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György Ligeti
Atmosphères
Entstehung 1961
Besetzung 4 Flöten (alle auch Piccoloflöten), 4 Oboen, 4 Klarinetten (4. auch Es-Klarinette), 3 Fagotte, Kontrafagott, 6 Hörner, 4 Trompeten, 4 Posaunen, Tuba, Klavier (2 Spieler:innen), Violinen I (7 Pulte), Violinen II (7 Pulte), Violen (5 Pulte), Violoncelli (5 Pulte), Kontrabässe (4 Pulte)
Uraufführung 22. Oktober 1961 in Donaueschingen durch das Sinfonieorchester des Südwestfunks unter der Leitung von Hans Rosbaud
Erstaufführung im Wiener Konzerthaus 28. Mai 1973 (Ligetis 50. Geburtstag) durch das ORF-Symphonieorchester unter der Leitung von Friedrich Cerha
Anzahl der bisherigen Aufführung im Wiener Konzerthaus 8
György Ligeti, 1923 in Dicsőszentmárton/Târnăveni/Sankt Martin im früher ungarischen, damals aber bereits rumänischen Siebenbürgen geboren, war der Sohn einer Augenärztin und eines Nationalökonomen. Sein Vater wurde 1944 im KZ Bergen-Belsen ermordet, sein jüngerer Bruder Gábor im KZ Mauthausen, die Mutter überlebte das KZ Auschwitz-Birkenau. Ab 1936 erhielt er Klavierunterricht und schon nach einem Jahr versuchte er sich an ersten Kompositionen. Nach der Matura im Jahr 1941 wollte er Physik und Mathematik studieren, wurde aber abgewiesen, weil er Jude war. Ligeti begann eine musikalische Ausbildung bei Sándor Veress, Pál Járdányi, Lajos Bárdos und Ferenc Farkas in Musiktheorie und Orgel am Konservatorium in Kolozsvár/Cluj/Klausenburg und später in Budapest. Er musste sein Studium unterbrechen, weil er 1944 zur ungarischen Armee einberufen wurde. Nach dem Krieg nahm er seine Studien wieder auf und schloss sie 1949 ab. Ein Jahr lang arbeitete er als Musikethnologe über rumänische Volksmusik, kehrte dann an seine ehemalige Schule in Budapest zurück, diesmal als Lehrer für Harmonielehre, Kontrapunkt und Musikanalyse. Zu dieser Zeit schränkte die Kommunistische Partei die Kommunikation zwischen Ungarn und dem Westen ein. Ligeti konnte die aktuellen musikalischen Entwicklungen im Westen nur durch Radiosendungen verfolgen. Nach dem Ende des Volksaufstands in Ungarn floh er im Dezember 1956 gemeinsam mit Vera Spitz, seiner späteren Frau, nach Wien; später nahm er die österreichische Staatsbürgerschaft an. 1957/58 arbeitete Ligeti im Studio für elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks in Köln und traf dort wichtige Vertreter der Avantgarde, unter ihnen die Komponisten Karlheinz Stockhausen und Gottfried Michael Koenig, damals Pioniere der elektronischen Musik. Die neuen technischen Möglichkeiten inspirierten Ligeti: Auch wenn er sich später ausschließlich auf Instrumental- und Vokalmusik konzentrierte, enthielt diese doch häufig Denkweisen der elektronischen Musik, wie er 1970 in seinem Aufsatz »Auswirkungen der elektronischen Musik auf mein kompositorisches Schaffen« bekannte. Von 1969 bis 1972 lebte Ligeti in Berlin, 1972 befand er sich als »Composer in Residence« an der Stanford University in Kalifornien. Von 1973 bis 1989 war er Professor für Komposition an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Zu seinen Schüler:innen zählten Hans-Christian von Dadelsen, Unsuk Chin, Benedict Mason, Manfred Stahnke und Wolfgang von Schweinitz. Seine letzten Lebensjahre verbrachte Ligeti in Wien, wo er am 12. Juni 2006 starb.
