LA SONNAMBULA Vincenzo Bellini
INHALT
Die Handlung
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Über dieses Programmbuch
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Auf einen Blick
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Das weibliche Gravitationszentrum eines Sonnensystems → Dirigent Giacomo Sagripanti im Gespräch
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Fragile Weltvergessenheit → Marco Arturo Marelli
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Von der Faszination eines Lebensentwurfes in der Traumfabrik Oper → Wolfgang Willaschek
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Siehst du sie nicht? → Daniela Heisig
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Gesang der Leidenschaften → Thomas Seedorf
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Fülle des Wohllauts → Thomas Mann
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Kontexte von Bellinis Sonnambula → Sergio Morabito
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Die Unberührten → Robert Schneider
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Wahnsinnsfrauen → Eva Rieger
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Der vergessene Held → Michael Sawall
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Bellinis Opern in Wien → Michael Jahn
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Ah! non credea mirarti sì presto estinto, o fiore; Passasti al par d’amore, che un giorno sol durò. Ich glaubte nicht, oh Blume, dass du so schnell sterben würdest. Wie die Liebe bist du in nur einem Tag dahingegangen. Amina, 2. Akt
LA SONNAMBULA → Melodramma in zwei Akten Musik Vincenzo Bellini Text Felice Romani
Orchesterbesetzung 2 Flöten, 1 Piccoloflöte, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Cimbasso, Pauken, Schlagwerk, Harfe, Violine I, Violine II, Viola, Violoncello, Kontrabass Bühnenmusik 2 Flöten (1. auch Piccoloflöte), 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, Tamburro, Schellen, Gran Cassa Spieldauer 2 Stunden 45 Minuten (inkl. 1 Pause) Autograph Verlagsarchiv Ricordi Mailand Uraufführung 6. März 1831, Teatro Carcano, Mailand Erstaufführung im Haus am Ring 8. Februar 1872
DIE HANDLUNG 1. Akt Aminas bevorstehende Hochzeit mit Elvino wird gefeiert. Nur Lisa, Elvinos ehemalige Geliebte, ist betrübt und will sich mit ihrem neuen Verehrer Alessio nicht abfinden. Bei der Verlobungszeremonie steckt Elvino Amina den Ring seiner kürzlich verstorbenen Mutter an. Ein Fremder kommt an – es ist Graf Rodolfo, der eigentlich aus der Gegend stammt, aber nicht erkannt wird. Amina fällt ihm auf und er macht ihr Komplimente, was Elvinos Eifersucht weckt. Aminas Ziehmutter Teresa löst die Runde auf, indem sie vor einem Gespenst warnt, das nachts in der Gegend sein Unwesen treibe. Amina besänftigt Elvinos Eifersucht. Lisa buhlt um die Aufmerksamkeit des Grafen, dessen Identität sie erkannt hat. Da tritt die schlafwandelnde Amina ein; im Traum sehnt sie sich nach Elvino. Der Graf muss sich zwingen, die Situation mit dem liebevollen, halbbekleideten Mädchen nicht auszunützen. Lisa aber holt Elvino herbei; als dieser die schlafende, in den Mantel Rodolfos gehüllte Amina vorfindet, scheint die Situation für ihn klar. Nur Teresa tröstet die verlassene und verzweifelte Amina.
2. Akt Elvino vergräbt sich in seinen Schmerz. Aminas Beteuerungen ihrer Unschuld bleiben vergebens; Elvino nimmt ihr den Ring vom Finger und löst die Verlobung. Lisa sieht sich schon als neue Verlobte Elvinos. Rodolfo versucht, die falschen Verdächtigungen richtigzustellen: Amina sei eine Schlafwandlerin, die keine Schuld auf sich geladen habe. Doch Elvino ist nicht überzeugt. Als Teresa von seinen neuen Heiratsplänen erfährt, enthüllt sie die von ihr beobachteten Vorgänge zwischen Lisa und Rodolfo der vergangenen Nacht. Elvino sieht sich auch von der »zweiten Braut« betrogen. Während Graf Rodolfo durch Beteuerungen von Aminas Unschuld die ↑ Seiten: Situation zu retten versucht, erscheint diese erneut schlafwandelnd. Bei ihrem Vorige Szenenbild Anblick in diesem Zustand versteht Elvino, wie es zu der zweideutigen Situa- → tion am Vorabend kommen konnte. Er schließt sie wiederum als seine Braut Stefania Bonfadelli als Amina, 2001 in die Arme und Amina singt von ihrem Glück. DIE H A N DLU NG
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ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH
Verortet in einer Zauberberg-inspirierten Sanatorienwelt, in der innere Befindlichkeiten auch durch Wetterkapriolen zur Kenntlichkeit gebracht werden, lauscht Regisseur Marco Arturo Marelli Vincenzo Bellinis La sonnambula ihre feinen psychologischen Schwingungen ab. Auszüge seinem Konzeptionsgespräch zur Neuproduktion 2001 (ab Seite 18) geben den Leserinnen und Lesern Einblicke in die Gedanken- und Schaffenswerkstatt des Regisseurs und lenken den Blick auf die von ihm gewählten Schwerpunkte und Sichtweisen. Besonderheiten der 1831 in Mailand uraufgeführten Partitur beschreibt der Dirigent der Wiederaufnahme 2023, Giacomo Sagripanti, im Gespräch mit Andreas Láng (ab Seite 11), Thomas Seedorf weist auf den musikalischen Ausnahmecharakter der Oper hin und verweist auch auf die frühe Aufführungsgeschichte (ab Seite 38). Überaus erhellend für das tiefere Verständnis der Opernhandlung und der komplexen Personenbeziehungen ist Sergio Morabitos Analyse der Vorlagen von Bellinis La sonnambula (ab Seite 46). Dabei wird erstmals eine lange Zeit unbeachtete Schauspielbearbeitung des Ballettszenariums Eugène Scribes herangezogen, die der Arbeit Bellinis und seines Librettisten Felice Romani unmittelbar zugrunde liegt. Daniela Heisig umreißt ab Seite 34 Aspekte von C. G. Jungs Animus und Anima-Konzept, das Einflüsse auf die szenische Interpretation der aktuellen Produktion hatte, Eva Rieger schreibt ab Seite 62 über den »Wahnsinn« auf der Opernbühne der Belcanto-Zeit: ein oft verwendeter Topos dieser Epoche. Wolfgang Willaschek blickt in seinem Beitrag hinter die Fassade der reinen stimmlichen Virtuosität und beschreibt La sonnambula als »eine faszinierende und vielschichtige Bestandsaufnahme der Ausdrucksmöglichkeiten der Gattung Oper« (ab Seite 26). Ob und in welchem Maße Vincenzo Bellini ein politischer Komponist war und als solcher wahrgenommen wurde, darüber macht sich Michael Sawall ab Seite 70 Gedanken, Michael Jahn fächert ab Seite 76 detailliert die Wiener Bellini-Aufführungsgeschichte auf. Ü BER DIE SE S PROGR A M MBUCH
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Aus: Thomas Mann, Der Zauberberg
» Aber die Zeit muss euch eigentlich schnell hier vergehen«, meinte Hans Castorp. »Schnell und langsam, wie du nun willst«, antwortete Joachim. »Sie vergeht überhaupt nicht, will ich dir sagen, es ist gar keine Zeit, und es ist auch kein Leben, - nein, das ist es nicht«, sagte er kopfschüttelnd und griff wieder zum Glase.
AUF EINEN BLICK Vincenzo Bellini wurde am 3. November 1801 als Spross einer Musikerfamilie im sizilianischen Catania geboren. Er studierte bei seinem Vater, später am Konservatorium in Neapel. Am dortigen Teatro San Carlo wurde auch sein erster Opernerfolg, Bianca e Fernando, uraufgeführt. Bei dem folgenden Il pirata (1827 an der Mailänder Scala) arbeitete er erstmals mit dem Librettisten Felice Romani, der auch das Textbuch zu Bellinis siebenter Oper, La sonnambula, verfasste. Sie zählt, gemeinsam mit der ebenfalls 1831 entstandenen Norma und seiner letzten Oper I puritani, zu den populärsten Werken des jungverstorbenen Komponisten. La sonnambula wurde für die heute noch legendäre Giuditta Pasta geschrieben und blieb eine Primadonnenoper: es folgten Maria Malibran, Jenny Lind oder Adelina Patti im 19., Marcella Sembrich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die umjubelten Protagonistinnen Joan Sutherland, Renata Scotto, Edita Gruberova… und Maria Callas, die etwa in der Scala-Produktion mit Leonard Bernstein und Luchino Visconti 1955 unerreichte Maßstäbe setzte. Die Uraufführung der Sonnambula fand am 6. März 1831 am Mailänder Teatro Caracano statt, die Wiener Erstaufführung am 12. November 1834 im Theater an der Josefstadt. Die Hofoper im Kärntnertortheater zog am 15. Mai 1835 nach. Vincenzo Bellini starb am 24. September 1835, noch nicht 34jährig, in Puteaux bei Paris. Seine sterbliche Hülle wurde später im Dom seiner Geburtsstadt beigesetzt. Auf dem prunkvollen Grabmal sind die Noten und Worte von Aminas Schlussarie aus der Sonnambula eingemeißelt: »Ah! Non credea mirarti → Juan Diego si presto estinto, o fiore« (»Ich glaubte nicht, dich so früh sterben zu sehen, KS Flórez als Elvino, 2017 o Blume«). AU F EIN EN BLICK
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Friedrich Lippmann
» Das Phänomen des Schwelgens im Klang als eines der wesentlichen Kriterien des Bellini-Stils, zugleich als ein Novum in der Geschichte der italienischen Oper, kann schwerlich genug betont werden. «
DAS WEIBLICHE GRAVITATIONSZENTRUM EINES SONNENSYSTEMS Dirigent Giacomo Sagripanti im Gespräch mit Andreas Láng
Rossini, Bellini und Donizetti werden gerne in einem Atemzug als Belcanto-Komponisten bezeichnet. Aber worin unterscheidet sich eine Bellini’sche Opera semiseria wie La sonnambula von entsprechenden Werken der beiden anderen? Zunächst einmal würde ich die Sonnambula nicht als wirkliche Opera semiseria bezeichnen: La sonnambula vermittelt vielmehr den Geist des Dramma semiserio, das – wenn auch nicht ganz, aber doch fast vollständig – von den komischen Elementen gereinigt und in die edlen Formen der Opera seria transferiert wurde. Als Inspiration dienten zweifelsohne Torquato Tassos Aminta sowie Battista Guarinis Il pastor fido – zwei Stücke, die zur Gattung der Favola pastorale, der Schäfermärchen, gehören. Dabei handelt sich um eine theatrale Form des ausgehenden 16. Jahrhunderts, die sich auf die idyllische Welt des mythischen Arkadiens bezieht. Der Tod wird als unmittelbare Gegenwart begriffen und die Begebenheiten der »einfachen« Personen wie Bauern, Hirten, Bergbewohner können innerhalb der Tragödie jene aufgewertete, sublime Bedeutung erhalten, die die Konvention ursprünglich den Handlungen von Königen, Feldherren usw. zugestanden hatte. Die wesentliche Aussage der Sonnambula selbst ist die Sublimierungs-Fähigkeit des Menschen an sich. Um nun zur eigentlichen Frage zurückzukommen: Der Hauptunterschied zwischen Rossini, Donizetti und Bellini ist sicherlich die melodische Strahlkraft, die bei Bellini eine Qualität erreicht, die jene der beiden anderen Komponisten übertrifft. GIACOMO SAGRIPANTI:
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DIR IGEN T GI ACOMO SAGR IPA N T I IM GE SPR ÄCH
ie sagen: »Fast vollständig von den komischen Elementen« gereinigt. Das S heißt, ein gewisses Maß an Komik ist sehr wohl vorhanden. Komik beziehungsweise Ironie ist auch in jenen Opern zu finden, ja, in gewissem Ausmaß sogar nötig, die zwar eine echte, tiefe Ernsthaftigkeit verlangen, aber auf der anderen Seite einen allzu tragischen Grundduktus oder eine zu große höfische Feierlichkeit vermeiden wollen. Deshalb gibt es in der Sonnambula – meist vom Chor gebrachte – ebenfalls komödiantische Momente. GS
Worin besteht nun das Alleinstellungsmerkmal der Sonnambula innerhalb des Schaffens von Bellini – warum war Sonnambula die wahrscheinlich erfolgreichste Oper Bellinis, seine einzige Oper, die nie von den internationalen Spielplänen verschwunden ist? In der Sonnambula gelangte Bellinis melodische Meisterschaft zur höchsten Entfaltung. Deshalb ist sie einzigartig, deshalb blieb sie in den Theaterrepertoires immer präsent und deshalb war sie die erfolgreichste Oper des sizilianischen Komponisten. Das gleiche diesbezügliche Niveau erreichte Bellini erst wieder in seinem letzten Bühnenwerk I puritani. GS
Wo finden wir die musikalischen Quellen Bellinis, wovon wurde er beeinflusst – abgesehen von Rossini – und was hat er weiter ausgebaut? Mit der Sonnambula bricht Bellini mit allen anderen früheren Komponisten hinsichtlich der Innovation der melodischen Inspiration. Was Bellini aus der Vergangenheit übernimmt, ist hingegen das Schema der Oper. Sonnambula ist formal vielleicht die konventionellste von Bellinis Opern: beide Akte beginnen mit einer Choreinleitung, im ersten folgt danach – der Rossini’schen Praxis sehr verwandt – die »kleine« Kavatine der Lisa. Überhaupt werden alle Figuren der Reihe nach und in der typischen Kavatinen-Form vorgestellt. In der ganzen Oper finden wir darüber hinaus lediglich zwei Ensembles: Duett Nr. 6 und Quartett Nr. 11, und, wenn man will, noch ein drittes mit dem »Geisterchor« (Nr. 5). Genau in der Mitte haben wir dann noch das große Finale Nr. 7, das dem zweiteiligen Concertato-Gedanken Lento-Stretta folgt. GS
Nichtsdestotrotz scheinen die Formen der Arien und der Ensembles recht frei zu sein: Manche Arien weisen nur ein Tempo auf, andere zwei, manche Arien und Ensembles gehen ineinander über... Das »Wie« einer musikalischen Form, hängt einerseits von der Ursprungsquelle des Librettos ab – in diesem Fall ist das, wie gesagt, die Favola pastorale – und andererseits von den Entscheidungen, die der Librettist und der Komponist, also Romani und Bellini, gemeinsam getroffen haben. GS
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Das Vorspiel zur Oper ist recht rasch und weist überdies nicht die zur Entstehungszeit erwartbare Zweiteilung auf. Das Vorspiel hat den Zweck, uns in die Umgebung dieser Favola pastorale einzuführen. Die Musik hat also eher eine didaktische Funktion als die Typik eines richtigen Präludiums. Wir sind schließlich von Anfang an bereits mitten in der Geschichte. GS
Auf welche Weise zeichnet Bellini Atmosphäre – zum Beispiel die »Spukszene«? Er kreiert die Atmosphäre für jede einzelne Szene auf ganz unterschied liche Weise. Ein Beispiel ist der von Ihnen angesprochene Geisterchor (Nr. 5): hier wird zum ersten Mal in der Oper vom Chor das Thema Geist aufgebracht, ein übernatürliches Element in der ansonsten einfachen und reinen Atmosphäre der pastoralen Schweiz. Bellini lässt in der Einleitung dieses spektakulären Chors im Orchester eine Posaune erklingen, die eine aufsteigende Es-Dur-Tonleiter spielt. Die einzigartige Farbe der als Soloinstrument eingesetzten Posaune und die aufsteigende Tonleiter zeichnen gemeinsam diesen besonderen Moment, der auf einfache, aber sehr wirkungsvolle Weise eine »Geisteratmosphäre« erzeugt. GS
Bellinis musikalische Charakterisierungskunst der einzelnen Handelnden in der Sonnambula wird oft gepriesen. Was hat es damit auf sich? Die musik-psychologische Ausdeutung basiert auf einem sehr klaren Konzept: Amina ist das Gravitationszentrum eines klar geordneten Sonnensystems. Alles hängt von ihr ab, und alles ist auf sie fokussiert – sowohl der Chor als auch die restlichen Solisten. Die Figur des Elvino ist nötig, um die sozialen Fallhöhen in der Geschichte kenntlich zu machen, konkret den Unterschied zwischen Amina und Elvino selbst. Es ist eine patriarchalische Sicht der Welt. Aber Elvino ist nicht ausschließlich negativ: sein Inneres treibt ihn an, jene »Wahrheit« zu verstehen, die die richtige Liebe ausmacht, das Authentische einer reinen Liebe, ihr tatsächliches Wesen. Musikalisch äußerst sich dies durch die große Veränderung, die Elvinos Part erfährt – man muss nur den akademischen Charakter seiner ersten Melodielinien am Beginn der Oper mit seinen völlig veränderten und viel ausdrucksvolleren Linien am Ende der Oper vergleichen. Darüber hinaus zeichnet Bellini die Psychologie der Figuren auch durch die unterschiedliche Verwendung von musikalischen Formen und melodischen Mustern. Ein Beispiel, an dem man das sehr gut sehen kann, ist Elvinos Kavatine (Nr. 2): Mitten in der perfekten Harmonie der Liebesbande zwischen Elvino und Amina, die umgeben ist von einer fast religiösen Feierlichkeit des Augenblicks, beginnt Amina die Stretta mit einer neuen, unglaublich GS
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rührenden Melodie zwischen Walzer und Mazurka, die die innere Emotion und die bescheidene Zurückhaltung des jungen und reinen Mädchens perfekt ausdrückt. Handelt es sich bei Aminas großer, aber auch kleiner Traum-Arie überhaupt um eine typische Wahnsinnsarie dieser Zeit? Eine gute Frage, die ich mit einem definitiven Nein beantworten möchte. Der Somnambulismus (ebenso wie jede Form des Wahnsinns) war bekanntlich ein Thema, das wissenschaftlich oft untersucht und in der Lite ratur, im Theater, in der bildenden Kunst des 18. Jahrhunderts thematisiert wurde. So auch auf unterschiedliche Weise in diversen Opern. Warum dort? Weil sich ein veränderter Geisteszustand hervorragend durch die Musik ausdrücken lässt, insbesondere beim Singen. Aber anders als etwa Imogenes Delirium in Bellinis Il pirata oder überhaupt alle bekannten Wahnsinnsszenen in den Opern dieser Zeit, wie zum Beispiel jene der Lucia di Lammermoor oder der Elvira in I puritani, handelt es sich bei den Schlafwandelmomenten Aminas lediglich um eine temporäre geistige »Verrückung«. Das Einzige, was all diese außergewöhnlichen Zustände eint, ist, dass sie außerhalb des Rationellen, des Bewussten liegen. Der Wahnsinn einer Elvira, einer Lucia ist jeweils ein Versuch, der ungewollten, hässlichen Realität zu entkommen, Aminas Somnambulismus ist hingegen eine Form der Lebensregeneration, eine Art Heilmittel für die Liebe zwischen ihr und Elvino. Ihre Beziehung ist am Ende der Oper authentischer, Elvino gewissermaßen bekehrt. Das Happy End der Oper bringt somit eine moralische und ethische Aussage, die sich nicht fragt, ob Amina schuldig ist oder nicht, sondern, was eine echte Liebe überhaupt ausmacht? Musikalisch unterstreicht Aminas Schlafwandeln das innerste Wesen ihrer Liebe, aber auch den universellen Charakter der Liebe an sich. Die Schönheit der melodischen Linien wirkt hier so rein, dass es unmöglich ist, nicht zu begreifen, dass Aminas Somnambulismus die unver hüllte Wahrheit zum Ausdruck bringt. GS
Es liegt auf der Hand, dass der aus Landleuten bestehende Chor keine zu komplexe Musikstruktur hat. Wie sieht es aber diesbezüglich mit dem Grafen Rodolfo aus – er ist der einzige Gebildete, ein Adeliger? Hebt sich seine Musik von jener der restlichen Besetzung ab? Die Musik des Grafen bekommt nur in der Darstellung der Reinheit seines Heimatortes eine eigene Färbung. Die Beschreibung der Atmos phäre dieses Schweizer Dorfes findet durch eine schöne, gewissermaßen reine Melodieführung ihren Ausdruck, und ist typisch für Bellini, wenn er die Echtheit eines Gefühls wiedergeben möchte. GS
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Ist Bellini bezüglich der Instrumentierung in der Sonnambula einen Sonderweg gegangen? Gibt es ein unverwechselbares Sonnambula-Orchester? Interessant ist, wie Bellini die Posaune einsetzt, um das Übernatürliche auszudrücken – wie beispielsweise beim bereits erwähnten Geisterchor. Ganz allgemein haben wir aber eine typische Bellini-Orchestrierung vor uns, wenn auch noch nicht in seiner Hochblüte. Diese erreichte Bellini erst in den Puritani, die er für ein französisches Publikum respektive ein Pariser Theater schrieb. Eine raffinierte Instrumentierung war in Frankreich nämlich eine Voraussetzung, um überhaupt Erfolg haben zu können – darauf hatte jeder italienische Komponist, der in diesem Land Fuß fassen wollte, inklusive Verdi, zu achten. GS
Es gibt in der Sonnambula so etwas wie Erinnerungsmotive – ist das bereits die Vorform der Wagner’schen Leitmotive? Sind solche Erinnerungsmotive eine Erfindung Bellinis? Nein, ich würde diese »Erinnerungsmotive«, die eigentlich nur in der letzten Szene vorkommen, nicht mit der Wagner’schen Leitmotivik vergleichen. Bellini formt diese musikalischen Themen nicht situationsbedingt um, da es sich, wie das Wort schon sagt, um ein ERINNERUNGS-Motiv handelt und nicht um ein dramaturgisch-funktionelles Motiv. Solche Erinnerungsmotive sind tatsächlich eine Besonderheit Bellinis, die er für sich entdeckt hat, aber es gibt dennoch auch einige Beispiele bei Rossini (in seinen ernsten oder halbernsten Opern) und bei Donizetti. GS
Sonnambula gilt als wichtiges Beispiel der italienischen romantischen Oper. Worin zeigt sich das »Romantische« in der Musik? Die Anmut und der Ausdruck der Melodie sind zwei der wichtigsten Merkmale der romantischen Periode. In diesem Sinne brauchen wir nur an das diesbezüglich Verbindende zwischen Chopin und Bellini zu denken. GS
Man liest in der Literatur oft, dass die Koloraturen in der Sonnambula nie einen Selbstzweck haben – inwiefern ist das so? Koloraturen werden im Belcanto grundsätzlich nie als Selbstzweck eingesetzt, das gilt schon für Rossini. Insbesondere in den ernsten Belcanto-Opern haben Koloraturen die Aufgabe, die Emotion des Augenblicks zu zeigen. Es geht also nicht um die Zurschaustellung eines reinen und leeren Virtuosentums wie manchmal in der Barockzeit. Diese inhaltliche Aufwertung der Koloraturen findet bei Bellini ihren Höhepunkt und führt unmittelbar zu Verdi. GS
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Und wo geht die Belcanto-Tradition ganz grundsätzlich weiter? Wird Verdi eher bei Bellini, Rossini oder bei Donizetti ansetzen? Verdi ist als Komponist ganz und gar mit dem Belcanto verbunden – ohne Belcanto gäbe es einfach keinen Verdi. Sicher ist er näher an Bellini, vor allem, was die Formen des bereits weiterentwickelten Belcanto betrifft sowie hinsichtlich des Einsatzes neuer Stimmlagen bzw. Stimmtypen: Wenn wir Bellinis Norma und Verdis Nabucco miteinander vergleichen, sehen wir das beste Beispiel für die »Übergabe des Staffelstabs«, und zwar auf mehreren Ebenen: formal, stimmlich, dramatisch. Aber natürlich ist der Belcanto für Verdi letztlich nur die Brücke, die er benutzte, um seine eigene und ganz persönliche musikalische Reise zu beginnen. GS
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Ingeborg Bachmann
» Ja, Liebe führt in die tiefste Einsamkeit. Wenn sie ein ekstatischer Zustand ist, dann ist man in keinem Zustand mehr, in dem man sich durch die Welt bewegen kann. Man sieht die Welt nicht mehr mit den Augen der anderen. «
Marco Arturo Marelli
FRAGILE WELTVERGESSENHEIT
Auszüge aus dem Konzeptionsgespräch
In den tragischen Werken des italienischen Opernschaffens im ersten Teil des neunzehnten Jahrhunderts häufen sich die Wahnsinnsszenen entgrenzter Frauen. Heldinnen, deren gesamtes Leben auf den Partner ausgerichtet war, werden durch gesellschaftliche Zwänge zu Außenseiterinnen, finden sich in unlösbaren Konflikten und fliehen in Besinnungslosigkeit, zerbrechen tödlich an den psychischen Ausnahmesituationen. Auf den ersten Blick scheint Amina nicht zu ihnen zu gehören, und ihre inneren Störungen scheinen sich nicht aus dem Spannungsfeld zwischen ihr, ihrer Liebe und der Gesellschaft erklären zu lassen. Schon die Handlung der Oper zeigt dauernd glückliche Bauern im frisch gewaschenen, trachtenseligen Sonntagsstaat in einer idyllischen Landschaft. Die Hochzeit, die im ersten Akt notariell schon vollzogen wird, steht unmittelbar vor der Türe, am nächsten Tag soll ja auch die kirchliche Trauung folgen, doch warum brechen die »Tagesreste« in Aminas Unbewusstem hervor, warum beginnt sie im somnambulen Zustand träumend ihr Glück zu suchen, welches ihr vom Leben anscheinend vorenthalten wird? Warum erträumt sie sich, muss sich im Traum erschaffen, was sie am nächsten Tag erleben könnte? Dies wurde für uns zu einer entscheidenden Frage, denn unsere Absicht ist, aus diesem überirdisch schönen Belcanto-Werk – fast möchte ich sagen, aus dem »Ballett für Stimmen und Orchester« – ein psychologisch dichtes Drama zu entwerfen, welches auch ein Publikum von heute faszinieren kann.
