GYÖRGY LIGETI
LE GRAND MACABRE
INHALT
S.
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DIE HANDLUNG GYÖRGY LIGETI S.
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ÜBER DIESES PROGRAMMBUCH S.
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NEKROTZARS KINDER CLEMENS J. SETZ S.
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EIN FURIOSER GENIESTREICH PABLO HERAS-CASADO S.
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MEHRDEUTIGKEIT ALS ANTWORT AUF ALLE FRAGEN JAN LAUWERS IM GESPRÄCH S.
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GEDENKWORTE FÜR GYÖRGY LIGETI GYÖRGY KURTÁG S.
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LEBEN WIR – ODER NICHT? GERGELY FAZEKAS S.
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WAS IST ABSURDES THEATER? JUDITH STAUDINGER S.
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MICHEL DE GHELDERODE UND DIE BALLADE VOM »GRAND MACABRE« ERNST CZERNY
S.
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DIE ZELEBRATION DES GROTESKEN DANIEL UCHTMANN S.
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ZUR ENTSTEHUNG DER OPER LE GRAND MACABRE GYÖRGY LIGETI S.
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ZWIELICHTIGER SCHAUPLATZ ANDREAS DORSCHEL S.
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EINE KURZE WIEN-GESCHICHTE OLIVER LÁNG S.
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ICH KANN NUR HINWEISEN ELKE JANSSENS S.
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PROBENTAGEBUCH EMILY HEHL S.
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WEITERMACHEN WIE BISHER? ANDREA SCHURIAN UND PHILIPP BLOM IM GESPRÄCH S.
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IMPRESSUM
FÜRCHTET DEN TOD NICHT, GUTE LEUT’! IRGENDWANN KOMMT ER, DOCH NICHT HEUT’! UND WENN ER KOMMT, DANN IST’S SOWEIT... LEBT WOHL SO LANG IN HEITERKEIT! LE GR AND MACABRE, Schlussbild
GYÖRGY LIGETI
LE GRAND MACABRE OPER in vier Bildern Text MICHAEL MESCHKE & GYÖRGY LIGETI nach LA BALADE DU GRAND MACABRE von MICHEL DE GHELDERODE
ORCHESTERBESETZUNG 3 Flöten (2. u. 3. auch Piccolo), 3 Oboen (2. auch Oboe d’amore, 3. auch Englischhorn), 3 Klarinetten in B (2. auch Klarinette in Es und Altsaxophon in Es, 3. auch Bassklarinette in B), 3 Fagotte (3. auch Kontrafagott), 4 Hörner, 4 Trompeten, 1 Basstrompete, 3 Posaunen, 1 Kontrabasstuba, Pauken, 3 chromatische Mundharmonikas, Celesta (auch Cembalo), Konzertflügel (auch elektrisches Klavier), Elektrische Orgel (auch Orgelregal), Harfe, Mandoline, 3 Violinen, 2 Violas, 6 Violoncelli, 4 Kontrabässe, Xylophon, Vibraphon, Glockenspiel, Marimba, 12 mechanische Autohupen, 4 Spieluhren, 6 elektrische Türklingeln, 2 Schellentrommeln, Militärtrommel, 2 kleine Trommeln, 3 Bongos, Conga, Rührtrommel, Paradetrommel, 4 Tomtoms, 3 große Trommeln, 2 Triangel, 3 hängende Becken, 1 Paar kleine Becken, 2 Paar Becken, Gong, 2 Tamtam, Röhrenglocken, 2 japanische Tempelglocken (Rin), Maracas, 2 Guiros, 2 Peitschen, 1 Paar Klanghölzer, 1 Paar Kastagnetten, 2 Ratschen, 3 Holzblöcke, Holztrommel, 5 Tempelblöcke, Holzhammer, Holzlatten, Lotosflöte, Trillerpfeife, Kuckuckspfeife, Signalpfeife, Sirenenpfeife, Dampfschiffpfeife, 2 Sirenen, 2 Flexatons, Entengequake, 2 Brummtöpfe, große Weckeruhr, großes pyramidenförmiges Metronom, 2 Papierbögen, Seiden- oder Zeitungspapier, 1 Paar Sandpapierblöcke, Windmaschine, Papiersackerl, Tablett voll Geschirr, Kochtopf, Pistole
URAUFFÜHRUNG 12. APRIL 1978 Königliche Oper, Stockholm (1. Fassung) URAUFFÜHRUNG 28. JULI 1997 Salzburger Festspiele (Neufassung) ERSTAUFFÜHRUNG 11. NOVEMBER 2023 an der Wiener Staatsoper (Neufassung) SPIELDAUER
2 H 30 MIN
INKL. 1 PAUSE
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DIE HANDLUNG Das Stück spielt im total heruntergekommenen und dennoch sorglos gedeihenden Fürstentum Breughelland im »soundsovielten Jahrhundert«.
ERSTES BILD Piet vom Fass, stets leicht alkoholisiert (von Beruf »Weinabschmecker«) und daher stets heiter, eine Art realistischer Sancho Pansa, erblickt das wunderschöne Liebespaar Amanda und Amando. Sie sind auf der Suche nach einem ungestörten Ort, wo sie sich heimlich lieben können, doch das scheint im stets tumultuösen Breughelland schwerlich zu gelingen. Während Piet das Paar gierig betrachtet, erscheint plötzlich Nekrotzar. Nekrotzar, der Große Makabre, ist eine sinistre, zwielichtige, demagogische Figur, humorlos, hochtrabend, mit unerschütterlichem Sendungsbewusstsein. Piet, der keinen Schrecken kennt, mokiert sich über Nekrotzar, doch dieser verkündet, er selbst sei »der Tod« und werde noch heute Nacht, mithilfe eines Kometen, die ganze Welt vernichten. Er befiehlt Piet, seine Requisiten – Sense, Trompete, Umhang – zu holen und ihm überhaupt als Knecht zu dienen. Die Frage, ob Piet dazu bereit sei, wird gar nicht erst gestellt – Nekrotzar ist der Herr und daran gewöhnt, dass man ihm widerspruchslos gehorcht. Amanda und Amando ziehen sich währenddessen in das leerstehende Grab zurück und werden das Weltende ungestört verschlafen. Nekrotzar reitet zur fürstlichen Hauptstadt. Es erklingt das Duett des Liebespaares.
