Jenseits der Komfortzone - Leseprobe

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Hardy Gr端ne

JENSEITS DER KOMFORTZONE 11.000 Kilometer Radrennen

VERLAG DIE WERKSTATT

durch S端damerika


Quito ECUA D O R Cuenca Loja P E RU

BR A SI L I EN

Huanchaco/Trujillo Huaraz

Huรกnuco Tarma Andahuaylas Ayacucho

Cusco BO L I V I EN Copacabana

La Paz

Uyuni Tupiza

CHILE Legende: Pausentage ร bernachtungsorte

A R GEN TI N I EN Salta


Chilecito

Mendoza CHILE

AR GEN TI N I EN Chos Majal

Bariloche

Coyhaique

El Calafate Punta Arenas Rio Grande Ushuaia


INHALT VOR DEM START .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 ECUADOR

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Atemlos durch die Stadt . . . . . . . . . . . . . . . Auf der Allee der Vulkane . . . . . . . . . . . . . . Vierbeinige Fluchthelfer . . . . . . . . . . . . . . . In fremden Gefilden .. . . . . . . . . . . . . . . . . . Zurück im Wellenbad .. . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Bergdörfern und Andenriesen . . Ärger mit dem Wettergott . . . . . . . . . . . . . .

PERU

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Durch die Hölle nach Peru . . . . . . . . . Strandrauschen . . . . . . . . . . . . . . . . . Offroad durch die Entenschlucht . . . Im Kampfmodus . . . . . . . . . . . . . . . . Kriechender Höhenrausch . . . . . . . . Durch das Zauberland . . . . . . . . . . . . Keine Heizung im Himmel .. . . . . . . . Selbstgemalte Gastfreundschaft . . . Ständiger Begleiter: Regen . . . . . . . . Entlang des „Leuchtenden Pfades“ .. Zurück in der Achterbahn . . . . . . . . . Darmhölle reloaded .. . . . . . . . . . . . . Wo die Götter sprechen .. . . . . . . . . . Im Abseits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterwegs mit Johnny Cash . . . . . . . Reise in die Vergangenheit . . . . . . . . Hinauf auf den Altiplano . . . . . . . . . . Auf den schwimmenden Inseln .. . . . Tanzend in den Pausentag . . . . . . . .

BOLIVIEN

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Hinein ins „Evo-Land“ . . . On the Death Road . . . . . Das Grollen der Götter .. . Jenseits aller Landkarten

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Der Welt entrückt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein schmaler Grat zwischen Wohl und Wehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ins Land des Fußballs .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ARGENTINIEN

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Gehemmt im Windkanal . . . . . . . . . . . . . Ein Tag im Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glutofen Nordargentinien .. . . . . . . . . . . Ein Konzert vor der Haustür . . . . . . . . . . Tag des Triumphes . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Paradies wird gebaut . . . . . . . . . . . . . 50 Grad Celsius .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über 356 Kurven nach Mendoza .. . . . . . Vierte Liga ist langweilig? Keinesfalls! . . Eiskalte Abkühlung . . . . . . . . . . . . . . . . . Tanz über die Serpentinen . . . . . . . . . . . Die Bucht der Träume . . . . . . . . . . . . . . . Auf der Straße der sieben Seen .. . . . . . . Zwischen den Welten .. . . . . . . . . . . . . . . Ausflug ins Paradies .. . . . . . . . . . . . . . . .

CHILE

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Was kommt hinter der Einsamkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lustige Schlammspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rumpelnd durch den Garten Eden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

ARGENTINIEN

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Against the Wind . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie tief ist die Einsamkeit . . . . . . . . . . Zu Gast beim weißen Riesen . . . . . . . . Düstere Begegnungen im Hinterland

CHILE

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Tiefenentspannt unter den Türmen des blauen Himmels .. Orkan als Dreingabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu Gast bei Pinguin-Freunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ins Land des Feuers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonne am Ende der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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EPILOG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 DER AUTOR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240


Heute geht es nicht ohne Polizeischutz

OFFROAD DURCH DIE ENTENSCHLUCHT 17. E TA P P E. H UANCHACO –TANG UCHE, 115 K ILOMETER, 910 HÖHENMETER

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Auf dicken Stollenreifen verlasse ich unter diesigem Himmel unser kleines Paradies am Meer. Es geht zurück in die Berge. Vor allem aber geht es endlich runter von der PanAmericana. 98 der 115 Tageskilometer verlaufen noch auf der Hauptverkehrspiste, ehe wir auf einen Naturpfad abbiegen. Am zweiten Pausentag habe ich deshalb die dicken Stollen aufgezogen. Drei Reifenpaare befinden sich in meinem Gepäck. Ein 28er Slick für die flotten Asphaltpassagen, ein 35er Allrounder mit hohem Pannenschutz für die Schotterpisten und ein breiter Noppengummi für sandige Passagen. Der surrt nun mit seinem typischen Geräusch und Rollwiderstand auf dem Asphalt. Der Weg ins Hinterland führt durch nüchterne Industrielandschaften. Nach 25 Kilometern stehen wir vor dem ersten Anstieg. Eine schnurgerade Straße mit sechs bis acht Prozent Steigung. Das Klettern fällt leicht, denn nach Wochen im Hochland ist das Blut prall gefüllt mit roten Körperchen. So nervt nur der dichte Verkehr, der die Luft mit seinem Dieselgestank verpestet. Der Tag zieht sich wie billiger Kaugummi, der schon nach wenigen Minuten seinen Geschmack verliert. Vergeblich die Suche nach Abwechslung. Inmitten einer nichtssagenden Landschaft passieren wir ernüchternde Orte. Konglomerate der Funktionalität. Werkstätten, kleine Läden, öffentliche Garküchen. Zweckdienliche Wohnflachbauten. Die Menschen schauen uns skeptisch hinterher. Dieser Landstrich ist für Radabenteurer nicht ungefährlich. Immer wieder kommt es zu Überfällen. Schon seit dem Grenzübertritt nach Peru begleiten uns Polizeibeamte auf Motorrädern. Heute sind es besonders viele, denn wir fahren durch Orte mit zweifelhafter Verbrechensstatistik. Nach dem Lunch müssen wir auf Anweisung sogar als geschlossene Gruppe radeln. Flankiert von Polizeikräften vorne und hinten. Aus einem Radrennen wird ein Schutzkonvoi.


