy Georgie, Georgie, they call you the Belfast Joy And they say Georgie, Georgie, keep your feet on the ground Georgie, Georgie, when you listen to the sound Georgie, Georgie, put a light on your name Yeah, yeah, yeah, play the game Play the game, boy, play the game Play the game, yeah, play the game Whoa play the game, man, play the game Yeah play the game, now, play the game Play the game, yeah, play the game

Bezogen auf Bests sportliche Karriere wirken die Zeilen „Coz you won’t have long in the limelight / No you won’t have many days“ geradezu prophetisch.

94


Abstieg Obwohl Wilf McGuinness im August 1970 offiziell den Titel eines Managers erhält, verbessert sich seine Situation nicht. Bei vielen Spielern hat er einen schweren Stand. Einige mögen nicht, dass McGuinness bei Teambesprechungen regelmäßig die Taktiktafel benutzt; Busby tat dies nur gelegentlich. Auch dass er einmal Bobby Charlton zur Strafe 20 Liegestütze machen lässt, weil dieser die Hände bei Regen und Kälte in den Taschen seines Trainingsanzugs verbirgt, kommt nicht gut an. McGuinness größtes Problem ist aber George Best. Dessen unprofessionelles Verhalten stößt vielen Mitspielern auf, bleibt aber ohne Konsequenzen. McGuinness benötigt den Iren, und im Hintergrund hält Matt Busby seine Hände über das Enfant terrible. Aber auch Busby ist mit seinem Lieblingsspieler längst überfordert. Bests Leben besteht immer mehr aus Alkohol und Sex. Mit dem ihm eigenen Hang zu Nihilismus und trockenem Humor erzählt er später: „1969 habe ich die Frauen und den Alkohol aufgeben. Es waren die schlimmsten 20 Minuten meines Lebens.“ Niemand kann mit Gewissheit sagen, wie Best sich ohne den Suff entwickelt hätte. Vielleicht wäre er mit den Jahren noch besser geworden. Rodney Marsh, ein weiterer Repräsentant der „Einzelgänger-Generation“ im englischen Fußball und gewissermaßen die Antwort des Lokalrivalen City auf Best, ist überzeugt, sein Konkurrent sei zwischen 1968 und 1970, also für zwei Jahre, der beste Spieler der Welt gewesen sei. Denis Law glaubt sogar, „dass wir das Beste von ihm nicht gesehen haben. Er ging kaputt, als er noch besser werden konnte. Du erreichst deinen Höhepunkt als Spieler mit 28 Jahren. Aber da war er bereits verschwunden.“ Bests durchzechte Nächte schwächen seine Physis, auf dem Platz verliert er an Tempo. Dass er dennoch so wichtig und unersetzbar für sein Team bleibt, liegt daran, dass er trotz des Suffs hart trainiert. Sofern er trainiert. In der Saison 1970/71 marodiert United weiterhin im Mittelmaß, erneut springt nicht mehr als Platz acht heraus. Immerhin erhält Best ein weiteres Telegramm des Premierministers. Am 28. November 1970 95


spielt United daheim gegen Huddersfield. Die Mannschaften trennen sich unentschieden (1:1), für United trifft Best. Prominentester Fan der Gäste aus den Midlands ist Harold Wilson, der nun Best erneut seine Glückwünsche übermittelt. Best fühlt sich mittlerweile in einer surrealen Welt: „Ich dachte, was ist mit dem Premierminister los, dass er mir schreibt.“ Ein Wochenende in Islington Nach wiederholten Verwarnungen muss Best am 4. Januar 1971 vor der Disziplinarkommission der FA erscheinen. Der Sünder lässt die Herren drei Stunden warten. Diese verurteilen ihn zu einer Strafe von 250 Pfund und einer Sperre von sechs Wochen, die aber auf Bewährung ausgesetzt wird. Fünf Tage später tritt United bei Chelsea an. Stamford Bridge ist nach Old Trafford Bests zweiter Lieblingsspielplatz. Aber an diesem Samstag gibt es für ihn in London noch ein besseres Plätzchen als das Chelsea-Stadion. Zunächst verpasst er die Abfahrt der Mannschaft nach London. Er nimmt einen Zug später, entscheidet sich dann aber nicht für den Westen, sondern den Norden der Hauptstadt. In Islington, Hochburg der linken Schickeria, aber auch bei Rockstars und anderen Künstlern sehr beliebt, besucht Best die irische Schauspielerin Sinéad Cusack. Er verbringt das Wochenende in ihrem Appartement und ohne Fußball. Hinter den zugezogenen Gardinen geht es aber nicht fröhlich zu. Cusack berichtet von einem besorgten Best in einer „Mir geht es so schlecht“-Stimmung. „Ganz ehrlich: Ich verstand seine Probleme nicht.“ Doch die beginnen nun erst richtig. Ein Best-loses United verhilft Chelsea zum ersten Sieg nach zehn sieglosen Spielen, die West-Londoner gewinnen mit 2:1. Am Sonntagnachmittag haben die Journalisten Bests Aufenthaltsort herausgefunden und belagern nun das Cusack-Appartement. Sogar Kamerateams der TV-Sender haben Position bezogen. Die Medien berichten live. So können Best und Cusack den Auflauf vor dem Haus nicht nur aus dem Fenster, sondern auch in den „Nine o’Clock“-News verfolgen. Inzwischen pilgern auch die Fans nach Islington, in der Hoffnung, einen Blick auf den Fußballstar und 96