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DIE HANDLUNG
ZWEITES BILD Im Hause des Hofastrologen Astradamors: Herrin ist Mescalina, die Astradamors uneingeschränkt in ihrer Gewalt hat. Zu Beginn der Szene attackiert sie ihn, danach muss Astradamors in die Sterne gucken. Währenddessen schläft Mescalina – Rotwein schlürfend – ein und träumt, dass die Göttin Venus ihr endlich einen besseren Mann schickt. Tatsächlich erscheint Venus und mit ihr Nekrotzar und Piet. Mit Freude erkennt Astradamors seinen treuen Zechkumpanen Piet. Nekrotzar geht auf Mescalina zu, umarmt sie brutal und beißt ihr schließlich wie ein Vampir in den Hals. Mit einem grässlichen Schrei sinkt sie leblos zu Boden – Astradamors jubelt. Nekrotzar befiehlt, die Leiche aus dem Weg zu räumen. Finale: Nekrotzar verkündet siegessicher das unmittelbar bevorstehende Ende der Welt. Nekrotzar, Piet und Astradamors brechen zum fürstlichen Palast auf. Astradamors kehrt noch einmal zurück und sieht sich »endlich einmal als Herr im eigenen Haus«.
DRITTES BILD In Breughelland regiert der verfressene, babyhafte Fürst Go-Go. Er wird tyrannisiert von seinen beiden korrupten Ministern, den Führern der miteinander verfeindeten Weißen und Schwarzen Parteien, die sich jedoch in ihrer Gesinnung in nichts voneinander unterscheiden. So werden die Staatsgeschäfte ziemlich verworren geführt: Der regierende Fürst hat nichts zu sagen, und die beiden Minister befinden sich im Dauerstreit, drohen ständig mit ihrer Demission, um sich dann wieder kurz zu versöhnen und von Neuem zu zerstreiten. Außerdem zwingen sie den Fürsten zu Haltungs- und Reitübungen und zum »achtunggebietenden Tragen der Krone«. Die Verfassung des Landes deklarieren sie zum leeren Papier, doch nötigen sie GoGo zugleich, immer neue Dekrete zur Erhöhung der Steuern ins Unendliche zu unterschreiben. Fürst Go-Go ist hungrig; er denkt an nichts anderes als ans Essen und weist zum nun ersten Mal die Minister ab, akzeptiert ihre Demission und stopft sich den Mund voll. Schneller Auftritt des Chefs der Geheimen Politischen Polizei (»Gepopo«) mit seinem Gefolge. Er übergibt Go-Go eine chiffrierte Nachricht und warnt ihn vor der Ankunft einer aufgebrachten, demonstrierenden Menschenmenge. Man hört die Angst- und Wutschreie des Volkes. Vom Balkon
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GYÖRGY LIGETI
des Thronsaals aus versuchen die Minister, mit beschwichtigenden Reden die Menge zu besänftigen, doch das Volk ruft nach dem Fürsten. Dieser spricht schließlich zum Volk und verprügelt die pausenlos demissionierenden Minister. Plötzlich erscheint wieder der Polizeichef. Die neueste chiffrierte Nachricht warnt vor der Ankunft einer rätselhaften, drohenden Gestalt. Der Polizeichef flieht in Panik, doch statt der gefährlichen Gestalt erscheint lustig jodelnd Astradamors, immer noch frohlockend, dass er seine Gattin losgeworden ist. Inzwischen sind auch die Minister weggelaufen. Go-Go und Astradamors singen und tanzen miteinander. Plötzlich heult eine Alarmsirene auf, dann noch eine. Go-Go wird wieder zum Kind, er fleht um Hilfe, und Astradamors versteckt ihn unter dem Esstisch. In finster-grandiosem Pomp erscheint Nekrotzar. Siegessicher und großmäulig verkündet er, dass das Ende der Welt unmittelbar bevorstehe, und deklamiert verdrehte, verzerrte Zitate aus der Offenbarung des Johannes. Hoch oben ertönen die »himmlischen Posaunen«. Das Volk fleht Nekrotzar um Schonung an und dieser gerät in den Sog des allzu irdischen Treibens der Breughelländer. Piet reicht ihm ein Glas Rotwein, und Nekrotzar glaubt in seiner megalomanen Besessenheit, das Blut seiner Opfer zu trinken, das er zur Stärkung braucht, damit er seine »heilige Pflicht« erfüllen kann. Immer wieder schenken ihm Piet und Astradamors nach, immer maschineller verläuft die Saufszene. Auch Go-Go bekommt ein Glas Wein nach dem anderen unter den Tisch gereicht, und schließlich geraten alle vier betrunken ins Taumeln. Piet stellt die beiden Herrscher – Zar Nekro, Zar Go-Go – einander vor. Plötzlich eine Explosion, Angstschreie und der bedrohlich nahe Schein des Kometen. Nekrotzar gerät in Panik und verkündet, dass er jetzt die Welt zerschmettern werde, und stürzt betrunken.
VIERTES BILD Piet und Astradamors halten sich für tot und wähnen sich im Himmel. Taumelnd erscheint Go-Go, er fühlt, dass er am Leben ist, fürchtet aber, der einzige noch lebende Mensch auf Erden zu sein. Unversehens tauchen drei rüde Haudegen – Ruffiack, Schobiack und Schabernack – auf. Sie verhaften Go-Go als »Zivilisten« und schicken sich an, ihn zu töten. Plötzlich steht Nekrotzar in seiner ganzen hageren Länge da. Als er den Fürsten erkennt, lassen die drei Haudegen von Go-Go ab.
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DIE HANDLUNG
Geschwächt von Enttäuschung und Alkohol, möchte Nekrotzar sterben. Doch plötzlich erscheint Mescalina und stürzt sich voller Zorn auf ihn. Zwei Haudegen halten Mescalina fest und der dritte führt die beiden Minister herbei. Die Minister flehen feige und speichelleckerisch um Gnade, hatten sie doch immer nur das Wohl des Volkes im Auge. Sie und Mescalina beschuldigen sich gegenseitig, die astronomischen Steuern erfunden, die Inquisition eingeführt und die Beseitigung des Fürsten geplant zu haben. Die Diskussion führt zu einer allgemeinen Schlägerei, bis alle am Boden liegen. Piet und Astradamors spazieren herein, sich immer noch im Himmel wähnend. Der Fürst begrüßt sie und gibt ihnen Wein zu trinken. Das reicht Nekrotzar: Aus Gram beginnt er zu schrumpfen, wird immer kleiner, verschwindet schließlich spurlos. In ziemlich zerzaustem Zustand kommt das Liebespaar aus dem Grab hervor.
