Opernring 2 | April 2024

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Das MONATSMAGAZIN №

CHRISTIAN THIELEMANN
34 APRIL 2024

S. 2

LOHENGRIN

EINE EBENSO SENSIBLE

WIE INSISTENTE BEFRAGUNG SEINER ROLLENBILDER

S. 6

»WIR ERZÄHLEN EINEN THRILLER«

ANNA VIEBROCK, SERGIO MORABITO & JOSSI WIELER IM GESPRÄCH

S. 10

WIENS NEUE ELSA

MALIN BYSTRÖM SINGT AN DER WIENER STAATSOPER NACH VERDI, STRAUSS & PUCCINI JETZT AUCH WAGNER

S. 16

FLUTLICHT AUS DEM JENSEITS

CHRISTIAN THIELEMANN ÜBER ENTSTEHUNG & MUSIK

VON LOHENGRIN

S. 20

SCHLAGLICHTER IM APRIL

S. 22

»DIE LIEBE MACHT

DEN MENSCHEN BESSER«

GESPRÄCH MIT JOHN NEUMEIER

S. 28

JEDEN TAG EIN ANDERER MENSCH INTERVIEW MIT VASILISA BERZHANSKAYA

S. 32

REGIE & REGIMENT HERRSCHAFTSZEITEN AM THEATER

S. 36

REINHEIT & DRAMATIK

GESPRÄCH MIT FEDERICA LOMBARDI

S. 40

TANZEN, WAS BEWEGT GEGEN DIE TRENNLINIEN UNSERER GESELLSCHAFT

S. 44

NUR DIE GEIGEN SIND GEBLIEBEN

S. 48

DEBÜTS

S. 50

PINNWAND

INHALTSVERZEICHNIS

LOHENGRIN

EINE EBENSO SENSIBLE WIE INSISTENTE BEFRAGUNG SEINER ROLLENBILDER

SERGIO MORABITO
»Es war einmal ein König, der starb und hinterließ zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Die Tochter war aber ein Jahr älter als der Sohn…«
Szenenbild LOHENGRIN

Mit Lohengrin schuf Richard Wagner nach dem Fliegenden Holländer und Tannhäuser die letzte seiner drei großen romantischen Opern. Im erzwungenen, resignativen Rückzug des Helden am Ende dieses Werkes nahm der Autor sein eigenes Exil vorweg: Die Teilnahme an den Dresdner Maiaufständen 1849 kostet ihn seine Königlich Sächsische Hofkapellmeister-Stelle und macht ihn zum politischen Flüchtling. In Zürich vor Strafverfolgung sicher, begibt Wagner sich in eine lange Latenzphase kunstphilosophischer Spekulation, während derer die Konzeption der Nibelungen-Tetralogie in ihm reift; mit ihr verabschiedet er sich bewusst vom Operntheater seiner Gegenwart. Die Uraufführung seiner liegen gebliebenen »letzten Oper«, aus der er noch in Dresden 1848 konzertant Fragmente präsentiert hatte, wird von dem befreundeten Franz Liszt 1850 in Weimar ermöglicht und kuratiert – in Abwesenheit des steckbrieflich gesuchten Autors. Während die Uraufführung eher auf Ratlosigkeit und Kritik denn auf Verständnis stößt, wird im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gerade diese Oper mit ihrer Melodienfülle und Martialik zum entscheidenden Motor der Durchsetzung des Komponisten auch in breiteren Publikumsschichten.

Wagners Lohengrin , Gipfel der künstlerischen Romantik, gestattet zugleich einen Ausblick in den Abgrund politischer Romantik: Der Narzissmus einer ganzen Nation spiegelte sich im Idealbild des rätselhaften Schwanenritters, der einer bedrängten Jungfrau zu Hilfe eilt und die Einigkeit und Wehrhaftigkeit des Reiches gegen innere und äußere Feinde zu stärken weiß; dessen Mission scheitert, weil die gerettete Jungfrau dem Anspruch seiner Liebe, die fraglose Hingabe fordert, nicht gewachsen ist und erfasst wird vom Zweifel an seiner Reinheit und Unhinterfragbarkeit; der sich – unverstanden – aus der Menschenwelt in die Höhenluft seiner tragischen Einsamkeit zurückzieht. Wagner hat hier eine Projektionsfläche geschaffen, in der sich Herrscher- und Führergestalten von

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Salzburger Osterfestspiele 2022 Foto RUTH WALZ

Ludwig II. bis Adolf Hitler wiederzuerkennen glaubten und deren Aura zugleich die Rollenbilder der patriarchalen bürgerlichen Ehe mythisch zu verklären strebt.

Kein zweites Werk Wagners hat ebenso viel gläubige Hingabe erfahren wie kritischen Spott ertragen müssen wie der Lohengrin. Eines ist klar: Angesichts der Aporien dieses Werks ist das Theater aufs Äußerste gefordert, eine ebene insistente wie sensibelimmanente Dekonstruktion seiner Rollenbilder und Konfliktstrukturen zu entfalten. Einzig die im Stück selbst tabuisierte und dämonisierte, in Gestalt der heidnischen Hexe Ortrud personifizierte Kultur des Zweifels ist es, die der epochemachenden und zugleich zutiefst fragwürdigen Kunst Richard Wagners heute angemessen ist. Das »Amplifizieren, Realisieren und Genaumachen des mythisch Entfernten« – durchaus im Sinne des hier zitierten Thomas Mann –sind Gestaltungsstrategien, an denen sich die Theaterkunst von Wieler, Morabito und Viebrock misst: Psychologie und moderne Erzählkunst verbinden sich mit Legende und Mythos, in einer Haltung, die Liebe zur Tradition und Zweifel an ihr vereint. Sie haben sich hinabbegeben in das Märchen- und Mythenmyzel, an das Wagners eklektizistischer Lohengrin-Mythos anknüpft. Dabei sind sie auf ein Märchen gestoßen, das so beginnt:

»Es war einmal ein König, der starb und hinterließ zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Die Tochter war aber ein Jahr älter als der Sohn. Und eines Tages stritten die beiden Königskinder miteinander, welches von ihnen beiden König werden sollte, denn der Bruder sagte: ›Ich bin ein Prinz, und wenn Prinzen da sind, kommen Prinzessinnen nicht zur Regierung.‹ Die Tochter aber sprach dagegen: ›Ich bin die Erstgeborene und Älteste, mir gebührt der Vorrang.‹«

Diese Erzählung hat die Folkloreforschung in unzähligen Varianten nachweisen können. Meist führt die Rivalität zum Mord

des Bruders an seiner Schwester; in einigen Fällen aber ist es umgekehrt die ältere Schwester, die mit dem Mord am jüngeren Bruder gegen die patriarchale Geschlechterfolge rebelliert. Genau dieser verschwiegene und verdrängte Konflikt löst das Geschehen der Oper aus: Elsa ist die erstgeborene Tochter des Herzogs von Brabant, aber als Frau von der Erbfolge zugunsten ihres jüngeren Bruders Gottfried ausgeschlossen. Zudem soll sie aus Gründen patriarchalen Machterhalts mit ihrem Vormund Telramund zwangsverheiratet werden. Genügend gute oder schlechte Gründe also, sich aus der ihr zugewiesenen demütigenden Geschlechterrolle durch einen Gewaltakt zu befreien. Dass es eine zutiefst, ambivalente, zwischen Liebe und Hass oszillierende Geschwisterliebe ist, die Wagners Lohengrin-Erzählung generiert, hat die erste psychoanalytische Lektüre durch den Freud-Schüler Otto Rank bereits 1911 herauskristallisiert.

Vergessen wir nicht: In den ersten Szenen der Oper bemüht man sich um Klärung des spurlosen Verschwindens des

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JOSSI WIELER & SERGIO MORABITO bei den Proben zu LOHENGRIN Salzburger Osterfestspiele 2022

Szenenbild LOHENGRIN

Salzburger Osterfestspiele 2022

Foto RUTH WALZ

RICHARD WAGNER LOHENGRIN

29. APRIL 2. 5. 8. 11. MAI 2024 PREMIERE

Musikalische Leitung CHRISTIAN THIELEMANN Inszenierung JOSSI WIELER & SERGIO MORABITO Bühne & Kostüme ANNA VIEBROCK Licht SEBASTIAN ALPHONS

Ko-Bühnenbildner TORSTEN KÖPF

Mit GEORG ZEPPENFELD / DAVID BUTT PHILIP / MALIN BYSTRÖM

MARTIN GANTNER / ANJA KAMPE / ATTILA MOKUS

21. APRIL 2024 EINFÜHRUNGSMATINEE

Eine Koproduktion mit den Salzburger Osterfestspielen

Thronfolgers Gottfrieds; gegen die mutmaßliche Brudermörderin wird ein Strafverfahren eröffnet. Am Ende des Tages ist der Verschwundene vergessen, wird nicht mehr nach ihm gefragt. Seine Leerstelle wird überblendet durch das Erscheinen eines Heilsbringers, der alle und alles überstrahlt: Lohengrin. Diese Vergesslichkeit mag bei allen Figuren erklärbar sein –nur bei Elsa nicht. Wer, wenn nicht sie – als die engste Angehörige des vermissten Kindes – müsste weiterfragen, weiterforschen, gerade jetzt, nachdem ihre Unschuld gottesgerichtlich bewiesen ist? Es gibt nur eine Antwort: Es ist in ihrem Interesse, dass es verschwunden bleibt und vergessen wird. Denn sie ist die Nutznießerin seines Verschwindens.

Das berühmte Verbot »Nie sollst du mich befragen…« stellt auch eine raffinierte Finte dar: Mit großem Trara wird ein Rätsel in den Raum gestellt, damit wir uns an ihm die Zähne ausbeißen und vergessen,

die andere, viel naheliegendere Frage zu stellen: nämlich die nach dem Verbleib des Thronfolgers. Die von Elsa kreierte und in die Wirklichkeit projizierte Phantasie- und Ersatzgestalt enthält und symbolisiert zugleich den verdrängten Bruder, denn Lohengrin ist das Simulakrum Gottfrieds. Als Simulakrum bezeichnet man ein wirkliches oder vorgestelltes Ding, das mit etwas oder jemand anderem verwandt ist oder ihm ähnlich ist: Lohengrin ist Gottfrieds Bild, Abbild, Spiegelbild, Traumbild, Götzenbild und Trugbild. Nicht von ungefähr muss der eine verschwinden, bevor der andere erscheinen kann – und umgekehrt. Und nicht von ungefähr spiegelt die »glänzende Silberrüstung« des Schwanenritters das »glänzende Silbergewand«, in welchem Gottfried am Ende der Oper im doppelten Wortsinn wieder auftaucht. Doch anders als mit dem Bruder ist mit Lohengrin eine Ehe und in ihr eine Gewaltenteilung möglich und erlaubt – so erhofft es sich zumindest Elsa.

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»WIR ERZAHLEN EINEN THRILLER«

ANNA VIEBROCK, SERGIO MORABITO & JOSSI WIELER IM GESPRÄCH MIT ALBRECHT THIEMANN

at Um mit der verbotenen Frage ins Haus zu fallen: Wer ist Lohengrin? sm Zunächst ein Unbekannter, von dem sich eine Beschuldigte Unterstützung erhofft. Was ist die Ausgangslage? Eine Frau, Elsa, steht unter Mordver-

dacht, sie wird angeklagt, ihren jüngeren Bruder Gottfried getötet zu haben. Es kommt zu einer Gerichtsverhandlung. Und dieser Unbekannte setzt sich nur unter der Bedingung für sie ein, dass seine Anonymität gewahrt bleibt, nach »Nam’ und Art« nicht gefragt wird. Doch

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Szenenbild LOHENGRIN Salzburger Osterfestspiele 2022 Foto RUTH WALZ

kaum hat dieser Fremde die Szene betreten, scheint der Anlass seines Erscheinens vergessen: Niemand fragt mehr nach dem Opfer des vermuteten Verbrechens. Warum spielt die Tat plötzlich keine Rolle mehr?

Woher rührt die kollektive Amnesie derer, die gerade erst die Anklage vernommen

haben? Wie soll man sich erklären, dass der die Handlung auslösende Casus gleich wieder verschwindet?

at Vielleicht, weil dieser Fremde umstandslos als Wundermann verklärt wird, der sämtliche Konflikte zu lösen verspricht. Alle sind gebannt

7 »WIR ERZÄHLEN EINEN THRILLER«

von einem Typen, der nichts von sich preisgibt, niemand fordert ihn heraus. Warum eigentlich?

jw Lohengrin ist eine Vision, ein Mystery Man, den die Angeklagte als Erlöser aus höchster Not inszeniert, um sich ihrer Wahrheit oder Unwahrheit, ihrer Schuld am Verschwinden des Bruders, nicht stellen zu müssen. Elsa spielt das so perfekt, so suggestiv, dass die Öffentlichkeit ihr glaubt. Mit dieser Materialisierung einer wahnhaften Hoffnung versucht sie zu verdrängen, was wirklich geschehen ist –verblüffend erfolgreich!

at Ein Fall von Massenhypnose?

av Genau. Dieser Retter wird von Elsa mehrmals angerufen, ja, geradezu beschworen, bevor er sich zeigt. Alle lassen sich mitreißen in eine Art Trance.

at Müsste die Oper dann nicht eher »Elsa« heißen?

av Ich fand von Anfang an, dass das Stück eigentlich so heißen müsste, und mich hat überrascht und gefreut, dass Christian Thielemann, der die musikalische Leitung innehat, das ebenso sieht.

sm Zweifellos war Elsa für Wagner die Haupt fi gur. Sie er fi ndet Lohengrin, projiziert ihn in die Wirklichkeit, wie eine Künstlerin. Das ganze Stück dreht sich letztlich um sie. Deshalb ist für uns die Beschäftigung mit Elsa der Ausgangs- und Angelpunkt. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass sie bereits vor Beginn des erzählten Geschehens in der Defensive ist. Nicht erst als Angeklagte. Obwohl sie die Erstgeborene ist, bleibt sie durch ihr Geschlecht von der Erbfolge ausgeschlossen, der Thron ist dem jüngeren Bruder vorbehalten. Aus machtpolitischen Gründen soll sie einen Mann heiraten, den sie nicht will, Friedrich von Telramund. Wir haben es also mit einer Frau zu tun, die unter einem existenziell bedrohlichen gesellschaftlichen Druck steht. at »Lustwandelnd führte Elsa den Knaben einst zum Wald, doch ohne ihn kehrte sie zurück«, behauptet Friedrich von Telramund vor König Heinrich und der Menge. Ob sie Gottfried tatsächlich umgebracht hat, wissen wir allerdings nicht. sm Eine Reihe von Indizien deutet aber darauf hin. Im zweiten Akt erfahren wir, dass es sogar eine Augenzeugin der Tat gibt: Ortrud.

at Die Behauptung einer Rivalin, die in undurchsichtiger Lage eigene Interessen verfolgt...

av Ortrud wird ja gern unterstellt, dass sie die Böse ist und deshalb die Unwahrheit sagt. Interessant wird es, wenn wir mal davon ausgehen, dass nicht sie, sondern Elsa lügt. Wenn wir also die Zuschreibungen überdenken, die diese beiden Frauen figuren normalerweise erfahren.

at Die Zweifel, die Ortrud unter dem Eindruck der Massenhysterie um einen Guru ohne Herkunft und Namen artikuliert, sind natürlich berechtigt. Spricht durch sie die Stimme der Vernunft?

jw Ja. Es ist Ortrud, die eine Herrschaft des Irrationalen aufziehen sieht.

sm Mit Lohengrin greift ein Messias ein, der für eine neue Religion steht. Wirkung und Macht kann dieses neue Evangelium nur entfalten, wenn man ohne Wenn und Aber an ihr Erlösungsversprechen glaubt. Ortrud verweigert sich dieser Heilserwartung und dem kollektiven Taumel. Deshalb wird sie als das Böse schlechthin gebrandmarkt. at Ihre Grundthese lautet: Elsa war’s. Führt Wagner uns vor allem ihre Ver suche vor, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen?

jw Elsa hätte viele Gründe, sich des Bruders zu entledigen. Die Tat selbst liegt vor Beginn der Handlung, man weiß nichts Genaues. Aber Elsa legt alles darauf an, die Spuren zu verwischen und das Trauma des Mordes mit etwas anderem zu überdecken. Warum sehnt sie sich diesen wundersamen Retter herbei? Weil er die Erinnerung an den Bruder überstrahlt, nicht nur ihre eigene, sondern auch die der anderen. Weil er jemand ist, der Erlösung von allem Übel verheißt. Von dieser Mission muss sie alle überzeugen. Psychologisch gesprochen offenbart Elsa die Symptome eines Borderlinesyndroms: Sie steigert sich in etwas hinein, an das sie glauben muss, um weiterleben zu können, und dabei geht es nicht nur um ihre eigenen Ängste, sie spielt auch mit den Ängsten der Masse. Aber wie bei jedem guten Krimi ist nicht die Au flösung eines Verbrechens das Interessante, sondern das, was durch ein unaufgelöstes Verbrechen in einer Gesellschaft in Bewegung gerät. at Welche Rolle kommt dem sächsischen König Heinrich in dieser Gemengelage zu? Er bringt ja nicht nur ein Gerichtsverfahren auf den Weg, sondern verhandelt mit den Brabantern über ein politisches Bündnis, um sein Reich gegen »der Ungarn Wut« zu stärken.