© imago-sportfoto © Uwe Koopmann

George Best als 17-Jähriger in der Kabine des Manchester-United-Stadions Old Trafford (August 1963).

Belfast, Burren Way Nr. 16: George Bests Kinderzimmer. Auf dem Bett liegt ein Trikot der Wolverhampton Wanderers, deren Fan der junge Best war.


Die berühmteste Landlady in der Geschichte des englischen Profifußballs: Mrs. Mary Fullaway, bei der Best in Manchester unterkam und die ihm mehrere Jahre das Frühstück bereitete.

© imago-sportfoto (3)

Best im letzten Spiel der Saison 1966/67 (0:0 gegen Stoke City), in der United Meister wurde.


Englischer Meister 1967: George Best nimmt die Gl체ckw체nsche von League-Pr채sident Joe Richards entgegen.


1968 gewinnt Manchester United erstmals den Europapokal der Landesmeister. Mit der Trophäe, v.l.n.r.: Pat Crerand, George Best, Matt Busby.

Englands Manager und Englands FuĂ&#x;baller des Jahres 1968: Matt Busby und George Best.


Š imago-sportfoto (3)

Best nimmt MaĂ&#x; in einer seiner Boutiquen.


Zwei United-Stars, die in unterschiedlichen Welten lebten: Bobby Charlton und George Best (M채rz 1970).


Š imago-sportfoto


Š imago-sportfoto

Der Tempo-Dribbler in Aktion (April 1972).


ein Autogramm zu erheischen. Die Haustür wird aufgebrochen, eine Horde aus Journalisten und Fans stürmt in das Treppenhaus, in dem sich bald panikartige Szenen abspielen. Einige der Eindringlinge hämmern mit ihren Fäusten an der Tür zum Appartement. Ein Reporter bittet Best um „einige Worte“. Dieser öffnet kurz die Tür und bellt den Mann an: „Alles, was du möchtest, ist eine gebrochene Nase – hau ab!“ Erst die eintreffende Polizei kann die Belagerung beenden. Das Wochenende mit der Cusack schafft es drei Tage lang auf die Titel- und Rückseiten des nationalen Boulevards. Best: „Prince Charles hätte nicht so viele Presseberichte bekommen.“ Im britischen Unterhaus moniert ein konservativer Hinterbänkler den moralischen Verfall in der modernen Gesellschaft im Allgemeinen und im Profifußball im Besonderen. Ein anderer kritisiert die Verschwendung von Steuergeldern für den Schutz des Fußballstars. Die „Times“ widmet einen ihrer drei Kommentare dem Wochenende in Islington (die anderen beiden beschäftigen sich mit der Politik des Finanzministers und dem Zustand der kommunistischen Parteien weltweit). Die Zeitung konstatiert unter der Überschrift: „The Price of Indiscipline“: „Dies sind traurige Tage für die Liebhaber des Fußballs.“ Man möchte es im Nachhinein als Demonstration gegen das in Nordirland eskalierende Sektierertum begreifen, dass da in London ein nordirischer Protestant mit der südirischen Katholikin kuschelt. Denn daheim in Belfast werden derartige Beziehungen von den loyalistischen Paramilitärs mit allerhöchstem Argwohn betrachtet und sogar mit dem Tod bestraft. United sieht die Sache weniger symbolhaft und sperrt den Star für zwei Wochen. Währenddessen wird der schottische Fußball von einem verheerenden Unglück erschüttert. Am 2. Januar sind beim Glasgower Derby zwischen den Rangers und den Celtics 60 Fußballfans ums Leben gekommen. Celtic war in der 89. Minute durch ein Tor von Jimmy Johnstone in Führung gegangen, woraufhin Tausende von Rangers-Fans aus dem Stadion flüchteten. In der folgenden Massenpanik wurden Hunderte niedergetrampelt. Am 27. Januar kommt es im Glasgower Hampden Park zu einem Benefiz-Spiel für die Hinterbliebenen, das die beiden verfeindeten Glasgower Giganten, die „protestantischen“ 97