FINALE (PASSACAGLIA) Amanda und Amando wissen nichts vom vermeintlichen Weltuntergang. Die Schlussverse singen alle außer Nekrotzar: »Fürchtet den Tod nicht, gute Leut’! Irgendwann kommt er, doch nicht heut’. Und wenn er kommt, dann ist’s soweit ... Lebt wohl so lang in Heiterkeit!«
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UBER DIESES PROGRAMM BUCH György Ligetis Le Grand Macabre zählt zu den Marksteinen im Musiktheater des 20. Jahrhunderts, wie der Komponist einer der prägendsten und wichtigsten Meister seiner Epoche war. György Kurtág, Kollege und Weggefährte, nähert sich in seinem berühmt gewordenen Nachruf ab Seite 33 dem vielschichtigen Genie Ligetis an. Über die Besonderheiten der Macabre-Partitur und ebenfalls über ihren Schöpfer schreibt der Musikwissenschaftler Gergely Fazekas ab Seite 38, der Premierendirigent der aktuellen Produktion, Pablo Heras-Casado, wirft weitere erhellende Schlaglichter auf den musikalischen Macabre-Kosmos (ab Seite 18). Die Entstehungsgeschichte der Oper aus dem Blickwinkel des Komponisten wie auch eine von Ligeti verfasste Inhaltsangabe sind ab Seite 62 bzw. Seite 4 zu finden. Über Michel de Ghelderode, den Dichter des Schauspiels, das dem Opernlibretto zugrunde liegt und dessen Zuordnung zum absurden Theater, schreiben Ernst Czerny (ab Seite 48) und Judith Staudinger (ab Seite 44). Der Brue-
gel-Spezialist Daniel Uchtmann umreißt ab Seite 55 Inspirationsmomente für die Oper im radikalen Schaffen des flämischen Malers, der Musikwissenschaftler Andreas Dorschel befragt in einem Essay (ab Seite 68) die dystopische bzw. utopische Ausrichtung von Le Grand Macabre. Elke Janssens, langjährige Mitarbeiterin und Dramaturgin von Jan Lauwers, zeichnet dessen künstlerische Meisterschaft nach (ab Seite 81), der Regisseur selbst kommt in einem Interview ab Seite 25 ausführlich zu Wort. Und die Produktionsdramaturgin und Regieassistentin Emily Hehl gibt ab Seite 86 in ihrem Probentagebuch Einblicke in den Entstehungsprozess der Neuproduktion. Der preisgekrönte österreichische Autor Clemens J. Setz verfasste für dieses Programmbuch einen Essay (Seite 12) über eine seiner Lieblingsopern – Le Grand Macabre. Das Programmbuch wird mit einem Gespräch zwischen Andrea Schurian und Philipp Blom über eine Welt ohne Tod und das Finale der Oper im 21. Jahrhundert beschlossen (Seite 91).
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GYÖRGY LIGETI
»EIN LEBEN GANZ OHNE FURCHT, EIN LEBEN NUR IN LUST IST EIGENTLICH ZUTIEFST TRAURIG.«
CLEMENS J. SETZ
NEKROT- ZARS KINDER ÜBER GYÖRGY LIGETIS OPER LE GRAND MACABRE
Die Botschaft, mit der diese groteskeste aller Opern endet, ist identisch mit jenen berühmten ersten Worten, die der 1978 überraschend zum Papst gewählte Karol Wojtyla von der Loggia des Petersdoms zur versammelten Menge sprach: »Fürchtet Euch nicht.« Diese beiden großen Meisterwerke des Absurden, György Ligetis Le Grand Macabre (ebenfalls 1978 uraufgeführt) und die schon gut 2000 Jahre andauernde Aufführung der Katholischen Kirche, erreichen hier einen Punkt der Übereinstimmung. Das ist natürlich kein Zufall. Habt keine Angst vor dem Tod. Das sagt man nur, wenn man die Realität so klar vor sich sieht, dass sie auf einmal Sinn ergibt. Robert Bly formulierte es so: »Children feel grateful when a grownup reads witch stories to them because it proves to them they are not insane.« Vom Absurden, Grotesken, vom Tiefgläubig-Geißlerischen, vom Mittelalterlich-Bruegelhaften fühlt man sich, nicht nur in jungen Jahren, im Innersten verstanden und bestätigt. Nichts »kennt« uns so gut, hat uns scheinbar Vorherige Seiten: SZENENBILD
so gründlich und erschöpfend studiert wie die Bilder von Hieronymus Bosch. In ihnen herrscht eine Aufrichtigkeit, die überall sonst unangebracht und unpraktikabel wirken würde. Ein Beispiel, das vielleicht ein wenig verdeutlicht, was ich meine: Man kann auf der einen Seite journalistische, politologische Bücher über Nordkorea lesen und einiges aus ihnen lernen. Oder man betrachtet, ohne große Hintergrunderklärungen, folgende kleine Szene: In den Straßen Pjöngjangs stehen Verkehrspolizisten, die über einen längeren Zeitraum hinweg ihre zwar in den Details etwas eigentümlichen, aber in ihrer Grundgestalt doch ganz mit unseren übereinstimmenden VerkehrsTänze aufführen, ohne dass auch nur ein einziges Auto auftaucht. Die in der Hauptstadt herrschende Benzinknappheit lässt die Autos ausbleiben, aber es ist den Verkehrspolizisten per Strafe verboten, sich in dieser Leere hinzusetzen und auszuruhen, also dirigieren sie den ganzen Tag weiter unsichtbare Phantom-Vehikel über die Straßen der Hauptstadt.