Zauberberg Den Ort der Handlung, die Schweizer Alpen, haben wir beibehalten, doch die Story in eine Art Hotel oder besser Sanatorium verlegt. Ein Ort, wie er von Thomas Mann im Zauberberg beschrieben worden ist: Dort herrscht ein anderer Zeitbegriff – von »Ausdehnung der Gegenwart« schreibt Thomas Mann –, man lebt in seinen Gefühlen. In dieser dünnen Luft, wo die Zeit stillzustehen scheint (wie manchmal auch in Bellinis Musik), bevölkern äußerst seltsame Menschen die Szene, weit ab vom Getriebe der Welt, des »Flachlandes«: »Menschen im Hotel!«, Müßiggänger, Kranke mit leichter Tuberkulose und schwierigere Fälle, welche die Musik am Rande des Todes seltsam genießen, Weltflüchtende, auch Opernfreaks, sowie reiche Gäste und das einfache Personal des Hauses. Diese Künstlichkeit soll der Inszenierung den Rahmen geben. Bellini hatte sich nach Konflikten mit der Zensurbehörde (er wollte für Mailand zunächst den politisch brisanten Hernani vertonen) krank zu einem mehrwöchigen Kuraufenthalt an den Comer See zurückgezogen. In diesem Arkadien schuf er in selbst gewählter innerer Emigration, fast völlig abgeschottet von der Wirklichkeit, La sonnambula, ein Stoff, der wenige Jahre zuvor als Ballett Furore gemacht hatte. 19
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Ob seine Krankheit ausschließlich physisch bedingt war oder ob sie vielmehr die Konsequenz einer opernmäßig inszenierten Weltflucht war, lässt sich im Nachhinein kaum mehr feststellen. Zu den wenigen Kontakten, die Bellini in seiner Isolation wahrnimmt, gehören die Begegnungen mit Giuditta Pasta, der Sängerin, die zu seiner Amina werden sollte. In der Inszenierung wird sich diese biographische Notiz transformiert wiederfinden lassen. Auch Elvino, selbst ein junger Komponist, ein Superästhet, ist ein Insasse des Sanatoriums. Er lebt schon längere Zeit in jener geschlossenen Gesellschaft und abgeschlossenen Welt, um sich vom Verlust seiner Mutter zu erholen. Denn von ihr spricht er im ersten Akt andauernd, fast ausschließlich, seine Gedanken umkreisen oft die Erinnerung an sie, wenn er mit Amina spricht. Ich stelle mir die Mutter als berühmte Sängerin oder Tänzerin vor. Auf ihren Reisen hat er sie begleitet. Hier oben hat er Amina kennengelernt, sie arbeitete in diesem Haus, vielleicht in der Küche, hier hat er sie zum ersten Mal singen gehört, und der Klang ihrer Stimme berührte und beflügelte ihn. So beschließt er sofort, sie zu heiraten, obwohl er sich vorher mit Lisa die Zeit ganz gut »vertrieben« hatte. In dieser Vermählung mit seiner idealisierten Kunstfigur begreift er sich als ihr Schöpfer. Fast willenlos ergibt sich das Mädchen seinen Vorstellungen. Er sucht in ihm nicht nur das Idealbild der Frau, sondern Amina bedeutet für ihn auch die Wiedergeburt seiner Mutter; jede zaghafte Andeutung, Amina könne ihn nicht mehr lieben, ihn gar verlassen, um auch außerhalb seiner Welt zu leben, oder sogar sich in einer eigenen Existenz zu behaupten, führt bei Elvino augenblicklich zum völligen Zusammenbruch und zu ausgesprochen infantilen Reaktionen voll egoistischem Trotz und männlichem Selbstmitleid. Selbstverständlich muss Amina das Hochzeitskleid seiner verstorbenen Mutter tragen, es ist ja auch der Ring der Mutter, den er ihr schenkt. In Amina entdeckt Elvino sein Frauenbild; alles an ihr scheint ihm noch formbar, an ihrem Selbst, ihren persönlichen Problemen, auch an ihrer »Krankheit«, an ihrem Anderssein zeigt er kein Interesse, sondern legt nur alle seine eigenen Projektionen auf sie: der Männerblick, wie eine Frau zu sein hat. Und sie lässt sich zunächst willig in dieses Schema pressen. Da sie ihn liebt, macht sie alles mit, geht auf jeden Wunsch von ihm ein.
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Amina – Anima So entsteht eine mögliche Geschichte: Jemand aus dem Personal heiratet einen reichen Künstler aus der Stadt. Amina wird plötzlich entdeckt; sie kann singen, wird zum »Star«, weiß zunächst nicht, wie ihr geschieht, und ist verwundert über alles, was sich um sie herum ereignet, wie sie plötzlich behandelt wird. Auch stellt Elvino sie seiner reichen Verwandtschaft aus der großen Welt vor, sie wird ausgestellt und vorgeführt. Sie macht alles mit, um Elvino zu gefallen. Weil sie ihn liebt, versucht sie, seinem Bild gerecht zu werden und dabei ihre eigene Identität zu verlieren. Bei dem Namen der Titelfigur, Amina, muss ich an »Anima« denken, was auf Italienisch Seele bedeutet, aber in der Sprache C. G. Jungs die Frauenfigur im Manne bezeichnet: »Die Anima verkörpert alle weiblichen Seeleneigenschaften im Manne, Stimmungen, Gefühle, Ahnungen, Empfänglichkeit für das Irrationale, persönliche Liebesfähigkeit, Natursinn und als Wichtigstes die Beziehung zum Unbewussten. Nicht zufällig verwendeten früher viele Völker Priesterinnen, um sich mit dem Willen der Götter in Verbindung zu setzen.« (C. G. Jung, Der Mensch und seine Symbole) So versuchten wir auch, das Stück aus der Perspektive jenes sehr unfertigen Menschen mit dem Namen Elvino zu sehen: Er hat seine Mutter verloren und will nun an ihrer Stelle Amina auf einen Altar heben. Sie wird zur weißen Frau, zur romantischen Liebe, zur Wunschprojektion. Aminas Arbeitskollegen haben ein Fest für sie vorbereitet. Alessio, ein Kellner aus ihren Reihen, hat sogar ein Lied für sie geschrieben. Die weltgewandte Verwandtschaft von Elvino hat unter den Gästen Platz genommen. Amina ist vom Ausmaß dieses Festes so völlig überrascht, dass ihr vor Glück fast das Herz stehen bleibt. Der Bräutigam wird erwartet, und so wird sie nun für ihn zurechtgemacht. In das Hochzeitskleid von Elvinos Mutter wird sie gesteckt werden, es passt ihr nicht ganz, doch vor so viel Freude will sie ihr eigenes leichtes Unbehagen nicht wahrnehmen. Sie ist so verwundert über alles, was ihr geschieht. Einmal im Mittelpunkt stehen, dies ist es, was sie sich immer schon gewünscht hat. Sie schwebt förmlich vor Glück, sodass sie weder die Missgunst und den Neid von Lisa noch ihre eigene Veränderung wahrnimmt. Nur um ihm zu gefallen, lässt sie sich verändern, wird willig zu seinem Traumbild, fühlt sich aber nur anfänglich wohl in der ihr zugedachten Rolle. Nicht einmal Rodolfos Komplimente darf sie entgegennehmen, Elvino will sie nur für sich haben, sie eifersüchtig von allen abschließen, über seine erträumte Muse und Kindfrau allein herrschen: »Son geloso del zefiro errante...« – und sie erfüllt im zweiten Duett seine Träumereien. Sie beginnt, sich durch ihn zu definieren (»Amo il sol, perchè teco il divido...«) und dadurch ihr eigenes Selbst aufzugeben. Das im zweiten Duett beschworene Glück ist trügerisch, die augenblickliche Nähe der beiden wird flüchtig. Als würden sie die Unmöglichkeit ihrer 21
FR AGILE W ELT V ERGE S SEN HEIT
Vereinigung erahnen, hören sie nicht auf, in immer neuen Phrasen von ihrer Liebe und schmerzlichen Einsamkeit zu singen. Es bleibt viel Unausgesprochenes in diesem wundersam entrückten Duett, und schon taucht jene Traumwelt auf, in welche Amina wie in einen Sog hineingezogen werden wird, in die sie sich begeben wird, um dort träumend ihre Glückserfüllung zu finden: »Pur nel sonno il mio cor ti vedrà...«
Der Traum als Theaterspiel Beide träumen weltvergessen von ihrem Glück, sind am Ende des Duetts fast zu zwei »Somnambulen« geworden, jeder bereit, sich nur in seiner eigenen Fantasie und Traumwelt zu verlieren. Unausgesprochen bleibt vor allem aber auch Aminas innere Not. Elvino gegenüber verschwieg sie ihren Somnambulismus. Teresa weiß darüber Bescheid, bei Anbruch der Nacht schickt sie alle sofort weg; Lisa ahnt es und genießt es, im »Geisterchor« als »Weiße Frau« Anspielungen auf Aminas Absencen vor allen Gästen deutlich anklingen zu lassen und versucht so, Amina zu kompromittieren. Lisa, die andere Frau, jene aus Fleisch und Blut, interessiert sich dann sofort auch für den fremden Gast mit Namen Rodolfo, dessen Identität sie herausfindet und dessen Aufmerksamkeit sie kokett herausfordert. Das nächtliche Gespräch an der Bar zwischen ihr und dem alternden Don Juan kurz vor dem Schlafengehen entwickelt sich zum anzüglichen Schäferstündchen, bei dem sie einen Schuh verliert, der sie dann auch als Corpus delicti im 2. Akt verraten wird. Diese erotische Situation wird durch Aminas Auftritt von draußen aus der Schneelandschaft unterbrochen. Sie kehrt schlafwandelnd, halbnackt, befreit von dem ihr fremden Hochzeitskleid, zu dem Ort des letzten »Addio« mit Elvino zurück, nicht nur, um seine Nähe zu suchen, sondern auch, um sich ihm zu offenbaren: liebe mich so, wie ich bin, auch in meiner Andersartigkeit, mit meiner Krankheit, und nicht als deine Vorstellung. Sie unterstreicht diese Offenheit durch ihr erotisches Verlangen nach ihm. So ist ihr träumendes Ich nur zum Teil mit ihrem wachen Ich identisch. Ihr Traum zeigt eine andere, intimere Welt als die Welt des Tages. In diesem intensiv erlebten Traumbild verdichten sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Die aktuellen Ereignisse des vergangenen Tages, ihre Angst vor dem Verlassenwerden wegen ihrer Krankheit und der sehnlichste Wunsch nach Erfüllung ihrer Liebe zeigen Amina nun im tiefsten und wahrsten Moment. Dieser Traum erscheint szenisch wie ein Theaterspiel. Sie stellt sich die Szene vor, richtet die Kerzen und kniet vor dem Altar, bevor sie in ihrem »Elvino abbracciami« ihre sinnliche Sehnsucht herausschluchzt. Ihr Traum ist auch eine Schutzabwehr gegen die Regelmäßigkeit und Gewöhnlichkeit des Lebens, eine freie Erholung ihrer vorher beengten Fantasie, wo nun alle Bilder des Lebens durcheinandergeraten. In kindlicher Unschuld M A RCO A RT U RO M A R ELLI
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spielt sie so die ersehnte Hochzeitsszene durch und landet im Spiel in den Armen eines ganz und gar nicht so unschuldigen Grafen. Nur mit großer Mühe zwingt der sich dazu, das Spiel mitzumachen und die Situation mit der Träumenden nicht für sich erotisch auszunützen. Bei ihrem zweiten Auftritt als geistesabwesende Tagträumerin am Ende des zweiten Aktes spielt der Graf dann diese entscheidende Szene mit ihr noch einmal durch. Er arrangiert alle Requisiten, zündet die Kerzen an, lässt dann aber Elvino seinen Platz einnehmen. So erleben wir in seiner Beweisführung nicht nur Aminas Unschuld, sondern auch seine eigene Rechtfertigung und die Befreiung aus ihrem Alptraum. Rodolfo erreicht so in einem Spontanritual ihre Heilung, fast wie ein heutiger Psychotherapeut.
Die Katastrophe Zunächst aber weitet sich das Ende des ersten Aktes zur Katastrophe: Lisa, die alles Vorangegangene genau beobachtet hat, holt Elvino auf die Szene, der die Schlafende eingehüllt im schweren Pelzmantel des Grafen findet. Lisas Plan, Elvino wieder für sich zu gewinnen, nimmt seinen Lauf. Aminas Einsamkeit ist erschütternd, alle ihre Hoffnungen, in Elvino einen Menschen zu finden, der sie bedingungslos liebt und sie verstehen kann, werden von ihm zerbrochen. Der Traum ist aus. Obwohl im Text des großen Concertato vom ersten Finale vom »Vergehen« Aminas aus der Sicht Elvinos, von ihrem »Treuebruch« die Rede ist, folgen alle Figuren wie in Trance einzig der Melodie Aminas. Alle stehen unweigerlich in ihrem Bann, selbst, wenn sie sich gegen diese emotionale Dominanz wehren. Im unmittelbaren Augenblick der Enthüllung macht die Musik vor allem eins deutlich: die Befangenheit und Aminas Unschuld. Doch ohne Rücksicht auf Amina, in unkontrollierter Aggression auch gegen sein eigenes Ideal, beschwört Elvino den Skandal herauf. In einem grausamen Affekt, als würde er sie an den Haaren zu einem Tribunal schleifen, stellt er Amina öffentlich bloß. Die Musik wird zu einer Welle der Aggression und gleichsam zu einem Naturvorgang: Die seelische Eiszeit hat begonnen. Verzweifelt zerstört Elvino auch seinen Traum vom Künstler und seiner Muse, indem er hilflos sein Klavier demoliert, selbst nicht ahnend, dass er dadurch auch alle seine Gefühle abtötet. Mit seinem »Non più nozze« endet der erste Akt. Amina bleibt von allen, außer Teresa, verstoßen allein auf der Szene zurück. Der zweite Akt bedarf keiner räumlichen Entfernung, wie es die Originalvorlage vorsieht. Die ganze Nacht wütete ein Schneesturm und die Eiskristalle, die durch die offenen Fenster hereingeweht worden sind, verwandeln das ganze Bild in eine frostige Eislandschaft. Amina ist unfähig, auch nur einen Schritt zu tun, und bleibt einsam, hilflos am Ort ihres Zusammenbruchs gefesselt. 23
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Im Hintergrund kauert Elvino wie ein wundes Tier bei seinem zerstörten Klavier, welches sich in der Schneewehe wie das Bild der »gescheiterten Hoffnung« ausnimmt. Er lässt nicht davon ab, sich am eigenen Schmerz, auch an der eigenen Verletzbarkeit zu weiden. Durch die statischen Tonwiederholungen im Orchester erhält die Situation etwas Unabänderliches: Elvino beharrt auf seiner Schuldzuweisung, auch wenn ihn die »Menschen im Hotel« vom Gegenteil überzeugen können. Als Mensch, der sich in seiner Eitelkeit, in seinem Stolz und in seiner Ehre verletzt fühlt, ist er bereit, wie in einem Amoklauf alles zu zerstören, was ihm bisher wert und teuer war. Unfähig, dies selbst zu erkennen, stürzt er sich in die Besinnungslosigkeit des Alkohols und bringt dann, sich völlig orientierungslos seinen Emotionen hingebend, mit seiner Hochzeit mit Lisa die Situation in absurde Dimensionen. Doch von Lisa betrogen, wird er nach der Aufdeckung über deren Verhältnis mit dem Grafen zum doppelten Verlierer. Aus dieser Verstrickung wird er sich selbst nicht retten können. Rodolfo wird zwei Kranke zu heilen haben.
Von der Projektion zur Primadonna Am Schluss des ersten Aktes stand Elvino nicht zu seinem Gefühl, er tötete sein Instrument. Seine Liebe wie auch seine Ausdrucksmöglichkeit sind den Kältetod gestorben. Am Ende der Oper wandelt Amina in Trance über das zerbrochene Klavier. Sie wird selbst zu dem Gespenst, vor dem sich im ersten Akt alle, auch Amina, fürchten. Über die Bruchstücke kann sie in eine neue Existenz schreiten, sich freimachen. Ihre Krankheit wird nun allen bekannt, sie hat nichts mehr zu verbergen. Nun kann sie neue Engagements annehmen, Karriere machen wie Elvinos Mutter, und er wird ihr folgen. Eine der wenigen Regieanweisungen der Partitur besagt an dieser Stelle, dass er vor ihr auf die Knie fällt, denn nun hat er wieder, was er will: sein Heiligenbild, seine Diva, die unberührbare Heldin. Und Amina hat verstanden, was sie jetzt ist: eine Primadonna.