Rangers, die unverändert keine Katholiken mitspielen lassen, und die etwas liberaleren „katholischen“ Celtics für 90 Minuten zusammenbringt. Vor 81.404 Zuschauern spielt eine Rangers/Celtic-Kombination gegen eine schottische Auswahl ohne die „Old Firm“-Akteure. Das Celtic/Rangers-Team wird durch Best, Bobby Charlton und ChelseaKeeper Peter Bonetti verstärkt. Schottland gewinnt mit 2:1, für das Rangers/Celtic-Team trifft Stargast Best. Obwohl der Dämon Alkohol von Best immer mehr Besitz ergreift und trotz seiner Eskapaden, ist Best auch in der Saison 1970/71 Uniteds wichtigster und effektivster Spieler. Er absolviert erstaunliche 40 von 42 Meisterschaftsspielen und schießt mit 18 erneut die meisten Tore. Inklusive FA- und League Cup kommt er sogar auf 48 Einsätze, was hinter Charlton Platz zwei bedeutet. Doch Best sieht sich Erwartungen ausgesetzt, mit denen er, wie er später bekennt, mangels Reife nicht umgehen kann. Seine Tore seien immer wichtiger geworden, weil andere nicht so regelmäßig trafen. „Anstatt sich um mich zu scharen, war das Team von mir abhängig. Ich trank nun immer stärker, und auf dem Spielfeld wurde meine Liste der Verwarnungen immer länger und meine Geduld immer kürzer.“ Eine Familie unter Stress In seiner East Belfaster Heimat hat der Star mittlerweile nicht nur Freunde. Die Medienberichte über seine Eskapaden machen seinen Eltern Dickie und Anne zu schaffen. Barbara Best: „Einige Kommentare in den Medien waren extrem bissig und verletzend. George konnte das vielleicht abschütteln. Aber besonders für unsere Mutter war das nicht so einfach. Sie war eine scheue, sehr zurückgezogene Frau, aber sie sah die Zeitungen übersät mit Artikeln, die nicht nur die Karriere ihres Sohnes betrafen, sondern auch sein Privatleben und das ihrer Familie.“ Bests hedonistischer Alltag ist viel zu weit entfernt von dem eines evangelikalen Fundamentalisten, der dem Alkohol entsagt und auch anderen Freuden des Lebens nur äußerst kontrolliert frönt. Schon 1967, als Best erstmals mit Alkohol am Steuer erwischt wird, sehen Teile der protestantischen Community das Image Belfasts beschädigt. Dass religiöse Bigotterie und Diskriminierung das Ansehen der Stadt viel 98


