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Blickpunkt: Johann Sebastian Bach
Ein Klavierabend mit Yunchan Lim und ein Konzert mit Pygmalion und Porträtkünstler Raphaël Pichon bringen zwei gänzlich verschiedene Höhepunkte aus dem Schaffen Johann Sebastian Bachs zum Klingen: die Goldberg-Variationen sowie die Johannespassion. Der Bachkenner Michael Maul gibt einige Wegmarken zu diesen Gipfelwerken
VON MICHAEL MAUL
Es ist kaum zu glauben, auf wie vielen musikalischen Feldern Johann Sebastian Bach der Nachwelt wahrhafte »Achttausender« hinterlassen hat. Ob als kaum zwanzigjähriger Organist in Thüringen mit seiner Passacaglia in c-moll und seinen ersten Vokalwerken (»Actus tragicus«); als Mittdreißiger in Köthen mit unvergänglichen Instrumentalzyklen wie den Brandenburgischen Konzerten, den Cello-Suiten und den Sonaten und Partiten für Violine oder dem »Wohltemperierten Clavier«; und schließlich als Thomaskantor in Leipzig mit seinen Kantaten, Passionen, Oratorien, den vielgestaltigen »Clavier-Übungen« und schließlich der Messe in h-moll. Ja, Bach trieb seine Kunst, ganz gleich, welcher Gattung er sich zuwandte, beständig in atemberaubende Höhen – dorthin, wo bis heute die Luft dünn ist, sprich: kaum andere Komponisten je hingelangten und auch seine Interpret:innen immer wieder an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit geraten.
Das Erstaunliche dabei: Für Bach selbst scheint es kaum eine Rolle gespielt zu haben, ob er sich für ein Werk viel Zeit nehmen konnte, wie etwa bei seinen außerdienstlich und »freiwillig« für den Musikmarkt komponierten »Clavier-Übungen«; oder ob es sich um Pflichtrepertoire handelte, das ihm der kirchenmusikalische Alltag abforderte – geschaffen und einstudiert unter enormem Zeitdruck. Schon sein Sohn Carl Philipp Emanuel musste staunend bekennen, als er eine Serie von Chorälen seines Vaters 1787 im Druck vorlegte: »Der seelige Verfasser hat meiner Empfehlung nicht nöthig. Man ist von ihm gewohnt gewesen, nichts als Meisterstücke zu sehen.«
Einen umwerfenden Beweis dafür bieten zwei augenscheinlich äußerst gegensätzliche Werke: Bachs Goldberg-Variationen, gedruckt im Jahre 1741 »denen Liebhabern zur Gemüths-Ergötzung«; und seine Johannespassion, präsentiert in der Karfreitagsvesper in der Leipziger Nikolaikirche.
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Bachs Darbietung der Johannespassion war gewissermaßen die Kür innerhalb seiner ersten Saison als Leipziger Thomaskantor. Damals brachte Bach innerhalb eines Kirchenjahres gut vierzig neue Kirchenkantaten zu Papier, außerdem sein unsterbliches Magnificat. Die sechswöchige, stets musiklose Fastenzeit mag ihm den notwendigen Raum geboten haben, außerdem die Johannespassion auszuarbeiten. Und dennoch ist es kaum vorstellbar, dass ein Künstler es in einem solch engen Zeitkorsett vermochte, ein fast zweistündiges Werk zu konzipieren, das derart packend die Leidensgeschichte Jesu auf der Basis des Berichts im Johannesevangelium erzählt, ausgeschmückt mit frei gedichteten hochemotionalen Arien, dramatischen Chören und bekannten Passionsliedern. In dem Stück führte Bach seine damaligen Interpreten beständig an den Rand des Machbaren und manchmal darüber hinaus. Die Menge an kreativen Einfällen und intrikaten satztechnischen Kunststücken ist atemberaubend, jedoch nie Selbstzweck. Vielmehr fordert Bach sein Publikum permanent heraus, auf verschiedenen Ebenen den raffinierten Verbindungen von theologischen und musikalischen Aussagen nachzuspüren. Und dies gelingt Bach in der Johannespassion mit einer Autorität und in einem Maße, dass verständlich wird, warum die staunende Nachwelt ihn gar zum fünften Evangelisten stilisieren sollte. Heute gilt die Johannespassion als die vergleichsweise dramatischere unter Bachs Passionen. Robert Schumann gestand einem Freund: »Finden Sie sie nicht um Vieles kühner, gewaltiger, poetischer, als die nach dem Evangelisten Matthäus? [...] wie gedrängt, wie durchaus genial, namentlich in den Chören, und von welcher Kunst!«