→ Lawrence Brownlee als Elvino, 2012
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Wolfgang Willaschek
VON DER FASZINATION EINES LEBENS ENTWURFES IN DER TRAUMFABRIK OPER Gedanken zur Dramaturgie und Ästhetik von Vincenzo Bellinis Oper La sonnambula
Vincenzo Bellini, noch kurz vor der Arbeit an La sonnambula mit einem politisch brisanten Stoff für das Musiktheater beschäftigt, flieht in die Bergeinsamkeit des Comer Sees, um eine Oper über eine Schlafwandlerin zu schreiben, die sich Liebeserfüllung und Lebensglück erträumt. Das in einer idyllischen Landschaft spielende und um die Hochzeit des Mädchens kreisende Stück, dessen unterschiedliche Vorlagen nicht zufällig dem Ballett und dem Tanz näherstehen als dem Theater, wurde zu einem Inbegriff der romantischen Belcanto- und Primadonnenoper des 19. Jahrhunderts. Das Schicksal einer aus der Anonymität kometenhaft aufsteigenden »Stimme« spiegelt Traum und Alptraum eines ganzen Lebens wider. In welchem Zustand ist es einem Menschen möglich, seine Träume von einer aufrichtigen Liebe und einem wahren Ich zu erfahren? – Die Oper: Der Somnambulismus als die einzig wahre Form einer zufriedenen menschlichen Existenz und doch zugleich das Spiegelbild einer andauernden Gefahr des unweigerlichen Absturzes, zurück in eine Realität, in der kein Platz für Visionen und Utopien ist. Das dem Werk bis heute als Markenzeichen – geadelt durch die Darstellung von Maria Callas – anhaftende Etikett von der fulminanten Gesangsoper verschleiert vieles von der wahren Ausstrahlungskraft und den theatralischen Ausdrucksmöglichkeiten, die Bellini in dieser Partitur aus einer Welt »wie hinter Schleiern« verankert. Hinter der virtuosen Brillanz und einer schier unerschöpflichen Erfindungskraft an immer neuen Melodien verbirgt sich in La sonnambula nämlich eine faszinierende und vielschichtige Bestandsaufnahme der Ausdrucksmöglichkeiten in der Gattung Oper. Nirgends wird dieser außergewöhnliche Subtext – die Magie des Gesangs als »Stück im Stück« – deutlicher als in den Traumsequenzen und den Szenen des Schlafwandelns, die Bellini gerade nicht, was im Stil und in der Tradition des Belcantos durchaus zu erwarten gewesen wäre, als bravouröse und brillante Arien mit Koloraturen vertont. Ganz im Gegenteil. Gerade die Ausnahme- und Entgrenzungszustände Aminas sind fast ausnahmslos a cappella oder mit einfachen, ursprünglichen Melodien gestaltet. Man gewinnt den Eindruck, Bellini wolle mit der bewusst vordergründigen Handlung einen bestimmten Rahmen sprengen, um an den Ursprung seiner Kunstgattung zu gelangen. Er will zu einem Punkt kommen, an dem Gesang und Melodie gleichsam neu erfunden werden müssen, um dem Menschen – dem Darsteller wie dem Zuhörer – einen Eindruck, eine Offenbarung von den Möglichkeiten und Widersprüchen des Daseins zu geben. Auf einen zweiten Blick entpuppt sich La sonnambula als ein faszinierend widersprüchliches Stück, in dem es darum geht, wie das Kunstwerk Oper, unabhängig vom Zeitgeist, auch unabhängig von bestimmten Traditionen oder Modetendenzen, zum Sinnbild und Inbegriff eines existenziellen Dramas werden kann. Betrachtet man La sonnambula als lebendiges und unmittelbares Theater, rücken die faszinierenden Hintergründe dieses Stückes in den Vordergrund. Man muss dieses Werk förmlich aus dem Eis glitzernder Stim 27
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menbravour befreien, um hinter seiner »gläsernen Schönheit« die Qualität eines Lebensentwurfes zu entdecken beziehungsweise wiederzuentdecken. Denn Felice Romani und Vincenzo Bellini nützen die vermeintliche Handlungsarmut des Stoffes, um mit ausschließlich musikdramatischen Mitteln ein dichtes Geflecht an psychologischen und emotionalen Bezügen und Geschichten zu entwickeln. So entsteht ein sich unaufhörlich zuspitzendes Beziehungsdrama zwischen Liebe, Eifersucht und Todesnähe. Würde man nicht Bellinis Musik mit La sonnambula verbinden, könnte die Handlung zunächst das Drehbuch zu einer Beziehungskomödie sein. Verkannter Künstler heiratet armes Mädchen aus dem Volk und träumt von der Erfüllung seiner Ideale. Seine frühere Geliebte lässt nichts unversucht, den Verflossenen zurückzugewinnen. Ein wohlhabender, erotisch anziehender Unbekannter, der buchstäblich ins Hochzeitsgeschehen hineinschneit, schaltet sich in die Verwicklungen ein, deren Höhepunkt seltsame Entrückungszustände der frischgebackenen Braut bilden – was nun wiederum Anlass zu neuen Verirrungen, Verdächtigungen und Eifersuchtsausbrüchen bietet. Am Ende geht insofern alles gut aus, da die verträumte, naive und jeden Menschen berührende Braut das bekommt, was sie von Anfang an will: Hochzeit, Liebe und Glück. Diesen Stoff hätte auch Rossini komponieren können. Dann wäre wohl eine Oper in der Art von La cenerentola herausgekommen, eine Liebeskomödie mit durchaus aufklärerischen Aspekten. Für Romani und Bellini geht es aber um etwas völlig anderes. Sie lassen die komödiantische Oberfläche ebenso unangetastet wie die Möglichkeit zur erotischen oder humanen Aufklärung: Stattdessen durchdringen sie Stück und Stoff auf andere Weise. Einzig in und durch Musik wird dabei eine »Geschichte hinter der Geschichte« deutlich, die äußerlich eines idyllischen Rahmens bedarf, um in ihrem Inneren wesentlich und existenziell sein zu können. Diese Geschichte handelt von zunächst vergeblich scheinender Sehnsucht, von Blendung und Verblendung, von Irrungen und Wirrungen der Gefühle. Vor allem aber geht es in La sonnambula um ein trügerisches Ideal, das den Ansprüchen und Hoffnungen in einer von egoistischen Begierden beherrschten Welt mehr standhält – es sei denn, die zentrale Gestalt, um die es geht, schafft für sich einen Freiraum, in dem sie ihre Wünsche und ihre Natürlichkeit ungehindert ausleben kann. Diese auratische Gestalt trägt den Namen Amina – ein einfaches Mädchen, erinnernd an eine Schäferin, eine mythologische Gestalt, vielleicht eine Figur aus einem Märchen oder einem Schauspiel der Renaissance oder des Barock; eine Frau, die zunächst eine unter vielen sein kann, um schließlich durch ihre unverwechselbare Erscheinung zur charismatischen, nahezu mythischen Gestalt zu werden. Für Bellini, der sich für dieses Werk in eine Art »kompositorische Isolationshaft« zurückzieht, muss Aminas Schicksal von außergewöhnlicher Intensität gewesen sein, denn er schildert in seiner Oper eine Gratwanderung zwischen Realität und Somnambulismus, durch die WOLFGA NG W ILLASCHEK
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ein Mensch aufgerieben und zerstört zu werden droht. In der Musik Bellinis ist die Entrückung Aminas – der Ausnahmezustand des Schlafwandelns – ein Freiraum, durch den ein Mensch jene Erfüllung erlangen kann, die ihm in der Realität verweigert wird. Zugleich ist diese Entrückung das Sinnbild einer Ausgrenzung, einer möglicherweise lebensgefährlichen Isolation, je nach dem Blickwinkel, aus dem Aminas Schicksal betrachtet wird. Einzig im Freiraum des Schlafwandelns ist es für Amina möglich, ihr Ich und die ihr zugewiesene Rolle miteinander zu vereinbaren. Für Bellini muss die Arbeit an diesem Werk vor allem bedeutet haben, zwangsläufig voneinander getrennte Bereiche miteinander zu verschmelzen: jene Rolle, die ein Mensch in einem Gesellschaftsgefüge spielt, in Verbindung mit dem Ideal, das er in den Augen anderer verkörpern kann, vor allem aber im Widerspruch zur Erfüllung, die sich der Mensch selbst von seinem Sein ersehnt. In einem solchen Fadenkreuz disparater, in diesem unterschwelligen Sinn höchst dramatischer Entwürfe und Projektionen siedelt Bellini seine Geschichte an; Grenzüberschreitungen, Gratwanderungen, Daseinsentwürfe. Die menschliche Stimme wird dabei zu einem Sinnbild von der Macht und Ohnmacht des Eros. Stimme und Körper sind nicht voneinander zu trennen. Eine faszinierende Figur wie Amina droht sich im Verwirrspiel zwischen Ich und Rolle aufzulösen. In keiner anderen Kunstgattung spielt die Gleichzeitigkeit zweier unterschiedlicher Empfindungen – die Emotion des Augenblicks und die Macht der Utopie – eine so entscheidende Rolle wie in der »Traumfabrik Oper«. In zwei Akten entwirft Bellini ein reales Traumstück über das Leben zwischen Ich und Rolle: zunächst als Tagtraum, der einen Akt lang als brillant in Szene gesetztes Hochzeitsfest in Erfüllung zu gehen scheint und gleich einem Aschenputtelmärchen ein bislang kaum wunderbar in Erscheinung getretenes Mädchen zu einer von allen vergötterten Frau macht – irgendwo auch der Entwurf einer zweifelhaften Karriere, die das begehrte »Objekt der Begierde« an den Rand eines Nervenzusammenbruchs zu bringen droht, eine Marylin Monroe oder Marlene Dietrich aus der Operntraumfabrik des 19. Jahrhunderts, ohnehin reich gesät an schillernden Idealbildern, von der Primaballerina bis zur Primadonna. Und der Mensch hinter dem Traumbild? Man muss sich die großen Finali, die dramatischen concertati von Verdi ins Bewusstsein rufen, um zu begreifen, wie intensiv und expressiv Bellini hier gescheiterte Lebensentwürfe und gesellschaftliche Zwänge in einen Zusammenhang bringt – und das in einer Oper, die anscheinend vom Liebesglück in einer Bergidylle handelt. Es ist kein Zufall, dass die einzige konkret nachzuvollziehende Handlung dieser Oper ein Ritual ist. Elvino streift Amina den Ehering als Zeichen ewiger Treue über und entreißt ihr diesen Ring wieder, sobald er von ihrer Untreue überzeugt scheint. In beiden Fällen ist Amina hoffnungslos verloren. Entweder ist sie das leblose Ideal Elvinos oder das hilflose Opfer seiner aus 29
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ufernden Eifersucht. In der Partitur wird deutlich, wovon Bellinis Oper vor allem handelt: von der Sängerin, die dazu verdammt ist, ein »Instrument« zu sein. Aminas große Naivität, ihre Ursprünglichkeit und die Unmittelbarkeit ihrer Ausstrahlung sind dabei ihre stärksten und eindrucksvollsten Waffen, um sich gegen die ihr permanent drohende Instrumentalisierung zur Wehr zu setzen. Und dies sind auch die Waffen einer Primadonna. Während im ersten Akt die Beziehungen und Verflechtungen triebhafter Menschen dominieren – nicht zufällig ordnet Bellini diesen Akt als Folge von Auftrittsarien an, die in einem Quartett und einem Finalensemble einander ausgelieferter Menschen gipfeln –, wandelt sich im zweiten Akt die Perspektive entscheidend. Das musikdramatische Geschehen scheint sich nun wesentlich aus dem Blickwinkel der betroffenen Frau abzuspielen, deren Schlafwandeln nicht länger – wie noch im ersten Aufzug – Ausdruck einer in die Nähe von Irr- und Volksglauben gerückten Verirrung und Verrücktheit ist, sondern in Bellinis Musik zu einer fulminanten Lebens- und Rollenrechtfertigung gerät. Wie in einer barocken Oper kommt es am Ende zur Apotheose. Es gelingt Amina, Ich und Rolle, Wirklichkeit und Fiktion in einer einzigen, faszinierenden Person zu sein und damit das Ideal, das man in ihr sieht, tatsächlich zu leben; freilich, daran lassen die Charakterbeschreibungen der anderen Figuren in dieser Oper keinen Zweifel, geschieht dies zu einem hohen Preis. Amina, die zentrale Gestalt, hat sich ihren Lebenstraum und Lebensraum auf eigene Faust zu erkämpfen, bei Bellini »wörtlich«: zu ersingen, was selbst im Vergleich zu zahlreichen anderen verwandten Stoffen und Stücken von Paisiellos Nina bis zu Donizettis Lucia di Lammermoor die einzigartige und unverwechselbare Qualität dieser Oper Bellinis ausmacht. Nahezu alle Menschen um Amina benützen den Traum der »göttlichen Stimme« als Triebersatz. Entweder verfolgen sie Amina mit ihrer Eifersucht wie die Nebenbuhlerin Lisa, oder sie degradieren einen lebenden Menschen zu einer Kunst- oder Kultfigur, wie der von seinem Schöpferwahn in die Eifersucht getriebene Künstler Elvino. Es bedarf entweder unauffälliger Wegbegleiter wie Teresa oder einer von außen in die hermetische Traumfabrik geratenden Figur wie Rodolfo – er kehrt in Kindheitserinnerungen wie in ein fremd gewordenes Museum zurück –, damit sich Aminas Zauber und Faszination nicht allein als stimmliches Phänomen, sondern als Lebensentwurf entfalten können. Hinter der Stimme verbirgt sich ein Mensch aus Fleisch und Blut – und nicht eine Maschine oder eine Puppe, abkommandiert zum circensischen Akt der Koloraturenseligkeit! Die Oper endet mit einer großen zweiteiligen Arie Aminas: ein eindrucksvolles Plädoyer für einen außergewöhnlichen Menschen, dem es durch die Kraft und Magie der Stimme gelingt, Traum und Wirklichkeit miteinander zu vereinen. Amina überwindet den Somnambulismus als Grenz- und Entrückungszustand, da sie am Ende eine für sie unverwechselbare Musik und Melodie(n) findet. Am Ende gelingt es Amina durch die Erinnerung an WOLFGA NG W ILLASCHEK
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ihr Schicksal und ihre Herkunft, ihre künftige Rolle als »Ich« auszufüllen. Zuhörerinnen und Zuschauer werden eingesponnen in eine Traumfabrik, in der sie – unbewusst wie unterbewusst – zu Mitspielern eines Lebensbetruges werden, man könnte auch sagen: ihres eigenen Lebensbetruges. Sie bewundern und vergöttern einen Menschen als Instrument einer göttlichen Offenbarung und sind selbst zerbrechliche und widersprüchliche Lebewesen, eingekerkert in den Widerspruch, ein unverwechselbares Ich zu sein, das dazu gezwungen ist, in einem lebensgefährlichen Gesellschaftsspiel – in dünner Luft, nah am Abgrund – eine Rolle auszufüllen und zu spielen. Dass die Grenzen zwischen beidem – zwischen Liebe und Schmerz, Ich und Rolle, Realität und Utopie – fließend sind, davon erzählt Bellini in La sonnambula mit einer unter die Haut und unmittelbar auf die Nerven einwirkenden suggestiven Musik, die, wie unter Glas gebannt, ganz unmittelbar vom Geheimnis menschlichen Lebens erzählt: weit unmittelbarer und intensiver, als dies in jeder wirklichkeitsnahen oder politisch brisanten Oper der Fall sein könnte. Bellinis Rückzug in die Illusionswelt des Comer Sees gilt also in Wahrheit einer atemberaubenden Expedition, nämlich der Entdeckung des menschlichen Ichs im Spiegel der unvergänglichen »gläsernen« Stimme.
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Aus: Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
» Er war nie von Theater so ergriffen worden wie damals, er empfand die Leidenschaft der Melodie wie Flügelschläge großer dunkler Vögel, als ob er die Linien fühlen könnte, die ihr Flug in seine Seele zog. Es waren keine menschlichen Leidenschaften mehr, die er hörte, nein, es waren Leidenschaften, die aus den Menschen entflohen, wie aus zu engen und zu alltäglichen Käfigen. Nie konnte er in dieser Erregung an die Personen denken, welche dort drüben – unsichtbar –
jene Leidenschaften agierten; versuchte er sie sich vorzustellen, so schossen augenblicks dunkle Flammen vor seinen Augen auf oder unerhört gigantische Dimensionen, so wie in der Finsternis die menschlichen Körper wachsen und menschliche Augen wie die Spiegel tiefer Brunnen leuchten. Und wer hatte die Oper geschaffen? Er wusste es nicht. Vielleicht war der Text ein fader, sentimentaler Liebesroman. Hatte sein Schöpfer gefühlt, dass er unter den Tönen zu etwas anderem wurde? «
Daniela Heisig
SIEHST DU SIE NICHT?
Von der Anima ausgelöste Gefühle
Der folgende Traum eines 24jährigen Mannes verdeutlicht, wie überwältigend das Einbrechen der Anima in das Bewusstsein sein kann: Ich befinde mich im Hause eines Freundes. Wir sitzen auf der Veranda. Ich blättere in einem Kunstgeschichtsbuch. Hierin steht die Meinung eines älteren, strengen Kunstprofessors über meine Bilder. Sie seien zwar »pathetisch«, dürften sich aber trotzdem sehen lassen. In dem Moment, als ich diese Stelle lese, ereignen sich komische Dinge. Eine Schallplattenbürste beginnt sich, ohne dass irgendeine bewegende Kraft an ihr sichtbar wirkte, schnell und in einer geraden Linie über den Boden zu bewegen. »Was zum Teufel soll das?« rufe ich und renne der Bürste nach. Als ich um die Ecke biege, sehe ich etwas, was mir fast den Atem verschlägt. Vor mir, auf einer tieferen Ebene, ist ein unfertiges Kellergeschoß mit einem Dach überdeckt, aber man sieht hinein. Hier steht in der Dunkelheit eine Frau in einem weißen Kleid. Als sie mich sieht, steigt sie zu mir hinauf und kommt auf mich zu. Sie ist eine schöne, junge Frau, etwa in meinem Alter. Ich bin vor Angst beinahe versteinert. Ich ergreife ihre Hand, denn ich will wissen: Ist sie echt? Ich überlege mir: Entweder ich spinne, oder diese Frau ist ein Geist, oder sie ist echt. Ich rufe meinem Freund zu: »Siehst du sie nicht?« Das Auftauchen der Frau im weißen Kleid ist von heftigen Gefühlen der Angst und Faszination begleitet. Dieses ambivalente Gefühl ist charakteristisch für einen unbewussten Inhalt, der am Rande der Bewusstseinsschwelle steht. Wie aus einem dunklen Grab steigt die Frau aus den Tiefen empor, wird lebendig. Sie ist gehüllt in ein Brautkleid, das auf ihre Jungfräulichkeit und Reinheit, aber auch auf die Möglichkeit einer Verbindung mit ihr verweist. Sie ist faszinierend, zieht den Träumer unwiderstehlich, fast zwingend in ihren Bann und löst eine große Sehnsucht aus. Für den Träumer ist sie sein weibliches Spiegelbild, und er empfindet nach dem Erwachen tiefe Liebe für sie und Sehnsucht nach einem Zusammenkommen. Die Frau löst die Gefühle aus, die Jung der Anima zugeschrieben hat: »Sie [Anima und Animus] werden nämlich meist als faszinos oder numinos empfunden. Öfters umgibt sie eine Atmosphäre von Empfindlichkeit, Unberührbarkeit, Geheimnis, peinlicher Intimität und sogar von Unbedingtheit.« Der von Rudolf Otto eingeführte Begriff des Numinosen umschreibt die paradoxe Erfahrung des »Heiligen« als »Mysterium tremendum et fascinosum«. So fasziniert das Geheimnisvolle der Frau auch unseren Träumer bis hin zur Ergriffenheit. Gleichzeitig erzittert er, denn durch sie wirkt ein Funke der Göttin. Die Begegnung mit der Traum-Frau bewirkt beim Traum-Ich trotz aller Faszination auch eine tiefe Verunsicherung, die sich über Zweifel bis hin zur Lähmung erstreckt. Das Auftauchen der Animafigur bewegt das Bewusstsein oder erschüttert es. Oft bricht das, was in finstere Tiefen verbannt war, gewaltig und überwältigend ins Leben ein, um das Bewusstsein mit fremdartigen Inhalten zu konfrontieren. Das löst, gerade weil diese Inhalte 35
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aus dem eigenen Leben ausgestoßen wurden, große Angst aus. In der Frauenfigur steigen die weiblichen Seiten des Träumers aus dem Unbewussten empor. Jungs folgende Worte könnten direkt für diesen Traum geschrieben worden sein: »Das Sträuben dagegen, ja, die Angst davor beweisen, wie groß die Anziehung und Verführungskraft des Unteren ist. Die Abscheidung vom Unteren ist keine Lösung, sondern Schein, eine wesentliche Verkennung seines Wertes und Sinnes.« Der Träumer ist ein Künstler, der zum Zeitpunkt des Traumes seinen Bildern kritisch-zweifelnd gegenübersteht und eine schöpferische Krise durchläuft. Eindrücklich zeigt der Traum, wie sehr er in seinem Schaffen durch die rationalen Bewertungen seiner Kunstprodukte aus einer inneren autoritären Schicht heraus behindert wird. Die Distanz zu seinen kreativen Produkten drückt sich auch in der Abbildung seiner Bilder im Kunstgeschichtebuch aus, einer im Vergleich zu den lebendigen Bildern vertrockneten und abstrakten Welt. Das Urteil des Professors wird im Traum zum Anlass für den Einbruch des Irrationalen. Wie sehr die Anima hier das Bewusstsein des Träumers kompensiert, zeigt ihre Gegensätzlichkeit zu seiner aktuellen Situation: Sie führt ihn in eine Welt jenseits von Bewertung und Abstraktion, in eine Welt der Irrationalität und der Gefühle, sie führt ihn vom männlichen ins weibliche Reich, vom Außen ins Innere, von oben nach unten, vom Gegenstand zum Lebendigen. Sie ist das Licht im Dunkeln. Die Herkunft der Frau symbolisiert auch, dass die Schöpferkraft des Träumers in seiner eigenen ursprünglichen Tiefe liegt, in der – weiblichen – Welt des Irrationalen. Jung führt die Numinosität der Anima auf die eigentümliche Schicksalsbedeutung dieses Archetyps zurück, wie sie zum Beispiel in den Figuren der Sphinx, der Kassandra und der todkündenden weißen Frau deutlich wird. All diesen Figuren ist gemeinsam, dass sie über Leben und Tod entscheiden und schicksalhafte Ereignisse – im Falle Kassandras den Untergang von Troja – vorhersagen, die unabwendbar sind. Die Gefühle der Unbedingtheit, der unwiderstehlichen Wirkung der Anima auf das Ich gründen aber auch im archetypischen Hintergrund, dem die Animafigur entspringt, geht doch von den Archetypen allgemein eine starke suggestive Wirkung aus. Verena Kast hat in einer Umfrage inhaltlich genauer bestimmt, welche Gefühle mit der Anima verbunden werden. Die seelische Faszination und das Gefühl, durch die Anima lebendiger zu werden, waren die zentralen Angaben. »Mit Anima wurden Ausdrücke wie ›seelisch weit werden‹, ›Sehnsucht nach Verschmelzen‹, ›Sehnsucht nach Symbiose und dem Gefühl, Symbiose nie ganz zu erreichen‹ verbunden... Aber auch das Weggetragensein durch Kunst, Malerei, Dichtung, überhaupt das Phänomen des Sich-verlieren-Könnens in etwas hinein, wurde als Emotion bezeichnet, die bei Konstellation der Anima erlebbar wird. [...] Es ist eine Emotion des Sich-Ausbreitens, des Im-Leben- → Maria Nazarova als Lisa, 2017 drin-Seins, des Lassen-Könnens, der Gelassenheit auch.« SIEHST DU SIE N ICH T ?