8 »WIR ERZÄHLEN EINEN THRILLER«

sm Auch Heinrich ist ein Spieler. Er fällt mit seiner Armee in einen kleineren Staat ein und behauptet dann, er wolle Frieden stiften. Was sich da abspielt, durch diplomatischen Politikersprech kaschiert, ist nichts anderes als eine feindliche Übernahme. Schon im ersten Akt lässt Wagner auch musikalisch gewaltig die Säbel rasseln, was es unmöglich macht, an ein Friedensmandat zu glauben. Es sollte uns bewusst sein, dass hier ein fremdes Heer eine Zivilgesellschaft überfällt, die ganz andere Probleme hat, zu denen jedenfalls nicht die Ungarn zählen, wie wir explizit erfahren. Welche Folgen die Okkupation für diese Gesellschaft hat, können wir das ganze Stück hindurch verfolgen.

jw Wir werden zu Zeugen einer Generalmobilmachung. Heinrich nutzt die politische Schwäche Brabants nach dem Tod von Elsas und Gottfrieds Vater, um das Gebiet unter seine Herrschaft zu zwingen. Und koaliert mit Leuten, die seine Interessen durchzusetzen versprechen – erst mit Telramund, dann mit Lohengrin. Er sieht in ihnen vor allem Instrumente zur Umsetzung seiner Agenda. Er kennt keine Sachsen, Thüringer, Brabanter mehr, sondern nur noch Deutsche. Das erinnert an Kaiser Wilhelm II. vor dem Ersten Weltkrieg. Von dem Machtvakuum während des Interregnums profitiert auch Elsa. Nur weil Brabant führerlos ist, die patriarchalen Strukturen aufgeweicht sind, kann sie mit ihrem ernsten Spiel um einen Retter erheblichen Ein fluss gewinnen.

av Ich fi nde, es ist schöner, die Geschichte dieser Militarisierung nicht ins Märchenhafte laufen zu lassen, sondern konkret zu erzählen. Elsas Vision eines Retters überstrahlt nicht nur den Mord an Gottfried, sondern auch die Einnahme Brabants durch König Heinrich als politische Ein flusssphäre: Das Stück beginnt mit einer Invasion, der sich die Überfallenen freilich beugen, sie ziehen ja bald mit, am Ende verfügt Heinrich über ein Riesenheer.

»Mit Lohengrin greift ein Messias ein, der für eine neue Religion steht.«

at Wagners Musik zielt auf Überwältigung, viele seiner Verehrer lassen sich gern vom Sog der Klänge berauschen. Gerade die Lohengrin­Figur war dabei ein besonderes Objekt identifikatorischer, zumal deutschimperialer Vereinnahmung. Wirkt diese »romantische Oper« wie eine Droge?

sm Diese Gefahr besteht durchaus. Umso größer ist die Freude, all die im Verlauf der Rezeptionsgeschichte eingeschliffenen, manchmal fast gusseisern verfestigten »Gewissheiten« über das Stück aufzubrechen.

av Wir erzählen keine Heilsgeschichte, sondern einen Thriller. Ein Mord soll aufgeklärt werden. Schon diese kriminalistische Perspektive sprengt den Erwartungshorizont.

at Wagner hat in Bezug auf Lohengrin vom traurigsten Ende aller seiner Opern gesprochen. Es gibt eine komponierte, aber nicht in die Partitur aufgenommene Stelle, wo man »einen zarten Gesang, wie von der Stimme des Schwanes [der Lohengrins Nachen zieht) gesungen«, vernimmt. Es ist die Stimme Gottfrieds: »Am Ufer harrt mein Schwesterlein, das muss von mir getröstet sein.« Lassen Sie Gottfried während der letzten Takte auftreten?

sm Die von Wagner verworfene Passage verwenden wir nicht, aber in der Tat kehrt Gottfried wieder. Diese Rückkehr eines verschollenen und vergessenen Mordopfers ist ein surrealer Moment... jw ... vorgegeben durch ein Werk, dem man mit einer realistischen Ästhetik nur bedingt beikommt. Es bleibt ein unerklärlicher Rest, den man nicht unterschlagen sollte. Andererseits: Der tote Gottfried erscheint als das verdrängte Corpus Delicti. So verweist das Ende auf jenes dem Prozess vorausgegangene Ereignis zurück, das im Zentrum des ganzen Werks steht –den Bruder mord.

9 »WIR ERZÄHLEN EINEN THRILLER«
MALIN BYSTRÖM Foto PETER KNUTSON

WIENS NEUE ELSA

MALIN BYSTRÖM SINGT AN DER STAATSOPER NACH VERDI, STRAUSS UND PUCCINI JETZT AUCH WAGNER

DER GELEBTE TRAUM

Als 2020, gleich am Beginn der Direktion Roščić, die ehemalige »Skandalproduktion« und mittlerweile geliebte Konwitschny-Inszenierung der französischen Fassung von Verdis Don Carlos nach mehrjähriger Absenz in den Spielplan zurückkehrte, war die Vorfreude und das Interesse groß. Nicht nur, weil das Werk wieder zu erleben sein sollte, sondern auch in Hinblick auf die Besetzung. Denn neben prominenten Publikumslieblingen las man in den Ankündigungen Namen von Sängerinnen und Sängern, denen bereits ein Ruf vorauseilte, die aber an der Wiener Staatsoper noch nie gesungen hatten. So unter anderem jenen von Malin Byström. Die kurz vorher zur Sängerin des Jahres und schwedischen Hofsängerin

ernannte Sopranistin debütierte als Elisabeth, und tatsächlich gelang es ihr vom ersten Auftritt, vom ersten Ton an, alle Vorschusslorbeeren in den Schatten zu stellen. Mit ihrem innig-intensiven Porträt der unglücklichen spanischen Königin sang sie sich buchstäblich in die Herzen des Wiener Publikums. Zweieinhalb Jahre später triumphierte sie dann auf dieser Bühne in der Titelpartie der Salome -Neuproduktion von Cyril Teste: Behende changierte sie zwischen der Darstellung eines Mitglieds der arroganten Upperclass, der Verführerin, des Opfers, der von unsagbarem seelischen Schmerz Getroffenen, der um Zuneigung Buhlenden. Ihre gesanglich wie schauspielerisch grandiose Interpretation dieser in der Kindheit traumatisierten jungen Frau auf der Suche nach wahrer Liebe und der Befreiung aus dem

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sie umgebenden verdorbenen Milieu schrieb sich fest in die Aufführungsgeschichte des Hauses ein. Wieder ein Jahr später begeisterte sie mit ihrer vielschichtigen Charakterisierungskunst in einer gänzlich anderen Rolle: als Minnie in Puccinis Fanciulla del West. Eine hemdsärmelige Wirtin als einzige Frau inmitten der rauen Männergemeinschaft eines amerikanischen Goldgräbercamps. Höhepunkte waren die unter Hochspannung stehende Pokerszene, in der Minnie um das Leben ihres Geliebten spielt, sowie der Moment unter dem Galgen, in dem sie der männlichen Übermacht ihr privates Glück abtrotzt. Aber auch in den weniger dramatischen Momenten dieser Oper vermochte sie die Zuhörerinnen und Zuhörer in den Bann zu ziehen. Ihre Begeisterung am Singen und Spielen auf einer Bühne hatte sie ohne Zutun anderer früh für sich entdeckt. Es war ein Album mit Aufnahmen berühmter Sopranistinnen, das die damals zwölfjährige Malin Byström inspirierte, Rosinas Arie »Una voce poco fa« aus Rossinis Barbiere di Siviglia nachzusingen und zu gestalten. Die dabei aufkommende Freude verwurzelte augenblicklich in ihr den Wunsch, eines Tages selbst Opernsängerin zu werden. Ein Traum, dessen Verwirklichung sie von da an – zunächst heimlich, dann erklärtermaßen – stetig vorantrieb.

Malin Byströms bis heute ungebrochene pure Lust an der theatralen Kreativität begründete von Anbeginn an eine nicht zu unterschätzende Facette ihrer künstlerischen Tätigkeit: Die Bereitschaft, jede Rolle, jede Arie, jedes Detail der Partitur immer neu zu erarbeiten. Es ist geradezu zu ihrem Leitsatz geworden, niemals automatisch auf bereits gefundene Lösungen – seien sie noch so erfolgreich gewesen – zurückzugreifen. Text, Rhythmus, Musik werden vor dem Hintergrund einer Inszenierung von ihr immer wieder neu befragt. Und so bewirkt jeder neue inszenatorische Ansatz, jede zusätzliche Erfahrung neue Schattierungen, Intentionen und Fokussierungen in ihrer Darstellung.

Bei der Auswahl ihrer Partien dient ihr untrügliches Bauchgefühl bis heute verlässlich als Kompass, der sie durchaus auch ermuntert, Wagnisse einzugehen. So bot sich der zunächst als Mozart-Interpretin gefragten Byström eines Tages die Möglichkeit, die Titelpartie in Strauss’ Arabella an der New Yorker Metropolitan Opera zu singen. Dass sie bis dahin noch keine Strauss-Rolle und schon gar nicht die Arabella in ihrem Repertoire hatte, war den Veranstaltern nicht bewusst. Musste es auch nicht werden. Byström lernte die Partie in Windeseile, absolvierte die knapp bemessene Probenzeit von zwei Wochen und reüssierte in einem für sie damals neuen Fach.

Wohin die Reise bezüglich weiterer Rollen gehen soll, möchte sie noch offenlassen. Derzeit fühlt sich Malin Byström im lyrisch-dramatischen Spektrum sehr wohl – durchaus auch im von ihr geliebten italienischen Repertoire, insbesondere bei Verdi. Um sich einerseits ihre lebendige Freude am Beruf und andererseits die Balance zum echten Leben außerhalb des Theaters zu bewahren – nimmt die dreifache Mutter pro Jahr bewusst nur zwei bis drei neue Rollen zusätzlich auf. Voriges Jahr war dies beispielsweise die Elsa, die sie erstmals in Amsterdam sang und nun unter Christian Thielemann bei der von Jossi Wieler und Sergio Morabito inszenierten LohengrinPremiere zum Besten geben wird.

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in der Titelpartie in SALOME Foto MICHEL PÖHN

als MINNIE in LA FANCIULLA DEL WEST

Foto MICHEL PÖHN

als ELISABETH in DON CARLOS Foto MICHEL PÖHN
in der Titelpartie in SALOME Foto MICHEL PÖHN

ERSTE GEDANKEN ZU MEINER NEUEN ELSA

Gute Inszenierungen können etwas in einem öffnen. Das gilt gleichermaßen für das Publikum, das eine Vorstellung mitverfolgt, wie für uns Mitwirkende auf der Bühne. Als Sängerin empfinde ich es sogar als unabdingbar, immer neue Perspektiven kennen zu lernen, aus der eine Geschichte erzählt wird. Schon allein, um der Routine zu entgehen und den Zugang zu meinen Bühnenfiguren lebendig zu halten. Es ist schließlich eines der Merkmale von Meisterwerken, dass sich ihre Interpretation nicht in einer Sichtweise erschöpft. Was gibt es Schöneres, als an einer Rolle unentwegt weiterzubauen, weiterzugestalten? Meine Elsa hier im Wiener Lohengrin wird folgerichtig ein zum Teil ganz anderer Charakter sein als im vergangenen Herbst in Amsterdam. Ich finde es hochspannend, dass sie diesmal, von der Tradition abweichend, nicht als die zu Unrecht verklagte Reine gezeigt wird, sondern ein Geheimnis besitzen darf. Ein dunkles Geheimnis, das leider ihrer Gegenspielerin Ortrud ebenfalls bekannt ist. Jedenfalls ist Elsa hier weniger die passive Frau als eine, die Massen zu manipulieren versteht. Und sie kann jene patriarchalen Strukturen nicht akzeptieren, die ihr, der Älteren von zwei Geschwistern, den Zugang zur Macht verwehren, nur weil sie eine Frau ist – auch wenn das früher üblich war. Das ist für mich ebenso plausibel wie ihre daraus folgende, bis zur letzten Konsequenz ge-

»Es ist eines der Merkmale von Meisterwerken, dass sich ihre Interpretation nicht in einer Sichtweise erschöpft.

führte Gegnerschaft zu ihrem Bruder. Dieser Paradigmenwechsel in der Schilderung der Geschichte wird natürlich elementare Auswirkungen darauf haben, wie ich meinen Text ausdeute, wie ich bestimmte Passagen singen werde. Anders als bisher, so viel steht fest. All das ändert für mich aber nichts am märchenhaften Charakter der Geschichte und an der Ehrlichkeit von Elsas Liebe zu Lohengrin. Dass sie in der wunderbaren Brautgemachszene im dritten Aufzug, die für mich aufgrund der Dramatik schauspielerisch und sängerisch einen Glücksfall darstellt, die berühmte verbotene Frage nach seiner Identität stellt, konterkariert die ursprüngliche Liebe nicht. Keine Beziehung ist durchgehend problemlos, Fragen zu haben und diese zu stellen sind Zeichen einer Mündigkeit. Die Sicht der beiden Regisseure Jossi Wieler und Sergio Morabito auf das Werk ist für mich ebenso neu und überraschend wie schlüssig. In ersten Vorproben konnte ich mich über einige Fragen bereits mit ihnen austauschen, manches Detail wird dementsprechend von der ursprünglich gezeigten Version der Produktion bei den Salzburger Osterfestspielen abweichen. Das meiste wird sich aber natürlich erst im Laufe der eigentlichen gemeinsamen Arbeit herauskristallisieren, die ein höchst interessanter Prozess zu werden verspricht.