stärker in Mitleidenschaft gezogen haben, als es Best mit seiner Sauferei und seinem ausschweifenden Sexualleben jemals könnte, ignorieren die Selbstgerechten geflissentlich. Aber auch mit dem Alltag der weniger religiösen Protestanten East Belfasts, der industriellen Arbeiterklasse, hat sein Leben nichts mehr gemein. Best taucht auch kaum noch in seiner Heimat auf. Anne Best sieht sich heftigen Attacken ausgesetzt, zuweilen wird ihre Kompetenz als Mutter angezweifelt. In Manchester hofft Busby, George Bests private Probleme dadurch in den Griff zu bekommen, dass die Familie zu ihm übersiedelt. United bietet den Bests ein möbliertes Haus in Manchester an, als Miete wäre wöchentlich ein Pfund zu entrichten, ein eher symbolischer Preis. Der Klub will Dickie Best sogar einen Job besorgen. Aber die Eltern entscheiden sich dafür, in Belfast zu bleiben. Die Schwestern Barbara und Carol wollen nicht ihre Freunde und ihre Schule aufgeben. Mittlerweile ist der Dämon Alkohol auch in das Haus im Burren Way eingezogen. 1967 ist Anne Best im Alter von 43 Jahren noch einmal Mutter geworden. Es ist das sechste Kind und der zweite Sohn. Bis zu ihrem 44. Lebensjahr hat Anne nicht einen Tropfen Alkohol getrunken. Überhaupt gab es im Hause Best bis dahin keinen Alkohol. Das ändert sich nun. Wie Tochter Barbara berichtet, ist ihre Mutter nie darüber hinweggekommen, dass sie ihren Sohn George so früh verlor. Nach Georges Abschied Richtung Manchester habe Anne sich verändert. Die Sorgen um den geliebten Sohn, den sie furchtbar vermisst, die ständigen Schlagzeilen in den Medien, nicht nur über Georges Privatleben, sondern auch über das ihrer Familie, die Reporter vor dem Haus im Cregagh Estate, die schiefen Blicke aus der eigenen Community und möglicherweise auch das weitere Kind – in der Summe ist das zu viel für Anne Best. Eine der Ersten, die ihr Alkoholproblem erkennen, ist Georges Landlady Mary Fullaway. Wenn die Eltern ihren Sohn in Manchester besuchen, übernachten sie in der Aycliffe Avenue. Wenn Mrs. Fullaway anschließend sauber macht, entdeckt sie rund um das Haus leere Flaschen. Während Mutter Anne mehr und mehr dem Alkohol verfällt, warnt sie ihren Sohn vor den Folgen des übermäßigen Konsums. 99


Auch als Alkoholikerin bleibt sie in ihrer Mutterrolle. Aber zu Hause im Burren Way geht es bald zu wie in fast allen Haushalten mit einem Alkoholkranken. Anders als ihr Sohn, der sich seines Problems noch gar nicht richtig bewusst ist, säuft Anne heimlich. Sie versteckt die Flaschen in der Küche unterm Spültisch, in Schränken oder unter den Büschen im Vorgarten. Wenn die anderen Familienmitglieder nach Hause kommen, werfen sie erst einmal einen prüfenden Blick durch das Fenster. Sitzt Anne Best im Sessel, hat sie getrunken. Riecht es im Hausflur nicht nach Essen, greift sie bereits seit Stunden nach der Flasche. Dickie Best bittet die Besitzer der umliegenden Bars und Getränkeläden, seiner Frau keinen Alkohol mehr zu verkaufen. Fortan schickt Anne ihre Tochter Carol in die Rosetta Bar, um ihr eine Flasche Wein zu organisieren. Während ihr Alkoholkonsum steigt, wird sie zusehends depressiver. Irgendwann weiß jeder im Viertel, dass Anne Best, die Mutter des berühmten Fußballers, eine Alkoholikerin ist, spätestens, nachdem sie einen vor dem Haus lauernden Journalisten lautstark zusammengefaltet hat. Der Angegriffene hat versucht, Anne öffentlich bloßzustellen: „Du bist nur eine Säuferin, und jeder weiß das! Ohne mich wäre George nicht dort, wo er heute ist.“ Aber die kleine Frau schlägt zurück: „Ohne Leute wie George hättest du keinen Job!“ Ein anderes Mal liefert sie sich im Pub eine handgreifliche Auseinandersetzung mit Gästen, die ihren Sohn und ihre Familie beleidigt haben. Enttäuscht müssen Barbara und Carol Best immer wieder feststellen, dass ihr Bruder Versprechungen nicht einhält, vor allem wenn es darum geht, die Mutter zu besuchen. George lässt sich immer seltener im Burren Way Nr. 16 sehen. Anfangs kommt er noch alle 14 Tage nach Belfast, dann nur noch einmal im Monat, schließlich nur noch sporadisch. Dennoch macht Anne ihren Sohn nie für ihre Probleme verantwortlich. Auch Barbara Best widerspricht der These, dass George die Ursache dafür gewesen sei, dass die Mutter zur Alkoholikerin wurde. Dass George das Haus so früh verließ und die Berichte der Medien, so mutmaßt sie, mögen den Griff zur Flasche beschleunigt haben. „Aber dadurch wurde sie nicht zur Alkoholikerin. Alkoholismus ist eine Krankheit, eine Sucht. Nicht jeder, der trinkt, wird 100