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NEKROTZARS KINDER
Ja, die Realität ist in der Kunst des Absurden immer unübertreffbar. Und wenn man versucht, etwas vom höchsten Rang dieser Kategorie in die Kunst zu ziehen, sieht man sich auf einmal gezwungen, es in möglichst künstlichen Formen ausdrücken zu müssen, damit es irgendwie mitteilbar bleibt. Ich zum Beispiel bin seit vielen Jahren besessen von den radioaktivsten Orten der Erde, an die es absurderweise immer viele Menschen zieht. Der in dieser Hinsicht tödlichste Ort der Welt dürfte wohl eine enge Kammer unterhalb des verunglückten Reaktors in Tschernobyl sein, in den der radioaktive Brennstoff in mit Sand und Erdreich vermischter, »Corium« genannter Form geronnen ist, in eine riesige pilzförmige Struktur, die als der »Elefantenfuß« bekannt ist. Und nun zieht es immer wieder Menschen in genau diesen Raum, wie etwa Artur Kornejew, der dort seit den frühen neunziger Jahren wiederholt Fotoaufnahmen von sich selbst neben dem Elefantenfuß gemacht hat. Wenige Minuten reichen aus, um eine tödliche Strahlendosis zu empfangen, aber Kornejew, der schon oft dort war, ist bis heute gesund geblieben. Berühmt wurde ein Foto Kornejews, auf dem er neben dem Elefantenfuß sogar doppelt zu sehen ist, einmal aufrecht stehend und einmal vorgebeugt. Der Grund für diese gespenstische Doppelbelichtung: Er verwendete für das Selbstporträt auf seiner Kamera eine extra lange Belichtungszeit. Das Foto ist von der extrem hohen Strahlung an mehreren Stellen mit Blitzen durchzogen und insgesamt auffallend grobkörnig. Und ich armer Idiot versuche seit ein paar Jahren ernsthaft, das Libretto für eine Oper (Der Elefantenfuß) zu schreiben, die von einer Expedition in genau diese
gottverfluchte Kammer handelt. Keine andere literarische Form erschien mir dafür besser geeignet. Weder Erzählung, noch Essay, noch Gedicht, nein, einzig in dieser an Wiederholung und Stilisierung so reichen Kunst der Oper wäre das Geheimnis einer solchen Szene wirklich darstellbar. Am besten wäre das Ergebnis wahrscheinlich sogar bei Verwendung von Marionetten anstelle menschlicher Schauspieler:innen, eine Technik, für die übrigens auch der Dramatiker Michel de Ghelderode bekannt war, aus dessen Stück La Balade du Grand Macabre György Ligeti das Libretto für seine Oper gebaut hat. Das Absurde Theater, zu dem Ghelderode gemeinhin gezählt wird, kommt in ihm, in seinem ziemlich umfangreichen Bühnenwerk, gar nicht so sehr zur Blüte, zumindest nicht in so klarer Form wie etwa in den Stücken von Beckett und Ionesco, Harold Pinter und Tadeusz Kantor oder den Filmen von Jan Švankmajer. In Ghelderodes Stücken spürt man eine viel zu ernsthafte und zum Teil an echte Mystik heranreichende Tiefe in der Konzeption. Sein mitreißendes Marionettenstück Die Belagerung von Ostende beispielsweise spinnt sich glorreich und schrill an der tatsächlich historisch verbürgten Belagerung der niederländischen Stadt durch spanische Truppen zu Beginn des 17. Jahrhunderts aus, und das so grotesk und obszön, dass es zu Ghelderodes Lebzeiten gar nicht aufgeführt werden konnte. Aber wenn man die schrill überzeichneten Figuren und tollverrückten Abläufe mit hinreichender Ruhe studiert, entdeckt man darin eine überraschend tiefe und weise Untersuchung aller Mysterien der Machtlosigkeit und der Selbsttäuschung, und beginnt angesichts der im Stück einge-
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CLEMENS J. SETZ
fangenen gewaltigen Leere hinter aller Befehlsgewalt am Ende sogar ein wenig zu staunen. In Ghelderodes Werk leben vor allem die Puppen und die Statuen, der Rest (i.e. wir) besteht aus Pappmaché. Entsprechend verlieben sich andauernd Leute in Marionetten und abgewetzte Handpuppen, oder es verirren sich Blinde in einer anhaltspunktlosen Landschaft, oder eine Truppe Schauspieler scheitert immer wieder an der Aufgabe, ein mittelalterliches Mysterienspiel kohärent aufzuführen, oder eine Gruppe Clowns versucht in einem wahnsinnig gewordenen Zirkus zu überleben, mit ringsum nichts als Nebel und Scheintoten und Gespenstern. Viele seiner Stücke spielen, mal mehr, mal weniger explizit, in demselben »Breughelland«, einem Tableau der Scheiterhaufen und Fasnachtsumzüge, der Totentänze, der Antoniusfeuer- und Pestkranken. Die Rituale der katholischen Kirche, jenem ursprünglichsten Theater der Grausamkeit, bilden die Folie für fast jede Form dramatischer Handlung: Opferung, Predigt, Massengeißelung, Heiligenanbetung. Le Grand Macabre ist, neben Helmut Lachenmanns unvergleichlichem Das Mädchen mit den Schwefelhölzern, zweifellos meine Lieblingsoper des späten 20. Jahrhunderts. Die Handlung ist relativ leicht zusammengefasst: In Breughelland kommt eines Tages der personifizierte Tod »Nekrotzar« auf die Erde, predigt überall den Weltuntergang, überzeugt damit alle Figuren, aber er ist überraschenderweise am Ende der einzige, der stirbt. So einen Twist hätte sich keiner der »klassischen« Vertreter des absurden Theaters ausgedacht, weder Beckett noch Ionesco und ebensowenig spätere Nachfolger wie Dario Fo, Werner Schwab oder Gao Xingjian,