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FLUTLICHT AUS DEM JENSEITS, LIEBE OHNE REUE

CHRISTIAN THIELEMANN ÜBER ENTSTEHUNG & MUSIK VON LOHENGRIN

Als der Lohengrin , Richard Wagners dritte und letzte »romantische Oper«, am 28. August 1850 unter Franz Liszt uraufgeführt wird, strömt die europäische Intelligenzia nach Weimar: Giacomo Meyerbeer, Bettina von Arnim, der Schriftsteller Karl Gutzkow, Kritiker aus London und Paris und viele mehr. Die Erwartungen sind hoch, die Reaktionen verhalten. Der Einzige, der dem Ereignis nicht beiwohnen kann, ist der Komponist selbst. Als Königlich Sächsischer Hofkapellmeister hatte er 1849 an den Dresdner Mai-Aufständen teilgenommen (die nach vier Tagen blutig niedergeschlagen wurden), er ließ Flugblätter drucken, transportierte Handgranaten, kurz: er war »freischaffend für die Revolution tätig«. Wagners letzte Amtshandlung ist ein Konzert am 1. April 1849 mit Beethovens 9. Symphonie. »Alle Menschen werden Brüder«? Das Pathos, die aufgewühlte Theatralik dieser Aufführung kann man sich wohl vorstellen. Bis heute streiten sich die Gelehrten darüber, was Wagner in der Revolution von 1848/49 wohl sah: ein echtes Politikum, die Chance zur Verwirklichung radikaldemokratischer Ideen? Oder doch mehr die Erhebung einer kollektiven, in der Kunst sich bündelnden Leidenschaft, wie er sie wenig später in seinen theoretischen Schriften formulieren und fordern sollte? Ich bin da unschlüssig. […].

Die erste Beschäftigung Wagners mit der Lohengrin-Sage reicht in die Zeit seines ersten Paris-Aufenthalts 1839 zurück. Als Quellen gelten Wolfram von Eschenbachs Parzival, den Wagner während einer Kur in Marienbad 1845 studiert (in der Übersetzung von Karl Simrock), sowie Texte von Joseph Görres und Jacob Grimm. Die Genese des Werks ist einigermaßen zerrissen: Das Libretto liegt bereits Ende 1845 fertig vor, erste Kompositionsskizzen entstehen bis Sommer 1847 (als Letztes das Vorspiel).

Um sich besser konzentrieren zu können, zieht Wagner zwischenzeitlich aufs Land, nach Graupa in der Nähe von Pirna, in das sogenannte Schäfersche Gut (heute ein Richard-Wagner-Museum). Die Ausarbeitung der Partitur erfolgt dann in einem euphorischen Schaffensrausch von Januar bis Ende April 1848, der Uraufführung in Dresden steht scheinbar nichts im Wege.

MUSIK

Die Lohengrin-Partitur ist von großer Schlichtheit und größter Raffinesse, sie ist naiv und sentimentalisch, melodiös und avanciert. Mit dem Tannhäuser mag Wagner sein Leben lang hadern; der Lohengrin glückt ihm auf Anhieb. Im Tannhäuser nimmt Wagner von der Spieloper Abschied; im Lohengrin setzt er der deutschen romantischen Oper ein Denkmal und überwindet sie zugleich. Ein Held, der seinen Namen nicht nennen darf, der Gral als eine übergeordnete Instanz, die im Unsagbaren, Unerreichbaren, ja, Göttlichen siedelt – all das trägt bereits so viel von der Kunstmythologie des Parsifal in sich, dass man sich nicht wundert, wie ratlos das Weimarer Premierenpublikum 1850 reagierte.

Formal ist der Lohengrin Wagners erstes wirklich durchkomponiertes Werk. Stärker als im Tannhäuser setzt er hier auf die Kunst des Übergangs: Das motivische und harmonische Material der drei Akte ist so dicht miteinander verwoben, der Orchestersatz so symphonisch organisiert, dass sich allfällige »Nummern« wie Elsas traumwandlerischer Auftritt im ersten Akt oder der Hochzeitsmarsch, das Liebesduett und die Gralserzählung im dritten Akt wie von selbst daraus ergeben. Darüber hinaus trifft Wagner charakteristische Zuordnungen: Lohengrin und der Gralswelt gehört in ihrer »blau-silber-

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CHRISTIAN THIELEMANN

Foto MICHAEL PÖHN

nen Schönheit« (Thomas Mann) die Tonart ADur, dem Antagonistenpaar Ortrud/Telramund das fi nstere, wilde fi s-Moll (die Paralleltonart), und alles, was den König meint, tritt in ebenso plakativem wie letztlich leerem C-Dur hervor. Verschränkt wird dies mit der Instrumentation: Der König hat die Blechbläser auf seiner Seite,

Ortrud/ Telramund werden von Holzbläsern und tiefen Streichern grundiert und Lohengrin umgibt ein gleißender Strahlenkranz aus vielfach geteilten Geigen. Gleichzeitig spiegeln sich die Motive Lohengrins und Elsas ineinander, ja, sogar Ortruds Sphäre fi ndet sich darin geborgen. Es ist eine Welt, in der wir leben, sagt Wagner – das

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»LOHENGRIN IST SEHR MELODIENSELIG. ES SIND MELODIEN DRIN, DIE MAN FAST VERDI- ODER PUCCINIHAFT ODER BELCANTOHAFT NACHSINGEN KÖNNTE.«
CHRISTIAN THIELEMANN

Gute wird niemals ohne das Böse, der Himmel nie ohne die Hölle zu haben sein.

Lohengrin ist auch die erste Oper, für die Wagner keine »Ouvertüre« mehr schreibt, sondern ein »Vorspiel«. Ich möchte diesen Begriffswechsel nicht überbewerten, die Abkehr aber von der italienischen und französischen Opernkonvention, die darin zum Ausdruck kommt, ist deutlich. Wagner möchte eine eigene Tradition begründen und befi ndet sich auf dem besten Wege dahin. Außerdem hat das Lohengrin-Vorspiel – im Gegensatz zu den Ouvertüren des Holländer und des Tannhäuser –alles andere als ein effekthascherisches Ende.

»Ohne Pause weitergehen«, schreibt Wagner unter die transzendierenden Streicher des Schlusses, und schon geht es weiter: mit König Heinrich und seinen Mannen, mit der ersten Szene des ersten Aktes.

Das Flutlicht aus dem Jenseits, mit dem dieses Vorspiel beginnt, ist rückhaltlos bewundert worden. Franz Liszt sprach von »einer Art Zauberformel«, Pjotr I. Tschaikowski sah darin Giuseppe Verdi vorweggenommen, »das letzte Schmachten der sterbenden Traviata«, und Thomas Mann rief gar die ganze Oper zum »Gipfel der Romantik« aus. Wer die Partitur studiert, merkt, mit welcher unglaublichen Vorstellungskraft Wagner hier zu Werke geht, mit wie viel Poesie, Handwerk und Chuzpe! Bei den Geigen spielen einige Flageolett, andere nicht, nach und nach setzen die übrigen Streicher ein, ebenfalls geteilt, dann schleichen sich Oboen und Flöten dazu – und alles zusammengenommen ergibt ein silbriges Geglitzer und Gefl irre, als würde man auf sonnenbeschienene Wellen schauen und geblendet werden. Bei einem guten Dirigenten übrigens hört man den Einsatz der Holzbläser nicht, das ist wie mit den Fagotten und Hörnern im Pilgerchor des Tannhäuser.

Wagner wollte keine Stufen erklimmen, sondern Farben mischen. Das macht er im Lohengrin mit dem großen Orchesterpedal, dem Rauschen aller Instrumente, von ganz oben bis nach ganz unten und wieder hinauf, von den Haar- bis in die Zehenspitzen und über die Eingeweide wieder zurück – einzigartig!

Ähnlich grandios gestaltet er den Schluss der Szene im Brautgemach. »Weh! Nun ist all unser Glück dahin!«, singt Lohengrin, »tief erschüttert«, nachdem Elsa ihm die verbotene Frage gestellt hat und der Attentäter Telramund gefallen ist. Den aufmerksamen Hörer wird dieses »Weh! Nun ist all unser Glück dahin!« an etwas erinnern, nämlich an Lohengrins »Woher ich kam der Fahrt,/noch wie mein Nam’ und Art!« im ersten Akt, an den zweiten Teil von »Nie sollst du mich befragen« also. Gleiches Motiv, gleiche Harmonien, nur doppelt so langsam – und eine völlig andere Stimmung.

Mehr Tiefenlage, mehr Requiem, nur fahles Cello. Und dann diese Glocke, die wie eine Totenglocke aus galaktischer Ferne herüberspukt. Überhaupt, immer wenn bei Wagner die Spannung auf dem absoluten Siedepunkt angekommen ist, passiert plötzlich gar nichts mehr. Nur ein einsamer Glockenschlag noch oder ein Paukenwirbel, wie nach Telramunds Tod.

Erst Riesentumult, Elsa schreit »Rette dich! Dein Schwert! Dein Schwert!«, und dann nur Stille, Stille, Stille. Vier Takte Pauke allein. Da denkt man, das Herz bleibt einem stehen. Und was setzt Wagner gegen diese lastende, lähmende Depression? Den Reitermarsch, schmetternde Fanfaren, »Heil, König Heinrich!/ König Heinrich Heil!«, mit zehn, zwölf Trompeten auf der Bühne. Was für ein verrückter, toller Kontrast! Wie im Film! Dieser Hund.

Das Wort zu Bayreuth ist oben schon gefallen: Mit dem Lohengrin strebt Wagner Effekte an, Klangwirkungen, die sich für ihn erst viel später auf dem Grünen Hügel haben verwirklichen lassen. So gesehen ist der Lohengrin ein Stück Utopie –was leider nicht heißt, dass er besonders gut ins Festspielhaus passt. Vor allem im Vorspiel zum dritten Akt machen sich die Grenzen des Bayreuther Grabens doch arg bemerkbar.

»Sehr feurig, doch nie übereilt«, schreibt Wagner, und das sollte man unbedingt beherzigen. Das schwere Blech, die Virtuosität des ganzen Orchesters, das ist fulminant, das muss rasen, es muss auch mal knallen mit den vielen Triolen und Punktierungen, nur darf man’s nicht überziehen. Der versierte Kapellmeister wird immer sagen, in Bayreuth dirigiere ich dieses Vorspiel um drei Prozent langsamer als im offenen Graben, damit die Musik deutlich bleibt.

Der »mystische Abgrund« mischt, wo es vielleicht gar nichts zu mischen gibt. Außerdem schluckt er die Obertöne, und eine Partitur, die so auf Glanz gebürstet ist wie die des Lohengrin, wird hier immer mattierter klingen als in München oder Wien.

Somit stellt sich beim Lohengrin für den Dirigenten eine wichtige Frage zum ersten Mal in aller Klarheit: Wie viel Struktur braucht Wagners Musik? Wie viel verträgt sie? Wie löse ich den Widerspruch zwischen Atmosphäre und Deutlichkeit, Misch- und Spaltklang? Die Antwort geben einem Handwerk, Gefühl und Erfahrung.

→ aus Christian Thielemann, Mein Leben mit Wagner. Unter der Mitwirkung von Christine Lemke-Matwey, München: C. H. Beck, 2012

19 FLUTLICHT AUS DEM JENSEITS, LIEBE OHNE REUE
SLÁVKA ZÁMEČNÍKOVÁ als DONNA ANNA in DON GIOVANNI Foto MICHAEL PÖHN

IM APRIL

SOLISTENKONZERT

Benjamin Bernheim zählt zu den bemerkenswertesten Stimmen unserer Zeit. Der Sänger, der von der Süddeutschen Zeitung als »die schönste Tenorstimme seit Luciano Pavarotti« bezeichnet wurde, wird auf der ganzen Welt gefeiert – sei es in Paris, Berlin, London oder Wien, Auszeichnungen wie »Sänger des Jahres« stehen bei ihm praktisch auf der Tagesordnung. An der Wiener Staatsoper debütierte er 2018 als Tamino in der Zauberflöte, sang weiters Nemorino (L’elisir d’amore), Herzog ( Rigoletto), Rodolfo ( La bohème) und Edgardo (Lucia di Lammermoor). Nun ist er am 10. April im Haus am Ring erstmals in einem Solistenkonzert zu erleben, in dessen Rahmen er Werke von Reynaldo Hahn, Charles Gounod, Ernest Chausson, Giacomo Puccini, Henri Duparc und Richard Strauss singen wird. Begleitet wird er von der kanadischen Pianistin, Dirigentin und Pädagogin Carrie-Ann Matheson.

DEBÜTREIGEN

Das Spannende am Repertoiresystem der Wiener Staatsoper ist die Möglichkeit, ein- und dieselbe Produktion in unterschiedlichen Besetzungen und Besetzungskombinationen zu erleben. Man sah Peter Kellner in der aktuellen Barrie Kosky-Inszenierung von Don Giovanni als Masetto, dann als Leporello. Man erlebte Kyle Ketelsen und Christian Van Horn in der Titelpartie, Tara Erraught, Kate Lindsey und Federica Lombardi als Donna Elvira… In der April-Serie sind wieder zahlreiche Giovanni-Rollendebüts zu erleben: Nicole Car, dem Publikum aus vielen berührenden Interpretationen gut bekannt, singt erstmals die Donna Elvira im Haus am Ring, in der Titelrolle ist Andrzej Filończyk zu hören. Edgardo Rocha, der an der Staatsoper als Rossini-Tenor zu erleben war, singt seinen ersten Wiener Don Ottavio, Christopher Maltman – bisher an der Staatsoper u.a. ein Eugen Onegin, Rigoletto, Mandryka – ist Leporello, erstmals den Masetto gibt Jusung Gabriel Park. Isabel Signoret ist wieder die Zerlina, Slávka Zámečníková die Donna Anna. Dirigent: Bertrand de Billy!

Fotos EDOUARD BRANE (Bernheim)

PIA

OPER & GENDER

Am 30. Juni findet ein Symposium zum Thema Oper & Gender an der Wiener Staatsoper statt – unmittelbar vor dem Gastspiel der Opéra de Monte-Carlo mit Cecilia Bartoli, die das wissenschaftliche Projekt initiiert hat. Die Veranstaltung, in der das komplexe Thema aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln analysiert wird, leitet der Arzt und Musiker Manfred Hecking. Es werden im Zuge des Symposiums aktuelle Forschungsergebnisse präsentiert. Diese basieren auch auf einer Befragung, die die Medizinische Universität Wien in den kommenden Wochen im Haus am Ring durchführen wird. Fragebögen liegen ab April im Haus auf, auch über die Webseite der Wiener Staatsoper können die Fragen beantwortet werden.