Alkoholiker. Wir glauben, dass unsere Mutter, George und unsere jüngere Schwester Julie alle dasselbe Gen besitzen, das sie gegenüber der schrecklichsten Form von Sucht verletzlich macht.“ Gewalt und Vertreibung in Belfast Bei United bleiben unterdessen die wichtigsten Probleme ungelöst. Busby will zur Saison 1971/72 Jock Stein als Manager verpflichten, aber sein Landsmann lehnt ab. Ein weiterer Kandidat, David Sexton von Chelsea, möchte die Hauptstadt nicht gegen den Nordwesten tauschen. So wird der aus Cork stammende 43-jährige Ire Frank O’Farrell neuer Trainer. Zuvor hat er Leicester City betreut und den Klub in die First Division geführt. United gibt dem soliden Mann der alten Schule einen Fünfjahres-Vertrag. Vor der Saison geht Pat Crerand im Alter von 32 von Bord und wird Mitglied des United-Trainerstabs. Der 29-jährige Nobby Stiles wird nach 392 Spielen und 19 Saisons im United-Trikot für 20.000 Pfund an den FC Middlesborough verkauft. Während die Alten verschwinden, steckt Uniteds Nachwuchsarbeit in einer Krise. Dem einst so gepriesenen Unterbau mangelt es an hungrigen Talenten, die in die 1. Mannschaft drängen. Eine der wenigen Ausnahmen ist der Nordire Sammy McIlroy, der wie Best aus East Belfast stammt und 1969 als 15-Jähriger zu United kam; es war Busbys letzte Verpflichtung. Am 6. November 1971 gibt der Mittelfeldspieler 17-jährig sein Debüt bei den Profis. Im Stadtderby trennen sich City und United an der Maine Road mit einem 3:3-Unentschieden. Für United trifft auch Debütant McIlroy. Bei einer Durchsicht der Gehaltsliste entdeckt O’Farrell, dass Best noch immer weniger verdient als Charlton und Law. Der Manager sorgt dafür, dass Best nun mit einem Grundgehalt von 225 Pfund pro Woche zum besten Verdiener des Teams wird. Für Best ist das zu wenig: Er sei 1.000 Pfund pro Woche wert. United würde ihn ausbeuten. Als er später nicht zum Training erscheint, schiebt er den Gehaltsdisput vor. Vom wahren Grund, seiner depressiven Stimmung, soll die Öffentlichkeit noch nichts hören. Am 9. August 1971, fünf Tage vor dem Start der neuen Fußballsaison, wird in Nordirland die Internierung eingeführt. Terrorismus101


verdächtige können nun ohne ordentliches Gerichtsverfahren für unbestimmte Zeit weggesperrt werden. Der protestantische/unionistische Premier William Faulkner hatte die Regierung in London davon überzeugt, dass nur so der weitere Aufstieg der IRA und ein politischer Umsturz zu verhindern seien. Die republikanische Guerilla zählt mittlerweile allein in Belfast über 600 Aktivisten und hat im Februar erstmals einen britischen Soldaten erschossen. In den frühen Morgenstunden des 9. August verhaftet die britische Armee zunächst 342 Verdächtige und verschleppt sie in ein Lager vor den Toren Belfasts. Die meisten der Internierten haben mit der IRA nichts zu tun. Deren führende Köpfe haben von der Aktion vorab erfahren und sind untergetaucht. Die Liste, mit der die britische Armee auf die Suche geht, ist so hanebüchen, dass 104 der 342 bereits nach 48 Stunden wieder freigelassen werden. Anschließend berichten sie von Schikanierungen und Folter. Obwohl es die loyalistischen Paramilitärs gewesen waren, die mit dem Morden begonnen hatten, richtet sich die Internierung einseitig gegen die katholische Bevölkerung. Vergeblich hatte die britische Regierung ihren Statthalter Faulkner darum gebeten, zumindest einige wenige Loyalisten auf die Verhaftungsliste zu setzen. Nun geht der Schuss nach hinten los. Nicht nur in Belfast reagiert die katholische Bevölkerung mit Totalopposition. Die Situation gerät völlig aus den Fugen. Allein während der ersten drei Tage der Internierung werden 17 Menschen getötet. Im weiteren Verlauf des Jahres kommen noch 134 hinzu – 37 Soldaten, 97 Zivilisten. Die Repression des Regimes ist Wasser auf die Mühlen der IRA. Wurden 1970 noch 313 Bomben und 25 Konflikttote gezählt, so sind es Ende 1971 bereits 1.756 Bomben und 174 Opfer. Als Antwort auf den Aufstand in den katholischen Vierteln formiert sich auf protestantischer Seite die Ulster Defence Association (UDA), eine loyalistische Miliz, unter deren Dach sich nun diverse lokale Verteidigungskomitees einfinden. Die UDA sieht ihre Aufgabe darin, die protestantischen Viertel von Katholiken „freizuhalten“ und gegenüber Angriffen der IRA zu verteidigen. Auch Bests Herkunftsviertel Cregagh ist von der Militarisierung des Konflikts betroffen. Zunächst hatten 102