Je höher wir kommen, desto grüner wird es. Dann tauchen wir nach rund 1.600 Kilometern auf der PanAmericana endlich in die Einsamkeit des Hinterlandes ein. Jubelnd halten wir an. Das Abenteuer geht in die nächste Stufe. Ich lasse etwas Luft aus meinen steinhart aufgepumpten Reifen, schalte die Federgabel zu, trete aufs Gaspedal. Auf der leicht abschüssigen Naturpiste bin ich bald mit bis zu 50 Stundenkilometern unterwegs. Ein himmlisches Vergnügen. Alles fliegt vorbei, die Lenkentscheidungen müssen im Tausendstelsekundentakt getroffen werden. Obwohl überzeugter Straßenfahrer, genieße ich das Offroad-Feeling. Weil alles so unsagbar schnell geht, man ständig korrigieren und gegensteuern muss. Eine ganzheitliche Aufgabe, die keine Zeit für abschweifende Gedanken lässt. Der Himmel ist hier!

18. E TA P P E. TA N G UCHE – B USHC AMP, 85 K ILOMETER, 1.045 HÖHENMETER Für die Beschreibung der Tagesaufgabe genügt ein einziges Wort: bergauf. 1.000 Höhenmeter. 85 Kilometer. Ohne Pause. Komplizierter als das Höhenprofil ist das Streckenprofil, denn wir sind auf Pisten unterwegs, über deren Qualität niemand etwas sagen kann. Es geht in den Cañón del Pato. Die Entenschlucht. Eines der spektakulärsten Landschaftshighlights der gesamten Tour. Sie verbindet die beiden Andenketten Cordillera Negra und Cordillera Oriental. Ein einzigartiges Naturschauspiel, das sich bis zu 2.000 Meter tief in die Erde gräbt und fantastische Gesteinsformationen offenbart. Ich gehe in hohem Tempo in die Etappe. Rechne mir insgeheim eine gute Tagesplatzierung aus. Träume ein wenig von einer Sensation. Dem Etappensieg. Das alles wird rüde zerstört, als ich Alfred sehe. Entschlossener Hinein in die Entenschlucht


Spektakul채re Felsformation in der Entenschlucht


Blick, unbändige Kraft, geländetaugliches Fully. Für knapp 25 Kilometer kann ich folgen, dann lasse ich abreißen. 85 Kilometer mit diesem Kraftaufwand würden mich komplett auslutschen. Das Tempo zu reduzieren hilft, die Aufmerksamkeit auf die Landschaft zu lenken. Wir steuern ein Flusstal an. Es ist trocken und staubig. Eine wackelige Brücke führt über das schmale Rinnsal. Der Abzweig in den Cañón del Pato entpuppt sich als schmale Nebenpiste. Mit jedem Meter wird die Landschaft spek- Tunneldurchfahrten: weder angenehm takulärer. Bergflanken in unterschiedlichsten noch ungefährlich Farben bilden eine wahrlich atemberaubende Kulisse. Ein Lehrbuch-Cañón, in dessen Zentrum das zahme Flüsslein Río Santa plätschert und der an einigen Stellen so schmal ist, dass ich mit ausgestreckten Armen beinahe beide Cordillera-Seiten berühren kann. Über hunderte von Metern steigt der Fels gen Himmel. Als habe Gott mit dem Messer tief hineingeschnitten. Wer sonst könnte sich so ein Gesamtkunstwerk ausdenken? Zugleich ein Logbuch der Erdgeschichte. Früher war hier ein gewaltiges Meer, erkennbar an dem überall aus dem harten vulkanischen Verschnaufpause im Schatten Gestein herausbröselnden Sandstein. Angesichts der bizarren Formationen und endlosen Farbvielfalt – ich sehe Braun, Rot, Schwarz und Grün – stockt mir der Atem. Zugleich aber auch eine beeindruckende Kargheit. Nie zuvor habe ich ein derart arides Flusstal erlebt. Selbst die Handvoll tapferer Kaktusse jammert. Viele haben verdörrte Arme, einige liegen bereits vertrocknet am Boden. Ihren Namen verdankt die Entenschlucht übrigens der Tatsache, dass es dort früher tatsächlich Enten gab. Heute sieht man außer ein paar streunenden Hunden kaum Lebewesen. Nicht einmal Vögel verirren sich in das baumlose Felsspektakel. Der dünne Verkehr geht rüde zur Sache. Sicherheitsabstand wie in Ecuador ist in Peru unbekannt. Auf der tückischen Schotterpiste ist das entnervend gefährlich, und so ist es die beste Entscheidung, einfach zu warten, sobald sich ein Lastwagen oder Bus röhrend ankündigt. Zumal die verursachte Staubwolke ohnehin derart die Sicht vernebelt, dass an Weiterfahren nicht zu denken ist. Je tiefer wir vordringen in die felsige Erlebniswelt, desto schmaler wird die Piste. Kleine Tunnel sind in den Felsen gehauen. Sie sind eng, kalt und unbeleuchtet. Aufregende Adrenalinschocker. Der dürre Leuchtstrahl meiner Kopflampe leuchtet die Piste nur schemenhaft aus.

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Schlaglöcher oder Felsbrocken sind erst im letzten Moment zu erkennen. Jedes Mal, wenn ich in einen dieser bis zu 500 Meter langen Tunnel eintauche, appelliere ich an höheren Beistand, nun bitte keinen Bus auftauchen zu lassen. Mein Flehen wird erhört. Andere Fahrer erzählen später, wie sie schnell von ihren Rädern springen mussten, wenn ein Bus vorbeirauschte: „Die haben nicht eine Sekunde den Fuß vom Gas genommen. Das war wie ein Geschoss, während ich mit dem Rücken zur Felswand stand.“

19. E TA P P E. BU S HC AMP – C AR A Z, 66 KILOMETER, 1.600 HÖHENMETER Am Morgen azurblauer Himmel. Weil unser Camp im Schatten liegt, schnattern wir bei frischen Temperaturen dennoch am Frühstückstisch. Ein heißer Tag wartet. Und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Kaum gestartet, stehen wir im ersten Anstieg. Mit acht bis zehn Prozent serpentinert die Piste einen Hang hinauf. Die Oberfläche tückisch. Lockeres Geröll, das die Reifen wegrutschen lässt. Aus dem Sattel steigen geht nicht, weil das Hinterrad dann sofort durchdreht. Ich brauche lange, bis ich einen Rhythmus finde. Mit fehlt die Warmlaufphase. Kurzatmig arbeite ich mich an den schroffen Hügeln ab. Kann zusehen, wie die Energie des Frühstücks in besorgniserregendem Tempo verbrennt. 400 Höhenmeter sind zu überwinden. In meinem Gehirn fragt jemand, warum ich das tue. „Für dieses unbeschreibbare Panoramafoto!“, jubelt die Seele, als wir die Passhöhe erreichen. Tief und breit fräst sich das Flussbett in den Fels. Das Tal offen und fruchtbar. Zum ersten Mal seit Tagen beleuchtet saftiges Grün das Felsbraun. Sogar ein paar landwirtschaftliche Felder sind zu entdecken. Hier müssen Menschen leben! Und tatsächlich: Auf dem Gipfel thront ein schmales Dorf. Hunde kommentieren aufgeregt unsere Passage. Die Einwohner hingegen wirken eher sprachlos überrascht. Wie aus dem