»Atmosphères« wurde noch im Jahr der Vollendung der Komposition während der Donaueschinger Musiktage vom Sinfonieorchester des Südwestfunks unter Hans Rosbaud uraufgeführt. Erste Planungen des Werks, bei denen sich Ligeti gedanklich mit der Realisation eines stehenden Klanggebildes von wechselnder Ausdehnung befasste, reichen in das Jahr 1950 zurück. Damals sah der Komponist jedoch noch keine Möglichkeit, die Komposition eines solchen statischen Klangblocks mit variabler Schwere, Farbe und Dichte auch wirklich zu Ende zu führen. Erst die unmittelbare Begegnung mit der Musik etwa von Pierre Boulez und Karlheinz
Stockhausen führte zur Verwirklichung des Vorhabens. Die Partiturskizze lag bereits 1956 vor, zu einer Zeit, als die Avantgarde noch intensiv mit der seriellen Musik beschäftigt war.
Die Partitur von »Atmosphères« erstreckt sich über 87 Systeme und weist sämtlichen Bläser:innen und Streicher:innen des schlagzeuglosen Kollektivs gesonderte Stimmen zu – Stimmen freilich, die derart minuziös ineinander verzahnt sind, dass sie zu einem farbig schillernden Globalklang zusammenwachsen: ein einziges, im Detail nicht fassbares Cluster-Band mit einer Breite, die den Tonraum bis zu fünf Oktaven voll ausfüllt, ein Klanggebäude, das durchwirkt ist mit Mikropolyphonie und innerer Kontrapunktik, die nicht existiert, um gehört zu werden, sondern um durch strukturelle Dichte und Akribie das klingende Resultat im Ungenauen anzusiedeln. Oder: eine Klangtextur, die das Phänomen des akustischen Stehens demonstriert. Die Harmonik ist aufgehoben, rhythmische Konturen und erfassbare Tonfiguren gibt es nicht. Gestaltet wird der statische Klang durch verschiedene Färbung sowie durch eine detailliert aufgefächerte Dynamik, die mitunter gegensätzlich eingesetzt wird und dann ihrerseits auch zur beabsichtigten Ungenauigkeit beiträgt. Etwa in der Mitte des Stücks wird der Cluster durch einen 45-stimmigen Kanon profiliert, der zwar die Machart des Webmusters klanglich beeinflusst, als Eigenform aber unhörbar zu bleiben hat. Insgesamt wird der stehende Klang der »Atmosphères« in 21 Varianten vorgeführt. Ein imaginärer 22. Abschnitt ist am Schluss des Stückes in der Partitur mit 19 Sekunden angegeben. Es handelt sich um eine sozusagen auskomponierte Nachhallzeit, um das Bewusstmachen von Stille nach den rund neun Minuten eines statischen Klangkomplexes.
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György Ligeti, Atmosphères. Dieser Ausschnitt aus einer Seite der autographen Partitur zeigt die Takte 27 bis 29 der Stimmen der Klarinetten sowie der Violinen I und der Pulte I–V der Violinen II.
Vor dem erwähnten Kanon ist der Klangblock der akustischen Wahrnehmung nach durchschnitten. Er stürzt von den lichten Höhen der Violinen und Piccoloflöten in die Tiefe der Kontrabässe. Dieser Schnitt ist zunächst eine Folge der Materialbehandlung. Nur im übertragenen Sinne hat er eine hervorzuhebende Bedeutung. Laut Ligeti handelt es sich um einen Sturz in den Tartarus, und tatsächlich entspricht es den Gedanken des Komponisten, wenn sich ganz im Hintergrund, unterschwellig gewissermaßen, Assoziationen an die Requiem-Sequenz einstellen. Es ist, als würden in der Ferne, schattenhaft und gedrängt, die Teile eines instrumental konzipierten Requiems klanglich vage präsent sein. Und man könnte annehmen, Ligeti habe mit den »Atmosphères« sein »Requiem« antizipiert. (Wolfgang Burde/Lothar Knessl/Archiv)