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Thomas Seedorf
GESANG DER LEIDENSCHAFTEN
Bellinis romantischer Belcanto
Kaum ein anderes Wort aus der Welt der Oper besitzt ein solch großes Prestige und ist zugleich so vage und offen wie »Belcanto«. Für die einen verbindet sich mit dem Begriff italienischer Schön-Gesang beinahe jeglicher Art bis hin zum stentorhaft intonierten »Nessun dorma«, für andere hingegen besitzt er nur für die Musik einer bestimmten Epoche und ihrer Gesangsästhetik und -praxis Geltung. In der Sicht des italienischen Gesangshistorikers Rodolfo Celletti etwa fand die Geschichte des Belcanto im Werk Gioachino Rossinis ihren Höhe- und Endpunkt, schon für die Werke der nächsten Generation, die Opern Donizettis und Bellinis, sei er nicht mehr angemessen. Dieser Meinung steht freilich die Sprachkonvention an heutigen Opernhäusern und in den Medien, die über das Opernleben berichten, entgegen. Ihr zufolge gelten die Werke Donizettis und Bellinis und auch die frühen Opern Verdis sogar als Kern des Belcanto-Repertoires. Für Celletti ist der italienische Gesang bis Rossini geprägt von der Kunst der Kastraten, Sängern von einem besonderen, artifiziellen Timbre, stupender Technik und in einigen illustren Fällen von einer zutiefst anrührenden Ausdruckskraft, einer Kunst, die Modell und Maßstab für alle Sänger war. Das Verschwinden der Kastraten von der Opernbühne und der fast gleichzeitige Rückzug Rossinis von der Opernkomposition Ende der 1820er-Jahre markieren für Celletti eine Zäsur, auf die eine Epoche folgte, die anderen gesangsästhetischen Grundsätzen verpflichtet war. Es ist die Ära der jungen italienischen Romantiker und ihrer mitreißenden Opern voller Gewalt, Schmerz und Wahnsinn, deren Ästhetik Bellini in einem Brief an Carlo Pepoli, den Librettisten seiner letzten Oper I puritani, auf eine berühmt gewordene Formel brachte: »Il dramma per musica deve far piangere, inorridire, morire cantando« – mit den Mitteln des Gesangs soll die Oper den Zuhörer weinen, erschaudern und sterben lassen. Auch Rossini wollte die Zuhörer emotional berühren, die jungen Romantiker aber erstrebten mehr: Für sie war die Oper nicht nur ästhetische Unterhaltung auf höchstem Niveau, sondern eine Kunstform, die das Publikum im Innersten erschüttern und mitreißen sollte. Steht Rossini für eine Belcanto-Tradition, die man als klassizistisch charakterisieren könnte, lassen sich Bellini, Donizetti und viele ihrer heute weniger bekannten Zeitgenossen wie Giovanni Pacini oder Saverio Mercadante als Vertreter eines romantischen Belcantos begreifen, der sowohl Elemente der älteren Tradition aufgreift, wie diese modifiziert oder durch neue Qualitäten ersetzt. Dabei sind die Grenzen zwischen dem artifiziellen Stil Rossinis und dem romantischen Realismus der Generation Bellinis so fließend, dass jene historische Zäsur, die Celletti zu erkennen meinte, kaum nachvollziehbar ist. Für Manuel García den Jüngeren, den einflussreichsten Gesangslehrer und -theoretiker des 19. Jahrhunderts, bestand kein grundsätzlicher Unterschied zwischen der Kunst Rossinis und der seiner Nachfolger. Im zweiten Teil seines epochalen Lehrwerks Traité complet de l’art du chant (Paris 1847) veranschaulicht García die Gebote des stilistisch angemessenen Vortrags ebenso 39
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an Beispielen aus Werken Rossinis wie aus solchen Bellinis, Donizettis oder Meyerbeers, bezeichnenderweise aber auch an Ausschnitten aus dem älteren Repertoire von Georg Friedrich Händel über Christoph Willibald Gluck und Wolfgang Amadeus Mozart bis zu Domenico Cimarosa und Niccolò Antonio Zingarelli, das nach den gesangsästhetischen Geboten der eigenen Zeit aufgeführt wurde. Garcías Traité und viele andere Gesangslehrwerke der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geben wichtige Aufschlüsse über den eminent hohen Standard des Singens dieser Zeit. Technische Schwierigkeiten wie die Ausführung von chromatischen Läufen, Dreiklangsarpeggien oder rasend schnellen Koloraturen mussten große Sänger ebenso meistern wie das Spiel mit dynamischen Werten und Klangfarben der Stimme, Staccatopassagen mussten ebenso präzise ausgeführt wie Legatobögen auf frei fließendem Atem gespannt werden, die Kunst des Portamento war so wichtig wie die Fähigkeit, Worte und Töne deutlich und differenziert miteinander zu verbinden. Auf diese Künste konnte und wollte auch Bellini nicht verzichten, wenngleich er in einem Werk wie La straniera (1829) die Koloraturen zugunsten eines überwiegend syllabischen Gesangs auf ein Mindestmaß reduzierte. In den folgenden Werken hat er dem Zauber der Melismen zwar wieder ein größeres Recht zugestanden, den Koloraturen aber dennoch deutlich weniger Raum gegeben als Rossini es tat. Will man jedoch verstehen, in welcher Hinsicht sich der Gesangsstil der jungen Romantiker von dem ihres großen Vorgängers grundlegend unterscheidet, muss man einen genauen Blick in die Noten werfen. Bellinis Partituren enthalten, wie die seiner Zeitgenossen, nur vergleichsweise wenige Vortragsanweisungen, denn die meisten Aspekte des Vortrags waren professionellen Musikern so vertraut, dass man sie durch ausdrückliche Hinweise nicht eigens anzeigen musste. Umso auffälliger sind daher Bellinis explizite Angaben, denn sie verweisen auf Ausdrucksqualitäten, die neu und daher nicht selbstverständlich waren. Immer wieder findet sich bei ihm die Anweisung »con forza«, manchmal auch »con gran forza« oder gar »con tutta la forza« (mit großer oder auch aller Kraft), oft im Zusammenhang mit Koloraturpassagen, die nicht mit spielerischer Eleganz wie meist bei Rossini, sondern mit leidenschaftlichem Impetus zu gestalten sind. Ein besonders heftiger Ausbruch Alaides, der Titelheldin in La straniera, ist »nell’ultima disperazione« (in letzter Verzweiflung) zu singen. In diesen Momenten nähert der Gesang sich dem Aufschrei, und in einigen emotionalen Grenzsituationen verlangt Bellini von seinen Sängern sogar ausdrücklich, sie sollten »con grido« (mit einem Schrei) singen. Vor allem die emotionale Aufladung des Gesangs, die Bellini mit einer Anweisung wie »in modo lacerante« (auf erschütternde Weise) fordert, lässt Imogenes »Oh, sole! ti vela« in Il pirata über den Charakter der üblichen Cabaletta einer großen Aria finale hinauswachsen und zum Abschluss einer aufwühlenden Wahnsinnszene werden – die Entgrenzung der Figur muss in der Stimme hörbar, der Wahn muss Klang werden. T HOM AS SEEDOR F
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La sonnambula, als Opera semiseria – sieht man von Bellinis Erstling, der Studienabschlussarbeit Adelson e Salvini ab – ein Sonderfall im Schaffen des Komponisten, stellt auch im Hinblick auf die expliziten Vortragsanweisungen ein Ausnahmewerk dar. Hier dominieren die leisen Töne, Verzweiflung und Entsetzen dringen nicht explosiv nach außen, sondern richten sich eher nach innen. Teresa und der Chor tragen im ersten Akt die Geschichte von dem »tremendo fantasma«, dem schauerlichen Gespenst, das sich später als nachtwandelnde Amina erweisen soll, »sottovoce« und »con gran mistero« vor – mit verhaltener Stimme und geheimnisvoll; der Anblick Aminas, die in Lebensgefahr auf dem Steg schlafwandelt, entlockt den fassungslosen Zuschauern im zweiten Akt einen erstickten Schreckensschrei (»soffocato grido di terrore«). Nicht der geringste Hinweis auf den stimmlichen Vortrag findet sich dagegen für die beiden Nachtwandelszenen in Aminas Part selbst. Im ersten Akt notiert Bellini »sogna il momento della cerimonia«: Amina träumt von der bevorstehenden Hochzeitszeremonie – sonst nichts. Die Formulierung enthält freilich einen impliziten Hinweis. Amina »träumt«, und diesen Zustand galt – und gilt – es zu vermitteln, d.h. stimmlich-klanglich zu beglaubigen. Der Sängerin, für die er die Partie der Amina komponiert hatte, musste Bellini diese Aufforderung freilich nicht ausdrücklich in die Noten schreiben. Giuditta Pasta hatte bereits die ursprünglich für die französische Sopranistin Henriette Méric-Lalande komponierte Partie der Imogene in Il pirata gesungen, als Bellini mit La sonnambula die erste Oper eigens für sie komponierte; es sollten noch zwei weitere folgen: Norma (1831) und Beatrice di Tenda (1833). Die Sängerin hatte bereits 1816 ihr Debüt gegeben, seit den frühen 1820er-Jahren feierte sie Triumphe auf den Bühnen Europas. Als sie mit Bellini zusammentraf, war sie auf der Höhe ihres Ruhmes, umjubelt als »diva del mondo« und gepriesen als »attrice cantante«, als Singschauspielerin, die ihre Gesangskunst mit der Kunst der Darstellung in einer für die Zeitgenossen exzeptionellen Weise zu verbinden wusste. »Sie spielt die Rolle nicht – sie ist diese Person, sieht aus wie sie, atmet wie sie«, schwärmte 1826 ein Kritiker der englischen Zeitschrift The Harmonicon. Allein das Nebeneinander zweier so unterschiedlicher Partien wie Amina und Norma, die Bellini innerhalb nur eines Jahres für die Pasta schuf, ist ein Hinweis auf das enorme Ausdrucksspektrum, über das die Sängerin verfügte. Eine »attrice cantante« wie sie, die nicht zuletzt dafür gerühmt wurde, dass sie über eine geradezu unendliche Palette an Klangfarben und -schattierungen verfügte, wusste von selbst, dass in den beiden Nachtwandelszenen eine somnambule Tongebung gefragt ist, ein Stimmklang, der sinnlich deutlich werden lässt, dass Amina sich in einer anderen Welt bewegt. Standardisierte Vortragsbezeichnungen wie »mezza voce« oder »misterioso« würden nur höchst unvollkommen ausdrücken, was hier eigentlich verlangt wird. Auch die klangliche Umsetzung des Erwachens Aminas legt Bellini voll und ganz in die Hand der verständigen 41
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Sängerin, die für die Emphase des überschwänglichen Schlussgesangs »Ah! non giunge« eine Wach-Stimme aufbieten muss – Bellinis Musik mit ihren federnden Rhythmen und grandiosen Exaltationen suggeriert genau dies. Das enorme Spektrum, das eine Gesangsdarstellerin als Amina aufzubieten hat, benannte schon Bellinis Librettist Felice Romani. Die Sängerin »sollte den Ruf der Freude, den Schrei des Schmerzes beherrschen, den Ton der Klage wie für ein Gebet; [...] es wäre noch wünschenswert, dass ihr Gesang einfach ist und sie gleichzeitig die Koloratur beherrscht, dass er spontan und im geeigneten Moment verhalten ist, perfekt, ohne das Studium hören zu lassen. So wurde diese Rolle durch den poetischen Intellekt Bellinis geschaffen, so wurde sie von Giuditta Pasta gehört.« Die Zusammenarbeit zwischen Bellini und der Pasta war von jenem symbiotischen Miteinander geprägt, das für das Verhältnis zwischen Autoren und Ausführenden, d.h. vor allem zwischen dem Komponisten und dem ihm eng verbundenen Librettisten auf der einen und den Sängerinnen und Sängern auf der anderen Seite, seit den Anfängen der Gattung Oper grundlegend war. Die musikalisch-dramatischen Ideen der Autoren und die sängerisch-darstellerische Physiognomie der Ausführenden, die eine neue Oper aus der Taufe zu heben hatten, sollten und mussten zueinander passen. Es war Teil des Opernmetiers, Text und Musik so zu gestalten, dass sie die Möglichkeiten eines Sängerdarstellers ideal zur Geltung gelangen ließen, mit dem doppelten Gewinn, dass der ausführende Künstler, der sich optimal entfalten konnte, auch die Musik, die er sang, in bestmöglicher Weise zum Klingen brachte. Bellini hatte die Prinzipien und künstlerischen Möglichkeiten eines engen Zusammenwirkens mit Sängern früh kennengelernt. Während der Arbeit an Il pirata, dem Werk, mit dem ihm 1827 an der Mailänder Scala der Durchbruch als Opernkomponist gelang, teilte er sich mit dem Sänger der Titelpartie sogar eine Wohnung. Es war der Tenor Giovanni Battista Rubini, den Bellini bereits aus der Arbeit an der vorangegangenen Oper Bianca e Fernando kannte und überaus schätzte. Symbiotisch war die gemeinsame Arbeit an Il pirata auch deshalb, weil beide Seiten am kreativen Prozess beteiligt waren und voneinander profitierten: Bellini ließ sich von der eminenten Gesangskunst Rubinis inspirieren, probierte das Erdachte mit dem Sänger aus, korrigierte oder verwarf, was sich als nicht passend erwies, er wirkte aber auch auf Rubini ein, indem er ihn auf die neue Ästhetik seiner Oper einschwor und damit dessen künstlerisches Potenzial erweiterte. Im Gegensatz zur Pasta war Rubini nach der übereinstimmenden Meinung seiner Zeitgenossen kein begnadeter Schauspieler. Für ihn war der Gesang das Hauptmedium der Darstellung, das aber auf eine Weise, die als einzigartig galt. Die Partituren, die für Rubini entstanden, sind allerdings kaum mehr als ein blasser Schatten dessen, was das Wesen seiner Kunst ausmachte. »Wenn man die für ihn geschriebenen Rollen nicht von ihm gehört hat, weiß man nicht, bis zu welchem Grade des Entzückens Bellini’sche Musik ein PubliT HOM AS SEEDOR F
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cum hinzureißen vermochte«, gibt der Komponist Ferdinand Hiller in seinen Lebenserinnerungen zu bedenken. »Die außerordentlichste Stimme und die phänomenalste Ausbildung! Voll und doch ganz leise verschleiert erklangen die Brusttöne, überwältigend aber die Kopfstimme, die er bis zum zweigestrichenen f des Soprans mit eben so viel Leichtigkeit als Kraft zu benutzen verstand. Schon der Wohlklang dieses Organs, verbunden mit der unerschütterlichsten Reinheit der Intonation, machte die Herzen erbeben – hinzu kam eine Fertigkeit, eine Agilität gleich der des bedeutendsten instrumentalen Virtuosen –, die deutlichste Aussprache und über alledem die brennendste Ausdrucksfähigkeit für jede Schattierung der Empfindung liebender Herzen. Süßes Flüstern, treue Hingabe, drohende und verzweifelte Eifersucht, Qual der Verlassenheit, Erzittern der Hoffnung, beseligendes Glück, alle diese ewigen Motive der Lyrik in Wort und Musik, ich glaube, er hätte sie zur Geltung bringen können durch den Vortrag einer Tonleiter!« Rubinis Stimme war ungewöhnlich hoch gelagert und Bellini ließ ihn als Elvino in stratosphärische Höhen aufsteigen, in die ihm offenkundig kein zeitgenössischer Kollege zu folgen in der Lage war – und in die auch heute kein Tenor mehr aufzusteigen wagt. Schon die frühen Notendrucke und Abschriften von La sonnambula transponieren Elvinos Musik – und damit auch Teile der Amina-Partie – in tiefere Lagen. Für eine Aufführung des Werks am Pariser Théâtre-Italien im Oktober 1834, dreieinhalb Jahre nach der Uraufführung, bat Rubini den Komponisten sogar selbst um eine Modifikation um einen Halbton, da seine Stimme nicht mehr die Elastizität seiner Glanzzeit besaß. Bellini stimmte zu und sah sich durch das Ergebnis für seine Konzession belohnt: Rubini hätte nicht intensiver und ausdrucksvoller singen können, als er es an diesem Abend getan habe, ließ er seinen Freund Florimo brieflich wissen. Auch in diesem Fall galt der schon erwähnte Grundsatz der schöpferischen Symbiose: Kann der Sänger sich optimal entfalten, gelangt auch die Musik in bestmöglicher Weise zum Klingen. Die Stimmen Pastas und Rubinis sind verstummt und es gibt kein Mittel, sie wieder auferstehen zu lassen. Die Idealität ihres Gesangs aber ist in Bellinis Partitur der Sonnambula eingeflossen und hat ein Werk geprägt, das auch abgelöst von seinen ursprünglichen Schöpfern einen Siegeszug über die Bühnen Europas und schließlich der ganzen Welt antreten konnte.
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Thomas Mann
FÜLLE DES WOHLLAUTS
Welche Errungenschaft und Neueinführung des Hauses »Berghof« war es, die unsern langjährigen Freund vom Kartentick erlöste und ihn einer anderen, edleren, wenn auch im Grunde nicht weniger seltsamen Leidenschaft in die Arme führte? Es war ein strömendes Füllhorn heiteren und seelenschweren Genusses. Es war ein Musikapparat. Es war ein Grammophon. Ein Waldhorn vollführte mit schöner Vorsicht Variationen über ein Volkslied. Eine Sopranistin schmetterte, stakkierte, und trillerte eine Arie aus La traviata mit der lieblichsten Kühle und Genauigkeit. Der Geist eines Violinisten von Weltruf spielte, wie hinter Schleiern, zu einer Klavierbegleitung, die trocken klang wie Spinett, eine Romanze von Rubinstein. Aus der sacht kochenden Wundertruhe drangen Glockenklänge, Harfenglissandos, Trompetengeschmetter und Trommelwirbel. Schließlich wurden Tanzplatten eingelegt. Sogar von dem neuen Import war schon ein und das andere Beispiel vorhanden, im exotischen Hafenkneipengeschmack, der Tango, berufen, aus dem Wiener Walzer einen Großvatertanz zu machen. Zwei Paare des modischen Schrittes mächtig, zeigten sich darin auf dem Teppich. Behrens hatte sich zurückgezogen, nachdem er die Vermahnung erteilt, jede Nadel nur einmal zu benutzen und die Platten »ganz ähnlich wie rohe Eier« zu behandeln. Hans Castorp bediente den Apparat. T HOM AS M A N N
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Spät, nach der Abendgeselligkeit, nach Abzug der Menge, war seine beste Zeit. Dann blieb er im Salon oder kehrte heimlich dorthin zurück und musizierte allein bis tief in die Nacht. Die Ruhe des Hauses damit zu stören, brauchte er weniger zu fürchten, als er anfangs geglaubt hatte tun zu müssen, denn die Tragkraft seiner Geistermusik hatte sich ihm als von geringer Reichweite erwiesen: so Staunenswertes die Schwingungen nahe ihrem Ursprung bewirkten, so bald ermatteten sie, schwach und scheinmächtig wie alles Geisterhafte, ferner von ihm. Hans Castorp war allein mit den Wundern der Truhe in seinen vier Wänden, – mit den blühenden Leistungen dieses gestutzten kleinen Sarges aus Geigenholz, dieses mattschwarzen Tempelchens, vor dessen offener Flügeltür er im Sessel saß, die Hände gefaltet, den Kopf auf der Schulter, den Mund geöffnet, und sich von Wohllaut überströmen ließ. Die Sänger und Sängerinnen, die er hörte, er sah sie nicht, ihre Menschlichkeit weilte in Amerika, in Mailand, in Wien, in Sankt Petersburg – sie mochte dort immerhin weilen, denn was er von ihnen hatte, war ihr Bestes, war ihre Stimme, und er schätzte diese Reinigung oder Abstraktion, die sinnlich genug blieb, um ihm, unter Ausschaltung aller Nachteile zu großer persönlicher Nähe, und namentlich soweit es sich um Landsleute, um Deutsche handelte, eine gute menschliche Kontrolle zu gestatten. Hans Castorps Gedanken oder ahndevolle Halbgedanken gingen hoch, während er in Nacht und Einsamkeit vor seinem gestutzten Musiksarge saß, – sie gingen höher, als sein Verstand reichte, es waren alchimistisch gesteigerte Gedanken. Oh, er war mächtig, dieser Seelenzauber! Wir alle waren seine Söhne, und Mächtiges konnten wir ausrichten auf Erden, indem wir ihm dienten. Man brauchte nicht mehr Genie, nur viel mehr Talent als der Autor des Lindebaumliedes, um als Seelenzauberkünstler dem Liede Riesenmaße zu geben und die Welt damit zu unterwerfen. Man mochte wahrscheinlich sogar Reiche darauf gründen, irdisch-allzu-irdische Reiche, sehr derb und fortschrittsfroh und eigentlich gar nicht heimwehkrank, – in welchen das Lied zur elektrischen Grammophonmusik verdarb.