21 SCHLAGLICHTER
CHRISTOPHER MALTMAN
DECCA – ULI WEBER (Bartoli)
CLODI ( Maltman )
BENJAMIN BERNHEIM CECILIA BARTOLI TIMOOR AFSHAR als ARMAND DUVAL & KETEVAN PAPAVA als MARGUERITE GAUTIER Fotos ASHLEY TAYLOR

»DIE LIEBE MACHT DEN MENSCHEN BESSER, VON WELCHER SEITE SIE AUCH KOMMEN MOGE...«

NASTASJA FISCHER IM GESPRÄCH MIT JOHN NEUMEIER

…schreibt Alexandre Dumas d. J. in seinem 1848 erschienenen Roman La dame aux camélias und schuf mit der Erzählung von der tragischen Liebe der Kurtisane Marguerite Gautier und des jungen Mannes Armand Duval den Grundstein für vielfältige künstlerische Interpretationen – sei es in der Oper, im Film oder im Ballett. 1978 hat John Neumeier mit seiner Version der Kameliendame eines der bedeutendsten Handlungsballette des 20. Jahrhunderts geschaffen, das seit seiner Premiere Ende März nun auch Teil des Wiener Ballettrepertoires ist. nf Was hat Sie dazu inspiriert, ein Ballett aus Alexandre Dumas’ d. J. La dame aux camélias zu kreieren? jn Für einen Roman, der Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben wurde, ist La dame aux camélias unglaublich modern –vor allem durch die Tatsache, dass wir die Geschichte nicht chronologisch erfahren, sondern aus unterschiedlichen Perspektiven. Zum Beispiel zuerst durch Armand, der das Manon Lescaut-Buch, das er einmal Marguerite geschenkt hat, vom Erzähler, der es bei der Auktion bekommen hat, erstehen möchte. Er wird krank und erzählt während seiner Genesung seine Geschichte. Ein weiterer Teil wird vom Vater Armands berichtet. Das Ende der Geschichte erfahren wir aus dem Tagebuch Marguerites. Diese

Perspektiv wechsel reizten mich sehr, weil ich nach neuen Möglichkeiten in der Gestaltung des abendfüllenden Balletts suchte –und immer noch suche. Obwohl das Sujet aus dem 19. Jahrhundert stammt, wollte ich nicht die klassische Form des Handlungsballetts aus dem 19. Jahrhundert, sondern einen anderen Zugang wählen. Das Schwierige im Ballett ist, dass wir keine Möglichkeit haben, eine Vergangenheit oder Zukunft durch die reine Bewegung deutlich zu machen. Wir teilen zwar den Körper, das wortlose Instrument, mit unserem Publikum, was einen direkten Kontakt möglich macht, aber gewisse Raffinessen, die der geschriebene Text hat, z. B. das Spielen mit grammatikalischen Formen, die Möglichkeit von dreidimensionalen wörtlichen Bildern, sind im Tanz schwieriger zu gestalten. Ich suchte also nach Schichten, sodass die Figuren nicht plakativ dargestellt werden, sondern eine tiefere menschliche Dimension erhalten. Dafür habe ich mich bestimmter Tricks, bei denen man verschiedene JetztZeiten nebeneinanderstellt und miteinander vergleicht, bedient. So ist die Inszenierung poetischer und erinnert in ihren schnellen Szenenwechseln an die Kunstform Film. Auch die Etablierung der Manon als Figur, die ebenfalls im Roman suggeriert wird, war ein wichtiger Ausgangspunkt für mich.

23

nf Sie haben ausschließlich Musik von Frédéric Chopin für das Ballett gewählt – einen besonderen Stellenwert haben dabei das 2. Klavierkonzert im ersten Akt und das Largo aus der h­Moll Sonate, welches als leitmotivisches »Liebesthema« stets wiederholt wird. Was bedeuten diese beiden Kompositionen für Sie innerhalb der Kameliendame?

jn Das Largo ist der Kern des Stückes und wird auch mehrfach im Ballett wiederholt. Wir hören es fragmentarisch bereits im Prolog und am Ende. Der größte Wendepunkt geschieht, wenn Marguerite sich ihre Liebe zu Armand eingesteht. Im Pas de deux »auf dem Land« erklingt das Largo dann zum ersten Mal vollständig. Während die Komposition beginnt, verschwindet in der Introduktion alles um die beiden herum, Liebe ist losgelöst von Zeit und Raum. Das Largo ist wichtig und steht für die einzig glückliche, kurze Zeitspanne ihres Lebens. Das Klavierkonzert verbindet zwei wesentliche Aspekte Chopins: Zum einen das Komponieren für die Salons, die typisch für das 19. Jahrhundert waren. Es ist eine Musik, die gefallen hat, die aufregend ist, die auch die Gesellschaft aus jener Zeit musikalisch beschreibt. Zum anderen die Auseinandersetzung mit seiner Krankheit. Dem zweiten Satz liegen eine Intimität und unterschwellige Melancholie inne, die diesen Gesichtspunkt widerspiegeln und die auch zum Subtext Marguerites gehören.

nf Wenn das Ballett, wie jetzt in Wien, neu einstudiert wird, verändern Sie noch Dinge?

jn Ich ändere meine Stücke immer. Die Veränderung ist dabei aber meist eine Form von Klärung. Wenn man älter wird, soll man aus der Erfahrung lernen und in der Lage sein, das, was man 45 Jahre lang sagen wollte, nun besser und deutlicher ausdrücken zu können. So handelt es sich nicht um essenzielle Änderungen, das Konzept des Balletts bleibt stets gleich, es geht eher um Nuancen. Auch die Arbeit mit verschiedenen Tänzer*innen beeinflusst mich. Die Wiener Besetzungen von Marguerite und Armand sind persönlich wie physisch sehr unterschiedlich, darauf gehe ich ein. Es ist wie mit der Arbeit an einem Text, man muss diesen nicht ändern, um ihm eine andere Farbe zu geben, sondern es kommt darauf an, wie man ihn spricht. Solange ich lebe, werde ich meine Werke immer kritisch betrachten. Ist die Arbeit noch relevant und wahrhaftig? Oder gibt es einen anderen Weg? Wenn ich das Gefühl habe, ja, dann muss ich es ändern.

nf Wonach suchen Sie in einer Tänzerin, einem Tänzer bei der Besetzung der Rollen von Marguerite und Armand?

jn Um Marguerite zu tanzen, muss die Tänzerin eine Form der Verletzlichkeit sichtbar machen können. Das hat nichts mit der Größe oder dem Alter, sondern mit einer Ausstrahlungskraft zu

24 JOHN NEUMEIER IM GESPRÄCH
DAVIDE DATO als ARMAND DUVAL & ELENA BOTTARO als MARGUERITE GAUTIER

OLGA ESINA als

MARGUERITE GAUTIER & BRENDAN SAYE als ARMAND DUVAL

JOHN NEUMEIER DIE KAMELIENDAME

Musikalische Leitung MARKUS LEHTINEN Choreographie & Inszenierung JOHN NEUMEIER

Musik FRÉDÉRIC CHOPIN Bühne & Kostüme JÜRGEN ROSE Licht RALF MERKEL

Einstudierung KEVIN HAIGEN / JANUSZ MAZON / IVAN URBAN Klavier ANIKA VAVIĆ & IGOR ZAPRAVDIN

Marguerite Gautier ELENA BOTTARO / KETEVAN PAPAVA / OLGA ESINA

Manon Lescaut LIUDMILA KONOVALOVA / HYO-JUNG KANG / KIYOKA HASHIMOTO

Armand Duval DAVIDE DATO / TIMOOR AFSHAR / BRENDAN SAYE Des Grieux ALEXEY POPOV / MARCOS MENHA / MASAYU KIMOTO

WIENER STAATSBALLETT JUGENDKOMPANIE DER BALLETTAKADEMIE ORCHESTER DER WIENER STAATSOPER

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tun. Kann ich, welchen Schritt auch immer sie tanzt, glauben, dass sie bestimmt ist zu sterben? Kann ich das in ihrer Bewegung und in ihrem Ausdruck lesen? Weiterhin muss ich einen Dialog, eine Chemie zwischen Marguerite und Armand spüren. Armand ist hingebungsvoll und gleichzeitig – das liest man auch im Text von Dumas – weiß er, was er tut und was er will. Diese Stärke muss für Marguerite deutlich sein. Man kann die Äußerlichkeiten der Beziehung unterschiedlich deuten. Auch der Altersunterschied ist interessant. Das historische Vorbild für Dumas d. J., Marie Duplessis, war 23 Jahre alt. Es gibt also verschiedene Lesarten, aber die menschliche Auseinandersetzung zwischen Marguerite und Armand ist entscheidend. Deshalb bin ich für die Besetzung auch einige Male nach Wien gereist. Ich habe Paare gebildet, sie wieder verändert, weil die Chemie besser oder das physische Zusammenspiel harmonischer oder spannungsvoller war. Auch das reizt mich an meiner Arbeit und der immer wieder neuen Auseinandersetzung mit einem Ballett wie Die Kameliendame : Es gibt so viele Möglichkeiten.

nf Nach über fünfzig Jahren beenden Sie im kommenden Sommer Ihre Direktion am Hamburg Ballett. Haben Sie schon Pläne, was Sie danach machen werden?

jn Ich werde freischaffend und mit vielen Compagnien arbeiten. Ich habe auch als Ballettdirektor mit anderen Ensembles gearbeitet, interessanterweise mit 51. Aber nun werde ich dies ohne ein schlechtes Gewissen, meine eigene Compagnie zu vernachlässigen, tun. Auch das Festival The World of John Neumeier in Baden-Baden führe ich weiter. Ich bin mehr oder weniger bis Ende 2027 ausgebucht.

nf Wie wird Ihr Erbe in Hamburg weiterhin gepflegt?

jn Lloyd Riggins, mein stellvertretender Ballettdirektor, ist der Kurator meiner Werke. Er schlägt vor, welche Stücke zu welcher Zeit und

in welcher Form wiederaufgenommen werden könnten. Die Zeit wird zeigen, wie das funktioniert. Einige Ballettmeister, die mit mir gearbeitet haben, bleiben. Diese sind oft Tänzer, die Rollen in meinen Werken interpretiert haben. Wenn ich kann, werde ich selbstverständlich auch mit den neuen Besetzungen in Hamburg arbeiten.

nf Sie haben das Ballett in Hamburg zum Teil der Stadtgesellschaft, der Infrastruktur gemacht. Welchen Stellenwert muss die Pflege der Tanzkunst in einer Stadtkultur haben?

jn Als ich nach Hamburg kam, hatte ich eine Teilzeitsekretärin und ein kleines Büro, das ich mit meinem Ballettmeister teilte. Ich habe nie gesagt, das genügt mir nicht. Mein erstes Ziel war, etwas zu kreieren. Als Künstler muss man etwas ehrlich kreieren und hoffen, dass die Menschen es sehen wollen. Im Tanz geht es mehr um die Frage, was lerne ich über mich als Mensch, wenn ich ein Ballett zu Mahlers 3. Symphonie, die Matthäus-Passion oder die Odyssee nach Homer sehe? Die Tanzkunst ist aufgrund ihrer Wortlosigkeit für mich jene Kunst, die am nächsten am Menschen ist. Dieser ist Sujet und zugleich Instrument. Ich denke, hier muss man beginnen. Ich bin weder Politiker, Soziologe noch Stadtplaner, ich bin jemand, der Ballette macht und der versucht, diese so gut wie möglich zu machen. Dann, wenn Gott will, finden sie auch einen Platz in der Gesellschaft.

→ Die Fragen zu John Neumeiers Die Kameliendame sind in gekürzter Form dem Programmheft der Produktion entnommen. Alle weiteren Fragen sind ein Originalbeitrag für den Opernring 2

DANCE MOVI ES

JOHN NEUMEIER –EIN LEBEN FÜR DEN TANZ ÖSTERREICH-PREMIERE mit anschließendem Nachgespräch

7. April 2024, 13 Uhr, Filmcasino Tickets über filmcasino.at

27 JOHN NEUMEIER IM GESPRÄCH
VASILISA BERZHANSKAYA Fotos LENA FAINBERG

JEDEN TAG EIN ANDERER MENSCH

Von einem »charaktervoll timbrierten Mezzo, dessen Koloraturen keine technischen Figürchen, sondern sinnlich schön sind«, las man in der Kleinen Zeitung nach dem Staatsopern-Debüt von Vasilisa Berzhanskaya im Jahr 2021. Damals sang sie die Rosina in der Barbiere di Siviglia-Premiere, und nicht nur der Rezensent von Radio Klassik Stephansdom bemerkte, dass sich »eine große Karriere abzeichnet«. Blickt man heute, 2024, in den Kalender der Mezzosopranistin, reiht sich Musikzentrum an Musikzentrum: die Metropolitan Opera in New York, das Rossini Festival Pesaro, die Mailänder Scala, das Royal Opera House, Covent Garden in London, die Lyric Opera in Chicago, das Teatro San Carlo in Neapel: überall versteht die Sängerin zu begeistern. Nun gibt Vasilisa Berzhanskaya ihre weltweit erste Carmen: in Wien!

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ol Fangen wir mit einer vielleicht simplen –und gleichzeitig schwierigen – Frage an: Was ist das Beste im Leben einer Opernsängerin? Ist es das Gefühl, auf der Bühne zu stehen? Das Spielen? Die Musik? Der Applaus?

vb Für mich ist es die Möglichkeit, durch die Rollen, die ich gestalte, eine andere Person sein zu können. Ein anderer Charakter. Es ist eine unglaubliche Erfahrung: In der Haut eines anderen Menschen zu stecken – und dank den unterschiedlichen Partien praktisch jeden Tag eine andere zu sein. Vor allem eine Person, die ich im »normalen Leben« niemals wäre.

»Carmen ist nicht nur der Gesang, sie braucht den großen Bühnenausdruck.«

ol Ist es spannend im Sinne einer Freiheit? Biografien und Dinge auszuleben?

vb Es ist eine Art der Freiheit: Ich bin in einer Bühnenrolle eine andere Frau und handle ihr gemäß –doch ganz ohne reale Konsequenzen.

ol Sie singen derzeit Rollen wie Rosina, Norma, Charlotte, Carmen oder Cenerentola. Alles Figuren, in die Sie hineinschlüpfen. Mit welcher finden Sie charakterlich große gemeinsame Schnittflächen?

vb Ich muss sagen: mit keiner. Keine dieser Figuren entspricht mir und bei keiner würde ich auf die Bühne gehen und sagen: Schaut, genau das bin ich! Genau so bin ich im echten Leben. Alle diese Partien sind Schauspiel – und das ist auch gut so!

ol Ist es relevant, ob es sich um eine komische oder tragische Oper handelt?

vb Ich denke, dass viele von uns eine kleine Affinität zu tragischen Rollen haben. Zumindest empfinde ich es so und habe daher eine Vorliebe für dieses Fach. Aber natürlich… eine Komödie, in der ich einfach einmal komisch sein darf, ist auch ein Vergnügen! Vor allem entsprechen etliche dieser Rollen genau meinem Alter. Eine Cenerenola, eine Rosina, das sind Partien, die ich nicht mein ganzes Leben lang singen werde. Jetzt passt es ideal, und daher ist es mir wichtig, das auch zu gestalten. Ich weiß, dass ich noch viel Zeit habe, mich vielen anderen Rollen, auch tragischeren, zuzuwenden.

ol Die Carmen geben Sie szenisch zum ersten Mal in Ihrem Leben. Fiebern Sie dem Debüt entgegen?

vb Es ist tatsächlich meine erste szenische Carmen. Ich sang die Rolle bisher erst einmal konzer-

tant, warte aber schon seit Jahren auf die richtige Gelegenheit. Zunächst einmal ist es für mich entscheidend, für diese Partie bereit zu sein: auch als Mensch, als Person. Denn Carmen ist eine ungemein reichhaltige Figur, eine Frau mit einer geradezu magnetischen Kraft. Das muss zu spüren und zu erleben sein. Gleichzeitig war es mir wichtig, diese Partie bei meinem Debüt auf einer ersten Bühne, in einem großen Haus zu gestalten. Denn es braucht die große Szene für diese Oper. Rein stimmlich ist die Partie, im Vergleich zu einer Bellini-Rolle wie Norma, einfacher. Nicht einfach natürlich, aber zumindest einfacher. Aber Carmen ist nicht nur der Gesang, sie braucht den großen Bühnenausdruck.