Mondlandschaft

Erfolgreiche Kameraverkäufer

Nichts tauchen am frühen Morgen 40 buntgekleidete Fremdlinge auf Stahlrössern auf. Denkt man da an einen schlechten Traum? Patricks Knie blutet. Bei einem Sturz hat er es sich aufgeschlagen. Die Wunde stellt kein Problem dar. Wohl aber das Knie, das er sich dabei verdreht hat. Mit schmerzverzerrtem Gesicht kurbelt er weiter. Wir überqueren das Flusstal und landen in einer Hüttensiedlung inmitten eines gigantischen Wasserkraftwerkes. Auf den Straßen grimmige Männer in Arbeitskleidung. Hunde bellen navigierende Lastwagen an. Schweigen lähmt die Luft. Hier lebt man nicht, hier arbeitet man. In Serpentinen geht es wieder hinauf. Eine Himmelstour am Rande der Vernunft. Rechts steigt die Felswand über Hunderte von Metern fast senkrecht an. Links gähnt über hunderte von Metern ein steiler Abhang ins tief gelegene Tal. Ohne Leitplanken oder andere Sicherungen. Nähert sich ein Fahrzeug, springen wir zur Seite. Denn gebremst wird für uns nicht. Die Landschaft macht ratlos. Sie ist mit nichts Bekanntem vergleichbar. Surreal, wunderschön, irgendwie lebensfeindlich. Kann ich mir so den Mond vorstellen? 1.200 Höhenmeter haben wir seit dem Morgen überwunden. Kurbeln nun auf 2.200 Metern und genießen den Blick über die Felsformation. Die letzten 20 Kilometer sind asphaltiert und winden sich in angenehmen Kehren zum Tagesziel Caraz. Wir haben die Entenschlucht verlassen und sind umgeben von grünen Feldern. Im Hintergrund glitzern schneebedecke Andenriesen. Ruckzuck habe ich die Ortsgrenze erreicht und navigiere durch die engen Gassen der Kleinstadt. Auf dem zentralen Plaza de Armas quängelt Musik aus Lautsprechermegafonen. Caraz begrüßt uns fröhlich. Mir steht eine besondere Prüfung bevor. Meine Kamera, die seit Quito immer mal wieder zickte, hat endgültig den Geist aufgegeben. Die Herausforderung, adäquaten Ersatz zu finden, ist eine ganz besondere: fremdes Land, fremde Sprache, ein gänzlich ungewohntes Ambiente, Zeitdruck. Zunächst sondiere ich das überschaubare Angebot in der Handvoll kleiner Läden, ehe ich mich für ein Modell mit 12-fachem Zoom entscheide. Mein Berater ist ein pfiffiger Kerl. Keine fünfzehn Jahre alt. Im Hintergrund wacht mit gutmütigem Blick die Mutter und Ladenbesitzerin. Mit fachkundigen Griffen erläutert er das Gerät und versucht sich sogar an ein paar englischen Worten. Wir lachen fröhlich, und er strahlt, als ich nickend zustimme, die Kamera für 499 Soles zu erwerben – umgerechnet 130 Euro. Stolz begleitet er mich zu seiner Mutter, die die Oberaufsicht über die Kasse hat. Ich bestehe auf einen ersten Test mit dem frisch erworbenen Gerät und lichte den geschäftstüchtigen Familienbetrieb ab. Ein Moment der perfekten Harmonie.

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ON THE DEATH ROAD PAU S E N TAG E I N L A PA Z

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Erholung oder Erlebnis? Ein ewiger Konflikt. Seit dem Start in Quito beschäftigt er uns. Dem Körper die dringend benötigte Pause gönnen oder Südamerika in möglichst vielen Facetten erleben? Auch heute entscheide ich mich wieder für das Erleben. Denn es lockt die „Todesstraße“ durch die Yungas. Eine berüchtigte Talfahrt über 3.000 Höhenmeter von La Paz ins Amazonas-Tiefland. In den 1930er Jahren eröffnet, gilt die mühsam in den steilen Berghang gefräste „Death Road“ als eine der gefährlichsten Straßen der Welt. Unter Südamerikareisenden ist sie ein Mythos. Vor allem bei Radfahrern. Weil sie so ungeheuerlich gefährlich ist. Und weil sie so ungeheuerlich viele Opfer gefordert hat. Bis zu 300 Menschen fanden Jahr für Jahr entlang der lediglich 67 Kilometer den Tod. Dabei hat die Piste sogar ihre eigenen Regeln. Gilt auf ihr das Linksfahrgebot, denn nur dadurch ist es dem bergab fahrenden Verkehr möglich, die engen und blinden Kurven halbwegs einzusehen. Außerdem hat der bergauf fahrende Verkehr immer Vorfahrt. Bei einer Begegnung muss also das talwärts rollende Fahrzeug zurücksetzen. Das soll einen Hauch von Sicherheit geben. Seit 2006 eine ungleich gefahrlosere Asphaltstraße an anderer Stelle eröffnete, ist es ruhiger geworden auf der Death Road. Muss der Tod keine Sonderschichten mehr fahren. Stattdessen locken nun Abenteuerspezialisten Fahrrad- und Adrenalinjunkies zu Erlebnistouren mit dem gewissen Extra-Kick. Für knapp 50 Euro kann man den Trip durch die Todeszone bequem im Internet buchen. Zur offiziellen Strecke von The Andes Trail gehört das Abenteuer nicht. Also klicken wir uns freiwillig zum Trip zwischen Leben und Tod. Zwei Drittel unserer Gruppe will dabei sein. Morgens um acht holt uns der Bus ins Abenteuer ab. Mit aufgeregten Herzen starten wir auf 3.700 Metern unter sonnigem Himmel. Durch zunehmend dichtere Bewölkung schnauft der Bus hinauf auf 4.650 Meter zum La Cumbre Pass. Dort beginnt die Todeszone. Der Pass ist komplett in Wolken getaucht. Feuchtkalte Luft lässt uns frösteln. Auf was haben wir uns eingelassen? Wir werden mit downhilltauglichen Fully-Rädern sowie Schutzkleidung ausgestattet. Kaum sitzen wir auf den dickbereiften Komfortflitzern, öffnet der Himmel seine Schleusen und übergießt uns mit Wassermassen. Trotz Schutzkleidung sind wir binnen Minuten durchgeweicht und schnattern in der kalten Luft. Dann geht das Regenbombardement in Schneefall über. Sofort sind die umliegenden Hügel überzuckert. Es scheint, als greife die Todespiste für uns Abenteuerroutiniers extra tief in ihre schauerliche Trickkiste. Die ersten elf Kilometer bis Unduvadi sind asphaltiert. Während die gallernden Regenfälle mir die Sicht rauben, jage ich auf dem Steilstück mit 50 und mehr Stundenkilometern talwärts. Meine einzige Orientierung ist unser Guide, der sich direkt vor mir durch die dichte Wassersäule pflügt. Solange ich sein Spritzwasser im Gesicht spüre, bin ich auf der richtigen Spur. Ein Erlebnis jenseits aller Sicherheitsnetze der Vernunft. Unmittelbar vor dem Beginn der