nein, den Tod selbst als einzige Figur am Ende sterben zu lassen, dafür muss man anders denken: mittelalterlich, entlang ältester Mysterien, ewig unversöhnt mit dem Jahrhundert, in das man durch Zufall hineingeboren wurde. Einer der musikalisch packendsten Momente ist dann auch der Auftritt Nekrotzars, dieses höchst zweifelhaften Gesellen, im zweiten Akt. In einer für Ligetis gesamtes Œuvre typischen Polyrhythmik entwickelt sich sein flammender Ritt, als wollte der Komponist eine Sache um jeden Preis verhindern: dass wir, die Lebenden, mitklatschen. Im 20. Jahrhundert, diesem mittelalterlichsten der nachmittelalterlichen Jahrhunderte, bringen mitklatschende Menschenmassen bloß den Tod, ein ums andere Mal. Nein, man wird stattdessen umstellt von den verschiedenen Tempi und Takten, hier Ragtime und Conlon Nancarrow, da triumphaler Marsch und torkelnder Ländler, sogar leichte Zitate aus Alban Bergs Violinkonzert, von allen Seiten kommen die verschiedenen Motive, wie Reiter der Apokalypse. Auch unsere Zeit ist eine der Nekrotzaren oder der Kinder Nekrotzars, der Apokalyptiker und WeltendePrediger. Durch unsere Städte ziehen wieder die Flagellanten des 14. Jahrhunderts, die sich selbst zur Buße für den Weltuntergang öffentlich auspeitschen. Christoph Lehmann, Stadtchronist der deutschen Stadt Speyer, berichtet 1349 über einen Geißlerumzug: »Von der Geißler Sect, welche Anno 1349 angelangt. In berührtem Jahr ist eine neue Sect der Geißler entstanden, deren Anfänge man nicht erfahren. Die haben fürgeben und auch zum Augenschein fürgelegt einen Brieff, den ein Engel vom Himmel zu Jerusalem in St. Peters Kirchen geliefert
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GEORG NIGL als NEKROTZAR
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NEKROTZARS KINDER
haben soll, des Inhalts, daß Gott über der Welt Sünde und Bosheit hefftig erzürnt darum er die Welt habe wollen lassen untergehen. Auf der Jungfrau Marien und der heiligen Engel Fürbitt derselben verschont, doch den Menschen diese Straf und Buß verkündigen lassen, daß ein jeder 34 Tag in der Frembde umbreysen, seinen Leib geißeln und hiemit Gott versöhnen soll. Hierauff haben sich etliche hundert Personen, Mann, Weib und Kinder, zusammen rottiert und seynd im Land umbgezogen derselben Sect 200 Personen aus Schwaben zu Speyr im Brachmonat Anno 1349 ankommen, auffm Platz vorm Münster einen großen Ring gemacht, in ihrer Prozession alle mit bedecktem Haupt unter sich und traurig ausgesehen, Geißeln von dreyen Seylen, und vornen mit eysen Creutzlin in Handen getragen. In dem Kreyss haben sie ihre Kleyder abgelegt, den Leib mit einem Schurz gegürt und mit sonderm Gesang und Ceremonien sich über Rücken mit den Geißeln blutrünstig geschlagen. Seynd darnach uffs Angesicht plötzlich niedergefallen, haben mit weinenden Augen ihr Gebet verricht, männiglich zur Buße vermahnt, und da sie wieder auffgestanden, obberührten Brieff öffentlich verlesen und jedermann eingebildet, derselbe sey vom Himmel kommen. Zu Speyr haben sich auss der Stadt auff 200 Personen in den Orden begeben und seynd mit im Land umbgestrichen.« Ich bin nicht kompetent, zu sagen, wo genau die Grenze zwischen noch angebrachter und nicht mehr nachvollziehbarer Todespanik verläuft, d.h. welche Weltende-Szenarien heutzutage korrekt sind und welche nicht. Ich kenne zwei Personen persönlich,
die davon überzeugt sind, während ihrer Lebenszeit eine Welt zu erleben, in der sie im Freien wegen des extrem hohen CO2-Gehalts nicht mehr genug Sauerstoff einatmen werden können. Eine andere Person aus meiner weiteren Verwandtschaft denkt, dass in der Welt der Zukunft die Sonneneinstrahlung buchstäblich so stark werden wird, dass sie alles augenblicklich in Flammen aufgehen lässt, was ohne Hitzeschild ins Freie tritt. Ein Mann in Kanada suchte vor etwa einem Jahr um »assisted suicide« wegen seiner »eco anxiety« an. Diese sei ja per Definition nicht heilbar, stelle also eine tödliche, therapieresistente Erkrankung dar. Und seine Kinder unterstützen, wie man in einem Radiobeitrag hören kann, sein Vorhaben aus vollstem Herzen. Bislang wurde sein Gesuch allerdings nicht akzeptiert. Aber nach ihm meldeten sich hunderte ähnlich motivierte Personen bei den entsprechenden Behörden Kanadas, Belgiens und Hollands, die bekanntlich seit einigen Jahren damit begonnen haben, auch Menschen beim Selbstmord zu assistieren, die wegen Diagnosen wie Autismus oder bipolarer Störung darum ansuchen. Selbst einige Fälle von als unheilbar erlebter »Einsamkeit« sind aus neuesten niederländischen Statistiken überliefert. Ähnlich wie Nekrotzar tun diese Behörden so, als wären sie der Tod, aber sind sie es wirklich, mit voller Berechtigung und Verantwortung? Und wenn Nekrotzar am Ende der Geschichte der einzige Tote ist, wie kann er dann überhaupt je DER TOD gewesen sein? War er vielleicht nur ein Sterblicher wie wir? Oder war er bloß der erste, der starb, und die Oper endete voreilig, bevor auch der Rest der Welt unterging?
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SZENENBILD
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PA BLO HER A S- CA SA DO
EIN FURIOSER GENIESTREICH Innerhalb der doch zahlreichen bedeutenden Opernuraufführungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ragt Ligetis Grand Macabre als Solitär hervor. Und wie das bei ikonischen Meisterwerken so oft der Fall ist, ist hier große Kunst mit fantastischer Unterhaltung verschwistert. Grundsätzlich ging es Ligeti in diesem Werk, wie schon Bernd Alois Zimmermann in seinen Soldaten, um das menschliche Elend, um wesentliche moralische und ethische Werte. Ligeti zog es allerdings vor, der berechtigten Sorge um ein mögliches Ende der Menschheit aus einer gewissen Distanz und mit einem Sinn für schwarzem Humor zu begegnen. Mithilfe der Groteske, des Makabren, der Satire vermittelt er dadurch einen gewissen Optimismus. Auffällig ist Ligetis Klassifizierung von Le Grand Macabre als Anti-Anti-Oper. Diese Bezeichnung war unter anderem eine Reaktion auf Mauricio Kagels Anti-Oper Staatstheater. Ligeti wollte unterstreichen, dass man auch in der Gegenwart durchaus noch Opern schreiben kann und darf, die sich von den traditionellen Regeln und Wurzeln ableiten. So finden wir in Macabre beispielsweise zahlreiche historische Kompositionsformen wie Choral, Spiegelkanon oder Passacaglia. Zugleich ging es Ligeti aber auch um eine Revision dieser jahrhundertealten Grundlagen und Säulen. Nichts lag ihm ferner, als lediglich eine Plattform für ornamentalen Gesang zu schaffen – Ligeti ging es vielmehr darum, eine starke Verbindung zur Sprache, zur Rhetorik, zu einer Rhetorik von Botschaften zu entwickeln. Mir fallen in diesem Zusammenhang sofort Alban Bergs Wozzeck oder Monteverdis L’Orfeo ein. In beiden Fällen wollten die Komponisten keine Oper im heute landläufigen Sinn schreiben, sondern ein musikalisches Drama entlang des Textes, in dem