ol Nun hat jede Generation ihre Ikonen. Mit welcher Carmen­Ikone sind Sie groß geworden?

vb Die erste Carmen-Aufnahme, an die ich mich erinnern kann, war mit Agnes Baltsa. Und ihre Carmen fasziniert mich nach wie vor, immer noch höre ich ihre Einspielungen, immer noch gehört sie zu meinen absoluten Favoritinnen!

ol Und gibt es eine Mezzosopranistin, die Sie ganz allgemein in besonderem Maße inspiriert hat?

vb Cecilia Bartoli! Von Anfang an! Bereits als ich noch sehr jung war und – noch im Sopranfach! –gerade erst zu singen begann, träumte ich trotz meines Sopran-Repertoires davon, eine Mezzo-Koloratursängerin wie Bartoli zu werden. Genau diese Rollen zu gestalten! Und der Tag, an dem mir klar wurde, dass ich stimmlich in diese Richtung gehe, war der schönste meines Lebens! Mit anderen Worten: Cecilia! Damals und heute! Sie hat eine solch unglaubliche Inspirationskraft!

ol Wer ist Carmen aus Ihrer Sicht? Wie ist sie? vb Es ist so schwierig, das richtig zu beschreiben, weil sie so viel in sich trägt. Natürlich: Sie ist stark. Sie ist frei. Aber sie ist auch noch mehr… In ihrem Inneren finde ich so viel, auch zarte Momente. Die Musik bietet uns das alles an, und in jedem Akt werden unterschiedliche Eigenschaften betont. Etwa im ersten: Da ist sie eine aufregende, attraktive Frau, die ihr Leben genießt und im Mittelpunkt des Interesses steht. Alle blicken auf sie! Sie ist frei, von einer Leichtigkeit getragen. Dann nähern wir uns Schritt für Schritt der Tragödie, der erschreckende Verlauf setzt sich in Gang. Vielleicht begreift sie diese Entwicklung nicht einmal vollständig. Vielleicht versteht sie nicht, warum die Geschichte so läuft, wie sie läuft. Sie kann über ihr Verhalten nicht reflektieren, sie ist einfach, wie sie ist. Ganz sie selbst und ganz ehrlich. Im Gegensatz zu vielen anderen spielt sie keine Rolle. ol Aber deutet das nicht auch auf einen Egoismus hin? Diese absolute Freiheit, die sich in keinen anderen Bezug als sich selbst setzt? vb Nein, das finde ich nicht. Es ist ihr Leben. Alle treffen die Entscheidung, mit Carmen in Verbindung

30 OLIVER LÁNG IM GESPRÄCH MIT VASILISA BERZHANSKAYA

GEORGES BIZET

CARMEN

18. 21. 25. 28. APRIL 2024

Musikalische Leitung ASHER FISCH Inszenierung CALIXTO BIEITO Bühne ALFONS FLORES Kostüme MERCÈ PALOMA Licht ALBERTO RODRIGUEZ VEGA

Mit VASILISA BERZHANSKAYA / VITTORIO GRIGOLO / ALEXEY MARKOV / KRISTINA MKHITARYAN

zu treten, selbst und wissen, was gespielt wird. Sie zwingt niemanden, sie zu lieben. Sie lebt ihr Leben –und ist nicht von anderen abhängig. Und wenn eine Person nicht mit ihr sein will, dann findet sie immer eine andere. Für sie ist die Liebesgeschichte mit Don José beendet. Sie sieht keinen Sinn darin, an Vergangenes anzuknüpfen und zu versuchen, etwas zu reparieren. Was vorbei ist, ist vorbei. Carmen lässt das hinter sich und will weitergehen.

ol Wäre Escamillo die große, »wahre« Liebe?

vb Ich denke, er ist einfach ein weiterer Liebhaber. Er gefällt ihr… Sobald aber Escamillo merkt, dass sie die »seine« ist, wird sie sofort »mit den Flügeln schlagen« und davonfliegen. Davon spricht sie schon bei ihrem ersten Auftritt, in der bekannten Habanera » L’amour est un oiseau rebelle / que nul ne peut apprivoiser«. Es scheint mir, dass kein Mann jemals von ihr Besitz ergreifen kann.

ol Und ist sie in ihrem Leben glücklich? Oder sehen Sie eine geheime Sehnsucht nach dem perfekten Partner?

vb Sie ist meiner Meinung nach glücklich. Ich denke auch nicht, dass sie eine andere Form der Beziehung in Erwägung zieht. Für Carmen sind traditionelle, gesellschaftliche Regeln nicht interessant.

ol Könnte für Sie diese Carmen eine reale Figur sein? Oder bleibt sie dann doch ein Kunstprodukt?

vb Ich persönlich habe niemals eine Person getroffen, die ganz wie Carmen wäre. Aber dennoch denke ich, dass es sie im ganz gewöhnlichen Alltag geben kann. Wie anfangs erwähnt: Ich bin es definitiv nicht. Aber es gibt sie sicher! Man müsste das Publikum fragen, ob jemand Carmen schon begegnet ist.

ol Carmen zählt zu den bekanntesten fünf Opern der Musikgeschichte. Womit hat das zu tun? Mit der Titelfigur? Der Musik?

vb Sicherlich hat das mit der Handlung und der Figur zu tun, aber natürlich auch ganz besonders mit der Musik. Jede einzelne Nummer ist ein Hit, kein einziger Moment hängt durch. Carmen ist einfach immer großartig! Ich könnte gar nicht sagen, welche meine liebste Stelle ist. Die Habanera, die Seguidilla, das Duett am Schluss? Dazu diese fantastische Orchestration, die Chöre, die Arien von Don José und Micaëla, alles, bis hin zum Kinderchor. Ich freue mich schon, diese Musik auf der großen Staatsopernbühne singen zu dürfen!

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GUSTAV MAHLER, MUSIKTHEATERREGISSEUR, 1902 AN DER WIENER HOFOPER

REGIE & REGIMENT

»Regie führen« klingt wie »Regiment führen«, und das Regiment, das geführt wird, pflegt ein strenges zu sein.

Entspricht die Realität der Sprache?

Weich klingt das »g« auch in der deutschsprachigen Regie. Ein sprachliches Täuschungsmanöver? Gerade die korrekt, nämlich französisch ausgesprochene Regie kann ihren romanischen, nämlich lateinischen Ursprung nicht verhehlen: Regie kommt von »regere«: »regieren« oder »herrschen«.

Herrschaftszeiten also auf der Weltbühne nach Auftritt des Regisseurs? Wäre dem so, dann hätte dort über einen langen Zeitraum der herrschaftsfreie Zustand der Anarchie geherrscht. Von dem Richard Wagner übrigens behauptete, er hätte ihn in Bayreuth hergestellt. Doch dazu später.

Als das Theater (westlicher Prägung) entsteht, tut es das ohne die lenkende Hand eines Regisseurs – im heutigen, arbeitsteiligen Sinn. Und natürlich auch ohne die einer Regisseurin. Die Dionysien von Athen, die wir als erste Institutionalisierung von Theater akzeptiert haben, sind ausschließlich von Männern ausgerichtet – und sie sind Wettkämpfe. Hier werden die besten Tragödien und die besten Komödien gekürt, Sieger wie Aischylos, Sophokles und Aristophanes werden heute noch aufgeführt. Die Dramatiker beherrschen also den

Diskurs. Beherrschen sie auch die Aufführung? Sie organisieren sie, regeln die Auftritte und Abgänge und wirken häufig selbst als Schauspieler mit. Ehe eine separate Regie als einwirkende Gestaltung der Szene, dann als Interpretation des Werks eine Rolle spielt, wird viel Zeit vergehen. Zeit, in der allerdings auch viel Theater gespielt wird. In den geistlichen Spielen des europäischen Mittelalters, bei den englischen Komödiantentruppen, in den Berufstheatergruppen der Commedia dell’arte gibt es Verantwortliche, die die Theatergeschichtsschreibung etwa als Regenten oder Theatermeister bezeichnet. Gerade in historischen Darstellungen der Regie wird dabei häufig betont, dass diese Personen – im englischen Theater häufig ältere Schauspieler –vor allem »administrative Aufgaben« übernommen hätten: die Organisation und den Aufbau der entsprechenden Kulissen etwa, oder auch die rechtzeitigen Auftritte der einzelnen Schauspieler. Letzteres, wie betont wird, Aufgaben, für die heute Inspizienten und Inspizientinnen zuständig sind. Inspizientinnen und Inspizienten wachen über den Ablauf und Verlauf einer Vorstellung. Auf ihre Zeichen geschieht

33 NIKOLAUS STENITZER

alles, vom Auftritt bis zur Explosion, und ohne ihr Zeichen geschieht nichts. Administrativ sind diese Aufgaben im Wortsinn, verwalten sie doch das Werk, als das uns heute die Inszenierung gilt; gerade in Österreich, wo wir die Verwaltung seit Jahrhunderten als den pulsierenden Kern des Staates kennen, werden wir derartige Aufgaben bestimmt nicht geringschätzen. Doch werden wir der Theatergeschichte darin folgen, dass Verwaltung

konkretisiert sich im Zusammenhang mit dem Meininger Hoftheater, wo unter der Ägide des Regisseurs Ludwig Chronegk Inszenierungen geschaffen werden, die sich durch ihre historische Informiertheit auszeichnen. Ein berühmtes Beispiel ist die Recherche zur Aufführung von Shakespeares Julius Cäsar (1867, vielbeachtetes Gastspiel in Berlin 1874), die ergab, dass zur Zeit der Handlung das Forum Romanum im Wiederaufbau be -

»Man schuf den modernen Regisseur und stellte ihn unter dem Drucke einer ganz ungeheuren Verantwortung gegenüber dem Dichter und seiner Kunst in die vorderste Reihe der ausübenden Künstler.«
CARL HAGEMANN

und Herrschaft hier nicht dasselbe sind. Noch über die Regie am 1791 von Goethe übernommenen Nationaltheater von Weimar schreibt C. Bernd Sucher in seinem Theaterlexikon: »Der Regisseur bleibt in erster Linie Kontrolleur der äußeren Ordnung.« Der Regisseur ist hier also als Exekutivorgan ausgewiesen. Und die äußere Ordnung? Wer über das Theater als Ereignis bestimmt, zeigt sich als formabhängig. Das antike griechische Theater, das im Wesentlichen Ausdruck des verschriftlichten Dramas ist, steht unter der Regentschaft des Autors (die dadurch noch nicht zur Regie im heutigen Sinn wird), ebenso wie jenes Goethes und Schillers. Stegreifschauspiel wie jenes der Commedia dell’arte, in der auf der Grundlage von Szenarien und Figurentypen improvisiert sind, wird von den Schauspielerinnen und Schauspielern beherrscht: Sie bestimmen das Ergebnis, bilden gewissermaßen eine (meist ärmliche) polis, in der gemeinsam über das Ergebnis entschieden wird, allerdings nicht durch Verhandlung und Abstimmung, sondern durch die Macht des Faktischen, direkt im Spiel. Auch im elisabethanischen Theater herrschten die Schauspieler (actors und boy actors) über das Geschehen, obwohl es sich hier um Theater auf verschriftlichter Grundlage handelte, mit Werken hochgebildeter Autoren wie Shakespeare oder Ben Johnson. Ein Autor, der sein Stück verkauft hatte, hatte bei der Umsetzung dennoch nichts mehr zu melden – das theatrale Ereignis rückte in den Vordergrund, ein Autor wie Shakespeare konnte über dessen Gestaltung in seiner Eigenschaft als Schauspieler teilhaben.

Im deutschsprachigen Raum wächst die Regie im Verlauf des 19. Jahrhunderts nach und nach in ihre machtvolle Bezeichnung hinein. Die Herrschaft über das Ereignis der Theateraufführung

findlich war, weswegen es auch die Kulissen zur Aufführung als Baustelle darstellten. Der Theaterwissenschaftler und spätere Intendant Carl Hagemann versuchte 1902 zu erklären, was an dieser theatergeschichtlichen Stelle geschehen war. Sein einflussreiches Werk Regie. Die Kunst der szenischen Darstellung ist von aufklärerischem Fortschrittsgeist durchdrungen – und von einer großen Ordnungssehnsucht. Für ihn ist eindeutig, dass durch die Schlampigkeit und Selbstgerechtigkeit viel zu einflussreicher Schauspieler eine rechtmäßige Herrschaftslinie durchtrennt worden war. Jetzt, durch kraftvolle Theaterreformatoren wie den Meininger Herzog, wurde die Ordnung wieder hergestellt:

»Der Dichter, der von einem, auch heute noch nicht ganz überwundenen, banausischen Virtuosentum, von diesen im Grunde kunstfremden Handwerksburschen [Schauspielern und Statisten] im wohligen Ersterklasse-Abteil, nur noch als bequemes Mittel für niedrige, selbstische Zwecke angesehen wurde, kam wieder allein zu Wort, bestieg von neuem seinen Herrscherthron.«

Auf den Thron – bei der fraglichen Herrschaftsform handelt es sich offenbar um eine Monarchie – gehört also der König Autor. Das erscheint angesichts der Zeit, zu der Hagemann schreibt, nur schlüssig; zeitgenössische Autoren wie Arthur Schnitzler, August Strindberg oder Oscar Wilde hatten zur Jahrhundertwende neue literarische, erzählerische und theatrale Qualitäten mitgebracht, die auch als Novitäten ein neues Theater verlangten, das ihnen vor allem gerecht werden sollte. Dass dieses Gerecht-Werden in den Händen des Regisseurs lag, war die große Nachricht Hagemanns; was das bedeuten würde, beantwortete er deutlich:

34 REGIE & REGIMENT

»Und jetzt gab man ihm einen Gehilfen, der in oberster Instanz über die Darstellung der künstlerischen Idee zu wachen hatte; man schuf den modernen Regisseur und stellte ihn unter dem Drucke einer ganz ungeheuren Verantwortung gegenüber dem Dichter und seiner Kunst in die vorderste Reihe der ausübenden Künstler.«

Hagemann brachte als Intendant am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg etwa Stücke von Strindberg oder Frank Wedekind zur (Ur-) Aufführung. Der von ihm beschriebene Regisseur, Gehilfe des lebenden Autors, erscheint in solchen Fällen als eine Art Regent: Statthalter und Stellvertreter des Herrschers, möglicher- und logischerweise sogar mit Rechenschaftspflicht. Verstirbt aber Gott behüte der Autor oder heißt er eventuell Shakespeare, so überhöht sich die Rolle. Der Regisseur bleibt Stellvertreter, aber sein Stellvertretertum erhält eine päpstliche Bedeutung: Gewisse berufene Menschen (Männer) müssen den Stellvertreter ernennen, und es muss an die Lehre geglaubt werden, nach der er handelt. Dieses Handeln nennt auch Carl Hagemann »herrschen«, genauer »die absolut verlässliche Herrschaft über den ganzen weitschichtigen Organismus der modernen Bühne«.