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F Ü LLE DE S WOHLLAU TS
Sergio Morabito
KONTEXTE VON BELLINIS »SONNAMBULA« Die eigentliche Vorlage des Librettos Es ist kein Geheimnis, dass der Librettist Felice Romani bei der Gestaltung des Textes zu Vincenzo Bellinis La sonnambula nach Vorlagen gearbeitet hat. Bislang galt ein Ballettszenarium Eugène Scribes als einzige direkte Quelle. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, griff Romani jedoch auf eine zeitnah entstandene Schauspielbearbeitung des Balletts zurück und ließ auch klassische Vorbilder in seinen Text einfließen. Am 19. September 1827 wurde an der Pariser Opéra das Ballett La Somnambule au L’Arrivée d’un nouveau Seigneur (Die Nachtwandlerin oder Die Ankunft eines neuen Herren) uraufgeführt. Die Autoren waren Eugène Scribe (Szenarium), Jean-Pierre Aumer (Mitarbeit am Szenarium und Choreographie) und Ferdinand Hérold (Musik). Bereits wenige Wochen später, am 15. Oktober, folgte auf der Bühne des Théâtre des Variétés die Uraufführung der Comédie-Vaudeville La Villageoise somnambule au Les deux fiancées (Das schlafwandelnde Dorfmädchen oder Die zwei Bräute [auch: Die beiden VerlobSERGIO MOR A BITO
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ten]) von Armand d’Artois [auch Dartois] und Henri Dupin. Diese »Komödie mit Gesang« ist eine Bearbeitung des Balletts, die ihrer Vorlage weitgehend verpflichtet bleibt. Zwar ist der Name Eugène Scribes im Druck der Komödie nicht erwähnt, dennoch ist von keinem Fremdplagiat auszugehen, da Komödie wie Ballettszenarium noch im gemeinsamen Uraufführungsjahr 1827 im selben Verlag erschienen sind ( J.-N. Barba, Éditeur). Zudem gehörte einer ihrer beiden Verfasser, Henri Dupin, zu Scribes engstem Mitarbeiterkreis.1 Die Annahme wird kaum fehlgehen, dass diese Bearbeitung eine kommerzielle Zweitauswertung des großen Uraufführungserfolgs des Balletts sichern sollte. Die Bellini-Forschung hat Felice Romanis Libretto zur Nachtwandlerin als eine direkte Bearbeitung des Ballettszenariums von Eugène Scribe betrachtet. Doch ein Teil der Unterschiede des Librettos zum Ballett, die Romani zugeschrieben wurden, sind Übernahmen aus der Comédie-Vaudeville, wie ein Vergleich der Werke zeigt. So etwa die Ausarbeitung des im Ballett nur angedeuteten Verhältnisses der Gastwirtin zum Notar durch die Abspaltung einer neuen Figur: ihres naiven, leicht tölpelhaften Verehrers und Eheanwärters, des späteren Alessio der Oper.2 Auch das Gespenster-Motiv, mithin
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Wiederholt erscheint sein Name unter den 70, in Scribes Œuvres complètes namentlich erwähnten Ko-Autoren, und auf Roubauds Karikatur von Scribe als »Fabricant dramatique à la vapeur« am Steuer einer Dampflokomotive (aus dem Jahr 1840) findet sich Dupin als einer von fünf »Chauffeurs de la mécanique« (Heizern) in deren Anhänger sitzend. 2 In der Komödie trägt dieser den Namen Le Roux, welcher auch in Bellinis Kompositionsskizzen noch auftaucht, auf den sich die Herausgeber der Kritischen Neuausgabe der Sonnambula-Partitur (Mailand, 2009) in Unkenntnis der Vorlage freilich keinen Reim machen können (» ... un tale ›Le Roux‹ ... «, a.a.O., S. XXIV). 1
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die Vorlage zu Bellinis berühmten »Coro del fantasma«, ebenso wie die Zuschreibung des Ringes, den Elvino Amina am Vorabend der Trauung ansteckt, an seine Mutter, oder auch die morsche Planke, über die die Nachtwandlerin balanciert3, sind nicht »Mehl aus dem Sack des Dichters [Romani]«4, sondern Übernahmen aus der Comédie-Vaudeville. Der Komponist ist gleichfalls einer – diesmal rein musikalischen – Anregung der Komödie gefolgt. Dort heißt es nämlich bei Erscheinen der Nachtwandlerin im Zimmer des Fremden: »Das Orchester spielt gedämpft das Lied vom Gespenst, das im 1. Akt gesungen wurde.«5 So zitiert auch Bellini an der entsprechenden Stelle (bei den Worten Rodolfos: »Sollte es sich um das nächtliche Gespenst handeln?«) die Musik, die er zuvor den warnenden Worten Teresas unterlegt hatte. Dass dies bislang nicht bemerkt wurde, ist umso erstaunlicher, als bereits eines der wenigen Briefzeugnisse Bellinis aus der Entstehungszeit der Oper eigentlich zweifelsfrei auf die Komödie hinweist. In seiner Nachricht vom 3. Jänner 1831, dass er und Romani die Arbeit an ihrer Adaption von Hugos Hernani abgebrochen hätten, um Auseinandersetzungen mit der Zensur aus dem Wege zu gehen, führt Bellini weiter aus: »... stattdessen schreibt er [Romani] jetzt La sonnambula ossia I due fidanzati svizzeri, und so habe ich erst gestern mit der Introduktion beginnen können: Ihr seht, auch zum Schreiben dieser Oper bleibt mir wieder wenig Zeit... «6 Die Ableitung des von Bellini angegebenen (und von den Autoren später verworfenen) Untertitels von dem der Komödie (Les deux fiancées) ist deutlich. Allerdings sind zwei Abweichungen zwischen dem Nebentitel der Komödie und dem der geplanten Oper zu verzeichnen. Erstens: Die Entscheidung, die Handlung der Vorlage von der Camargue in die Schweiz zu verlegen, war offenbar bereits getroffen. Und zweitens: Bellini transformiert Die beiden [weiblichen!] Verlobten der Vorlage in ein Paar: Die beiden Schweizer Verlobten. Entweder ist ihm hier ein Lapsus unterlaufen (er mag den Titel von Romanis Vorlagentext nur aus einer mündlichen Äußerung desselben erfahren und missverstanden haben7), oder aber die beiden hatten die Umdeutung des Untertitels bewusst vollzogen, um mit ihm nun nicht mehr auf die beiden um die Gunst Elvinos »konkurrierenden« Bräute Amina und Lisa zu verweisen, sondern auf das zentrale Liebespaar Amina und Elvino, und damit auf ihre beiden Protagonisten Giuditta Pasta und Giovanni Battista Rubini, denen die neue Oper »auf den Leib zu schreiben« war. Im Ballett ist es eine plötzliche Richtungsänderung der Schlafwandelnden, die um ihr Leben fürchten lässt; allerdings lässt erst Romani diese Planke brechen und hinter (und statt) Amina in das Mühlrad stürzen. 4 »farina dal sacco del poeta«, a.a.O., S. XXII 5 »L’orchestre joue en sourdine l’air du revenant, chanté au premier acte...«, übersetzt nach La Villageoise somnambule ou Les deux fiancées, Comédie-Vaudeville en trois actes, par MM. Dartois et Dupin, Paris 1827, S. XXXI 6 a.a.O., S. XVII 7 Zumal das Quiproquo der beiden Bräute auch im Libretto eine große Rolle spielt. Die weiter unten dargestellte Verdeutlichung der früheren Verbindung Elvinos mit Lisa sowie die explizite Verwechslung der zu Beginn der Handlung von Elvino verlassenen Lisa mit seiner Braut durch Rodolfo (RODOLFO: »E la sposa? (accenando Lisa) è quella? TUTTI (additando Amina) È questa.«; RODOLFO: »Und die Braut? (auf Lisa weisend) Ist sie es? / ALLE: (auf Amina deutend) Diese ist es!« I, 6) sind Zugaben Romanis. 3
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Dass dieser Fingerzeig Bellinis unbeachtet blieb, liegt sicherlich darin begründet, dass in der Comédie nicht nur der Plot des Balletts weitgehend identisch wiederholt ist, sondern darüber hinaus viele pantomimisch-gestische Äußerungen der Tänzer von Scribe bereits in direkter oder indirekter Rede formuliert waren und von den Autoren der Comédie lediglich ausgeschrieben worden sind. Aufgrund all dieser wörtlichen Anklänge und Übernahmen sowie der relativen zeitlichen Nähe zur Entstehung der Oper schien das Ballett als die unmittelbare Quelle Romanis zweifelsfrei festzustehen und jede Suche nach einer weiteren literarischen Vermittlungsinstanz überflüssig. Auch eine weitere wichtige – von der Sekundärliteratur bislang ignorierte – Setzung Romanis knüpft an eine Ausarbeitung des Komödientextes an: dass nämlich Elvino vor seiner Verlobung mit Amina mit Lisa liiert war. Diese Zuspitzung führte ja auch zum neuen Untertitel der Komödie. Bei Scribe beruht die Eifersucht der (übrigens verwitweten) Wirtin, Betreiberin des Gasthauses »Zu den galanten Banden«8, auf einer offenbar einseitigen Verliebtheit. Erst in der Komödie von d’Artois/Dupin muss es eine wechselseitige gewesen sein. Nachdem Edmon (in der Oper Elvino) aufgrund des scheinbaren Treuebruchs der Thérèse (=Amina) zu ihr zurückgekehrt ist und sie heiraten will, erinnert ihn die Wirtin, bereits im Hochzeitsstaat der Braut: »Ihrer treuen Freundin hatten Sie einst Liebe fürs ganze Leben geschworen, und die, die diesen Schwur empfing, war ich.«9 In Romanis Libretto bittet in der analogen Situation Elvino Lisa um Verzeihung für seine Untreue: »[...] Lass uns / das schöne Band von früher wieder knüpfen: Verzeih / einem von erlogener Tugend verführten Herzen, / es gelöst zu haben.«10 Romanis Eigenständigkeit beweist sich darin, dass Lisas Geschichte bei ihm kein Ende findet. Ihre Hochzeit entfällt, nicht nur die mit dem begehrten Elvino, sondern auch die mit Alessio. Bei Scribe hingegen wird sie vom Grafen an den Notar verkuppelt, bei d’Artois/Dupin gelangt der arglose Le Roux ganz unverhofft doch noch ans Ziel seiner Wünsche. Ohne Kenntnis der Vorlage der Comédie bleibt auch das abschätzige à part der Müllerin Teresa in der Oper über Lisas Vorbehalte gegen eine Heirat mit Alessio – »Seht doch, welche Heuchelei!«11 – einigermaßen unverständlich: Dort ist diese Figur als »falsche Prüde« durchgeführt, die nach außen strenge moralische Maßstäbe anlegt, während sie sowohl ihren Heiratswunsch (mit Elvino) als auch ihre erotischen Eskapaden (mit dem Grafen) verheimlicht. Nur zwei Details können belegen, dass Romani bei seiner Bearbeitung der Comédie tatsächlich auch das Ballettszenarium vorgelegen haben muss:
Aux nœds galants »A votre constante amie / Vous aviez juré dejà / Amour pour toute la vie, / C’est moi qui t’nais c’serment-là.«, a.a.O., S. 46 10 » ... Si rinnovi / II bel nodo di pria: l’averlo sciolto / Perdona a un cor sedotto / Da mentita virtù.« (II, 6) 11 »(Vedi l’ipocrisia!)«, I, 3; es entspricht in der Komödie dem à part der Adoptivmutter, »Devant tout l’monde elle a d’la vertu!« (»Vor den Leuten ist sie tugendhaft!«), a.a.O., S. 20 8
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Das Bittgebet der Zeugen im Augenblick der höchsten Gefahr, in der die Nachtwandlerin schwebt, ist in der Comédie anders als im Ballettszenarium nicht zu finden, und auch der Text zu Lisas erster Arie scheint mir aus einer nur im Ballett expliziten Formulierung abgeleitet zu sein.12 Das Vorwort zur kritischen Neuausgabe der Partitur wäre hinsichtlich der Vorlage des Librettos also sachlich zu revidieren. Die Ausführungen der Herausgeber über den stilistischen Registerwechsel, den Romani vollzog, behalten freilich ihre Gültigkeit, ja, gewinnen sogar noch an Triftigkeit, wenn man die umgangssprachlichen Einfärbungen betrachtet, welche die Autoren der Comédie in den Dialogen vornahmen. Romani wählte hingegen ein sprachlich gehobenes Register, das an die große literarische Tradition der italienischen Pastoral-Komödie anknüpft. Dass seine elegante Versifikation auch Vorlagen aus der französischen Klassik nicht verschmäht hat, belegt das hier erstmals identifizierte Urbild des Eifersuchtsduetts von Elvino und Amina aus dem 1. Akt der Oper (»Son geloso del zeffiro errante«13), dessen Diktion in Pierre Corneilles (in Zusammenarbeit mit Molière, Quinault und Lully verfasster) Tragédie-ballet Psyché (1671) vorgeformt ist: PSYCHE: Kann man auf Zärtlichkeiten zu Blutsverwandten eifersüchtig sein? 14 AMOR: Ich bin es, meine Psyche, auf die ganze Natur. / Die Strahlen der Sonne küssen Euch zu oft, / Eure Haare dulden die Liebkosungen des Windes zu sehr, / kaum schmeichelt er ihnen, begehre ich auf; / selbst die Luft, die Ihr atmet, / strömt mit zu viel Lust durch Euern Mund, / Euer Kleid berührt Euch zu nah, / und sobald Ihr seufzt, / erschrickt ein Etwas in mir bei dem Verdacht, / dass sich manche eurer Seufzer verirren.15
Die Rückkehr eines alten Herren Es ist die Gestalt des – bereits im Nebentitel des Balletts angekündigten – »neuen Herren«, die von den Opernmachern der umfassendsten und folgenträchtigsten Bearbeitung unterzogen wurde. Anders als M. Colonel de
Die »grandes protestations d’amitié« (I, 2), die »großen Freundschaftsbekundungen«, die ihr nach Unterzeichnung des Ehevertrags bei der Beglückwünschung der verhassten Rivalin abverlangt werden. 13 AMINA: Bist du etwa eifersüchtig?... / ELVINO: Ach! Ja, ich bin’s – / AMINA: Worauf? ELVINO: Auf alles. [...] Ich bin eifersüchtig auf das wehende Lüftchen, / das mit deinem Haar, deinem Schleier spielt: / selbst auf die Sonne, die dich vom Himmel herab betrachtet, / und auf das Bächlein, das dein Gesicht dir spiegelt! (I, 7) 14 Auch Elvinos Eifersucht wird durch die Innigkeit im Umgang Aminas mit Rodolfo ausgelöst, von dem wir freilich schon ahnen, dass er ihr Vater sein könnte. 15 Übersetzt nach: Pierre Corneille, Œuvres complètes, Paris 1970, S. 766 f. PSYCHÉ: Des tendresses du sang peut-on être jaloux? / L’AMOUR: Je le suis, ma Psyché, de toute la nature. / Les rayons du soleil vous baisent trop souvent,/ Vos cheveux souffrent trop les caresses du vent, / Dès qu’il les flatte, j’en murmure; / L’air même que vous respirez / Avec trop de plaisir passe par votre bouche, / Votre habit de trop près vous touche, / Et sitôt que vous soupirez, / Je ne sais quoi qui m’effarouche / Craint parmi vos soupirs des soupirs égarés. (III, 3, vv. 1188-1198) 12
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Saint-Rambert (welcher als M. Colonel de Rosambert in der Komödie praktisch unverändert geblieben war) ist Rodolfo kein junger ranghoher Offizier und Regimentskommandant mehr, sondern ein Graf, und nicht nur das: Er ist der verschollene, selbst schon in die Jahre gekommene Sohn des alten und – wie man aus Teresas Munde erfährt – vor vier Jahren verstorbenen Feudalherren des Dorfes. Der Nebentitel des Balletts Die Ankunft eines neuen Herren wäre für die Oper also zu transformieren in Die Rückkehr eines alten Herren. Dieses Motiv stellt die Verbindung her zu einem damals aktuellen gesellschaftlichen Problem: nämlich die von der Restaurationsepoche ermöglichte Rückkehr der von der französischen Revolution enteigneten und vertriebenen adligen Grundeigentümer. Seine prominenteste Gestaltung erfuhr dieses Motiv in Scribe/Boieldieus Opéra comique La Dame blanche (Die weiße Dame) von 1825: Die Geschichte eines gleichfalls inkognito zurückkehrenden Erben eines vertriebenen Adelsgeschlechts, der durch den Beistand von seiner Familie ergebenen Untertanen nicht nur das Stammschloss vor dem drohenden Verkauf retten kann, sondern am Ende auch wieder in Amt und Würden eingesetzt wird.16 Die weiße Dame gilt als eine ideologische Selbstbestätigung der Verfechter des Gottesgnadentums des französischen Königshauses der Bourbonen, der sogenannten Legitimisten. In Romanis und Bellinis Nachtwandlerin wird also nur auf den ersten Blick ein in die Zeit- und Harmlosigkeit entrücktes, restauratives Bild der Schweizer Bergbauernschaft entworfen. Die zeitgeschichtlichen Verwerfungen ragen in sie hinein. Denn auch die Gründe des eine Generation zurückliegenden plötzlichen Verschwindens Rodolfos werden angedeutet: die Jugendliebe zu einem Mädchen aus dem Dorf, an deren Züge ihn die junge Braut Amina gemahnt. Alles deutet darauf hin, was in der Oper letztlich unausgesprochen bleibt, in Librettoentwürfen Romanis aber ausformuliert ist: Der Spross der Adelsfamilie hat Schande über das Dorf gebracht, indem er ein junges Mädchen geschwängert und dann verlassen hat bzw. von seiner Familie zur »Glättung der Wogen« ins Ausland verschickt wurde. Seine Geliebte brachte das Kind zur Welt, ist dann aber gestorben, »vor Schande und Schmerz«17, wie es heißt. Die verklausulierte Formulierung legt nahe, dass sie Selbstmord begangen hat. Übrigens tritt auch hier das Motiv der Rückkehr der alten Herrschaft in Verbindung mit einer vermeintlichen Gespenstererscheinung auf: Anna, eine bürgerliche Waise und mit dem Erben in früher Kindheit gemeinsam erzogene Ziehtochter, trickst potenzielle Käufer des Stammschlosses durch ihre verkleideten Auftritte als Geist der Ahnfrau aus. In der humoristisch getönten Gespenster-Ballade mit Chor »D’ici voyez ce beau domaine« (Nr. 3) hat der Musikwissenschaftler Francesco Degrada das mögliche Vorbild des »Coro del fantasma« vermutet. Auch wenn sie als direktes Vorbild nun ausscheidet, darf ihre Kenntnis durch Romani sehr wohl vorausgesetzt werden. Scribe selbst hatte die Fehlinterpretation einer Schlafwandelnden als Gespenst bereits 1819 in seiner Comédie-Vaudeville La Somnambule eingeführt. Weitere Elemente aus deren Handlung – das Schlafwandeln einer Braut am Vorabend ihrer Hochzeit, die träumende Vergegenwärtigung einer Tanzszene, eine Ringübergabe im Schlaf, das Zitat des Liedes »Dormez donc, mes chères amours«, der Verlust eines Brusttuches, der Verdacht des Ehebruchs, die Erweckung der Nachtwandlerin als glücklich verheirateter Braut, ihre Angst, aus diesem vermeintlichen Traum geweckt zu werden (»Ah, ne m’éveillez pas!«) – hat Scribe im Ballett in einen neuen Zusammenhang gesetzt. 17 »è mori qual fior reciso / Di vergogna e di dolor«, a.a.O., S. XXIII 16
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Aus Romanis Entwürfen geht hervor, dass auch Amina in ihrer vergleichbaren Situation mehr als nur mit dem Gedanken daran spielt: »Ach, mir bleibt einzig / diese unglücklichen Tage abzubrechen... / Lasst mich sterben...«.18 War es dieser erotische Übergriff des jungen Grafen und seine Folgen, die den Anlass zu einem Aufstand der Bauern gegen ihren Zwingherren gaben? Keine ganz unmögliche Lesart, wenn wir etwa an Scribe/Aubers fast zeitgleiche Grand opéra La Muette de Portici (Die Stumme von Portici, 1828) denken, in der die sexuelle Nötigung eines Fischermädchens durch einen Vertreter des Adels die Revolution provoziert. Aus Romanis Skizzen geht hervor, dass Rodolfo von der Schwangerschaft seiner Geliebten gewusst haben soll. Aber er sei »von den Eltern verbannt worden«.19 Aufgrund der Nostalgie, mit der er sich seiner Heimat und dieser Liebe erinnert, ist man geneigt, ihm diesen mildernden Umstand zuzugestehen. Von eben dieser Nostalgie und ihrer Ähnlichkeit mit der Mutter lässt er sich verführen, mit der eigenen Tochter mehr als nur zu flirten. Alle hier angeführten Zitate sind Romanis Entwurf einer großen Wiedererkennungsszene entnommen, die im zweiten Akt ihre Stelle haben sollte, nach der Arie Elvinos, in der er Amina den Ring seiner Mutter entrissen hat. Dieser Textentwurf potenziert die Zweideutigkeit von Rodolfos Begehren. Bevor er in ihr seine Tochter erkennt, trägt Rodolfo Amina noch an, in ihm »eine bessere Stütze«20 als in ihrem Bräutigam zu finden, nach der Wiedererkennung sagt er über sich: »Er [der Vater] umarmt dich und in dir / glaubt er noch die Mutter zu umarmen.«21 Der Herausgeber der Kritischen Partitur möchten – im Einklang mit der von Romanis späterer Frau Emilia Branca tradierten Erklärung – annehmen, dass es diese vom Vaterschafts-Motiv entwickelte heikle Eigendynamik eines »incesto appena evitato« (»nur knapp vermiedenen Inzests«) war, die Bellini wünschen ließ, es letztlich nicht explizit werden zu lassen. Ich neige eher zur Annahme, dass sich im Verzicht auf das Wiederfinden von Vater und Tochter eine ganz theaterpragmatische Entscheidung ausgewirkt hat. Denn die Ausweitung der Rolle des Offiziers durch Einfügung einer großen Duett-Szene mit der Protagonistin war durch den Wunsch motiviert, eine der Reife, dem Charisma und Format von Filippo Galli entsprechende Partie zu kreieren. Der legendäre Protagonist hatte in zahlreichen RossiniUraufführungen gesungen und war am Uraufführungstheater, dem Teatro Carcano in Mailand als »primo basso assoluto« engagiert. Leider ließen seine ersten Vorstellungen in der Saison deutlich werden, dass sein stimmlicher »Ah! non mi resta / Che codesti troncar giorni infelici... / Mi lasciate morir... «, ebd. »Ei bandito dai parenti«, ebd. 20 »Io t’offro in me, se vuoi, / Un sostegno migliore.«, ebd. 21 »Ei t’abbraccia e in te la madre / Di abbracciar gli sembra ancor... «, ebd. Rodolfos Verhalten erinnert hier an eine Episode aus Casanovas Memoiren, in der er sich in eine ihm unbekannte leibliche Tochter verliebt, allerdings noch vor der geplanten Hochzeit über seine Vaterschaft aufgeklärt wird und nun mit ihr und der Mutter gemeinsam ins Bett steigt, wo er aber anstelle der jungen Frau nur die ältere penetriert. Vgl. Giacomo Casanova, Geschichte meines Lebens Bd. VII, Kap. X, Frankfurt/M. etc., 1966. Ich verdanke den Hinweis Angela Beuerle. 18 19
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Zenit überschritten war, und man entschied, ihn durch Luciano Mariani zu ersetzen, einen vielversprechenden jungen Sänger, der Publikum und Kritik mit Auftritten in kleineren Partien für sich eingenommen hatte. Die Autoren versuchten daraufhin, die Partie der Figur aus den Vorlagen wieder anzunähern: Man nahm von Rodolfos vorgerücktem Alter und expliziter Vaterschaft Abstand, konnte dadurch seinen erotischen Offensiven sowohl Amina als auch Lisa gegenüber wieder mehr Raum geben, und verringerte das Gewicht der Rolle insgesamt, um sie in ein ausgewogenes Verhältnis zu Marianis Entwicklungsstadium zu setzen. Die abgründige Janusköpfigkeit Rodolfos in der definitiven Fassung – seine reflexiv-nostalgische, gereifte Selbstzurücknahme einerseits, seine jugendliche Unbedenklichkeit und sein donjuaneskes Draufgängertum andererseits – ist also ganz wesentlich durch das Schwanken in der Besetzungsfrage verursacht. Ein wunderbares Beispiel dafür, wie Widrigkeiten und Zufälle des Theaterbetriebs und des Inszenierungsprozesses, die die Intention der Autoren scheinbar konterkarieren, der entstandenen Struktur eine faszinierende Mehrdimensionalität verleihen können.