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EIN FURIOSER GENIESTREICH
im Sinne einer Struktursymmetrie verschiedene Formen zur Verwendung kamen: Bei Monteverdi etwa die rein instrumentale Sinfonia, Ballette, Ritornelli, bei Berg symphonische Formen, Kontrapunkt, Kanons, Fugen usw. Ich bin mir sicher, dass Ligeti hier angeknüpft hat. Auf faszinierende Weise gelang es ihm nämlich, in einem erweiterten Sinne des Gesamtkunstwerkes, Text, Instrumentation und Gesang bzw. Sprache sowie die räumliche Situation der Szene raffiniert zueinander in Beziehung zu setzen und dadurch das dramatische, das gewünschte theatralische Moment zu erzeugen. In manchen Schlüsselmomenten griff er allerdings sehr wohl auf die gewohnte Operntradition zurück. So setzte er an das Ende der zweiten und vierten Szene beispielsweise ein richtiges Ensemble-Finale in der Nachfolge eines Mozart. Überhaupt liebte es Ligeti immer wieder, u.a. durch Zitate, an die Vergangenheit zu erinnern, konkret an Verdi, Monteverdi, Beethoven – gemischt mit Folklore-Anlehnungen aus aller Welt. Aus all dem wollte er in Grand Macabre eine verrückte, eine von ihm als »übertrieben« genannte Musik kreieren. Ein Postulat, das ihm in der Tat vollständig gelungen ist. Warum? Weil er bewusst jede musikalische Erwartungshaltung, formale Kongruenz ignorierte. Es gibt beispielsweise nur ganz wenige Momente, in denen der Fluss der Musik nicht unentwegt unterbrochen wird: Kaum scheint sich ein Bogen, eine Phrase zu spannen, kommt es schon nach zwei, drei Takten wieder zu einem abrupten Ende, ständig wird die musikalische Färbung verändert, jede organische Entwicklung brutal unterlaufen. Dazu kommen extreme dynamische Gegensätze, ebensolche hinsichtlich des Tempos. Manches ist aufgrund dieser hohen Anforderungen für die Ausführenden – auf der Bühne, aber auch im Gra-
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ben – fast unspielbar und unsingbar. Bequem wird es für die Interpretinnen und Interpreten nie. Überdies fügte Ligeti Schichten über Schichten verschiedenster Formen, Inhalte und Klänge übereinander. Hier ein Zitat aus der Musikgeschichte, dort müssen einzelne Instrumente zur selben Zeit unterschiedliche MikroTempi spielen, da tauchen bekannte Formen in einer ungewöhnlichen Machart auf. Um das Publikum in seinem Höreindruck dieser doch extrem anspruchsvollen und komplexen Musik nicht zu überfordern, nimmt es Ligeti an der Hand und gewährt ihm Haltegriffe, um sich zurechtzufinden. Daher klingt vieles spontan, natürlich und improvisiert, auch wenn in der Partitur, gerade um diesen Eindruck zu erzeugen, musikalisch und rhythmisch alles hyperpräzise notiert ist, nicht zuletzt, um eine absolute, unverrückbare Synchronität zwischen Bühne und Orchestergraben sicherzustellen. Sänger haben auf Klangfarben aus dem Orchester zu reagieren, umgekehrt zitieren einzelne Instrumente Worte und Rhythmen der Sänger. Jede Fermate, jede Pause hat ihre konkrete, auf Sekunden genau vorgeschriebene Länge, die ihrerseits wiederum mit dem Geschehen auf der Bühne verzahnt ist. Unentwegt pendelt man, wie schon erwähnt, zwischen Extremen – in der Dynamik, der Emotionalität, der atmosphärischen Anmutung, des Tempos. Vor mittlerweile vielleicht 30 Jahren habe ich in Los Angeles Ligetis Aventures dirigiert. Bei diesem überaus spannenden Werk nehmen die Fußnoten, in denen Ligeti Erklärungen zur Klanggestaltung gibt, mehr Raum ein als das eigentliche Stück. Das ist hier bei Macabre nicht so extrem, aber es ist klar, dass Ligeti sehr klare, dramaturgisch bedingte Vorstellungen von jedem kleinsten Detail besaß. Mein Prinzip ist es, entsprechenden Hinweisen so leidenschaftlich wie möglich zu folgen, um die ganze Kraft dieser Musik zu entfesseln und wiederzugewinnen. Aber das alles muss immer im Kontext einer Inszenierung passieren – und da finden sich dann jene interpretatorischen Freiräume, die dafür sorgen, dass am Ende starkes, lebendiges Theater entsteht. Herausfordernd und vor allem schon auf den ersten Blick auffällig ist auch die Instrumentation, die Ligeti bewusst als regelwidrig bezeichnet hat. Und damit meinte er primär nicht die Verwendung von Autohupen gleich
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EIN FURIOSER GENIESTREICH
am Beginn, sondern die extrem ungewöhnliche Orchesterbesetzung, vielleicht eine der ungewöhnlichsten, die ich im gesamten Opernrepertoire finden konnte. Sie negiert geradezu die jahrhundertealte diesbezügliche Tradition. Einer unverhältnismäßig kleinen Streichergruppe, die zumeist wiederum in sich in Einzelstimmen unterteilt ist, steht eine sehr große, farbenfrohe Bläsergruppe gegenüber – u.a. mit Instrumenten wie zwei Piccoloflöten, einer Oboe d’amore und einem Kontrafagott. Hinzu kommt noch eine ungemein vielfältige Schlagzeuggruppe. Jeder der drei Schlagzeuger hat an die 30 Instrumente zu spielen, darunter die denkbar exotischsten, bizarrsten und extravagantesten: einem großen Hammer wie in Mahlers 6. Symphonie stehen beispielsweise ganz simple Dinge wie einfache Zeitungsseiten zur Geräuscherzeugung gegenüber. Außerdem existiert noch eine eigene Tasteninstrumentenfraktion, bestehend aus Cembalo, Celesta, Klavier, elektrisches Klavier, Orgel. Verfeinert ist das alles noch durch eine Harfe und eine Mandoline. Wichtig ist aber, dass jedes dieser Instrumente stets dem jeweiligen Moment des Dramas dient. Nichts ist Show oder Spektakel. Die Sängerbesetzung wiederum ist etwas weniger »regelwidrig«: So hat der Einsatz eines Tenors für Piet vom Fass, eines Basses für Astradamors oder des dramatischen Mezzos für Mescalina nichts Außergewöhnliches an sich und das von zwei Frauen gesungene Liebespaar Amanda/Amando knüpft an die bekannte Tradition der Hosenrollen an. Der Countertenor des Fürsten Go-Go fällt da schon eher aus der Reihe, schon deshalb, weil er in den Besetzungen des 19., frühen 20. Jahrhunderts kaum oder nicht zu finden ist. Diese eigentümliche Stimmlage, kombiniert mit den eher exotischen Zupf- und Tremoloklängen aus dem Orchestergraben, soll die Lächerlichkeit dieser Figur hervorheben. Auffallend sind dann auch noch die stimmakrobatischen Anforderungen an den Chef der Geheimpolizei Gepopo und an die Venus. Welchen Stellenwert hat nun György Ligetis Le Grand Macabre innerhalb seines gesamten Œuvres – zumal er sich kompositorisch im Laufe seines Lebens unentwegt neu aufgestellt hat? Ligeti war ja Kosmopolit, lebte in verschiedenen Ländern, war vertraut mit den vielfältigsten Stilen und Entwicklungen, die er alle in sich