Die „Todespiste“ durch die Yungas


Oben links: Der Beginn der Death Road auf 4.650 m Oben rechts: Im dichten Nebel auf der Death Road Links: Zahlreiche Kreuze markieren jene Stellen, an denen Unglücke geschahen

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eigentlichen Death-Road-Naturpiste lässt der Regen nach. Die Wolkenschicht bricht auf und lässt die Umgebung erahnen. Wir stoppen, um die Geister wohlzustimmen. Nach bolivianischer Tradition geschieht das mit hochprozentigem Alkohol. Ein Schluck durch die Kehlen gegen die Angst, ein Spritzer auf den Boden, über den die Geister wachen, und ein Spritzer auf das Rad, das vor einem Stresstest steht. 56 Kilometer auf technisch nicht allzu anspruchsvollem Terrain liegen vor uns. Doch die kaum zwei Meter breite Piste ist heimtückisch. Versteckt die Gefahrenstellen. Ihre scharfen Kurven und ausgewaschenen Abschnitte in bedrohlicher Schräglage. Ist man zu schnell unterwegs, kann es ruckzuck zum Absturz kommen. Eindringlich warnt uns der Guide, auf keinen Fall zu überholen und vorwegzufahren. Er weiß, wo Katastrophen drohen. Auf Kommando fliegen wir los. Was wir erleben, lässt die Fantasie schaudern. Auf den ersten Blick nimmt uns ein verträumter Naturpfad durch eine verzauberte Landschaft auf. Aus den Tiefen dampft Feuchtigkeit hinauf. Von den Felsen hangeln Lianen herunter, stürzen kleine Wasserfälle talwärts und schmieren die Erdpiste mit ihrer Gischt ein. Ein Paradies, so friedlich, wie es sich uns präsentiert. Und dabei all seine düsteren Seiten, seine schrecklichen Geschichten, heimtückisch verhüllt. Denn so verzaubernd die Piste wirkt, so kompromisslos ist sie. Ohne schützende Leitplanke geht die schmale Fahrspur direkt über in das hunderte von Metern hinabfallende und scheinbar bodenlose Tal. Manchmal ist sie durch Erdrutsche so verengt, dass kaum zwei Fahrräder nebeneinander passen. Unmöglich, sich breite Busse oder Lastwagen darauf vorzustellen. Im Internet kursieren zig Videos, die zeigen, wie Fahrzeuge von der glitschen Piste rutschen. Eine falsche Lenkbewegung, ein zu kräftiger Bremshebel, und


die Kontrolle entgleitet. Dass die Toten nicht vergessen werden, dafür sorgen Mahnkreuze. In beklemmender Regelmäßigkeit sausen wir an ihnen vorbei. Immerhin: Seit Eröffnung der Alternativroute hat sich der Tod etwas zur Ruhe setzen können. Fängt er nur noch gelegentlich Opfer ein, die zu fahrlässig in den grenzenlosen Sturzflug starten. Auch Radler sind darunter. Wir fühlen uns wie in der Geisterbahn. Kreischen innerlich bei den Fantasiebildern der schrecklichen Unfälle, kreischen äußerlich bei dem formidablen Vergnügen, mit dem geländetauglichen Fully über die Schikanen zu flitzen. Dank der Alternativroute können wir uns dem Vergnügen auf der nahezu verkehrsfreien Piste vertrauensvoll hingeben. Jedenfalls müssen wir keine übermäßige Angst haben, dass hinter einer Kurve plötzlich ein Fahrzeug auftaucht oder wir blitzartig ausweichen und an der Kante zum Absturz balancieren müssen. So wie es früher Alltag war auf der Death Road. Dank des kräftigen Gefälles rollen die schweren Crossräder wie von selber, sausen wir ohne Kurbelarbeit schlammbespritzt und juchzend durch die engen Kurven. Lediglich Navigationsaufgaben stehen an. An exponierten Stellen stoppt unser Guide und erzählt die tragischen Geschichten der Todesstraße. In einer besonders engen Serpentinenkurve mahnt ein mächtiges Kreuz. Die Kurve so eng, dass ein Fahrzeug kaum Platz findet. Die Straße so schmal, dass rangieren zum Glücksspiel wird. Der Abhang so steil, dass man sich kaum rüberzuschauen traut. Die Vorstellung, dass vollbesetzte Busse hier nachts viele Meter rückwärts setzen mussten, lässt erschaudern. Zigfach gingen die Manöver schief. Aus dem stummen und dunstbewachten Tal scheinen noch immer die ewigen Rufe der Opfer hinaufzuschallen. Mit leisen Stimmen tauschen wir die entsetzlichen Bilder aus, die unsere Fantasien zeichnen. Im Tal öffnet sich die Wolkendecke. Schlagartig wird es heiß. Wir werfen die Schutzkleidung ab und radeln in kurzer Hose und T-Shirt weiter. Vom Winter- in den Sommerurlaub in nur drei Stunden, das dürfte nur in den Anden möglich sein. In der Talstation Yolosa endet das Abenteuer. Zum Abschluss gibt es noch eine Einladung zu einem Zip-Line-Flug über das Tal, dann geht es mit dem Bus zurück über die asphaltierte Nordroute nach La Paz. Müde und erfüllt fallen wir spätabends in unsere Betten. Am zweiten Pausentag steht Fußball auf dem Programm. La Paz’ elitärer Lokalmatador The Strongest (Volksklub ist Stadtrivale Bolívar) trifft auf Nacional Potosí. Anstoßzeit: 11 Uhr. Das Motto der Schwarz-Gelben: „Si no Die Fanartikelhändler sind allgegenwärtig lo sientes, no lo entiendes“ – „wenn du es nicht spürst, wirst du es nicht verstehen“. Ein Slogan wie gemalt für einen 11.000-Kilometer-Radausflug. Zwei gefüllte Taxen mit Andes-TrailCyclisten machen sich auf den Weg. Darunter ein Teilnehmer, der noch nie bei einem Fußballspiel war und beharrlich von „Soccer“ spricht. Der Weg zum Stadion führt quer durch La Paz. Mehr als eine Stunde kurvt das Taxi durch das verrückte Auf und Ab der Hügelstadt,