Wolkige Stellen Trotz Streichung der geplanten Anagnorisis von Vater und Tochter ist die Vaterschaft Rodolfos im ersten Akt der Oper so prominent exponiert, dass ihre Auslassung nun wie ein bewusstes und gewolltes Verschweigen wirkt. Das zunächst heterogen wirkende Motiv lässt zugleich die aus den Vorlagen übernommenen Motive in eine veränderte Konstellation treten. Sie werden neu aufgeladen und anders lesbar. Zum einen die Gespenstererscheinung. Auch wenn Romani das Motiv aus der französischen Comédie-Vaudeville entlehnt hat, seine Verse sind durchaus eigenständig. Sie lassen durch lexikalische Besonderheiten aufhorchen. Die Erscheinung des einigermaßen unspezifischen »fantôm blanc« der Komödien-Vorlage wird bei Romani dämonisiert und eindeutig weiblich konnotiert: Erwähnung finden ihre offenen Haare und ihre brennenden Augen, und am Ende ist gar von einer »strige immonda« die Rede: Die »strige« (lat. strix, striga), das ist die Sumpfeule, aber eben auch die Hexe, die hier zudem als »unrein« bezeichnet wird. Die Hexe ist diejenige, die »ihr ungekämmtes offenes Haar im Winde flattern lässt« und in deren Blick sich »ihre eigene, aggressive Sinnlichkeit« darstellt.22 Zudem ist die tabuisierte weibliche Nacktheit der »Nachtfahrenden« genau das, was das Blickverbot motiviert (»selbst die Hunde schlagen die Augen nieder«, »der Himmel behüte Euch davor, sie zu sehen«) und was die Schleier-Metaphorik
vgl. Hans Peter Duerr, Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt 1978, S. 75
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des Chores (das »fallende [!] weiße Laken« und der »dichte Nebel«, in den sie gehüllt ist) ... verschleiern soll!23 Wir sind es gewohnt, Aminas schlafwandelnde nächtliche Ausflüge als Ursache für dieses Gerücht anzusehen. Merkwürdig ist jedoch, dass Amina selbst das Gespenst gesehen haben will. Bedenkt man, dass in autochthonen Kulturen die Geister immer die Toten sind, liegt die Vermutung näher, dass es sich bei der Erscheinung um die Wiedergängerin von Aminas unglücklicher Mutter handelt (»bianco lenzuol cadente« bedeutet auch: »fallendes weißes Leichentuch«). Schließlich lebt die Tochter deren Leben nach: auch Amina wird von einem durch Privilegien oder Vermögen ausgezeichneten Mann, den sie liebt, vor der Hochzeit im Stich gelassen. Zu Beginn der später verworfenen Szene ihrer Identifizierung als Tochter Rodolfos sollte Amina sagen: »Nein, mit diesem Makel [der Untreue] auf der Stirn / kehre ich nicht ins Dorf zurück. Ich will mich verbergen / vor allen Blicken, ich will verlassen sterben / in irgendeiner einsamen Höhle, / in die selbst kein Sonnenstrahl dringt.«24 Dies mag das Schicksal ihrer Mutter gewesen sein. Durch den Selbstmord der Verstoßenen hat die Gemeinschaft Schuld auf sich geladen, und an diese Schuld erinnert die furchteinflößende Erscheinung, der aber so zugleich auch wieder ein (begrenztes) Aufenthaltsrecht im Dorf zugestanden werden kann. Im Duett mit Chor »Nimm: Ich schenke dir den Ring«25 werden von den Verlobten vier Verse gesungen, die in den Entwürfen immer wieder korrigiert worden sind. In ihrer definitiven Fassung lauten sie übersetzt: »Teure(r)! Seit dem Tag / da unsere Herzen ein Gott vereinte, / ist meines bei dir, / deines bei mir geblieben.«26 Man hat mit Befremden angemerkt, dass es sich hierbei um die Metapher für eine körperliche Vereinigung der Liebenden handeln könnte. Diese darf offizieller Moral zufolge erst nach der Hochzeit stattfinden. Deren erzwungene Verzögerung ist nicht nur in den französischen Fassungen, sondern – in abgeschwächter Form – auch in der Oper ein Thema. Das uns biedermeierlich-kitschig erscheinende Küssen des Veilchensträußchens durch Amina beispielsweise ist eine hierdurch erzwungene Übersprungshandlung. Das lebensgefährliche Schreiten der Nachtwandlerin über den morschen Steg stellt eine Unschuldsprobe dar. Ausdrücklich ist von einem »Fehltritt« die Rede, der ihren Sturz ins Mühlrad bewirken würde. Die Tatsache, dass sie unbeschadet wieder den Boden erreicht, soll beweisen, dass sie sich auch im übertragenen Sinne keinen »Fehltritt« hat zu Schulden kommen lassen. Das Gebet der Zeugen, »Göttliche Güte, führe den irrenden Fuß«27, ist Teil War es nicht zuletzt der voyeuristische Reiz der entblößten Arme und Füße einer Tänzerin gewesen, der zum Erfolg des Ballettes beigetragen hatte? 24 »No; con tal macchia in fronte / Non tornerò al villagio. Io vo celarmi / Ad ogni sguardo, io vo morir deserta / In qualche antro romito ove non giunge / Del sole istesso un raggio.« a.a.O., S. XXIII 25 »Prendi: l’anel ti dono« (I, 5) 26 »Caro/a! Dal dì che univa / I nostri cori un Dio, / Con te rimase il mio, / Il tuo con me restò.« (I, 5) 27 »Bontà divina, / Guida l’errante piè.« (II, 9) 23
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des archaischen Zeremoniells eines Gottesgerichts. Das zwar apokryphe, aber mentalitäts- und kunstgeschichtlich wirkungsmächtige Kindheitsevangelium des Jakobus (160 n. Chr.) schildert, dass sich keine Geringere als die schwangere Maria durch das Einnehmen von (vergiftetem) »Bitterwasser« einer solchen Unschuldsprobe unterziehen musste. In Bellinis vorletzter – und letzten mit Felice Romani und Giuditta Pasta gemeinsamen – Oper Beatrice di Tenda (1833) wird die der Untreue verdächtigte Titelheldin ganz ebenso wie Amina einem Gottesgericht ausgesetzt. Der physische Zweikampf der Beatrice mit ihren Folterknechten, die ihr das Geständnis eines Ehebruchs abpressen wollen, folgt der gleichen archaischen Logik wie das Wandeln Aminas auf dem Dachfirst der Mühle. Beatrices Worte zu Beginn ihrer letzten Szene offenbaren, dass auch sie diese Probe bestanden hat: »Nulla diss’io ... Di sovrumana forza / Mi armava il cielo ... Io nulla dissi, oh, giòja! / Trionfai del dolor.« (»Ich habe nichts gesagt … Der Himmel wappnete mich / mit übermenschlicher Kraft ... Ich habe nichts gesagt, oh Freude! / Ich habe über den Schmerz triumphiert.«) Die hier aufgezeigten und ein Stück weit verfolgten philologischen, theater- und motivgeschichtlichen Zusammenhänge erheben Einspruch gegen die Routine und Gedankenlosigkeit, mit der Vincenzo Bellini bis heute als sogenannter Belcanto-Komponist etikettiert wird, dessen Opern eine szenische Durchdringung angeblich kaum verlohnen und daher mit konzertanter Wiedergabe abgespeist werden dürfen.
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Aus: Arthur Schnitzler, Traumnovelle
» Doch aus dem leichten Geplauder über die nichtigen Abenteuer der verflossenen Nacht gerieten sie in ein ernstes Gespräch über jene verborgenen, kaum geahnten Wünsche, die auch in die klarste und reinste Seele trübe und gefährliche Wirbel zu reißen vermögen, und sie redeten von den geheimen Bezirken, nach denen sie
kaum Sehnsucht verspürten und wohin der unfassbare Wind des Schicksals sie doch einmal, und wär’s auch nur im Traum, verschlagen könnte. Denn so völlig sie einander in Gefühl und Sinnen angehörten, sie wussten auch, dass gestern nicht zum ersten Mal ein Hauch von Abenteuer, Freiheit und Gefahr sie angerührt... «
Robert Schneider
DIE UNBERÜHRTEN
In der Nacht auf Michael des Jahres 1922 schrak Antonia Sahler aus einem vielstimmigen Traum. Mit entseelten Augen starrte das Kind in die von grauem Mondlicht erfüllte Kammer und hatte Gewissheit: Abschied nehmen müsse es von daheim, weggehen, und zwar bald, und zwar für immer. Ein letzter großer Sommertag hatte sich noch einmal in St. Damian hoch über dem Rheintal verzettelt, hatte die südliegenden Bergwiesen versengt und gegen Abend all seine Glut in die Stuben und Ställe des Dorfes gedrückt. Selbst die Nacht blieb noch schwül, ungewöhnlich für die Zeit. Es war Herbst. Die Luft staubte von Heublumensamen. Der süßliche Geruch gärenden Heus kroch aus der angrenzenden Tenne herauf in die Kammer, wo das siebenjährige Mädchen erwacht war und mit offenem Mund in die Nacht lauschte. In dem Traum hatte sich Antonia in einer ihr unbekannten Landschaft vorgefunden, einer Landschaft, der das Gesicht fehlte, die Falten, die Kanten – das Lachen. Die heimatlichen Berge waren vergangen: die Grate und Gipfel, die breiten, endlosen Kämme und die gewölbten, bewaldeten Rücken. Der Pilatuskopf war verschwunden, der mit seiner gefurchten Stirn St. Damian im Norden überragte. Die glattwandigen Felsnadeln im Osten, genannt Martinswand und Hohes Licht, ebenso. Weit und breit war kein Wald mehr zu sehen, wiewohl sich Antonia auf die Zehenspitzen stellte und lang machte. ROBERT SCHN EIDER
Anstelle der Fluren und Wiesen herrschte graues Einerlei, als habe sie ein himmlischer Gerichtsvollzieher eingerollt und davongetragen wie damals den Stubenteppich. Nur der volle runde Mond stand im Horizont. Das Unheimlichste aber in dieser Landschaft: Sie tönte nicht mehr, hatte ihren Klang verloren. Die Vögel sangen nicht, die Tiere waren verstummt und der Bach auch. Ja, der Herrgott hatte gar noch den Wind weggesperrt. Kein Laut oder Geräusch war mehr zu vernehmen. Alles tot. Antonia beschloss, sich an den Mond zu halten, weil einzig sein Anblick ihr das Gefühl von Vertrautheit gab. Und so wanderte sie, barfüßig wie sie war, eine Zeitlang dem Mond entgegen. Da spürte sie, dass der Boden unter ihren Füßen nachgab, dass es nicht die Erde sein konnte, auf der sie ging. Alles schwankte und wankte. Jeder Schritt wurde zum Wagnis. Immer tiefer sank sie in den geruch- und geräuschlosen Brodem. Drum sei es angebracht und wohl auch klug, stillzustehen, die Luft anzuhalten, sich leicht zu machen wie eine Feder. Ja, nicht einmal zu denken, weil auch die Gedanken beschweren, das wisse jedes Kind. Sie schloss die Augen in der Hoffnung, es mache die beklemmende Einöde verschwinden. Aber die Landschaft blieb, selbst bei geschlossenen Lidern. Dann träumte ihr von Stimmen. Stimmen erhoben sich, näherten sich ihr von allen Seiten und drangen in sie. Worte, deren Sinn sie nicht erfassen konnte. Ein Lachen, ein Scherzen, ein Geschrei und ein Weinen in zahllosen Sprachen und Dialekten. Grad wie das Durcheinander beim Turmbau zu Babel, von dem der Monsignore gepredigt hatte. Und sie meinte schier zu verzweifeln, weil doch alle Stimmen eines gemeinsam hatten: Jubel. Es war ein unbeschreiblicher Jubel, der aus den Kehlen drang. Aber weshalb? Und warum fehlten den Stimmen Augen und Gesichter? Antonia blickte sich erschrocken um. Sie war mutterseelenallein. Sie wandte sich wieder dem Mond zu, und da war der Mond verschwunden. Doch anstelle des Mondes dämmerte ein grünliches Licht aus dem aschgrauen Horizont herauf. Ein flirrendes Etwas ohne Kontur, das wie ein Zicklein hin- und her hüpfte. Nach und nach gewann der Punkt menschliche Züge. Ein Rumpf, ein Kopf, erhobene Arme. Eine Dame war es, gewandet mit einem dunkelgrünen, goldbetressten Samtkleid und einer breit ausgelegten Schleppe, die bestimmt so lang war wie der Weg von St. Damian über den Pass nach Majola. Die Dame schwebte näher, wurde größer und bedeckte gleißend schon den halben Horizont. Antonia wagte nicht, ihr ins Angesicht zu blicken. Als sie es doch tat, erkannte sie ihr eigenes Antlitz. Sie selbst war die Dame. Und plötzlich öffnete diese mysteriöse Erscheinung den Mund und fing an, in einer so berührend schönen Stimme zu singen, dass all der gesichtslose Jubel um sie herum auf der Stelle verstummte. Auch Antonia stockte der Atem, und jetzt erst begriff sie den Sinn: Der Jubel galt ihr. Und sie lauschte der eigenen Stimme. Hörte sich gewissermaßen selber zu. Unsicher noch und ängstlich, der Ton könnte den Gesichtslosen um sie 59
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herum missfallen. Und sang mit wachsendem Mut und einer Fülle, die immer leuchtender wurde, ohne laut zu sein. Sie fühlte sich so aufgeräumt und sorglos. Wie selbstverständlich fügten sich die Töne zur Melodie. Die Musik musste nicht erst gefunden werden. Sie war da. Nichts konnte schiefgehen, nichts falsch gemacht werden. Ja, man musste nicht einmal darüber nachdenken, den Ton abschwächen, zurücknehmen oder gar bereuen. Es war kinderleicht: einfach nur singen. Die Hände wurden ihr warm, der Schweiß verklebte das Nachthemd am Rücken, und das Herz pochte laut in den Schläfen. Noch nie im Leben hatte sie einen so vollendeten Klang vernommen. Schließlich umspannte die singende Erscheinung das gesamte Firmament, strömte durch Antonias Körper hindurch und verging. Aber die cherubimische Stimme war noch nicht verebbt, da zerriss ein grausiger Aufschrei die wesenlose Landschaft. Es war das Gellen eines Jungen, gesichtslos und ohne Körper. Ein gespenstischer Hilfeschrei, wie aus dem Mund der lahmenden Katze, die sie eigenhändig im Wald begrub, nachdem der Kolumban das Tier mit dem genagelten Stiefel kaltblütig zerstampft hatte. Vor ihren Augen. Herzzerreißend klang der Schmerz in dieser Stimme. Und der Junge brüllte immerfort, bis schließlich auch seine Stimme heiser verging. Dann träumte Antonia von der heimatlichen Gebirgslandschaft. Doch sie war verwandelt. Zwar flüsterte und wisperte der Wind wieder in den Buchenzweigen, der Bach führte Wasser, in den Herbstwolken ließen sich lustige Fabeltiere deuten. Sogar das kleine Lastauto des Vaters zog als Schemen über den Himmel. Die Vögel waren zurückgekehrt. Der himmlische Exekutor hatte sich entschuldigt, die Wiesen, die Waldfluren wiedergebracht und entrollt. Die Wespen, die Grillen, die Mücken summten, zirpten und flirrten wieder. Doch in den Bergen, den Felswänden und auf den Graten geschah Seltsames: Sie standen unter Tausenden von Lichtern. Ringsum glimmte und glühte alles in kaltem Licht. Auf der Stirn des Pilatus tanzten und flackerten die Lichtzünglein, und die beiden östlichen Felsentürme glänzten und schimmerten wie Christbäume. Die Luft füllte sich mit Rumor, als kündigte sich von Fern ein Gewitter an. Es polterte dumpf in den gelb und schwarz gewordenen Wolkenbänken und roch nach Regen. Das Brummen, das Rollen kam immer näher. Der Donner ließ schon die Bettstatt erzittern, die Wände, die Decke, die Dielen. Verstört durch diesen heillosen Lärm war das Kind schließlich aus dem Traum gefahren und erwacht. Lag da mit verschwitztem Haar, unseligen Augen und der plötzlichen Gewissheit, Abschied nehmen zu müssen von den Lieben daheim.
→ KS Anna Netrebko als Amina, 2006
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WAHNSINNSFRAUEN
Die Beschreibung von Zuständen höchster Erregung gehört zum Grundbestand der Kunstform Musik, und es erstaunt daher nicht, dass das Motiv des Wahnsinns eine beliebte musikalische Konstante ist. In England geht die Tradition der »mad songs« bis in das 17. Jahrhundert zurück, und noch 1969 brachte der britische Komponist Peter Maxwell Davies seine Eight songs for a mad King heraus. Doch die eigentliche Hoch-Zeit des Wahnsinns liegt im 19. Jahrhundert. Die große Szene mit ihrer übersteigerten Stimmbehandlung, den extremen Gefühlsgegensätzen und extravagante Koloraturen faszinierte Librettisten und Komponisten anhaltend und ermöglichte dem Publikum, Exzesse gleichermaßen lust- und mitleidsvoll zu genießen. Für die Literatur ist festgestellt worden, dass vor dem 18. Jahrhundert die komische, lustspielmäßige Darstellung der Verführung überwog, dass aber im 18. Jahrhundert die tragischen Folgen einer Verführung von den Autoren ausgemalt werden. Es wäre noch zu untersuchen, ob dies auch für das Opernschaffen gültig ist; fest steht jedoch, dass Frauen in den Opern des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts bevorzugt Qualen und unlösbaren Konflikten ausgesetzt sind. EVA R IEGER
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Die wahnsinnige Opernheroine im 19. Jahrhundert Opern, die von Konflikten tugendhafter und unschuldiger Frauen handeln, erfreuen sich bis heute großer Beliebtheit. Bereits Gluck erzielte große Erfolge mit Frauenfiguren, die bereit waren, ihr Leben für den Mann hinzugeben. Auch Beethovens Leonore aus Fidelio ist zum Sterben bereit, um ihren Gatten zu retten. Der epochale Erfolg von Spontinis Vestalin zu Beginn des 19. Jahrhunderts war kein Zufall, zeigte er doch den Kampf der Frau zwischen Pflicht und Neigung sowie ihre Opferbereitschaft. Gegen ihren Willen zur Priesterin geweiht, gerät sie durch das Erscheinen ihres früheren Geliebten in einen unlösbaren Konflikt, der sie nur durch ein lieto fine (ein in Opern beliebter Kunstgriff, aus verfahrenen Situationen ein »Happy End« zu basteln) vor dem Tod bewahrt. Auch Bellinis Norma gerät in einen ähnlichen Zwang, der allerdings tragisch ausgeht. Zwischen 1820 und 1880 häufen sich die Wahnsinnsszenen. Dies hängt damit zusammen, dass der Wahnsinn als diskursives Phänomen Ende des 18. Jahrhunderts aufkam und bald en vogue war. Der Wahn liegt dem Weiblichen nahe, weil die Hysterie als eine weibliche Krankheit gilt. Bekanntlich besuchten die Engländer an Wochenenden gerne die Tollhäuser, um sich die eingesperrten Menschen anzuschauen, die dort ein elendes Dasein fristeten. Doch wäre es eine unzulässige Vereinfachung, wollte man die vielen wahnsinnigen Frauen der Opernbühne aus der Faszination ableiten, die die Irrenhäuser für das Bürgertum hatten. Denn es handelt sich um besonders modellhafte Frauen, die in unlösbare Konflikte geraten und diesen durch Flucht in den Tod, in das Schlafwandeln oder in den Wahnsinn ausweichen. Ihr Verhalten wird ihnen verziehen, obwohl sie schuldlos sind, es somit gar nichts zu verzeihen gibt. Eine Wissenschaftlerin bezeichnete kürzlich die Heldinnen der beliebten Verführungsromane, deren Qualen man im ausgehenden 18. Jahrhundert schauernd genoss, als »schuldfrei Schuldige«: »Das Dilemma einer schuldfrei schuldigen Heldin beherrscht das Modell Clarissas bis hin zu Fontanes Effi Briest und führt immer zum Tode.« Auf Opern des 19. Jahrhunderts bezogen, spricht Ulrich Schreiber ebenso zutreffend von »unbefleckten Mörderinnen«. Zum Ausgleich für ihre Entmündigung – Entscheidungsunfähigkeit heißt nichts anderes als Entmündigung – werden sie musikalisch liebevoll gestaltet. Zwar halten sich die Komponisten durchgehend an die seit Entstehung der Oper gängige Praxis, den Wahn mit unregelmäßigen, von Stimmungswechseln durchzogenen, zerrissenen Partien zu umschreiben, es wäre aber irrig, dies als eine negative Zeichnung der Heldinnen zu interpretieren. Alle Frauen, die wahnsinnig werden, stehen in einem Feld antagonistischer Kräfte, die sie psychisch zu erdrücken drohen. Donizettis Linda di Chamounix gerät 63
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beim Streit zwischen ihrem Partner und dem Gebot des Vaters zwischen die Fronten. Als der Vater sie fälschlicherweise für eine Hure hält und verstößt, flüchtet sie in den Wahn, von dem sie erst befreit wird, als sie in das gesunde Landleben zurückkehrt. Donizettis Lucia steht bei einer Fehde zweier Familien zwischen zwei streitenden Parteien, weil sie den Mann der verfeindeten Familie liebt und einen anderen heiraten muss. Auch Elvira aus Bellinis I puritani hält zu ihrem Geliebten Arturo; sie verliert ihren Verstand, weil sie irrtümlich vermutet, dass ihr Geliebter mit einer anderen Frau durchgegangen ist. Boitos Margarete aus Mefistofele, der von Faust übel mitgespielt wird, glaubt fälschlicherweise, die Mutter ermordet zu haben, und wird dadurch wahnsinnig. Bellinis Imogene (aus Il pirata) steht zwischen zwei Männern, sie muss einen ungeliebten Mann heiraten und scheitert daran.