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EIN FURIOSER GENIESTREICH
aufnahm. Die dann erfolgende kluge Verwertung, Umgestaltung, das Zu-eigen-Machen dieses unterschiedlichsten Materials – inklusive klare Eigenzitate aus früheren Werken – ist es, das sich wie ein roter Faden durch sein Œuvre zieht und seine Personalität ausmacht. In Le Grand Macabre, seiner einzigen Oper wohlgemerkt, führt er all dies zu einem nach allen Seiten ausstrahlenden Höhepunkt. In seiner enzyklopädischen Anlage und Fülle – Vergleichbares finden wir bei Strawinski oder in der bildenden Kunst bei Picasso – spiegelt dieses Stück auf packende Art und Weise die (musik)geschichtliche Entwicklung an sich und ganz besonders jene des 20. Jahrhunderts mit all seinen Krisen und Schrecknissen in seiner gesamten Breite wider. Die faszinierende musikcollage-artige Form und Sprache thematisiert jene zentralen Fragen rund um Zerstörung und Selbstzerstörung, um apokalyptische Vernichtung, die uns auch heute weltweit umtreiben. Es ist somit ein tiefgründiges, ewiggültiges, rückblickendes und zugleich prophetisches Stück. Prophetisch, auch wenn man an die Brutalität und Vulgarität des Umgangs mit der Sprache denkt, die vieles, das wir heute in den Sozialen Medien wiederfinden, vorwegnimmt. Ich finde es jedenfalls schön und wichtig, dass wir gerade im Jahr 2023, anlässlich der Hundertjahrfeier des Geburtstags György Ligetis, durch die Auseinandersetzung mit dieser Oper seinem Genie und seiner Größe begegnen können.
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GYÖRGY LIGETI
»ES BLEIBT VÖLLIG OFFEN, OB DER GROSSE MAKABRE DER TOD IST ODER NUR EIN KLEINER, WENN AUCH DURCH SEIN SENDUNGSBEWUSSTSEIN INS HEROISCHE VERKLÄRTER UND GESTEIGERTER GAUKLER.« 23
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OLIVER LÁNG IM GESPRÄCH MIT JAN LAUWERS
MEHRDEUTIGKEIT ALS ANTWORT AUF ALLE FRAGEN das Mehrdeutige in den Vordergrund Nach der Uraufführung von Le Grand Macabre las man Unter- bringt, schafft man neue Möglichschiedliches, die einen sprachen keiten, entstehen neue Fragen. Und von einem Meisterwerk, die an- in der Kunst geht es um Fragen. Nicht deren hatten eine »Porno-Oper« um Antworten. Um Fragen. Das ist für entdeckt. Gerne wird das Werk mich die Definition von Kunst. Auch Le auch ein großes Welttheater ge- Grand Macabre ist mehrdeutig. nannt. Was ist diese Oper für ol Ligeti hat zumindest definiert, dass es sich um eine Anti-AntiSie? jl Welttheater? Oper handelt. ol In dem Sinne, dass es ein Panop- jl Damit sagt er nicht, dass er gegen tikum des gesamten Lebens, der Oper ist. Nein, er ist gegen das, was Welt entwirft. Also alles enthält. gegen die Oper ist. Eine doppelte Verjl Ich würde sagen, dass jede Kunst, neinung! Ligeti war ein ungemein podie ich mache, im Idealfall genau das sitiver Mensch, der sein Fach sehr gut erfüllen sollte. (lacht) Wissen Sie, es beherrschte. Für mich war er einer der gibt eine gewisse Tendenz der Spezia- größten Komponisten aller Zeiten. Er lisierung, die entsprechende Definitio- kannte die Operngeschichte und ihre nen produziert. Allerdings führt eine Meister extrem gut, er kommentiert lauSpezialisierung auch zu einer Verar- fend und er zitiert aus der Geschichte. mung. So hörte ich, dass es jetzt auch Und Ligeti hatte eine radikale Form des eine Schule ausschließlich für Opern- Humors, eine radikale Form der Freude regie gibt. Das halte ich für falsch. Es – ich kenne viele, die ihn erlebt haben: ist falsch, sich immer weiter zu spezia- Er war so etwas wie ein unübertroffener lisieren und zu spezialisieren: das führt Clown, ein Narr – im besten Sinne! Das eben zu einer Einengung. Wenn es in schätze ich sehr. der Kunst keine Mehrdeutigkeit gibt, ol Weil wir über Humor reden: Ist dann ist sie für mich nicht interessant. Le Grand Macabre eine Komödie Denn wenn man oder Tragödie? ol
KS HANS PETER KAMMERER als SCHWARZER MINISTER ANDREW WATTS als FÜRST GO-GO DANIEL JENZ als WEISSER MINISTER
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IM GESPRÄCH MIT JAN LAUWERS
jl Ligeti selbst sprach von einer tie- ol Und wie sieht Ihr Arbeitsablauf fen Tragödie und sah das Werk nicht nur bei solchen Neuproduktionen als Komödie. Er verwendete Humor als aus? Waffe. Ich persönlich setze zu viel Hu- jl Bei jeder Produktion, die ich mor in meinen eigenen Werken, in mei- mache, ist das Konzept anders. Vor allem ist es etwas anderes, ob ich ein nen Schriften ein. Manchmal denke ich: Ich mache das, weil ich ein Feigling bin. eigenes Werk erschaffe oder an einer Und dann denke ich mir: Humor ist eine bereits bestehenden Oper, wie Le Grand Möglichkeit zu überleben. Ligeti schrieb Macabre, arbeite. In zweiterem Falle ist die Oper in den 1970er Jahren, als die se- der Erschaffer der Meister: Ich bin also xuelle Revolution stattfand, man fühlte ein Diener Ligetis und seine Oper ist die sich frei, die Zukunft war strahlend. Bibel, die wir alle bestmöglich zu verHeute ist die Welt viel dunkler gewor- stehen und an die Menschen zu bringen den, denken wir nur an die Ukraine, an versuchen. Das