Ein interessanter Fall ist die Herrschaft über die Kunst am Musiktheater, die Hagemann sowohl im besprochenen Band als auch in der Aufsatzsammlung Oper und Szene (1905) verhandelt. Hier ist es zunächst Richard Wagner, dessen Konzeption des »Gesamtkunstwerks« Hagemann eng mit dem Fortschritt auf dem Gebiet der Regie in Deutschland verbindet. Ideal wäre demnach ein Wagner als »Chef der Aufführung«, der von »Unterregisseuren« unterstützt werden solle, »und zu diesen Unterregisseuren gehören auch die oder der Kapellmeister«. Es versteht sich, dass der Autor seinen eigenen Vorschlag relativieren muss: Er ist eng an die Strahlkraft und die konstatierte Außergewöhnlichkeit einer Person gebunden, die, so Hagemann, nicht häufig zu finden sein werde: »Die Bismarcks sind auf dem Theater so selten anzutreffen wie in der Politik.« Seine Überzeugung für das musiktheatrale Gesamtkunstwerk bringt ihn allerdings zu einer deutlichen Ablehnung der Trennung der musikalischen und der szenischen Sphäre. Die Alternativlösung: Unter anderem Gustav Mahler habe in Wien bewiesen, dass der »Kapellmeister als Regisseur« »für normale Verhältnisse die richtigere Lösung« sei. Gustav Mahlers Zusammenarbeiten mit Alfred Roller hatten gleich ab dem ersten gemeinsamen Projekt, der Neuinszenierung von Tristan und Isolde (1902), Aufsehen erregt; Don Giovanni (1905) sollte einen Rezensenten zu der befremdeten Bemerkung veranlassen, das Bühnenbild spiele »gleichsam mit«, was von Mozarts Musik ablenke. Schon so früh

gab es also Widerspruch gegen szenische Innovation; beim Theoretiker der theatralen Herrschaftsverhältnisse Carl Hagemann ist zu bemerken, dass ihm die vielfältigen Anforderungen an die Musiktheaterproduktion Kopfzerbrechen bereiten, weil sie seiner Sehnsucht nach einem regieführend regierenden »Bismarck« zuwiderlaufen. »Wir haben es«, schreibt er, »am Theater nun einmal mit einer Republik zu tun, in der jeder irgendwie beteiligte Künstler Sitz und Stimme hat. Auch der Darsteller. […] Die Leute müssen wissen, dass sie nicht in einem Fabrikbetriebe, sondern in einem nach Erscheinung lechzenden Kunstwerke tätig sind. Das intuitive Kunstschaffen darf niemals durch das mechanische ersetzt werden. Und jeder Verrichtung hat eine gewisse freie Ursprünglichkeit zu eignen.« Die Zugehörigkeit zur Republik ist hier die zu einem Geheimbund. Freie Ursprünglichkeit und das Zur-Erscheinung-Bringen des nach ebensolcher lechzenden Kunstwerks beruhen auf der Vorstellung eines intuitiven Wissens sämtlicher Beteiligten um die Beschaffenheit der Erscheinung und die Bedingungen ihrer Herbeiführung. Eine Republik der Magierinnen und Magier. Oder eben auch die magische Kunst-Anarchie Richard Wagners, zu der sich der Kreis bei Hagemann schließt. Mit dieser nämlich habe der Bayreuther Meister das Gelingen seines scheinbar perfekt abgelaufenen Parsifal erklärt: Jeder der Beteiligten täte ausschließlich »das, was er wolle – nämlich das Richtige«.

Auf die heute fast genau 120 Jahre alten Betrachtungen Hagemanns folgten auf dem Gebiet der Regie Entwicklungen, die mit dem Lauf der Welt und der Kunst zu tun hatten, neuen Formen, neuen Vorstellungen über das Verhältnis von Werk, Autorin und Interpret, neuen technischen Möglichkeiten. Interessant ist, dass vieles von dem, was Hagemann begeistert postuliert, teils selbstverständlich, teils latent erhalten blieb. Vor allem das Empfinden, mit einer Produktion nicht ein Produkt, sondern ein Kunstwerk zu produzieren, lässt die Arbeit der beteiligten Republikaner und Anarchistinnen als außergewöhnlich erscheinen, und die Beteiligten selbst als Eingeweihte. Was einem Hagemann noch nicht so wichtig war ist, dass auch die Arbeit Eingeweihter Arbeit ist, die strukturell bedingte Hierarchien enthält, weswegen besonders darauf geachtet werden muss, dass ein respektvoller Umgang miteinander nicht auf dem Altar der Kunst geopfert wird. Das Regime, das etwa die Regie am Musiktheater schon strukturell nicht als absolutes führen kann, wird immer am besten funktionieren, wenn es sich weder auf vermeintlich anarchistische Libertinage noch auf absolutistische Strenge verlässt, sondern danach strebt, sein republikanisches Potenzial zu nutzen.

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FEDERICA LOMBARDI Foto CHARL MARAIS

GIUSEPPE VERDI

SIMON BOCCANEGRA

6.

Musikalische Leitung MARCO ARMILIATO Inszenierung PETER STEIN Bühne STEFAN MAYER Kostüme MOIDELE BICKEL Mit LUCA SALSI / KWANGCHUL YOUN / CLEMENS UNTERREINER / FREDDIE DE TOMMASO / FEDERICA LOMBARDI

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8. 11. 13. APRIL

REINHEIT & DRAMATIK

Da betritt eine Sängerin oder ein Sänger die Bühne – und alles verwandelt sich. Das Publikum kann den Blick nicht abwenden, ein Fluidum strömt durch den Saal, man lauscht und staunt. Gesang und Schauspiel werden eins, alles ist Ausdruck. Um das zu beschreiben, fehlen einem die richtigen Worte. Oder doch, es gibt ein Wort: Charisma! Jene Ausstrahlung, die magisch in den Bann zieht und Theater zum Ereignis macht. Zu erleben etwa bei der jungen Sopranistin Federica Lombardi, die im April die Amelia in Giuseppe Verdis atemberaubender Oper Simon Boccanegra singt und und als FigaroGräfin sowie in der Così fan tutte-Premiere auf der Bühne stehen wird. Mit Oliver Láng sprach die italienische Sängerin über den Zauber der Oper, den Energieimpuls großer Partien und wie Simon Boccanegra auf »Opernneulinge« wirkt.

ol Ihr letzter Auftritt an der Wiener Staatsoper war die Donna Elvira in Don Giovanni. Ihr Gesang und Ihre Ausstrahlung faszinierten und begeisterten. Ersteres kann man studieren, doch wie sieht es mit Zweiterem aus? Ist Charisma angeboren? Oder lernt man es?

fl Ich denke, beides. Man darf nie vergessen, dass wir Sängerinnen und Sänger viel und hart arbeiten, aber auch vom Bühnenleben profitieren,

indem wir auf die Energien der dargestellten Figuren zugreifen. Ich versuche ja nicht, eine Figur nur zu spielen, sondern sie wirklich zu sein! Wenn ich also zum Beispiel einen sehr starken Charakter gebe, eine Figur, die dramatisch und leidenschaftlich ist, macht das nicht nur Spaß, sondern ich bekomme von diesem starken Bühnencharakter einen Energieimpuls. Dieser speist sich dann auch aus den Gefühlen, um die es geht: Sie sind nämlich fast immer höchst intensiv! Zum Beispiel

37 OLIVER LÁNG IM GESPRÄCH MIT FEDERICA LOMBARDI

Donna Elvira: Als Sängerin muss ich ihr Ringen zwischen Liebe und Hass spüren – und spürbar machen.

ol Sie schöpfen also die Intensität aus der Musik und dem Text…

fl … aus der Musik, dem Libretto, aber ich habe sie auch aus der wunderbaren Besetzung gewonnen, mit der ich auf der Bühne stehen durfte. Das alles hilft, Charisma zu entwickeln. Die Inszenierung von Barrie Kosky inspirierte mich, wie auch die Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Philippe

»Ich finde es spannend, dass diese Frau, Amelia, inmitten mehrerer, dunkler Stimmen das Lichte darstellt, überhaupt das Helle in diese doch eher düstere Oper einbringt, mit warmen und leuchtenden Linien und Phrasen.«

Jordan. Es war die ganze Zeit wie eine angeregte Konversation zwischen Orchestergraben und Bühne. Und natürlich kommt noch eines dazu: Wir alle schöpfen bei den Rollen aus unseren persönlichen Erfahrungen. Also, zum Glück blieben mir bisher die Probleme der Donna Elvira erspart, aber dennoch greift man auf sein eigenes Leben zurück. All das wirkt zusammen…

ol Die Interpretation der Musik Mozarts hat sich in den letzten Jahrzehnten, besonders angefeuert durch die OriginalklangBewegung, deutlich verändert. War beziehungsweise ist Verdi einem ebensolchen Wandel unterworfen?

fl Ich denke, ja. Wobei wir in der Musik ja ohnedies immer in einer Entwicklung stehen. Das betrifft schon das eigene, tagtägliche Singen: Jede und jeder bringt laufend etwas Neues ein, fügt etwas hinzu, verändert etwas. Oft entsteht etwas aus dem Moment, man denkt: Das sollte ich anders, besser machen! Und schon hat sich wieder etwas verändert und weiterbewegt. Da ist es ganz egal, ob es sich nun um Mozart oder Verdi handelt. ol Simon Boccanegra ist nicht die bekannteste Oper von Verdi, aber eine seiner am meisten berührenden und schönsten. Was macht den Zauber dieser Oper aus?

fl Das Interessante an diesem Werk ist unter anderem sein Ausbrechen aus dem üblichen Opernschema der damaligen Zeit. Simon Boccanegra ist ungewöhnlich, weil das Hauptthema nicht lautet: Zwei Liebende, Sopran und Tenor, gehen durch Schwierigkeiten und Probleme und der Tenor muss sich dem Gegenspieler, einem Bariton, stellen. Nein, hier ist der tatsächliche Antagonist des führenden Baritons kein Tenor, sondern ein Bass in der Figur des Fiesco. Und die Frau, die im Zentrum steht, ist deren Tochter bzw. Enkelin. Ich finde es spannend, dass diese Frau, Amelia, inmitten mehrerer, dunkler Stimmen das Lichte darstellt, überhaupt das Helle in diese doch eher

düstere Oper einbringt, mit warmen und leuchtenden Linien und Phrasen. Das Wunderbare an dieser Oper geht natürlich in erster Linie von der Musik aus, die einfach so bewegend und schier unbeschreiblich ist. Nur ein Beispiel: Das Duett, das Amelia mit ihrem Vater Simon Boccanegra singt, gehört zum Allerschönsten überhaupt. Oder das Finale des ersten Akts! Dazu kommt, dass in diesem Finale der Moment, in dem Boccanegra um Frieden fleht, für uns heute eine besondere Bedeutung bekommt.

ol Für Sie ist Oper also hochaktuell, keine historische Form.

fl Ja, sie ist immer aktuell!

ol Sie sprachen davon, dass Amelia etwas Helles in die Oper einbringt. Was hören Sie noch aus der Musik, die Verdi dieser Figur gab, heraus?

fl In Amelias Arie am Beginn des 1. Akts erinnert sie sich an ihre Vergangenheit, die ihr letztendlich nicht ganz klar ist. Ich fühle eine große Melancholie in der Musik, aber auch eine Hoffnung: dass die Zukunft heller sein könnte. Und die Liebe zu Gabriele Adorno lässt sie ebenfalls auf das Kommende hoffen. Als sie erfährt, dass Simon Boccanegra ihr Vater ist, löst dieses Wiederfinden in ihr große Freude und Glück aus. Gleichzeitig ist ihr aber bewusst, dass ihr Geliebter der Feind ihres Vaters ist. Diese Verwobenheit der privaten und der politischen Handlung ist ungemein spannend. Ich sehe Amelia als einen starken Charakter, gleichzeitig ist sie aber auch sanft und feinfühlig: Das macht die Figur so interessant, und genau darum schätze ich die Rolle so sehr. Und auch, weil Verdis Musik ein wunderbarer Spiegel ihres Charakters ist. ol Sie sangen Amelia erstmals vor zwei Jahren. Wie sah der Annäherungsprozess aus? War das Werk zunächst ein Rätsel, das sie lösen mussten und das dann zu einem guten Freund geworden ist? Haben Sie die Oper irgendwann »überwunden«? fl Nun, die Annäherung ist ein langer Prozess. Ich beginne immer mit dem Libretto und studiere es genau. Denn auch wenn ich die infrage kommenden Werke natürlich kenne, will ich sie im Detail erforschen. Mir geht es nicht nur darum, was »meine« Figur fühlt, sondern ich muss die Emotionen aller Charaktere begreifen. Musikalisch ist es ebenso ein intensiver Prozess, denn ich möchte die Musik in meinem Instrument, also meiner Stimme, fühlen. Und ganz klar: Umso öfter ich eine Rolle singe, desto sicherer werde ich. Und umso sicherer ich bin, desto mehr kann ich mich fordern. Meine erste Amelia war im Zuge einer Neuproduktion, daher gab es viele Proben und ich konnte die Rolle ergründen und ganz erfühlen. Das macht es leichter, in weitere Produktionen, wie etwa in Wien, einzusteigen. Auf den

38 REINHEIT & DRAMATIK

Wiener Simon Boccanegra bin ich sehr gespannt, denn mit einer anderen Besetzung und einem anderen Dirigenten wird natürlich vieles ganz neu. Ich bin neugierig, wo die Unterschiede liegen: Im Hinblick auf die musikalische Interpretation, aber auch in Bezug auf die szenische Sicht. Ich finde das so spannend!

ol Letzte Frage: Ihr Ratschlag an jemanden, der oder die noch nie Simon Boccanegra erlebt hat. Worauf soll man achten?

fl Zuallererst natürlich auf die Musik, sie ist so unglaublich schön! Das Interessante ist, dass

es wenige wirklich berühmte Arien gibt, aber dennoch will man in jedem Augenblick einfach nur zuhören . Simon Boccanegra ist die perfekte Kombination aus Dramatik und vollkommener Reinheit. Ich habe Freunde, die nicht opernaffin sind und denen ich eine Aufnahme dieser Oper gab: Sie waren zutiefst berührt von dem, was sie hörten und von den Gefühlen, die sie beim Erleben dieses Meisterwerks überkamen. Simon Boccanegra ist einfach ein außergewöhnliches Meisterwerk!

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FEDERICA LOMBARDI als DONNA ELVIRA & CHRISTIAN VAN HORN als DON GIOVANNI in DON GIOVANNI Foto STEPHAN BRÜCKLER

TANZEN, WAS BEWEGT

Fotos ASHLEY TAYLOR

Das diesjährige Tanzlabor-Ensemble zeigt am 19. April 2024 mit Alles und Nichts ein Stück über das Jetzt, das oft zu laut und diffus ist und einen als Individuum sehr schnell aus der Bahn werfen kann, über die alltägliche Balance, die oft gefunden und im nächsten Moment wieder verloren geht, und über die Filterblasen und Echokammern, die Trennlinien in unserer Gesellschaft erzeugen. Das Stück wagt den Versuch, im Chaos wieder zusammenzufinden.

Inspiriert durch den Ballettabend Shifting Symmetries des Wiener Staatsballetts und den damit verbundenen Fragen »Was bringt dich aus der Balance?« und »Wo herrscht schon lange kein Gleichgewicht mehr?« begann im Oktober 2023 der Stückentwicklungsprozess. Zwei Fragen, die von den jungen Menschen zwar unterschiedlich, aber im Kern doch ähnlich beantwortet wurden. Was bewegt und umtreibt, ist die heutige Zeit, in der wir leben.

THEORETISCH VERNETZT, FAKTISCH ABER GANZ ALLEIN.