ehe wir das im wohlhabenden Viertel Achumani gelegene Estadio Rafael Mendoza Castellón erreichen. Die schlichte Arena raubt mit ihrer grandiosen Lage den Atem. An drei Seiten ist sie umgeben von mächtigen Sandsteingipfeln. Eine perfektere Kulisse für ein Fußballstadion habe ich selten gesehen. Mutig wagen wir uns in den Fanblock der Heimelf. Wollen nicht distanziert beobachten, sondern die Vibration der Leidenschaft unmittelbar spüren. Marschieren unter neugierigen, aber auch wohlwollenden Blicken mitten hinein in die Gesänge und das Getrommel. Lassen uns mitreißen von dem Jubel der Heimanhänger über den 3:1-Sieg ihrer Elf. Staunen über die vielen weiblichen Ultras, die einen ganzen Block füllen. Ist Fußball in Bolivien etwa keine Macho-Domäne? Stimmungskiller ist erneut das Wetter. Mitte der zweiten Halbzeit zieht der Himmel zu. Bald setzt strömender Regen ein, und wir bekommen einen Einblick in die erstaunliche Anpassungsfähigkeit südamerikanischer Geschäftstüchtigkeit. Denn die fliegenden Händler auf den Tribünen zaubern plötzlich statt Knabberwaren und Klubsouvenirs Regencapes aus dünnem Plastik hervor. Für umgerechnet 80 Cent finden sie reißenden Absatz. Das Leben ist ein ständiger Wandel. Am Nachmittag mache ich mich auf einen Erkundungsrundgang durch das Zentrum von La Paz. Eine Stadt als Wellenbad. Entweder es geht hoch oder es geht runter. Steil ist beides. An allen Ecken und Enden wuselt es. Dabei ist Sonntag. Zu kaufen gibt es quasi alles. An der einen Stelle offeriert man geheimnisvolle Pülverchen gegen jegliche Wehwehchen. Anderswo werden Voodoopüppchen für die Ausschaltung ungeliebter Kontrahenten angepriesen. Selbst Llama-Föten, deren Verwendungszweck sich mir allerdings nicht erschließt, sind im Angebot. La Paz ist eine Stadt entlang der Vielschichtigkeit des Lebens. Grandiose Kulisse für ein Fußballspiel


DAS GROLLEN DER GÖTTER 45. E TA P P E. L A PA Z – L AHUACHAC A, 136 K ILOMETER, 936 HÖHENMETER Drei Tage im monotonen Arbeitslager brechen an. Es geht durch einen irritierend unspektakulären Altiplano. Schnurgerade, ermüdend langweilig und dennoch brandgefährlich. Am Morgen verlassen wir den Talkessel von La Paz und klettern über die abfallübersäte Standspur der Stadtautobahn zurück auf die Höhe von El Alto. Dort verwandeln wir uns erneut in Goldfische im Haifischbecken, navigieren gekonnt durch den archaischen Verkehr und fliehen vor frustrierten Hundemeuten, die ihre aufgestauten Aggressionen an uns auslassen wollen. Erst als wir die Stadtgrenze und ÜberAbschied von La Paz über die Auto landstraße in Richtung Süden erreichen, bahn entspannen sich Körper und Geist. Für neue Aufregung sorgt eine Dauerbaustelle. Seit vielen Jahren wird hier an der Verdopplung der Pistenzahl gearbeitet. Nicht abschnittsweise, sondern gleich 250 Kilometer am Stück. Das dauert. Zudem wandelt Straßenbau in Bolivien zwischen Wahlversprechen und Gleichgültigkeit. Zunächst werben Politiker mit süßen Versprechungen für ihre Pläne. Impfen den Menschen Hoffnung auf eine bessere Zukunft ein, geben ihnen das Gefühl, wichtig zu sein. Nach gewonnener Wahl ruhen die Dinge dann und kehren erst kurz vor dem nächsten Urnengang zurück in den Versprechungsmodus. Die Menschen sind es gewohnt. Nehmen es gleichgültig hin. Nicht-korrupte Politik muss in Südamerika erst noch erfunden werden. Für uns haben die schleichenden Bauarbeiten etwas Gutes. Denn über weite Strecken der Zweitagesreise nach Oruro verläuft neben der Fahrbahn ein quasi fertiges neues Asphaltband, auf dem nur vereinzelt Baufahrzeuge unterwegs sind. Eines Tages soll der Verkehr hier vierspurig rauschen. Noch aber können wir darauf unbehelligt vom Getöse der alten Piste Kilometer fressen. Ein Glücksfall, denn wir sind schon wieder auf einer „Todesstraße“ unterwegs. Mit beklemmender Regelmäßigkeit erinnern Kreuze und Schreine am Straßenrand an Verkehrsopfer. Der Tod hat auch hier Hochkonjunktur. Wie Dominosteine stehen die Gedenkstätten im Abstand von teilweise nicht einmal 50 Metern. Dabei verläuft die Straße schnurgerade. Die Unfälle können also nur durch Fahrzeugdefekte, überhöhte Geschwindigkeit oder gewagte Überholmanöver zustande gekommen sein. Jeder Schrein eine liebevoll gepflegte Gedenkstätte. Mit allerlei Erinnerungen ausgestattet. Bierflaschen liegen neben Fußballtrikots. Wrackteile dokumentieren den Unfall. Kleine Gedichte und Mariafiguren bitten um Aufnahme der Verstorbenen in jenes Reich, das dem Tod folgt. Wo immer man das sieht. Bolivien ist ein katho-