La sonnambula »Ich möchte Dir gleich die Neuigkeit mitteilen, dass die Sonnambula gestern Abend im Théâtre-Italien fanatische Begeisterung ausgelöst hat. Rubini und die Grisi haben mit so viel Passion und Elan gesungen, dass niemand im riesigen Auditorium war, der nicht Tränen vergoss oder ergriffen war. Besonders das Finale des ersten Aktes – Largo und Stretta – war von magischer Wirkung. Mittendrin konnte sich das Publikum nicht mehr zurückhalten; es schien, als stünden die Nerven aller unter elektrischer Anspannung. Du solltest Dir das Toben vorstellen können! Aber der zweite Akt gefiel nicht weniger, auch er rührte alle zu Tränen.« So schrieb Bellini 1831 stolz nach dem phänomenalen Erfolg von La sonnambula. Die Rührung des Publikums bleibt nicht aus, als sich Amina schlafwandelnd vorstellt, mit Elvino vereint zu sein, und sich an die inzwischen vertrockneten Blumen erinnert, die er ihr am Vortag gab. Sie wird zart gezeichnet – Holzbläser (Oboe) mit pizzicato-Begleitung. Ihre Unschuld steht fest, und Elvino weckt sie auf, indem er ihr den Ring auf den Finger schiebt. In ihrer Schlussarie »Ah! Non credea mirarti« ist Bellini sich der Tradition der musikalischen Beschreibung von Wahnsinn – oder wie in diesem Fall, geistiger Absenz – bewusst. Dennoch ist der Komponist trotz der metrischen Irregularität (keine der Phrasen wird wiederholt) um Einheitlichkeit bemüht. Der lange melodische Atem wird durch halbe Kadenzwendungen gestützt, die die Melodie zusammenhalten, obwohl sie aus disparaten Einzelteilen besteht. Die edle Einfachheit der Arie zeigt, dass es sich um eine »gute« Frau handelt. Die berühmte Sängerin Jenny Lind erntete mit der Arie, der sie eigene Verzierungen hinzufügte, Beifallsstürme. »Besinnungslosigkeit ist ein Zustand, in dem die ›Ordnung der Dinge‹ außer Kraft gesetzt ist. Das Gefüge der individuellen Lebenswelt bricht aus-
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einander, und damit werden all die gesellschaftlichen Ordnungsfaktoren, die sonst auch als Sicherheit für das Individuum empfunden werden, verrückt. Maßstäbe gelten nicht mehr, Wahrnehmungen sind getrübt, Werte und Normen greifen nicht länger, Prinzipien, zumal das jeden Bereich, auch den des privaten und intimen Lebens, durchdringende Tauschprinzip, können nicht länger angewandt werden, bekannte Wege, Welt und Erfahrungen zu strukturieren, sind nicht länger gangbar.« Amina passt in das Raster der »schuldlos Schuldigen«, die ohne eigenes Zutun in unlösbare Konflikte geraten. Ihre Flucht in die Bewusstlosigkeit ist dem Wahnsinnig-Werden gleichzusetzen, denn Wahnsinnigen wie Schlafwandelnden ist gemein, dass sie im realen Leben keinen Ausweg finden, um sich aus der Schlinge zu befreien, und folglich sich »absentieren«. Allen diesen Szenen – ob in Lucia di Lammermoor, I puritani, II pirata, Linda di Chamounix, Anna Bolena oder Hamlet – ist eigen, dass sie auf musikalischer Diskontinuität aufbauen: es gibt rezitativische Bruchstücke, die Vokallinien werden unterbrochen, die Tonarten, das Tempo und das Tongeschlecht unvermittelt verändert, rhythmische Floskeln tauchen auf und verschwinden, und es gibt Partien, in denen die Sängerin teilweise komplizierte Koloraturen zu singen hat. Dies alles hilft, das Bild eines psychischen Zusammenbruchs herzustellen, bei dem die Gedankenbruchstücke wie im Traum vorbeihuschen und kein Sinn herstellbar ist. Da es sich meistens um unschuldige Frauenfiguren handelt, die in gravierende Konflikte eingebunden sind, spiegelt die musikalische Diskontinuität die mentale Verwirrung wider, durchbricht aber nie die Schranken der ästhetischen Einheit. Dadurch wird zugleich die charakterliche »Reinheit« der Frauen gewahrt. Folgende Voraussetzungen sind für die »schuldfrei Schuldigen« unabdingbar: GERADLINIGKEIT Da Frauen ihre Identität aus der Liebe schöpfen, können sie ihr nicht aus Vernunftgründen entsagen, daher sind sie treu bis zum Tod oder bis zum Wahnsinn. PASSIVITÄT Jede Entscheidung setzt rationale Überlegung voraus; diese besitzen Frauen nicht. Ihre Entscheidungsunfähigkeit bedeutet Entmündigung, die sie ohne Murren auf sich nehmen. REINHEIT Diese ist nicht nur sexuell zu verstehen (Keuschheit), sondern umfasst auch das Gemüt. ERTRAGEN SCHWERER KONFLIKTE Man wies den Frauen im dramatischen Operngeschehen Konflikte zu, die 65
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weitaus schwerer lösbar waren als die vieler Männer. Männer dürfen auf der Bühne den Degen ziehen, Gegner bekämpfen und Aktivitäten verschiedenster Art entwickeln, während die Frauen meist dazu verurteilt sind, die Konflikte im psychischen Innenbereich auszutragen. ÄHNLICHKEIT MIT KRANKEN, LEIDENDEN, TRAUERNDEN FRAUEN AUF DER OPERNBÜHNE Die »gute« Wahnsinnige ist kein Sonderfall, sondern ein »Normalfall«. Mozarts Giunia aus Lucio Silla, die eine Todeshalluzination erleidet, steht mit der verzweifelten Pamina in einer Reihe; die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. PÄDAGOGISCH-MORALISCHER ZEIGEFINGER Die Handlung mochte in einer Scheinwelt stattfinden, die Moral dagegen war auf das weibliche Publikum zugeschnitten. Ihre Botschaft war grob konturiert, aber wirksam: Bürgerliche Mädchen, die sich sexuell betätigen, verdienen gesellschaftliche Ächtung, verlieren den Verlobten und werden von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Ebenso aktuell war der Topos der unbedingten Treue zum Mann, der den Inhalt so vieler Opern, Theaterstücke und Romane vom ausgehenden 18. bis zum 19. Jahrhundert ausmacht.
→ KS Natalie Dessay als Amina, 2002
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Der Somnabulismus 1827 Somnabulismus ist im allgemeinen geistige Thätigkeit, durch Willensbestimmungen sich andeutend, während das Bewußtseyn im Schlafe erloschen ist. Die Willenäußerungen in diesem Zustande deuten aber gleichwohl auf ein Bewußtseyn zurück, das die Stelle des erloschenen vertritt, und von dem im wachenden Zustande in so fern geschieden ist, daß es nicht mit dem Wiederbewußtwerden nach dem Erwachen aus dem Schlafe durch Erinnerung in Verbindung steht, wohl aber auf das frühere einen Bezug hat, indem die in diesen Zustand Versetzten nur solche Handlungen vornehmen, für welche sie durch ihr früheres im Wachen geführtes Leben Fertigkeit erlangt haben. Es tritt diese Eigenheit des Schlafwandelns in einzelnen Individuen beiderlei Geschlechts (doch weit häufiger des männlichen) gewöhnlich nach Zurücklegung der ersten Kinderjahre hervor, besonders bei solchen, deren Einbildungskraft lebhaft ist, und die gewohnt sind, sich mit einer gefaßten Vorliebe eigenthätig und anhaltend mit etwas zu beschäftigen. In spätern Jahren kommen sie meist von selbst davon zurück. Dergleichen Personen richten sich, während fortdauernden Schlafs, gewöhnlich mit verschlossenen Augen, doch auch mit offenen Augenlidern, aber ohne Gesichtseindrücke zu erhalten, von ihrem Lager auf, steigen von demselben, und unternehmen nun als wirkliche Schlafwandler gewisse, meist gewohnte Handlungen, unter diesen aber auch solche, zu denen sie wohl im Wachen eine Neigung treibt, die sie aber aus Furcht, oder aus Reflexion über die Gefahr, oder die Unschicklichkeit derselben unterlassen, z.B. Klettern auf zugängliche Bäume oder Dächer, Ausnehmen von Vogelnestern u.s.w. Dabei ist aber der Sinn auf das, was sie verrichten, so fest gerichtet, daß sie dasselbe mit einer Präcision verrichten, die sie gegen Schaden oder Missgriffe verwahrt, die man wohl besorgen müßte, wenn der Zustand, in dem sie sich befinden, eine Schlaftrunkenheit, oder Verworrenheit der Sinne, unter sie überwältigendem Schlafe wär. Der Somnabulismus hat in neuerer Zeit eine weit höhere Aufmerksamkeit erregt, indem durch ihn, aber nur weit schärfer ausgeprägt, und auf noch nicht ganz in klares Licht gestellte und wahrscheinlich nie darstellbare Beziehungen hindeutend, in denen der menschliche Geist, ohne seine individuelle Stellung in der Natur aufzugeben, doch auch mit einem universellen Leben steht, sich das Phänomen des animalischen Magnetismus in seinen höhern Graden darstellt.
Medizinisches Realwörterbuch, 1827
DER SON NA MBU LISMUS
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SCHLAFWANDELN – WAS IST DAS? 1999
Jedes 5. Kind und immerhin noch 1 Prozent der Erwachsenen sind sogenannte Schlafwandler. Sie balancieren nicht wie in Filmen bei Vollmond auf dem Dachfirst, sondern verlassen ihr Bett in der Nacht mehr oder weniger regelmäßig. Dann irren sie in der Wohnung herum oder verlassen sie in selteneren Fällen sogar. Mit der sogenannten schlafwandlerischen Sicherheit ist es allerdings nicht weit her. Sie sind beim Schlafwandeln nämlich im Tiefschlaf und bewegen sich nicht besonders feinfühlig. So können sie sich bei ihren nächtlichen Streifzügen an Möbeln stoßen und sich blaue Flecken zuziehen, ohne es zu merken. Einige Schlafwandler essen auch Obst mitsamt der Verpackung oder Schokolade zusammen mit der Aluminiumfolie. Wenn einer Ihrer Angehörigen nachts schlafwandeln sollte, versuchen Sie nicht, ihn zu wecken. Das ist einerseits sehr schwer, denn er befindet sich im Tiefschlaf. Andererseits könnte er auch sehr ängstlich oder sogar panikartig reagieren. Führen Sie ihn sanft in sein Bett zurück. Er wird ihnen folgen und weiterschlafen. Sollte das Schlafwandeln sehr häufig vorkommen oder gar gefährlich sein (etwa, wenn der Schlafwandler Fenster mit Türen verwechselt und abzustürzen droht): Sprechen Sie mit Ihrem Hausarzt, oder lassen Sie sich von den Ärzten eines Schlaflabors beraten. Diese können im Schlaflabor untersuchen, ob es sich wirklich um Schlafwandel handelt oder um eine andere Schlafstörung, und sie können eine entsprechende Behandlung vorschlagen. In den meisten Fällen genügt es, für einen ruhigen Schlaf zu sorgen und eventuelle Gefahrenstellen zu sichern. Westdeutscher Rundfunk, Sendedatum: 14. September 1999
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SCHLA F WA N DELN – WAS IST DAS?
Michael Sawall
DER VERGESSENE HELD
Vincenzo Bellini und das Risorgimento
Italien war nach dem Wiener Kongress (1815), um mit den oft zitierten Worten von Fürst Metternich zu sprechen, nicht mehr als ein »geographischer Begriff«. Den Norden mit Lombardei und Venetien regierten die Habsburger, den ganzen Süden umspannte das von den Bourbonen verwaltete Königreich beider Sizilien. Weitere Staatsgebilde waren das Königreich Piemont-Sardinien, das Großherzogtum Toskana, die kleinen Herzogtümer Modena, Parma und Lucca sowie der vom Papst regierte Kirchenstaat, der die heutigen Gebiete Latium, Umbrien, Marken und Romagna umfasste. Gleichwohl konnte sich bereits lange vor der Gründung des Königreichs Italien im Jahr 1861 aus und neben den lebendigen lokalen Musiktraditionen so etwas wie ein musikalisches Nationalgefühl herausbilden. Rossini wurde praktisch an allen Theatern Italiens gespielt, der Lombarde Donizetti eroberte die Bühnen in Neapel und Rom, der Sizilianer Bellini feierte seine größten Triumphe in Mailand, wo Il pirata (1827), La straniera (1829), La sonnambula (1831) und Norma (1831) ihre Uraufführung erlebten. Die geschichtlichen Indizien sprechen eindeutig dafür, dass die romantische Oper Italiens auch eine politisch bestimmte Kunstform war. Martialische Märsche und patriotische Chöre tauchen nicht erst bei Verdi auf: Das Freiheitsthema klingt bereits in Rossinis Mosè in Egitto (1818/19), in Saverio Mercadantes Donna Caritea (1826) oder Giovanni Pacinis Gli arabi nelle Gallie (1827) an. Mehr noch als diese öffnete Vincenzo Bellini seine Werke, allen voran Norma und I puritani, einer (späteren) politischen Deutbarkeit. Doch zunächst zur Person Bellini. Der Komponist selbst war ein eher unpolitischer Mensch, war weder ein Liberaler noch ein italienischer Nationalist. In seinen erhaltenen Briefen finden sich keinerlei Hinweise auf ein besonderes Interesse am politischen Zeitgeschehen. Auch die in der Bellini-Biographie von Michele Scherillo (1882) abgedruckte Geschichte von Bellinis vorübergehender Mitgliedschaft bei dem Geheimbund der carbonari und von seiner angeblichen politischen Betätigung während der neapolitanischen Revolution 1820/21 lässt sich nur schwer als Ausdruck einer politischen Gesinnung interpretieren. Das kurzzeitige Hingerissensein von »dem bloßen Wort Freiheit«, wie der Erzähler Francesco Florimo berichtet, wich nach der Niederschlagung der Revolution recht schnell der Einsicht, dass ein Ausschluss aus dem Konservatorium in Neapel und im schlimmsten Fall »Gefängnis, Galgen und Galeere« drohten. Bellini rettete seinen – sicherlich nicht wirklich bedrohten – Kopf durch lautstarke Loyalitätsbekundungen beim Heiligenfest für den König im Teatro San Carlo. Im Übrigen lassen die Entstehungsumstände der Geschichte einige Zweifel an deren Wahrheitsgehalt aufkommen: Die Anekdote wurde erst um 1880 und damit sechs Jahrzehnte nach dem Vorfall von Francesco Florimo – Bellinis Studienkollegen, besten Freund, bevorzugten Briefpartner und nach dem frühen Tod des Komponisten (1835) Sachverwalter des Mythos um Bellini – aus der Erinnerung heraus auf die leeren Stellen von Briefumschlägen gekritzelt. Es ist durchaus denkbar, dass Florimo, wie in vielen anderen, 71
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inzwischen nachgewiesenen Fällen seiner eigenen Bellini-Biographie, auch hier Eigenes hinzugedichtet hat – vielleicht, um im Nachhinein aus dem unpolitischen Bellini einen italienischen Patrioten zu machen? Anders verhält es sich mit seinen Kompositionen. In der Norma haben Bellini und sein Librettist Felice Romani das Thema der Auflehnung gegen eine Fremdherrschaft, das bereits in der Vorlage von Soumet angelegt war, zwar nicht weiter verschärft, es aber doch der persönlichen Tragödie Normas als latentes Hauptmotiv zugeordnet. Ziemlich unvermutet explodiert dieses Motiv dann in der Kriegshymne des 2. Aktes »Guerra, guerra«, einem brutal martialischen Gesang der Druiden gegen die römischen Besatzer. Als Bellini seinem Lehrer am Konservatorium von Neapel, Nicola Zingarelli, die ihm gewidmete Partitur gab, nannte dieser den Chor einfach nur »barbarisch«. Bei der Uraufführung der Norma am 26. Dezember 1831 an der Mailänder Scala war wohl nur einer verschwindend kleinen Minderheit im Publikum bewusst, dass der Chor auch als Parallelisierung des unter der Fremdherrschaft leidenden Italien im 19. Jahrhundert verstanden werden konnte. Und noch 1838 fand in Cremona eine Aufführung der Oper im Vorfeld des Besuches des Habsburger-Kaisers Ferdinand I. ohne irgendwelche Störungen statt, vielmehr wurde bei dieser Gelegenheit unter allgemeinem Jubel die Kaiserhymne gegeben. Für die 1835 in Paris uraufgeführten I puritani komponierte Bellini auf ausdrücklichen Wunsch seines Librettisten Carlo Pepoli (1801-1860), eines wegen politischer Verfolgung ins Pariser Exil geflüchteten Bologneser Grafen, und auch im Hinblick auf den Pariser Publikumsgeschmack das Freiheitsduett »Suoni la tromba«. Bereits bei der Komposition der »Hymne an die Freiheit« war sich Bellini der zu erwartenden Schwierigkeiten mit der Zensur in Italien bewusst. Seinem Freund Florimo in Neapel schrieb er: »Diese Hymne wird nur für Paris gesetzt, dort hat man die Freiheit gern. Für Italien wird Pepoli sie von Grund auf umändern; er wird auch die liberalen Ideen in der ganzen Oper ausmerzen. Mach Dir keine Sorgen.« Die Pläne für die »italienische Version« der Oper zerschlugen sich. Dies besorgte letztlich die neapolitanische oder römische Theaterzensur, die im Folgenden bei Aufführungen der Oper in der stretta des Duetts durchweg das Schlusswort »libertà« strich und durch »lealtà« (Treue) ersetzte. Die politische Deutung von Werken Bellinis im Risorgimento war zunächst auf Sizilien beschränkt und gegen die bourbonische Fremdherrschaft dort gemünzt. Der erste Beleg für eine politische Rezeption Bellinis überhaupt stammte von dem jungen sizilianischen Patrioten und Freiheitskämpfer Giuseppe La Farina (1815-1863). In seiner Eloge zum Tod von Vincenzo Bellini, gehalten am 26. November 1835 in der Accademia Peloritana in Messina, las er in Il pirata folgende politische Assoziationen hinein: »Was aber nun war Il pirata? Es war eine Oper, die ein Stück der italienischen Vergangenheit schildert, die Tyrannei eines Duca di Caldora und die unglückliche Liebe eines MICH A EL SAWA LL
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armseligen Sizilianers aufzeigte. Es war eine moralische Lektion,... es war ein Trauergesang über Menschen, die von anmaßenden Machthabern unterdrückt wurden. Eine Schaustellung von göttlicher Rache,... ein Drama von Romani und Bellini, das ihren Gefühlen angepasst war; eine Oper, die den Zweck verfolgte, zu belehren und gleichzeitig zu unterhalten.« Es ist tatsächlich höchst unwahrscheinlich, dass Bellini und sein Librettist Romani bei der Konzeption des Stoffes an politische Belehrung gedacht haben. Die erste politische Demonstration im Zusammenhang mit einem Stück Bellinis ist für den Jahresbeginn 1848 dokumentiert. Der erfolgreiche Aufstand Palermos und weiterer sizilianischer Städte im Jänner vertrieb die bourbonische Verwaltung und die königlichen Truppen (mit Ausnahme der Festung Messina) aus Sizilien. Unter Berufung auf die formal nie außer Kraft gesetzte autonomistische Verfassung für Sizilien aus dem Jahr 1812 bildeten die Anführer des Aufstandes kurz darauf eine provisorische Regierung für die Insel. Auf deren Anordnung wurde am 6. Februar 1848 die stagione des revolutionsbedingt kurzzeitig geschlossenen Teatro Carolino, des Opernhauses von Palermo, mit Donizettis Gemma di Vergy fortgesetzt. Wie ein Korrespondent der Augsburger Allgemeinen Zeitung (25. Februar 1848) berichtet, war das Haus mit dreifarbigen Fahnen geschmückt und »gedrängt voll einer glänzend mit dreifarbigen Bändern gezierten siegtrunkenen Menge«. Seinen Höhepunkt erreichte der Patriotismus, als in der Pause von Donizettis – völlig unpolitischer – Oper das Duett »Suoni la tromba« (I puritani) von den Akteuren auf der Bühne angestimmt wurde. »Herrliche kräftige Männerstimmen mit gezogenen hochgeschwungenen Säbeln oder Degen« stimmten, so der Augenzeuge, »jubelnd« in das Duett ein. Gerade das Singen der unzensierten Fassung mit dem Schlusswort »libertà« rief »tosenden Beifall« und eine »unbeschreibliche Begeisterung« hervor. Kein anderes Stück hätte treffender den Unabhängigkeitskampf der Sizilianer gegen die verhasste bourbonische Fremdherrschaft symbolisieren können. In den folgenden Monaten wurde Bellini zu der Identifikationsfigur für die Freiheit Siziliens: Am Abend des 25. März 1848 wurde zur Feier anlässlich der Eröffnung des neuen sizilianischen Parlaments im festlich geschmückten Opernhaus Palermos eine Gala-Vorstellung seiner Norma gegeben, am 26. Mai 1848 bestimmte ein Dekret des sizilianischen Parlaments die Umbenennung des Teatro Carolino in Teatro Bellini. (Diese Anordnung machte König Ferdinand II. nach der Rückeroberung Siziliens 1849 wieder rückgängig.) Unmittelbar vor und während der Revolutionen 1848/49 kam es noch bei vielen anderen Gelegenheiten, bei Ballettaufführungen, Theater- oder Opernvorstellungen, zu spontanen politischen Kundgebungen. Oftmals standen die bejubelten Stellen in keinerlei konkreten Zusammenhang zur aktuellen Politik, wie das Beispiel von Verdis Ernani zeigt: Der Huldigungshymnus (Finale 3. Akt) auf Kaiser Karl V. wurde einfach auf den neuen nationalen Hoffnungsträger, den anfangs liberal sich gebenden Papst Pius IX. umgetextet – anstelle 73
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»A Carlo Quinta sia gloria e onor« sang man »A Pio Nono sia gloria e onor« –, und in verschiedenen römischen Theatern, in Senigallia (Marken), Bologna und Florenz bejubelt. Eine ähnliche Situation lässt sich auch für den zweiten italienischen Unabhängigkeitskampf 1859/60 feststellen – mit einer Einschränkung: In diesen Monaten wurde der Chor »Guerra, guerra« aus Norma gewissermaßen zur »italienischen Marseillaise« (im Übrigen kam hier der Zufall zu Hilfe, denn Bellinis Oper stand gerade in dieser Zeit besonders oft auf den Spielplänen der italienischen Opernhäuser). Die kriegerische Stimmung der piemontesischen Presse und die Rüstungen Piemonts und Österreichs zu Jahresbeginn 1859 bildeten den Hintergrund für die politischen Demonstrationen beim Chor »Guerra, guerra« während der Aufführungen von Norma in Venedig (5. Jänner 1859) und an der Mailänder Scala (29. Jänner 1859). Ein Bericht des liberaldemokratischen Publizisten Gustav Rasch in der deutschen Familienzeitschrift Gartenlaube vermittelt einen recht anschaulichen Eindruck von der aufgeheizten Atmosphäre der Mailänder Aufführung: »Das Beifallsrufen, die Bravos und der Applaus im Parquet und in den Logen wollte gar kein Ende nehmen... Das Bravorufen tönte wie ein lang anhaltender Donner, und dazwischen hörte man die Rufe ›Viva l’Italia‹!« Im weiteren Verlauf des italienischen Einigungsprozesses sind ähnliche Demonstrationen bei Aufführungen der Norma im weiterhin österreichisch besetzten Triest im Dezember 1859 dokumentiert. Im ebenfalls österreichischen Venedig löste im Oktober das Duett »Suoni la tromba« (I puritani), obwohl in der Zensurfassung gesungen, einen »ungeheuren Beifallssturm« aus. Bellinis Norma sollte im Herbst 1860 zuletzt auch jene Oper sein, die zu Ehren des piemontesischen Königs Vittorio Emanuele II. anlässlich seines Triumphzuges durch die annektierten päpstlichen Provinzen Umbrien und Marken bei den dazugehörigen Feierlichkeiten bis ins Teatro San Carlo Neapel, wo er am 7. November 1860 einzog, gespielt wurde. Vor diesem Hintergrund entschied man sich in Palermo bei der Auswahl der Festoper für die Ankunft von Vittorio Emanuele II. am 1. Dezember 1860 schließlich gegen die dem König inzwischen nur allzu gut bekannte Norma und für den ohnehin für die Herbst-Stagione vorgesehenen Aroldo von Verdi. Diese Entscheidung für Verdi und gegen Bellini kann in gewissem Sinne programmatisch für die spätere nationale Mythenbildung des 1861 gegründeten Königreichs Italien stehen. Trotz der »Stürme von nationalen Wirkungen«, die Bellinis »Guerra, guerra« in Italien während des zweiten Befreiungskampfes hervorbrachte (so der Dichter Karl Gutzkow Ende 1859 in seiner Zeitschrift Unterhaltungen am häuslichen Herd) und der Tatsache, dass es gerade Bellinis Norma war, die am 2. Juli 1871 im römischen Teatro Apollo bei den Feierlichkeiten um die Proklamation Roms zur definitiven Hauptstadt Italiens gespielt wurde – in die nationale Geschichtsschreibung sollte Giuseppe Verdi als der patriotische Komponist des Risorgimento eingehen. MICH A EL SAWA LL
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Als Zeitgenosse der italienischen Nationsbildung und dessen namensgebendes Symbol (V.E.R.D.I. als Kürzel für Vittorio Emanuele Re D’Italia), als Abgeordneter im ersten italienischen Parlament (1861-1865), vor allem aber als größter lebender Komponist Italiens der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Verdi eine ideale politische Identifikationsfigur für den jungen italienischen Nationalstaat auf seiner Suche nach nationaler Identität. In diesem Kontext entstand auch die retrospektive Stilisierung Verdis zum »Propheten des Risorgimento«, der mit den patriotisch geprägten Chören aus Nabucco und I lombardi in den 1840er Jahren die ersten politischen Demonstrationen gegen die Habsburger Besatzer Lombardei-Venetiens ausgelöst haben soll. Tatsächlich lässt sich anhand zeitgenössischer Quellen die patriotische Rezeption von Verdi und seinen frühen Opern beim damaligen Publikum bis in die Jahre 1859/60 hinein nicht belegen (so die Ergebnisse der neueren und neuesten Verdi-Forschung).