»In unserem Stück geht es einerseits um die digitale Welt, wo ständig Unmengen an Informationen auf uns einprasseln und wir diese filtern und für uns einordnen müssen. Und es geht darum, wie sich dieses Gefühl auf die analoge Welt und auf uns selbst überträgt. Damit verbunden auch, wie man sich in der Masse, in der eigentlich alle um einen herum sind, trotzdem sehr einsam fühlen kann«, meint Sophie. Ihr Ensemblemitglied Nils beschreibt das Stück so: »Für mich geht es in dem Stück um menschliche Beziehungen und Interaktion im Allgemeinen. Das wird besonders in der Bewegungssprache und in der Art, wie die Szenen auf der Bühne gesetzt sind, deutlich. Alles dreht sich darum, wie wir uns in der Bewegung, aber auch emotional zueinander verhalten.«

Am Anfang der Stückentwicklung steht nicht viel, gerade das Thema und eine erste Fragestellung. Der Rest kommt mit der Zeit, ist ein ständiger Prozess, ein Entwickeln, Festhalten und Fallenlassen von Ideen. In den wöchentlichen Proben im Kulturhaus Brotfabrik haben die Tänzer:innen viel miteinander diskutiert, reflektiert, tänzerisch improvisiert und ausgehend von ihren eigenen Ideen und Erfahrungen Bewegungssequenzen entwickelt. »Nach und nach haben die Choreographien

immer mehr Raum eingenommen, und jetzt merkt man, dass alles zusammenkommt«, beschreibt Tänzerin Anja den künstlerischen Prozess. Während einige der 16 jungen Tänzer:innen in der Kindheit getanzt haben und sich nun nach längerer Zeit wieder damit beschäftigen, gibt es auch ein paar, die zum ersten Mal an einem Tanzprojekt teilnehmen oder aber nun Tanz an der Universität studieren.

Anja beschreibt das Ensemble folgendermaßen: »Im Tanzlabor kommen unterschiedliche Menschen mit verschiedenen Backgrounds für eine gemeinsame Sache zusammen. Menschen, die ich wahrscheinlich sonst nicht getroffen hätte. Und das Tanzen verbindet einfach. Man lernt viel über sich, aber auch über die Personen, die mit einem jede Woche im Proberaum stehen, sich in das Projekt reinschmeißen, diskutieren, tanzen und etwas zusammen entwickeln.«

»Ich war neu in Wien und habe durch dieses Projekt sehr schnell Leute kennengelernt. Das Projekt ist sehr niederschwellig, somit ist es mir nicht schwergefallen, den ersten Schritt zu machen und hierher zu kommen. Und nun habe ich jede Woche etwas, worauf ich mich freue. Auch aus der kreativen, künstlerischen Perspektive gefällt es mir sehr. Ich finde es großartig, dass beinahe alle Bewegungen von den Tänzer:innen kommen. Wir haben alles aus unseren Improvisationen genommen und daraus ein Stück gemacht«, meint Nils, der im Herbst 2023 für sein Tanzstudium von Belgien nach Wien gezogen ist.

Auf die Frage, was sie sich selbst aus dem Projekt mitnehmen kann, antwortet Sophie: »Mein tänzerisches Können hat sich sehr weiterentwickelt, einfach dadurch, dass ich davor noch nie so intensiv trainiert habe. Und persönlich auch die Erkenntnis, dass Leute, die man noch nicht gut kennt, einem ganz schnell ganz wichtig werden können. Vielleicht auch dadurch, dass wir uns

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ALLES UND NICHTS

19. APRIL 2024

Projektleitung & Co-Choreographie KATHARINA AUGENDOPLER Co-Choreographie KATY GEERTSEN Schlagwerk MICHAEL KAHLIG, WILHELM SCHULTZ & LEONHARD WALTERSDORFER vom BÜHNENORCHESTER DER WIENER STAATSOPER

Live-DJ JESSICA TARBAI Kostüm ANNA ASAMER

körperlich schnell nahekamen, brauchte man auch ein gewisses Vertrauen, und dieses Vertrauen kam irgendwie ganz natürlich.« Und Nils meint: »Mit so unterschiedlichen Menschen zusammenzukommen und sich auszutauschen hat mir geholfen, mich von bestimmten Denkweisen und Gewohnheiten beim Tanzen und Choreographieren zu lösen. Ich lerne viel Neues und schaffe es dadurch, meine eigenen Grenzen neu auszuloten.«

DAS, WAS MAN SIEHT, IST NICHT, WAS IST. ES IST JEDENFALLS NICHT ALLES.

Nach fünf Monaten geht es nun bald Richtung Premiere. Einige Szenen stehen, an ein paar Stellen muss noch gefeilt und verändert werden, sodass das Stück einen interessanten dramaturgischen Bogen bekommt. Die nächsten Proben finden schon in Kostüm von Kostümbildnerin Anna Asamer und mit Live-Musik – diese kommt einerseits von einem Schlagwerktrio des Bühnenorchesters der Wiener Staatsoper und andererseits von LiveDJ Jessica Tarbai – statt. Mit jeder Woche wächst das Ensemble gefühlt noch mehr zusammen, ap -

plaudiert bei den getanzten Soli und Duos, pusht sich gegenseitig durch anstrengende Bewegungsabfolgen und freut sich schon auf die Premierenparty.

Auf die Frage, warum sich jemand das Stück anschauen sollte, meint Anja: »Ich würde sagen, dass das Projekt deswegen so spannend ist, da eben praktisch (noch) keine:r von uns Profitänzer:in ist und wir trotzdem so etwas Großes auf die Bühne stellen können. Darauf bin ich mega stolz und möchte auch zeigen, was wir da geschaffen haben.«

Alles und Nichts findet am 19. April 2024 um 11 Uhr (Schulvorstellung) und 19 Uhr im Ankersaal, Kulturhaus Brotfabrik, statt. Tickets sind ab sofort auf der Website der Wiener Staatsoper erhältlich.

wiener-staatsoper.at/jung

→ Das Tanzlabor ist eine Kooperation der Wiener Staatsoper, des Wiener Staatsballetts und Tanz die Toleranz.

42 ALLES UND NICHTS

NUR DIE GEIGEN SIND GEBLIEBEN

Am 4. April 1944 verstarb die österreichische Geigerin Alma Rosé, Leiterin des Frauenorchesters des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Die Umstände sind nicht restlos geklärt. Die Wiener Staatsoper nimmt den 80. Todestag der Musikerin zum Anlass, die Ausstellung »Nur die Geigen sind geblieben. Alma und Arnold Rosé« zu zeigen, die vom Haus der Geschichte Österreich kuratiert wurde. Erinnert wird nicht nur an das Schicksal der beiden ehemaligen Wiener Musikikonen, vielmehr setzt die Wiener Staatsoper sich damit erneut mit ihrer belasteten Vergangenheit auseinander.

Die Familie Rosé war vor 1938 ein Fixstern des Wiener Musiklebens. Geboren 1863 in Jassi, wurde Arnold bereits als 18-Jähriger Teil des Wiener Staatsopernorchesters und bald Mitglied der Wiener Philharmoniker. Mit seinem Bruder und Cellisten Eduard gründete er 1882 das erfolgreiche Rosé-Quartett.

1902 vermählte sich Arnold mit Justine, der Schwester von Gustav Mahler. Im selben Jahr gebar sie ihren Sohn Alfred, der bis 1938 als Dirigent an der Volks- und der Staatsoper tätig war. 1903 kam ihre Tochter zur Welt, die den Vornamen ihrer berühmten Tante Alma Mahler-Werfel

erhielt und vom Vater musikalisch ausgebildet wurde. Arnold Rosés Lebensweg lief beruflich wie privat erfreulich: Zum 60. Geburtstag verlieh ihm die Stadt Wien die Ehrenbürgerschaft, drei Jahre später konnte er sich über Almas musikalisches Debüt im Großen Musikvereinssaal freuen. Gemeinsame Auftritte mit den Wiener Philharmonikern folgten und das Publikum konnte die Klänge der kostbaren Instrumente des Vater-Tochter-Duos genießen. Arnold Rosé spielte auf seiner Stradivari, Alma auf einer Guadagnini. 1928 führte eine umjubelte USA-Tour das Rosé-Quartett auch nach Washington

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ALMA & ARNOLD ROSÉ Foto KHM -MUSEUMSVERBAND , Theatermuseum Wien

D.C. – wo sie Präsident Calvin Coolidge im Weißen Haus empfing. 1931 erhielt Arnold Rosé die Ehrenmitgliedschaft des Staatsopernorchesters, 1933 auch die der Wiener Philharmoniker. Zwei Jahre später wurde ihm das Österreichische Verdienstkreuz für Kunst und Wissenschaft erster Klasse verliehen.

Arnold Rosés Karriere war auf dem Höhepunkt, für Alma bedeutete es ein Ringen, aus dem Schatten berühmter Männer hervorzutreten: Zuerst wurde sie als Tochter und später als Ehefrau des Geigers Váša Příhoda rezipiert. Doch mit der Gründung der »Wiener Walzermädl« gelang es Alma zunehmend, diese Zuschreibungen hinter sich zu lassen. Das Frauenorchester reüssierte trotz der NS-Machtergreifung in Deutschland 1933 in rund 30 Städten in Deutschland, Dänemark, Schweden, Luxemburg, den Niederlanden und der Schweiz.

Mit dem »Anschluss« Österreichs an NSDeutschland im März 1938 änderte sich das Leben der Rosés schlagartig. Operndirektor Erwin Kerber meldet bereits am 18. März 1938, dass einige »nichtarische« Mitglieder dienstfrei gestellt worden waren. Die Familie Rosé war nun ohne Einkommen. Justine Rosé war schwer krank, weshalb eine sofortige Flucht in die USA nur für ihren Sohn Alfred und seine Frau infrage kam. Alma hatte trotz ihrer Scheidung noch einen tschechoslowakischen Pass und war daher zu diesem Zeitpunkt nicht an die restriktiven Ausreisebestimmungen für jüdische

ALMA & ARNOLD ROSÉ STUDIO WILLINGER Internationale Gustav Mahler Gesellschaft, Wien

Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft gebunden. Reisen, um die kostbaren Geigen außer Landes zu bringen und Fluchtmöglichkeiten zu sondieren, führten sie nach Den Haag und London. Sie kehrte nach Wien zurück, wo ihre Mutter im August 1938 verstarb.

Im Frühling 1939 flohen Alma und Arnold Rosé nach London, wo er das Rosé-Quartett reaktivierte. Eine Gedenkfeier für Sigmund Freud bot eine der letzten Gelegenheiten für Vater und Tochter, gemeinsam aufzutreten. Doch das Geld wurde knapp. Alma verweigerte den Verkauf der Stradivari aus Sorge, Arnold könnte diesen nicht verkraften, und nahm im November 1939 ein Engagement in Den Haag an. Doch schon bald saß sie in der Falle: Am 10. Mai 1940 besetzte die Wehrmacht Belgien und die Niederlande. Wieder erfolgte ein sofortiges Berufsverbot für »nichtarische« Personen. Alma spielte heimlich Hauskonzerte und sandte das Geld – solange das möglich war – nach London.

Im Dezember 1942 versuchte sie die Flucht über Frankreich in die Schweiz. Doch am Bahnhof von Dijon wurde sie verhaftet, in das Internierungslager Drancy gebracht und schließlich im Juli 1943 nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Die Oberaufseherin Maria Mandl setzte sie als Leiterin des Frauenorchesters ein, das für die SS-Führung zu spielen hatte. Alma schonte weder sich noch ihre meist jüdischen Mitmusikerinnen. Die Musik bedeutete für sie alle eine Chance auf Überleben. Die Briefverbindung zu ihrer Familie war seit 1942 abgebrochen, im Juni 1945 erfuhr sie von Almas Tod. Anfang 1946 erreichte Arnold Rosé das Angebot der Wiener Philharmoniker, ihn wieder als Konzertmeister zu engagieren, doch er starb am 26. August 1946 in London.

→ Nur die Geigen sind geblieben. Alma & Arnold Rosé Eine Ausstellung des Hauses der Geschichte Österreich. Zu sehen in der Wiener Staatsoper ab 4. April Kuratorinnen: Michaela Raggam-Blesch, Monika Sommer, Heidemarie Uhl

46 NUR DIE GEIGEN SIND GEBLIEBEN

RETTERIN VIELER LEBEN

EIN GESPRÄCH MIT DEN KURATORINNEN MONIKA SOMMER & MICHAELA RAGGAM-BLESCH

Frau Raggam­Blesch, Sie haben die Ausstellung zusammen mit Monika Sommer und Heidemarie Uhl kuratiert und sind als Historikerin Expertin für sogenannte »Mischehen«. Hat auch Alma Rosé versucht, sich durch eine Scheinehe zu retten?

mrb Ja, tatsächlich heiratete Alma in den Niederlanden im März 1942 – wenige Tage bevor solche »Mischehen« verboten wurden. Constant van Leeuwen Boomkamp, der als »Arier« galt, hatte sich zu dieser Praxis des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus bereit erklärt. Doch diese Maßnahme verhinderte ihre Deportation leider nur kurzfristig. Verzweifelt schrieb Alma sogar an den aus Österreich stammenden Reichskommissar für die besetzten niederländischen Gebiete Arthur Seyß-Inquart. Sie bat ihn – durch die Ehe zur Holländerin geworden –, während des Krieges in den Niederlanden bleiben zu dürfen und erinnerte an die musikalischen Leistungen ihres Vaters in den 57 Jahren seiner Musikkarriere in Wien.

Hätte Alma Rosé in Frankreich – wo sie letztlich verhaftet wurde – eine Chance gehabt, zu überleben? mrb Zunächst konnte durch die Intervention einer Anwältin, die durch eine holländische Freundin von Alma eingesetzt worden war, die Deportation in Frankreich aufgeschoben werden. Doch im Juni 1943 erreichte der aus Österreich stammende SS-Hauptsturmführer Alois Brunner Paris und sollte auf Befehl von Adolf Eichmann die Deportation von französischen jüdischen Personen beschleunigen. Brunner hatte auch schon in Wien die Deportationen organisiert. Alle juristischen Verzögerungstaktiken, die Inhaftierte vor der Deportation schützen sollten, wusste er zu unterbinden.

Frau Sommer, was weiß man über die genauen Todesumstände von Alma Rosé?

ms Alma Rosé ist in der Nacht vom 4. auf den 5. April 1944 im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verstorben. Gesichert ist, dass der SS-Lagerarzt Josef Mengele persönlich den Auftrag gab, das Rückenmark von Alma zu punktieren. Sie hat auf der Geburtstagsfeier der Häftlingsaufseherin Fieber bekommen, nachdem sie eine – vermutlich verdorbenene –Fleischkonserve gegessen hatte. Es gab den Verdacht auf eine Hirnhautentzündung.

Mengele schickte die Probe an das HygieneInstitut der Waffen-SS für eine genaue Untersuchung, doch das Ergebnis ist nicht bekannt. Die aus Oberösterreich stammende KZ-Aufseherin und später als Kriegsverbrecherin zum Tod durch den Strang verurteilte Maria Mandl, die Alma einst als Leiterin des Orchesters eingesetzt hatte, gestattete den Musikerinnen, Abschied von Alma zu nehmen, bevor ihr Körper verbrannt wurde. Vielen von ihnen hatte Rosé durch ihr mutiges Verhalten das Leben gerettet.