es Patrouillen von Freiwilligen, die der Cregagh Tenants Association unterstanden, übernommen, das Viertel gegen ein Überschwappen der „Troubles“ zu sichern. Auch einige Katholiken machten dabei mit. Aber für die ist kein Platz mehr in der Siedlung, als die UDA in Cregagh eintrifft. Die Verteilung des Wohnraumes wird nun von den Paramilitärs diktiert. Die Katholiken verlassen Cregagh Estate und ziehen in die katholischen Gebiete im Westen der Stadt. Und die Vertreibungen gehen weiter. Im Zeitraum August 1969 bis Februar 1973 sehen sich insgesamt 60.000 Belfaster genötigt, ihr Haus und Viertel zu verlassen. Die Stadt ist Schauplatz der größten Fluchtbewegung in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Waren 1959 noch 59 Prozent des öffentlichen Wohnraums entweder homogen protestantisch oder katholisch, werden es 1977 bereits 89 Prozent sein. Bei den Privathäusern fällt die Entwicklung etwas weniger drastisch aus: von 65 zu 73 Prozent. Das militante Sektierertum ist vor allem in den Unterschichtsgebieten und Arbeitervierteln zu Hause. George Best wähnt sich in Manchester fernab der „Troubles“ in seiner Heimatstadt. Doch das wird sich schon bald als Illusion erweisen.

103


Vom gleichen Autor

D. Schulze-Marmeling United – Vom Arbeiterverein zum FußballUnternehmen 400 S., Paperback, Fotos ISBN 978-3-7307-0098-3 € 16,90

E-Book

Für den „Mythos United“ stehen vor allem Triumphe im Europapokal und die tragische Flugzeugkatastrophe 1958 in München. Geprägt wurde der Verein von seinen Trainern Matt Busby und Alex Ferguson, die mit Stars wie Bobby Charlton, George Best, Eric Cantona oder Cristiano Ronaldo Erfolge feierten. Dietrich Schulze-Marmeling schildert die Geschichte eines Klubs zwischen traditioneller Fußballkultur, Legendenbildung und modernem Fußballbusiness. „Schulze-Marmeling gelingt der Balanceakt zwischen Chronik, Anekdoten und geschichtlicher Einordnung in den Gesamtzusammenhang.“ (St.-Pauli-Fanzine Übersteiger)

www.werkstatt - verlag.de


„Er war der beste Spieler, besser als ich. Für mich war er nie ein Europäer, sondern ein brasilianischer Spieler.“ Pelé „Wäre ich hässlich auf die Welt gekommen, hättet ihr nie etwas von Pelé gehört.“ George Best Der Mythos George Best hat viele Facetten. Den Traum vom authentischen Fußball, die Sehnsucht nach einem freien Lebensstil verkörperte er ebenso wie das Scheitern eines Getriebenen, der durch die Nachtclubs zog und sich zu Tode soff. Vor dem Hintergrund des Nordirland-Konflikts, der Bests Leben mitprägte, schildert Dietrich SchulzeMarmeling Aufstieg und Fall eines Idols. Als George Best in seiner geteilten Heimatstadt Belfast beerdigt wurde, gaben ihm über 100.000 Menschen das letzte Geleit, Katholiken ebenso wie Protestanten.

ISBN 978-3-7307-0172-0 VERLAG DIE WERKSTATT


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.