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Michael Jahn
BELLINIS OPERN IN WIEN
Im Gegensatz zu seinen Kollegen Gioachino Rossini (der 1822 den vielzitierten »Rossini-Taumel« auslöste), Giovanni Pacini, Saverio Mercadante oder Gaetano Donizetti, der als vom Kaiser ernannter »Hofcompositeur« für die Einstudierung seiner Werke sorgte, kam Vincenzo Bellini in seinem kurzen Leben nie nach Wien. Dennoch gelangten sieben seiner zehn Opern an den Wiener Bühnen zur Aufführung – ausgenommen sind nur das Frühwerk für das neapolitanische Konservatorium Adelson e Salvini (1825), Bianca e Fernando in beiden Fassungen (1826 bzw. 1828) und Zaira (1829); Letztere musste ja als »Steinbruch« für andere Werke, hauptsächlich die I Capuleti e i Montecchi, herhalten. Drei der Wiener Erstaufführungen, die in den MICH A EL JA HN
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Zeitraum von 1828 bis 1836 fallen, fanden im Theater in der Josefstadt statt (Capuleti e Montecchi 1832, La sonnambula – als Die Nachtwandlerin – 1834 und Beatrice di Tenda, unter dem Titel Das Castell von Ursino, 1836), die restlichen an der Hofoper im Kärntnertortheater, wohin auch die erwähnten Werke bald übernommen wurden. In der Pachtperiode von Domenico Barbaja wurden neben deutschen Opern auch italienische Werke in Originalsprache am Kärntnertortheater gegeben, so kam u.a. 1827 mit L’ajo nell’imbarazzo erstmals ein Werk Doni zettis zur Aufführung. Am 25. Februar 1828 folgte Bellinis Il pirata und wurde mit folgenden enthusiastischen Worten in der Allgemeinen musikalischen Zeitung begrüßt: »Wunderbar! Bravo, Maestro! Nur so fortgefahren!« Bellini wurde in dieser Rezension beinahe als deutscher Komponist verstanden, der auf den Wegen eines Carl Maria von Weber wandelt: Man konstatierte eine »Vertrautheit mit der teutschen Schule, ein so sichtbares Annähern zu teutscher Männlichkeit, eine unleugbare Vorliebe sonderlich für Carl Maria von Weber’s Denk- und Setzweise.« Diese – natürlich im Gegensatz zu der damals noch immer herrschenden Rossini-Mode (alleine im Frühjahr 1828 wurden Barbiere, Cenerentola, Italiana in Algeri, Donna del lago, Mosè in Egitto im Kärntnertortheater aufgeführt) gehaltene – Einschätzung Bellinis war noch zur Zeit der Erstaufführung von Norma (1833) durchaus gängig: »Bellini kennt, liebt, verehrt und studirt emsig die classischen Meister Mozart, Cherubini, Beethoven und Weber.« – Cherubini wurde, ebenso wie der in dieser Aufzählung vergessene Salieri und der in Berlin tätige Spontini, zu den in deutscher Art schreibenden Komponisten gerechnet. Während La straniera (1831) nach der Wiener Erstaufführung durchaus positiv bewertet wurde – die Bemerkung, dass die Komposition »bey näherer Bekanntschaft immer mehr anspricht«, ist als Kompliment zu sehen –, sind bei den Capuleti (1832) bereits Einschränkungen zu bemerken: »Jedenfalls steht dieses Tonwerk minder hoch, als die geist- und melodienreiche Straniera und der an großen Effecten überreiche Pirata.« Sehr negativ gehalten sind die Rezensionen von Beatrice di Tenda und besonders der Puritani (1836). Bei letzterem Werk schöpfe Bellini nur noch aus seinen früheren Opern, »in seinem Schwanengesange prädominirt eine geistige Abspannung«, nur das – als »fast trivial« bezeichnete Duett der beiden Bässe »Suoni la tromba« konnte das Publikum zu Applaus hinreißen. Es ist also möglich, zwischen Erfolgen (Pirata, Straniera, Norma) und Misserfolgen (Capuleti, Puritani, Beatrice di Tenda) eine eindeutige Trennlinie zu ziehen (natürlich mit der Einschränkung, dass das Publikum – oft zu Recht – anders urteilte als die Rezensenten). Zwiespältiger hingegen ist der Eindruck, den das hier zu besprechende Werk, die Sonnambula, hinterließ: War die Erstaufführung eher der zweiten Kategorie, wenn auch zu einem gewissen Teil der Sängerleistungen wegen, zuzurechnen, setzte sich das Werk schlussendlich doch deutlich beim Wiener Publikum durch. 77
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Bellini-Sänger in Wien Giovanni Battista Rubini, der einen Großteil der Tenorpartien in den Opern Bellinis kreierte, war der Star der italienischen Aufführungen 1828 im Kärntnertortheater. Ihm waren die schwierigen Rollen auf den Leib geschrieben, ein Faktum, das auch dem Rezensenten der Pirata-Aufführung auffallen musste: »Die Oper soll hauptsächlich für Hrn. Rubini geschrieben seyn; das merkte man denn auch sogleich; denn dieser herrliche Sänger brillirt als Stern erster Größe darin.« Neben Rubini waren seine Frau, Adelaide CommelliRubini, und der gefeierte Bariton Antonio Tamburini zu hören. Zwei Jahre später, als sich das Traumpaar Giuditta Pasta – Rubini in Wien befand, war die Erstaufführung von La straniera geplant. Die Einstudierung dieses Werkes scheiterte an mangelnder Probenzeit, daher griff man wieder auf Pirata zurück, Giuditta Pasta transferierte jedoch die große Schlussszene aus der Straniera in dieses Werk und errang mit dieser Szene durchschlagenden Erfolg. 1831 kam schließlich die Straniera in deutscher Sprache unter dem Titel Die Unbekannte auf die Bühne des Kärntnertortheaters und gestaltete sich zu einem Triumph für Marianne Katharina Ernst, welche auch die Titelpartie in der (deutschen) Erstaufführung der Norma (1833) übernahm und »in ihrer ungeheuer anstrengenden Partie eine seltene Kraft und Ausdauer« entwickelte. Die Adalgisa war, wie in der Uraufführung, mit einem Sopran, Sophie Löwe, die später in den Uraufführungen von Verdis Ernani und Attila (Venedig) mitwirken sollte, besetzt. Die Löwe war auch die Giulietta in den Capuleti (1832, deutsch) im Kärntnertortheater – in dieser Oper gab es gewisse Schwierigkeiten, einen geeigneten Interpreten der anspruchsvollen Rolle des Tebaldo zu finden: erst in der siebenten Aufführung wurde mit dem geschätzten Franz Wild ein Tenor engagiert, der die Tücken dieser Partie anstandslos meistern konnte. Wild wirkte auch in den Erstaufführungen von Straniera und Norma mit. Doch nicht nur in den Capuleti gab es Probleme mit dem Tenor, auch der Interpret des Elvino in der Erstaufführung der Nachtwandlerin im Theater in der Josefstadt litt unter den extremen Anforderungen, die Bellini an die Vertreter dieses Stimmtypus stellte: Der Tenor, welcher »mit einer für Rubini berechneten Aufgabe zu kämpfen hatte und schlechterdings zum colorirten Styl aller Gesangsmittel entbehrt«, suchte sofort nach der missglückten Premiere (12. November 1834) um seine Entlassung an.
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Die Erstaufführung der Sonnambula an der Hofoper Louis Antoine Duport, Pächter des Kärntnertortheaters seit 1835, bevorzugte die französische Oper: In dieser Ära kamen die Kassenschlager Robert der Teufel (Meyerbeer), Die Jüdin (Halévy), Zampa (Hérold) und Fra Diavolo (Auber) zur Erstaufführung. 1835 gab es die erste, von der deutschen Spielzeit strikt getrennte italienische Stagione, in welcher Norma und La straniera in der Originalsprache einstudiert wurden. In der Erstaufführung der Sonnambula am 15. Mai 1835 interpretierte die gebürtige Wienerin Amalie Schütz-Oldosi die Titelrolle. Die Künstlerin, welche zuerst am Theater an der Wien engagiert war und 1825 am Kärntnertortheater in Rossinis Donna del lago auftrat, feierte ihre größten Erfolge in Italien (Mailänder Scala, Teatro San Carlo Napoli), so u.a. in der Uraufführung von Donizettis Il campanello (1836). Der Tenor Antonio Poggi (Elvino) war an der Scala in Uraufführungen von Donizetti (Torquato Tasso 1833) und Verdi (Giovanna d’Arco 1845) und in der italienischen Erstaufführung von Bellinis Puritani (1835) zu hören. Von 1835 bis 1840 war er auch in Wien engagiert, sein Organ wurde als wenig sonor und kräftig, hingegen als sehr koloraturgewandt beschrieben. Giovanni Orazio Cartagenova, der Interpret des Rodolfo, wurde von Saverio Mercadante gefördert und kreierte Baritonpartien in den Uraufführungen von dessen Opern Gabriella di Vergy (Lissabon) und I Normanni a Parigi (Turin), wirkte aber auch in der Uraufführung von Bellinis Beatrice di Tenda (Venedig 1833) mit. Prominent besetzt war auch die Rolle der Lisa: Giuseppina Strepponi, später die Gemahlin Giuseppe Verdis, stand 1835 noch am Beginn ihrer großen Karriere, dennoch wurde sie auf dem Theaterzettel bereits als »Prima Donna« angekündigt; in Norma trat sie an der Seite der Schütz-Oldosi als Adalgisa auf. Der Erfolg der Premiere blieb hinter den Erwartungen zurück: Zwar waren Cartagenova und Poggi »an ihrem Platze«, für die Schütz-Oldosi jedoch lag die Partie der Amina zu hoch, deshalb »musste fleißig herabtransponiert werden«, ein Umstand, der besonders bei der Aria finale als »störend« empfunden wurde. In den beiden für die italienische und deutsche Erstaufführung am Kärntnertortheater relevanten handschriftlichen Par tituren, aufbewahrt in der Musiksammlung der Österreichischen National bibliothek, findet man ein Duett »Senti tu siccome io sento« zwischen Amina und Elvino (möglicherweise von Luigi Ricci, dessen Oper Un’avventura di Scaramuccia einen Monat nach der Sonnambula an der Wiener Oper erstaufgeführt wurde, komponiert). Da ein Rezensent reklamierte, dass dieses »reizende Duett im 2. Acte ganz weg« blieb, lässt den Schluss zu, dass diese Szene zwar in der Erstaufführung gesungen, 79
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jedoch im Laufe der Aufführungsserie (bis 16. Juni 1835) gestrichen wurde. Eingelegt wurde das Duett nach der (gekürzten) Arie der Lisa »De’ lieti auguri a voi son grata«, in späteren Aufführungen wurde es auch im ersten Akt gesungen (an Stelle des originalen Duetts »Son geloso«) – auf jeden Fall wurde es zu einem der »Favorit«-Stücke der Oper (neben der Cabaletta »Ah non giunge«, der Aria finale der Amina), war doch im Jahre 1836 (als Eugenia Tadolini in der Partie der Amina in Wien zu hören war) im Verlag von Anton Diabelli in der Sammlung der beliebtesten Gesänge mit Begleitung des Pianoforte die »Cavatine (!) Senti tu siccome io sento, gesungen von Mad. Tadolini in der Oper: La sonnambula von V. Bellini« erschienen. Auch Carl Czerny komponierte ein Rondoletto sur le Duetto »Senti tu siccome io sento«.
Spätere Aufführungen »Rauschenden Applaus, dass die Wände einzustürzen drohten« erhielt die Sonnambula, als in der bereits erwähnten Aufführung der italienischen Stagione des Jahres 1836 der Wiener Publikumsliebling Eugenia Tadolini als Amina auftrat. Nach diesem Erfolg war der Verbleib des Werkes im Repertoire gesichert: Auch 1837 (mit Fanny Tacchinardi-Persiani) und 1838 (wieder mit der Tadolini) kam die italienische Stagione nicht ohne Sonnambula aus. »Zum Vortheile der Dlle. Jenny Lutzer« wurde das Werk am 11. Jänner 1839 »zum ersten Mahle in deutscher Sprache« (in der Übersetzung von Georg Ott) gegeben, die Partner der gefeierten Primadonna, die sogar »beinahe la divina Tadolini vergessen« ließ, waren die Herren Schunk (Elvino) und Weinkopf (Rodolfo). Von diesem Zeitpunkt an blieb das Werk fester Bestandteil der deutschen Spielzeit (eine Neuinszenierung in deutscher Sprache gab es 1862), wurde aber auch immer wieder in den italienischen Stagioni aufgenommen: Emilie La Grua, Ilma von Murska und Adelina Patti (Amina), Alois Ander, Gustav Walter und Georg Müller (Elvino), Josef Draxler und Louis von Bignio (Rodolfo) waren die berühmtesten Darsteller der Hauptrollen. Am 22. Jänner 1870 wurde Die Nachtwandlerin in das neue Opernhaus übernommen, wo am 19. Mai 1890 (gekoppelt mit Josef Bayers Puppenfee) für längere Zeit die letzte Aufführung stattfand. In der italienischen Stagione 1935 wurde das Werk zum letzten Mal an der Staatsoper (damals »Operntheater«) gezeigt: Für zwei (!) Aufführungen gab es eine Neuinszenierung in der Regie von Hans Duhan: Giuseppe del Campo dirigierte, Antonio Righetti sang den Rodolfo, Aldo Simone den Elvino und die gefeierte Toti dal Monte die Amina. In der Zwischenzeit war die Sonnambula auch an anderen Wiener Theatern zu hören gewesen: Theater an der Wien (1846), Theater am Franz-Josefs-Kai (Treumanntheater, 1863), Komische Oper (Ringtheater, 1875) und Theater in der Leopoldstadt (Carltheater, 1883) nahmen das Werk in ihr Repertoire auf. MICH A EL JA HN
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Die anderen Bellini-Opern waren zu einem großen Teil bereits wesent lich früher aus dem Programm der Wiener Hofoper genommen worden: 1840 Il pirata, 1841 La straniera, 1846 Beatrice di Tenda (als einziges Werk nie in deutscher Sprache gespielt), 1853 I puritani, 1858 Capuleti (ab der italienischen Erstaufführung im Jahre 1840, wie international eine zeitlang üblich, öfters mit dem Finale aus Nicola Vaccais Oper Giulietta e Romeo aufgeführt), nur Norma war bis 1927 an der Wiener Oper zu hören. Im Jahre 1977 wurden gleich zwei Opern des Meisters wieder zur Diskussion gestellt: Norma (bis 1980 im Spielplan) und Capuleti (bis 1987); I puritani kam ab 1994 ins Repertoire, und im Bellini-Jahr 2001 eben auch die Sonnambula.
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Ingeborg Bachmann
Was aber ist Musik? Was ist dieser Klang, der dir Heimweh macht? Wie kommt’s, dass du in deinen Todesstunden wieder nach der Nachtigall rufst und dein Fieber wild aus der Kurve springt, damit du sie noch einmal im Baum sehen kannst, auf dem einzig hellen Zweig in der Finsternis? Und die Nachtigall sagt: »Tränen haben deine Augen vergossen, als ich das erste Mal sang!« So dankt sie dir noch, der du zu danken hast, denn sie vergisst es dir nie. Du vernimmst ihr herrliches Wort und trägst ihr dein Herz an dafür. Sie legt es auf ihre Zunge, taucht es ins Nass und schickt es durch das dunkle Tor dem, der es öffnet, entgegen. Was aber ist diese Musik, die dich freundlich und stark macht an allen Tagen? Wie kommt es, dass du wieder gerne isst und trinkst wegen ihr und deinen Nächsten zum Freund gewinnst? Und was ist diese Musik, die dich zittern macht und dir den Atem nimmt, als wüsstest du deine Geliebte vor der Tür stehen und hörtest den Schlüssel schon sich drehen?
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Impressum Vincenzo Bellini LA SONNAMBULA Spielzeit 2023/24 Wiederaufnahme: 6. September 2023 (Premiere der Produktion: 19. Oktober 2001) HERAUSGEBER Wiener Staatsoper GmbH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor: Dr. Bogdan Roščić Musikdirektor: Philippe Jordan Kaufmännische Geschäftsführerin: Dr. Petra Bohuslav Redaktion: Sergio Morabito, Andreas Láng, Oliver Láng, Basierend auf dem Premieren-Programmheft 2001 Gestaltung & Konzept: Fons Hickmann M23, Berlin Layout & Satz: Miwa Meusburger Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Druck: Print Alliance HAV Produktions GmbH, Bad Vöslau TEXTNACHWEISE Handlung (Übernahme aus dem SonnambulaProgrammheft 2001) – Oliver Láng: Über dieses Programmbuch – Andreas Láng: Interview mit Giacomo Sagripanti – Marco Arturo Marelli: Fragile Weltvergessenheit (Übernahme aus dem Sonnambula-Programmheft 2001) – Wolfgang Willaschek: Von der Faszination eines Lebensentwurfes (Übernahme aus dem SonnambulaProgrammheft 2001) – Daniela Heisig: Die Anima. Der Archetyp des Lebendigen, Zürich und Düsseldorf, 1996 – Thomas Seedorf: Gesang der Leidenschaften (Übernahme aus dem Sonnambula-Programmheft der Oper Stuttgart, 2011/12) – Thomas Mann: Fülle des Wohllauts, aus: Der Zauberberg, Frankfurt a.M. 1987 – Sergio Morabito: Kontexte von Bellinis Sonnambula (überarbeitete Übernahme aus dem Sonnambula-Programmheft der Oper Stuttgart, 2011/12) – Robert Schneider: Die Unberührten, München 2000 – Eva Rieger: Zustand oder Wesensart? Wahnsinnsfrauen in der Oper, in: Sibylle Duda und Luise F. Pusch, Wahnsinnsfrauen, Frankfurt a.M., 1996 – Michael Sawall: Der vergessene Held (Übernahme aus dem Sonnambula-Programmheft 2001) – Michael Jahn: Bellinis Opern in Wien (Übernahme aus dem SonnambulaProgrammheft 2001)
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