Gibt es heute noch Überlebende des Frauenorchesters?

ms Ja, eine einzige, die deutsch-britische Musikerin Anita Lasker-Wallfisch. Auf der Webplattform des Hauses der Geschichte Österreich ist ein bewegendes Interview mit ihr zu sehen. Die Erinnerung an Alma Rosé wird mittlerweile von vielen getragen: Das hdgö hat schon 2018 seine Ausstellungsfläche nach ihr benannt, die Universität Wien hat ihr einen Wissenschaftspreis gewidmet und die Universität für Musik und darstellende Kunst hat seit Kurzem ein »Alma Rosé-Institut«. Ich hoffe sehr, dass es eines Tages ein Konzert mit der Stradivari und Almas Guadagnini in Wien geben wird, denn beide Geigen existieren bis heute.

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DEBUTS

HAUSDEBÜTS

DON GIOVANNI 14. APRIL 2024

ANDRZEJ FILOŃCZYK Don Giovanni

Der polnische Bariton Andrzej Filończyk studierte Gesang in Breslau und Warschau und gewann u.a. den internationalen Gesangswettbewerb Stanisław Moniuszko in Warschau. 2016/17 war er Mitglied des Opernstudios am Opernhaus Zürich. Engagements führten ihn seither u.a. an das Royal Opera House Covent Garden in London, an das Moskauer Bolschoi, an die Pariser Opéra, die Bayerische und Berliner Staatsoper, der Semperoper in Dresden, die Deutsche Oper Berlin, zum Rossini-Festival in Pesaro und ans Liceu in Barcelona. Sein Repertoire umfasst erste Partien u.a. von Mozart, Rossini, Donizetti, Bellini, Puccini, Tschaikowski und Korngold.

TOSCA 20. APRIL 2024

Künstler als Spezialist im Umgang mit mittelalterlichen Waffen und als Stuntman tätig und trat in zahlreichen Filmen und Serien auf.

LOHENGRIN 29. APRIL 2024

MARTIN GANTNER Telramund

Der aus Freiburg stammende Martin Gantner feierte sein Operndebüt in Koblenz als Graf Almaviva in Le nozze di Figaro, woraufhin er von Götz Friedrich für die Uraufführung von Henzes Das verratene Meer engagiert wurde. 19932007 gehörte er dem Ensemble der Bayerischen Staatsoper an und wurde 2005 zum Bayerischen Kammersänger ernannt. Highlights der jüngeren Vergangenheit umfassen Auftritte unter anderem in München, Chicago, Paris, Amsterdam, Zürich, Florenz, Turin, an der New Yorker Met, in San Francisco, Toronto, Dresden, Rom, Stuttgart, Berlin, Edinburgh, Amsterdam und bei den Bayreuther Festspielen.

ROLLENDEBÜTS

SIMON BOCCANEGRA

6. APRIL 2024

LUCA SALSI Simon Boccanegra

FREDDIE DE TOMMASO Gabriele Adorno

FEDERICA LOMBARDI Amelia

AGUSTÍN GÓMEZ* Hauptmann

JENNI HIETALA* Dienerin

DON GIOVANNI

14. APRIL 2024

BERTRAND DE BILLY Musikalische Leitung

EDGARDO ROCHA Don Ottavio

NICOLE CAR Donna Elvira

CHRISTOPHER MALTMAN Leporello

JUSUNG GABRIEL PARK* Masetto

CARMEN

18. APRIL 2024

VASILISA BERZHANSKAYA Carmen

ALEXEY MARKOV Escamillo

KRISTINA MKHITARYAN Micaëla

AGUSTÍN GÓMEZ* Remendado

TOSCA

20. APRIL 2024

AMARTUVSHIN ENKHBAT Scarpia

LOHENGRIN

29. APRIL 2024

RICCARDO MASSÌ Cavaradossi

Der italienische Tenor Riccardo Massì konnte sich in kurzer Zeit vor allem mit Verdi- und Puccini-Partien auf den wichtigsten Bühnen der Welt etablieren. So u.a. an der New Yorker Met, am Royal Opera House in London, an der Mailänder Scala, in Washington, Los Angeles, Brüssel, Sydney, Zürich, München, Berlin, Dresden, Hamburg, Moskau, St. Petersburg. Vor seiner Karriere als Opernsänger war der

DIE KAMELIENDAME 5. APRIL 2024

ELENA BOTTARO Marguerite Gautier

DAVIDE DATO Armand Duval

ZSOLT TÖRÖK Monsieur Duval

IGOR MILOS Der Herzog

ALEKSANDRA LIASHENKO Prudence Duvernoy

GIORGIO FOURÉS Gaston Rieux

LIUDMILA KONOVALOVA Manon Lescaut

ALEXEY POPOV Des Grieux

GAIA FREDIANELLI Olympia

JACKSON CARROLL Graf N.

CHRISTIAN THIELEMANN Musikalische Leitung

GEORG ZEPPENFELD König Heinrich

DAVID BUTT PHILIP Lohengrin

MALIN BYSTRÖM Elsa

ANJA KAMPE Ortrud

ATTILA MOKUS Heerrufer

48 * Mitglied des Opernstudios
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ARIBERT REIMANN, einer der profiliertesten Komponisten der Nachkriegsgeneration, ist am 13. März 2024, wenige Tage nach seinem 88. Geburtstag, in seiner Geburtsstadt Berlin verstorben. Er wuchs in einer von Musik geprägten Familie auf: Sein Vater war Kirchenmusiker, seine Mutter eine namhafte Oratoriensängerin und Gesangspädagogin. Mit zehn Jahren komponierte Reimann erste Klavierlieder. Nach seinem Abitur 1955 arbeitete er als Korrepetitor am Studio der Städtischen Oper Berlin und studierte zugleich an der Berliner Musikhochschule Komposition bei Boris Blacher und Ernst Pepping sowie Klavier bei Otto Rausch. Zwei Jahre später, 1957, gab er seine ersten Konzerte als Pianist und Liedbegleiter. Ein Jahr später ging er zum Studium der Musikwissenschaften an die Universität Wien. Sein Ballett Stoffreste nach einem Libretto von Günter Grass wurde 1959 uraufgeführt. Musiktheater und Lied wurden zu den Keimzellen, aus denen sich das künstlerische Schaffen Reimanns weiterentwickelte. Bereits 1971 wurde dem Komponisten für sein bis dato vollendetes Gesamtschaffen der Kritikerpreis für Musik verliehen. 1974-1983 hatte er eine

Professur an der Hamburger Musikhochschule mit Schwerpunkt auf dem Zeitgenössischen Lied inne, 1983 wurde er in gleicher Funktion an die Berliner Hochschule der Künste berufen. Seine Arbeit als Opernkomponist begann mit Ein Traumspiel (UA: 1965 in Kiel), 1971 folgte Melusine, mit Lear konnte Aribert Reimann sowohl Fachleute und Kritiker als auch ein breites Publikum für seinen charakteristischen Personalstil gewinnen – das Werk erlebte bis heute mehrere Dutzend Produktionen. 1984 folgte Die Gespenstersonate, 1986 Troades, 1992 Das Schloss nach Franz Kafka, 2000 Bernarda Albas Haus. Im Februar 2010 wurde seine im Auftrag der Wiener Staatsoper komponierte Medea im Haus am Ring mit großem Erfolg uraufgeführt und seither in mehreren Serien wiederaufgenommen. 2017 kam an der Deutschen Oper Berlin L’invisible heraus. Den Deutschen Musikautor*innenpreis der GEMA für sein Lebenswerk konnte er bei seinem letzten öffentlichen Auftritt am 8. Februar 2024 entgegennehmen.

Für fast ein Vierteljahrhundert war ALEXANDRU MOISIUC Mitglied des Ensembles der Wiener Staatsoper. Alle jene, die halbwegs regelmäßig Vorstellungen des Hauses besuchten,

kannten den charismatischen Bass mit der unverwechselbaren Stimme von unzähligen Rollen, die er mit enormer Intensität auflud. Selbst kleinere Rollen wie dem Schließer in der Tosca verlieh er eine Präsenz, die seinesgleichen sucht. Und um wie viel mehr den größeren Partien wie dem Fürsten von Bouillon in Adriana Lecouvreur, dem Großinquisitor und Philipp II. in Don Carlo, dem Erzbösewicht Gesler in Guillaume Tell, Kardinal Brogni in La Juive oder Colline in der Bohème. Moisiuc war einfach ein echter Bühnenmensch, der das Metier wirklich liebte. Dass man mit ihm, der auch eine Geigenausbildung absolviert hatte, trefflich über Konzertliteratur und Interpretationsdetails diskutieren konnte –sein Wissen um das Werk von Johannes Brahms beispielsweise war legendär –, rundete seine Persönlichkeit zusätzlich ab. Am 20. Februar 2024 ist er in Temesvar (Rumänien) im 63. Lebensjahr überraschend verstorben.

GEBURTSTAG

Knapp vor der von ihm geleiteten Lohengrin-Premiere feiert CHRISTIAN THIELEMANN am 1. April seinen 65. Geburtstag. Thielemann, der sich selbst bescheiden immer als Kapellmeister apostrophiert, gehört unbestritten zu den bedeutendsten Dirigenten der Gegenwart. Eine enge Zusammenarbeit verbindet ihn sowohl mit den Wiener Philharmonikern als auch mit der Wiener Staatsoper, zu deren Ehrenmitglied er im vergangenen Herbst im Anschluss an eine Frau ohne Schatten-Vorstellung ernannt wurde.

ERIKA ZLOCHA , von 1953-1982 Solotänzerin des Wiener Staatsopernballetts, die neben zahlreichen Hauptpartien u.a. die Titelrolle in Gordon Hamiltons Giselle tanzte, begeht am 8. April ihren 85. Geburtstag.

In den 1970er- und 1980er-Jahren war der in Wien geborene THEODOR GUSCHLBAUER regelmäßig an der Wiener Staatsoper zu erleben. So leitete er beispielsweise am 31. Dezember 1979 die Premiere der aktuellen Fledermaus -Produktion. Am 14. April feiert er seinen 85. Geburtstag.

KS OLIVERA MILJAKOVIĆ wurde noch von Herbert von Karajan ins Staatsopernensemble geholt. Bis 1994 sang sie hier rund 780 Vorstellungen – so etwa 38 Mal die Susanna und 59 Mal den Cherubino in Le nozze di Figaro. Am 26. April begeht sie ihren 90. Geburtstag.

50 PINNWAND
TODESFÄLLE
ARIBERT REIMANN
PÖHN
Szenenbild der UraufführungsProduktion MEDEA
Foto MICHAEL
ALEXANDRU MOISIUC

FREUNDESKREIS WIENER STAATSBALLETT

Beim Freundeskreis Wiener Staatsballett dreht sich im April alles um die Premiere Les Sylphides in der Volksoper Wien. Im Fokus steht die israelische Künstlerin Adi Hanan, Tänzerin des Wiener Staatsballetts und als Choreographin

mit der Uraufführung Eden in dem Triple Bill vertreten. In einem Probenbesuch inklusive Künstlergespräch lernen Sie ihre Arbeit kennen, ein gemeinsamer Besuch im Kunsthistorischen Museum Wien nimmt Paradies-Darstellungen in der Bildenden Kunst in den Blick. Um Uwe Scholz und sein Jeunehomme-Ballett dreht sich außerdem ein Probenbesuch und Künstlergespräch mit Giovanni Di Palma.

Werden auch Sie Mitglied im Freundeskreis Wiener Staatsballett: Es erwartet Sie ein vielseitiges und interessantes exklusives Programm und Sie unterstützen mit Ihrem Förderbeitrag die Arbeit des Ensembles.

Weitere Informationen → WIENER-STAATSOPER.AT/FOERDERN/FREUNDESKREISWIENER-STAATSBALLETT

TANZPODIUM: BALLETT & MODE

Karl Lagerfeld, Vivienne Westwood, Christian Lacroix, Susanne Bisovsky … Immer wieder arbeitet das Wiener Staatsballett mit Modedesigner*innen für die Kreation außerge -

wöhnlicher Kostüme zusammen. Während in den vergangenen Spielzeiten eine spannende Kooperation zwischen Susanne Bisovsky und Martin Schläpfer für sein Ballett Marsch, Walzer, Polka und die Choreographie  Wiener Blut für den Opernball 2023 entstand, ist es Karl Lagerfelds Kostümdesign für Uwe Scholz’ Mozart-Ballett Jeunehomme, das in dieser Saison aufwendig rekonstruiert und erstmals seit der Uraufführung durch Les Ballets de Monte-Carlo wieder gezeigt wird. Im Tanzpodium Ballett & Mode sprechen wir am 13. April um 15 Uhr im Gustav Mahler-Saal mit der für die Rekonstruktion verantwortlichen Kostümdesignerin Catherine Voeffray, Martin Schläpfer und weiteren Beteiligten über das spannende Verhältnis von Mode und Ballett, von Kleidung und Körper und die Besonderheiten des Gestaltens von Kostümen für den Tanz.

RADIO- & FERNSEHTERMINE

13. 10.05

KLASSIK- Ö1 TREFFPUNKT

Mit CHRISTIAN THIELEMANN

Live aus dem Studio 3 im ORF RadioKulturhaus

Präsentation ELKE TSCHAIKNER

13. 14.00 PER OPERA radioklassik AD ASTRA WAGNERS LOHENGRIN

27. 10.05

KLASSIK- Ö1 TREFFPUNKT

Mit GEORG ZEPPENFELD

Live aus dem RadioCafé ORF RadioKulturhaus

Präsentation HELENE BREISACH

28. 11.30

LIVE-ÜBERTRAGUNG ORFIII DER SPIELZEIT-PRÄSENTATION AUS DER WIENER STAATSOPER

Präsentation DIREKTOR BOGDAN ROŠČIĆ

28. 15.05 DAS WIENER Ö1 STAATSOPERNMAGAZIN

Ausschnitte aus aktuellen Aufführungen der Wiener Staatsoper Mit MICHAEL BLEES

LIVE-STREAM AUS DER WIENER STAATSOPER

28. 11.30

LIVE-ÜBERTRAGUNG ORFIII DER SPIELZEIT-PRÄSENTATION AUS DER WIENER STAATSOPER Präsentation DIREKTOR BOGDAN ROŠČIĆ

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ADRESSE

Wiener Staatsoper GmbH

A Opernring 2, 1010 Wien

T +43 1 51444 2250

+43 1 51444 7880

M information@wiener-staatsoper.at

IMPRESSUM OPERNRING 2

APRIL 2024 SAISON 2023 / 24 Herausgeber WIENER STAATSOPER GMBH / Direktor DR. BOGDAN ROŠČIĆ / Kaufmännische Geschäftsführung DR. PETRA BOHUSLAV / Musikdirektor PHILIPPE JORDAN / Ballettdirektor MARTIN SCHLÄPFER / Redaktion SERGIO MORABITO / ANNE DO PAÇO / NASTASJA FISCHER / IRIS FREY / KATHARINA AUGENDOPLER / ANDREAS LÁNG / OLIVER LÁNG / NIKOLAUS STENITZER / Art Direction EXEX / Layout & Satz IRENE NEUBERT / Lektorat MARTINA PAUL / Am Cover CHRISTIAN THIELEMANN Foto MATTHIAS CREUTZIGER / Druck PRINT ALLIANCE HAV PRODUK TIONS GMBH, BAD VÖSLAU

REDAKTIONSSCHLUSS für dieses Heft: 22. März 2024 / Änderungen vorbehalten / Allgemein verstandene personenbezogene Ausdrücke in dieser Publikation umfassen jedes Geschlecht gleichermaßen. / Urheber/innen bzw. Leistungsschutzberechtigte, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. → wiener-staatsoper.at

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Wir werden klimaneutral bis 2040. Hand drauf!

Neuerö nung in Wien, Kohlmarkt 3

+43 800 298 796 www vancleefarpels com

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