Kunst auf allerhöchstem Niveau bietet auch die »Aria mit verschiedenen Veränderungen« – wie Bach das Stück im Erstdruck, als Teil IV der »Clavier-Übungen«, bescheiden nannte. Heute ist die unsterblich gewordene Variationenfolge unter dem Titel Goldberg-Variationen weltberühmt. Der Titel spielt nicht etwa auf ihren berühmtesten Interpreten im 20. Jahrhundert (Glenn Go[u]ld) an, auch nicht auf den Becher voller Gold, den Bach von seinem Auftraggeber (Graf Keyserlingk) erhalten haben soll. Wohl aber auf den ersten Interpreten der Stücke: den Kammermusikus des besagten Grafen, ein gewisser Johann Gottlieb Goldberg. Überliefert werden uns die Entstehungsumstände durch einen Bericht des ersten Bach-Biographen Johann Nikolaus Forkel, der sie wahrscheinlich aus dem Mund von Wilhelm Friedemann Bach, dem ältesten Sohn des Thomaskantors, erfahren hatte. Forkel erzählt und schwärmt: »Dieses bewunderungswürdige Werk [...] haben wir der Veranlassung des ehemaligen Russischen Gesandten am Kursächsischen Hofe, Graf Kaiserlingk, zu danken.« Der habe sich einst von Bach Clavierstücke mit einem »sanften und etwas munteren Charakter« gewünscht, um sie sich von seinem Privatmusikus, dem begnadeten Virtuosen und Bach-Schüler Goldberg, des Nachts vorspielen zu lassen. Denn: »Der Graf kränkelte viel und hatte dann schlaflose Nächte.« Und Bach sei nach einigem Nachsinnen zu dem Schluss gekommen, »dem Wunsch am besten mit einer Variationenfolge entsprechen zu können, die er bisher, der stets gleichen Grundharmonie wegen, für eine undankbare Arbeit gehalten hatte.« Seine insgesamt dreißig Variationen über eine einprägsame Aria sollen bestens eingeschlagen haben: »Der Graf nannte sie hernach nur seine Variationen. Er konnte sich nicht satt daran hören, und lange Zeit hindurch hieß es nun, wenn schlaflose Nächte kamen: ›Lieber Goldberg, spiele mir doch eine von meinen Variationen.‹ Bach ist vielleicht nie für eine seiner Arbeiten so belohnt worden wie für diese. Der Graf machte ihm ein Geschenk mit einem goldenen Becher, welcher mit 100 Louisd’or angefüllt war. Allein der Kunstwerth dieser Variationen ist tausend Mahl höher.« Stimmt! Die Goldberg-Variationen, von Bach einst als »Große Nachtmusik« für seinen Mäzen konzipiert und schließlich aufwendig gedruckt, sind einer der prominentesten Gipfel im Himalaya der Klavierliteratur. Wieviel Zeit er sich dafür nahm bzw. ob die verlorene handschriftliche Widmungspartitur womöglich von der gedruckten Fassung abwich, ist nicht überliefert. Und dennoch hatte Bach hier – anders als bei seiner Kirchenmusik – seinen Zeitplan in der Hand und ließ gewiss nur Werke im Druck erscheinen, von deren Vollkommenheit er gänzlich überzeugt war.
Man ist von ihm gewohnt gewesen, nichts als Meisterstücke zu sehen. -Carl Philipp Bach über seinen Vater
Vielleicht war der Zeitdruck, unter dem Bach beim Erstellen seiner Kirchenmusiken stand, auch ein Grund dafür, warum er die Johannespassion bei den drei belegbaren Wiederaufführungen immer wieder leicht veränderte, mit den Instrumentarien experimentierte und sich bis zuletzt auf keine endgültige Fassung festlegen konnte oder wollte. Seine Johannespassion ist so gesehen unvollendet. Und dennoch ist auch sie ein Achttausender der Chorliteratur: vollendet in ihrer Form und in ihrer Wirkung, die sich über riesige zeitliche Distanzen und weltanschauliche Grenzen hinweg immer wieder einstellt – ob in Leipzig, Wien und sicher auch im Himalaya!
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KONZERTTIPPS
06/04/25 So, 11.00 Uhr · Großer Saal
Klaviermatinee Yunchan Lim
Bach: Goldberg-Variationen
Karten unter: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/61979
10/04/25 Do, 19.00 Uhr · Großer Saal Pygmalion · Pichon
Pygmalion · Pichon
Bach: Johannespassion
Karten unter: https://konzerthaus.at/konzert/eventid/61990