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lisches Land. Diesbezüglich ist da also alles klar geregelt. 60 Kilometer vor dem Tagesziel pechschwarzer Himmel. Blitze zucken über das Firmament, Donner erschüttern den Boden. Wir sind als schmales Peloton von zehn Fahrern unterwegs. Nur ein klitzekleines Stückchen blaue Wolkendecke ist verblieben. Es weist exakt in die Richtung unserer Route. Und schenkt uns damit ein schön asphaltiertes Das freut den Radler: energiespendende Hoffnung auf ein troParalleluniversum ckenes Ankommen im Nachtlager. Ein Wettlauf mit der Natur beginnt. Mit voller Kraft nehmen wir Tempo auf. Verfolgt von düsteren Gewitterwolken, gehetzt von näher kommenden Donnerschlägen und Blitzen. Unser Peloton ein eisenhartes Kollektiv. Wortlos stellen wir die schwächeren Fahrer in den Windschatten und pflügen in hohem Tempo über die Piste. Niemand soll zurückbleiben in diesem sich anbahnenden Naturfeuerwerk. Im Ringen mit den Elementen sind wir keine Gegner, sondern Verbündete. Die Wallfahrt glückt. Unter wütendem Himmel erreichen wir das Bushcamp auf einem Fußballplatz vor den Toren von Lahuachaca. Schnappen uns das Gepäck, zaubern in Rekordzeit Zelte auf den Boden, werfen unsere Utensilien hinein. Dann brechen sämtliche Dämme. Schlagartig wird es duster. Es blitzt und donnert im Sekundentakt. Binnen Kurzem steht das Fußballfeld unter Wasser. Dem endzeitlichen Regen folgt ein epischer Sturm, der als Härtetest für unsere Zelte taugt. Blitzschnell sackt das Thermometer auf unter sechs Grad herab. Wir frösteln in unserer durchschwitzten Radkleidung. Zum Umziehen war keine Zeit. Warme Duschen sind ein ferner Traum.

46. E TA P P E. L A H UACHAC A – O RUR O, 99 KILOMETER, 354 HÖHENMETER

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Am Morgen sieht es aus, als habe es kein Gestern gegeben. Die Sonne nickt uns gütig aus einem friedlichen azurblauen Himmel zu. Die Temperaturen klettern auf angenehme 13 Grad. Ein freundlicher Rückenwind erleichtert die knapp 100 entrückt unspektakulären Kilometer bis Oruro. Bittersüß erahnbar die Folgen der ausgebauten Piste für die Ortschaften entlang der Straße. Sie werden künftig von einem brandgefährlichen vierspurigen Highway durchtrennt sein. Um ihren Bewohnern trotzdem eine gefahrlose Traverse zwischen beiden Ortshälften zu ermöglichen, entstehen Fußgängerbrücken. Individualverkehr ist ein Killer für ländliche Lebensgemeinschaften. Auf der anderen Seite bringt moderne Infrastruktur Wohlstand in den ländlichen Raum. Wirklichkeit ist nie eindimensional. An der Stadtgrenze von Oruro sind die heftigen Niederschläge der letzten Tage unübersehbar. Die übliche fragile Hüttensiedlung am Ortseingang steht komplett unter Wasser. Notdürftig sind ein paar Holzbohlen als Verbindungswege platziert worden. Ein Anblick frappierender Hoffnungslosigkeit. Auf den Gesichtern der Bewohner spiegelt sich Resignation. Wer unten ist, rutscht schnell noch tiefer.


Am Tag nach dem Unwetter

Der alte Silberminen- und Eisenbahnknotenpunkt Oruro steckt mitten in der Transformation. Es steht an der Wandel von einer grimmigen Industrieagglomeration in einen fröhlichen Touristenmagneten. Noch warnt mein Reiseführer allerdings: „Die Stadt weist für den normalen Touristen keinerlei Sehenswürdigkeiten auf, so dass sich eine Unterbrechung der Reise eigentlich kaum lohnt.“ Das mag für Liebhaber von Gebäuden aus vergangenen Epochen zutreffen, nicht aber für Reisende, die auf der Suche nach dem Bolivien der Gegenwart sind. Diesbezüglich nämlich liefert das junge und fröhliche Oruro durchaus interessante Einblicke in den Lebensalltag. Auf der zentralen Plaza 10 de Febrero genießen junge Pärchen engumschlungen die letzten Sonnenstrahlen des Tages. Und an den Ständen des Mercado López wird eine erstaunliche Auswahl verschiedener Waren präsentiert. Schäkernd knüpfen die Marktfrauen Kontakt. Bolivien mag eines der ärmsten Länder der Welt sein, ein trauriges Land ist es zweifelsohne nicht.

47. E TA P P E. OR URO – B USHC AMP, 122 KILOMETER, 389 HÖHENMETER Wir tauchen tief in Evo-Morales-Land ein. Der bolivianische Präsident stammt aus der Gegend um den Lago Poopó. Als begeisterter Fußballspieler schnürte er einst die Stiefel für San José Oruro, den ältesten Fußballklub des Landes. Überall sind er und sein Clan aktiv. Vor allem zu besichtigen im allgegenwärtigen Straßenbau. Verkehrsanschluss als universelles Heilmittel gegen Rückstand und Armut. Und als Opium fürs Wahlvolk. Die Etappe ein Erholungstag. Über weite Strecken treibt uns ein freundlicher Südwestwind flott voran. Der Verkehr auf der Nebenstraße stressentleert ausgedünnt. Die Landschaft entweder sumpfig oder steppig. Kilometerweites pures Nichts. Wie an der Nordsee verliert sich der Blick am Horizont. Nur selten menschliche Siedlungen. Während die neuen Asphaltstraßen die Landschaft versiegeln und verändern, scheint in den kleinen Dörfern die

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Da geht´s lang!

Bauarbeiten in endloser Weite

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Zeit stehen zu bleiben, verharren sie als farblose Ansammlungen von Flachbauten aus Lehmstein. Die Bewohner, so herzlich wie aufgeschlossen, vermitteln den Eindruck tiefsitzender Erwartungslosigkeit. Zu viel hat Bolivien ertragen müssen. Verlorene Kriege, Naturkatastrophen, Selbstbedienungsbanden korrupter Politiker. Gezeichnet von den unzähligen Rückschlägen, scheint man sich abgefunden zu haben mit seinem Schicksal. Nur einer will das nicht, und deshalb ruht die ganze Hoffnung auf ihm: „Evo más“ steht hier noch häufiger als ohnehin an den Häuserwänden. In zwei Wochen sind Präsidentenwahlen. Für die meisten steht fest, dass Morales eine weitere Amtszeit bekommen muss und auch wird. Er hat den indigenen Völkern ihr Selbstwertgefühl zurückgegeben. Sehr zum Ärger der kreolischen Großgrundbesitzer des Amazonas-Tieflandes, für die Morales der Teufel in Person ist. Auch 180 Jahre nach Freiheitskämpfer und Namensgeber Simon Bolívar steckt Bolivien noch immer im Befreiungskampf.


JENSEITS ALLER LANDKARTEN 48. E TA P P E. BUSHC AMP – METEO R CRATER, 111 K ILOMETER, 634 H ÖHE N ME TER Beim Frühstück lädt Wilbert zum Feldversuch ein. Weil niemand weiß, wie die vorgesehene Route über eine Hinterlandpiste nach den vielen Regenfällen aussieht, offeriert er eine entschärfte Alternative. Somit stehen zur Disposition: eine bequeme Asphaltstraße mit nicht näher definiertem „Umweg“ sowie ein schmales Naturpistchen in unberechenbarem Zustand durch das unerforschte Hinterland. Anfangs votiere ich für die Asphaltvariante, lasse mich aber umstimmen, als die Niederländerin Brigit eine kleine Gruppe zusammentrommelt, die unter Wilberts Führung ins Niemandsland aufbricht. Mit aufgeregtem Herzen steigen wir auf die Sättel. Bleiben schon nach wenigen hundert Metern das erste Mal im tiefen Sand stecken. Sind voller Zweifel, ob wir uns richtig entschieden haben. Decken uns in einem kleinen Kiosk mit Süßwaren und Cola ein. Die Versorgungslage im Hinterland soll dürftig sein. Und der Lunchtruck kann uns wegen der unkalkulierbaren Piste nicht begleiten. Abenteuerstimmung bricht aus. Keine Landkarte der Welt verzeichnet die schmale Fahrspur, auf der wir kurbeln. Auf unserem Begleitzettel hat Wilbert sie per Hand eingemalt. Sie schenkt uns einen Tag im Paradies. Entrückt flanieren wir durch eine zeitlose Landschaft. Friedliche Einsamkeit umgibt uns. Lama-Herden verfolgen uns mit stolzen Blicken. Die wenigen Dörfer bestehen aus einer Handvoll Häuser. Wir treffen einen Bewohner. Insgesamt 18 Personen wohnen in seiner Siedlung, rechnet er uns vor. Immer tiefer zieht es uns in das Ursprüngliche, das Urwüchsige. Die trockene Wüstenund Steppenlandschaft, geformt von Meisterhand, berührt nur von den Naturgewalten. Auch sie ein Überbleibsel des gigantischen Meeres, das hier vor Jahrmillionen existierte. An einem Flussbett grasen Lamas und Vicuñas. Ergriffen schweigend verschmelzen wir mit purer Natur. Dann erreichen wir Ucumasi. Der einzige Ort, von dem unsere Karte weiß. Als winziger Punkt ist er im Niemandsland verzeichnet. Sozusagen das wirtschaftliche „Oberzentrum“ der Schweres Geläuf

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Region. Als wir die Ortsgrenze passieren, entlässt die örtliche Schule gerade die Lernwilligen. Vergnügt tanzen die Jungs und Mädels auf die staubige Straße. Und laufen uns quasi direkt vor die Räder. Großes Hallo auf beiden Seiten. Wir parken unsere Velos. Decken uns in der schmalen Bodega rasch mit frischen Getränken ein. Schäkern mit den Kindern. Wer einen Gepäckträger am Rad hat, lädt einen der Knirpse auf und dreht eine Runde über die Dorfstraße. Johlend quittiert vom Rest der Kindermeute, die aufgeregt auf ihren Moment wartet. Alfred übergibt sein Fully einem der etwas größeren Burschen. Der prescht damit davon, kann sein Glück kaum fassen. Die anfänglichen Sorgenfalten auf Alfreds Stirn verschwinden angesichts des universellen Friedens. Hier muss niemand ein Kapitalverbrechen fürchten. Hier ist nicht das Böse zu Hause, hier ist das Vertrauen am Werk. Als wir nach einer knappen Stunde wieder aufbrechen wollen, bittet der Bürgermeister um etwas Geduld. Wenig später taucht er mit einem uralten Fotoapparat auf. Für die Dorfchronik entsteht ein Gruppenfoto der verrückten Gringos in der vergnügten Kinderschar. Damit sich die Knirpse später an diesen Tag erinnern können. Oder wir. Mit prallgefüllten Herzen kurbeln wir unter lautem Gejohle weiter. Der Rest des Tages wird zur Strafarbeit. Die zunehmend sandigere Piste nagt am Kräftereservoir. Ruppige Zwischenanstiege strengen an. Wir sind auf 3.800 Metern. Die Luft ist dünn. Sehr willkommen die regelmäßigen Orientierungsstopps. Wilbert ist erst ein Mal durch diesen Landstrich gefahren, in dem sich die Pisten ständig neu bilden und verändern. Sein Navi gibt nur ungefähr die Richtung vor.


Oben: Gute Freunde kann niemand trennen Mitte: Gruppenfoto mit Schülern und Bürgermeister Unten: Ein Gewitter in der Ferne

Nach fünf Stunden entlässt uns die Einsamkeit, und wir kehren auf einer nagelneuen Asphaltstraße zurück in die Welt. Im selben Moment taucht eine Gruppe der Umweg-Gesandten auf. Die hatten wir eigentlich alle schon längst im Ziel gewähnt. Wir necken, dass sie sich wohl ganz schön Zeit gelassen hätten. Wütend bellen sie zurück, dass der „kleine Umweg“ ein ziemlich großer war und sie in der welligen Landschaft schwer schuften mussten. Nach wenigen Kilometern geht die glattseidene Asphaltdecke in eine knüppelharte und rumpelige Schotterpiste über. Unterdessen braut sich zum dritten Mal in Folge ein Naturereignis am Horizont zusammen. Vertraute Farbspektakel verdunkeln das Firmament. Erste Blitze zucken. Noch klingt der Donner fern. Doch er kommt rasch näher. Die letzten 15 Kilometer werden abermals zum Sprintduell mit der Natur. Im Rennmodus jage ich über die tückische Piste. Schnappe mir mein Gepäck, schlage bei den ersten Regentropfen das Zelt auf und bin gerade darin verschwunden, als sich der Himmel mit Brachialgewalt entlädt. Angesichts der bis in den Abend anhaltenden Wolkenbrüche bleibt der nahe gelegene Meteoritenkrater unbesucht.

49. E TA P P E. ME TEO R CR ATER – TAHUA, 73 K ILOMETER, 509 HÖHENMETER „Ich habe schlechte Nachrichten für dich“, begrüßt mich Rob beim Frühstück. „Du hast einen Platten.“ Na prima! „Schöner“ kann ein Morgen wohl kaum beginnen. Also hastig frühstü-

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cken, hastig den Schlauch wechseln, hastig das Zelt verpacken, hastig auf die Piste gehen. Die ist rau, unerbittlich und mit groben Steinen übersät. Angestrengt rumple ich durch die leblose Steppe und versuche die morgendliche Hektik abzuwerfen. Immerhin ist es trocken, nachdem beim Frühstück noch einmal ein Wolkenbruch über uns niedergegangen war. Einsamkeit dehnt sich nach allen Seiten aus. Ein Werbeschild weist auf die bevorstehende Etappe der Motorradrallye Paris – Dakar hin. Seit es im politisch instabilen Nordafrika zu unruhig geworden ist, wird sie in Südamerika ausgetragen. Hier sind die Menschen aufgeschlossen für das brandgefährliche Macho-Spektakel und freuen sich über die Streckenführung, die ihre Dörfer für einen Moment aus der Anonymität reißt. Die Kilometer kriechen nur langsam vorbei. Meine Reisegeschwindigkeit liegt bei knapp 20 km/h. Zumindest verzichtet der graubemalte Himmel auch weiterhin auf Regen. Doch es ist kühl, und meine Energiespeicher sind leer. Zickig meckert der Körper über die Daueranstrengung auf der kompromisslosen Piste. Als ich nach zwei Stunden den Lunchstopp erreiche, fühle ich mich völlig entkräftet. Körper und Geist arbeiten nur noch auf Sparflamme. Eine Stimme in mir warnt vor Überforderung. Wirft den Gedanken auf, es für den Rest des Tages gut sein zu lassen. Morgen steht die Überfahrt über den Salzsee Salar de Uyuni an. Eine der Königsetappen der Tour. Sie zu verpassen, weil ich sämtliche Kraftreserven im langweiligen Hinterland verpulvert habe, wäre absurd. Immer wieder die Frage nach den Prioritäten. Diese Gratwanderung zwischen der Bereitschaft zum Leiden und der Fähigkeit zur Bewältigung. Durch den eng getakteten Zeitplan bleibt oft keine Zeit für eine fundierte Antwort, muss sie aus den Tiefen der Spontanität kommen. Vier Teilnehmer sitzen bereits auf dem Truck. Drei davon gehören zu den regelmäßigen Passagieren. Haben kaum die Hälfte der Strecke seit Quito auf dem Rad verbracht. Längst nicht immer waren sie krank oder nicht einsatzfähig. Manchmal war es wohl eher Bequemlichkeit. Intern nennen wir sie „Team Truck“. Da klingt Abfälligkeit mit. Denn die drei gefallen sich in ihrer Sonderrolle. Sind latent streitsüchtig, hocken ständig miteinander und bilden eine undurchdringbare Wagenburg der Arroganz. Im Fahrerfeld stößt ihr Verhalten weithin auf Unverständnis. Und löst Wut aus. Weil sie häufig die wenigen Plätze auf dem Truck belegen. Die eigentlich denjenigen zustehen, die wirklich krank sind oder nicht mehr können. Als ich in die Fahrgastkabine klettere, starren mich drei angriffslustige Augenpaare an. Teilen in scharfen Worten mit, alle Plätze seien belegt. Das ist eine Lüge, denn es ist noch reichlich Platz. Es müsste nur das auf den Sitzen liegende Gepäck beiseite geräumt werden. Weil dies niemand tut, greife ich zur Selbsthilfe. Als ich anschließend Platz nehme, empfängt mich feindseliges Schweigen. Dann kommt die Norwegerin Kristin. Sie hat Knieprobleme. Auch sie muss sich erst einen Platz frei räumen. Streng beobachtet vom kerngesunden „Team Truck“. Als wir zwei Stunden später im Camp ankommen und das konspirativ flüsternde Trio keine Anstalten macht, beim Gepäckabladen zu helfen, verliere ich den letzten Rest von Respekt. Beschließe, die drei fortan zu ignorieren. Wieder ist der Keil in unserem Team ein Stückchen tiefer getrieben. Wie man mit offenkundig unwilligen Radabenteurern umgeht, ist eine Frage, auf die niemand eine Antwort weiß. Auch die Tourleitung nicht.


Es rüttelt, es rüttelt, es rüttelt …

Wir campieren im Örtchen Tahua direkt am „Ufer“ der legendären Salar de Uyuni. Es klingt wie ein Abenteuer aus Absurdistan. Mit dem Rad über den größten Salzsee der Welt. Auf 3.700 Metern Höhe gelegen. 160 Kilometer lang, 135 Kilometer breit. So gigantisch, dass sogar die Erdkrümmung sichtbar wird. Auch die Salzpfanne von Uyuni – nichts Langweiligeres nämlich heißt das so exotisch klingende „Salar de Uyuni“ – ist ein Überbleibsel dieses vor Jahrmillionen ausgetrockneten Anden-Binnenmeeres. Nur in der Regenzeit steht kurz mal Wasser auf der zwei bis sieben Meter dicken Salzschicht. Für Bolivien ist es ein Schatz. Nicht nur wegen des Salzes. Vor allem wegen des darin enthaltenen Lithiums. Das braucht man für die Batterieproduktion. Geschätzte 75 Prozent des bekannten Weltvorkommens sind im ewigen Salz der Salar versteckt. Die ganze Welt will es haben. Und das möglichst günstig. Dem macht „el presidente“ Evo Morales jedoch einen Strich durch die Rechnung. Bolivien will den Schatz selber heben und zugleich sorgsam damit umgehen. Während ich auf das hinterm Horizont verschwindende Naturwunder starre, formt sich in meinem Rücken ein Gewitter. Droht uns das vierte Untergangsszenario in Folge? Diesmal haben wir Glück. Das Mikroklima des Salzsees lässt die Gewitterwolken vor dem Ufer stoppen. Uns erreichen nur ein paar vom Winde verwehte Tröpfchen, während Blitze und Donner am nahe gelegenen Vulkan Tunapa niedergehen.

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Hardy Grüne nimmt uns mit auf eine ungewöhnliche, extreme Reise. „The Andes Trail“ ist ein Radrennen von Quito in Ecuador bis nach Feuerland: viereinhalb Monate mit dem Fahrrad über hohe Andenpässe, durch die endlosen Weiten der Pampa, durch Regen, Schnee und Sonnenhitze. Und an die Grenzen der Wahrnehmung. Grüne schildert den Rennverlauf, vor allem aber erzählt er von den Begegnungen mit Einheimischen, von der Konfrontation mit den eigenen Befindlichkeiten und immer wieder von der grandiosen Natur des südamerikanischen Kontinents.

ISBN 978-3-7307-0208-6 VERLAG DIE WERKSTATT


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