Erste, was ich mache, ist Israel oder den Klimawandel. Auch die die Musik zu hören und mich in die MuGender-Diskussion ist ernsthafter und sik zu verlieben. Und beim Musikhören ernster als die sexuelle Revolution in den mache ich Zeichnungen, Bilder… und 1970ern war – und ich unterstütze sehr dann kommen Ideen. vieles, was ich in diesen Diskursen höre, ol Wie sieht das Verhältnis des sehr. Man kann Einflüsse der Epoche, bildenden Künstlers Lauwers zum Regisseur Lauwers aus? in der man ein Kunstwerk schafft, nicht Das Verhältnis des Regisseurs gänzlich ignorieren – selbst wenn man versucht, sich von ihnen zu lösen und zum Bühnenbildner? einer Ambiguität Raum zu geben. Da- jl Ich schaffe auch bildende Kunst, her ist Le Grand Macabre heute düsterer die von Theaterproduktionen ganz unals in der Uraufführungszeit und daher abhängig ist, aber selbst das, was im betont meine Sicht auf Ligeti mehr das Zuge von Produktionen entsteht, ist Groteske. Es ist naheliegend, dass ich ein autonomes Kunstwerk. Es exisaus diesem Grund in den Stimmen der tiert aus sich heraus. Und wenn ich ein fantastischen Sängerinnen und Sänger Objekt für die Bühne entwerfe, wie unserer Produktion nach den dunklen die riesigen Puppen in Le Grand MaSeiten suche. cabre, dann müssen sie dreidimensiool Während wir sprechen, zeich- nal »funktionieren«. Es ist also nicht so, dass sie nur Fassade, also nur von nen Sie. Sie haben zu Le Grand Macabre auch zahlreiche Bilder einer Seite ausgeführt wären. Sondern angefertigt. Hat das mit der Un- sie sind rundum ausgestaltet, egal, ob teilbarkeit der Kunst zu tun? das Publikum es sehen kann oder nicht Diese umfassende Annäherung – eben als autonomes Objekt. Das hat damit zu tun, dass ich ein Künstler an ein Werk? jl Als wir mit dem Gespräch anfin- bin, der Oper macht. Und nicht Operngen, zeichnete ich einen Teufel, nun regisseur. Ich entwickle ja auch meine einen Clown. Keine Ahnung, warum… eigenen Bühnenbilder. Der BühnenAber ich mache das immer so. Immer. bildner Lauwers ist übrigens nicht der Ich denke mit meinen Händen, das Regisseur Lauwers, es gibt beide: den schon mein ganzes Leben lang. Bühnenbildner und den Regisseur. Ich
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sehe mich als einen Theatermacher, als einen Künstler, der Oper macht. ol Le Grand Macabre spielt im imaginären Breughelland, hier auf der Probebühne sind zahlreiche Gemälde des flämischen Meisters zu sehen. jl Bruegel war ein Lügner. Er hat durch seine Bilder betrogen, denn was war zu seiner Epoche? Die kleine Eiszeit. Die Pest. Menschen starben in großer Zahl. Wenn man die Winterlandschaften von Bruegel anschaut, sieht man fast keine Leute. Und dann hat er diese großen Gemälde gemalt mit all den Köstlichkeiten. Warum? Weil das so in Auftrag gegeben wurde, weil der Herrscher in seinem Schloss Bilder mit Essen haben wollte, Essen, das es in Wahrheit gar nicht gab. Und schon wieder sind wir bei der Vielschichtigkeit von Kunstwerken! Es ist fantastisch, was alles in nur einem Gemälde steckt, wie viele Ebenen, Wahrheit, Lüge. Jeden Tag, bevor wir proben, sage ich daher den Sängerinnen und Sängern, den Tänzerinnen und Tänzern: Schaut euch die Bruegel-Bilder, die wir aufgehängt haben, an! Und dann singt! Dann tanzt! Es ist so inspirierend… ol Entdecken Sie in Ihrer Arbeit ganz allgemein diese Inspiration? jl Ja, schauen Sie sich etwa das Bruegel-Gemälde Der Triumph des Todes an: da gibt es kein erkennbares Zentrum. Und genau das habe ich von Bruegel gelernt: jeder kann sich seine eigene Geschichte entwickeln, jede kann sich das herauspicken, was sie anspricht. Mein künstlerisches Leben richtet sich genau nach diesem Prinzip aus: immer besteht für das Publikum eine Wahlmöglichkeit. Selbst, wenn eine Diva, ein Divo in einer Opernproduktion auf der Bühne
steht, selbst da gibt es eine Balance, eine Vielfalt. Ligeti macht übrigens genau das in Le Grand Macabre. Und auf diese Produktion bezogen: unsere Kostümbildnerin Lot Lemm orientiert sich an Bruegels Der Triumph des Todes, der Light-Designer Ken Hioco setzt genau die Farben dieses Gemäldes in seiner Lichtgestaltung ein. ol Sie haben einmal über Ihre persönliche Beziehung zu Bruegel erzählt. Es gibt sogar eine örtliche Nähe. jl Ich bin in der Region geboren und aufgewachsen, in der Michel de Ghelderode, der das der Oper zugrundeliegende Schauspiel schrieb, lebte und aufwuchs. Ich wohnte in dem Dorf, in dem Bruegel geboren wurde, ich wurde in der Kirche getauft, die auf seinen Gemälden zu sehen ist. Vom ersten Tag an fühlte ich mich ihm sehr nahe, und wissen Sie, manchmal denke ich, ich wäre seine Reinkarnation. Ich wünschte es! (lacht) Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass ich ihn sehr genau verstehe. Bruegel ist mir in vielem nahe, ich würde sagen, dass wir bereits in unserem allerersten Zugang zur Kunst ähnlich sind: Denn im Katholizismus, in den ich hineingeboren wurde, war für lange Zeit das erste Kunstwerk, mit dem man als Kind konfrontiert wurde, die Abbildung des Leidens Christi, das Blut, die Nägel. Und je dunkler die Gemälde waren, desto beliebter waren sie. Dieser Leidende war also meine Vorgeschichte als Künstler, mein erstes wahrgenommenes Gemälde. Und das war auch das erste Bild, das Bruegel sah, das Ghelderode sah. Hier gibt es eine Verbindung. Wir alle traten in eine Welt, in der ein gefolterter Mensch ein Symbol ist – und das macht natürlich etwas mit einem. Es hat Jahre gedauert, bis ich
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KOPFZEILE
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das akzeptiert habe. Es gibt bei Bruegel, Rubens und so weiter eine Sehnsucht nach Grausamkeit. Eine andere Art der Dunkelheit und Grausamkeit, als Sie sie etwa in Wien bei phänomenalen Künstlern wie etwa Thomas Bernhard, Michael Haneke oder Hermann Nitsch erleben können. In Antwerpen fühlte ich eine andere Dunkelheit, auch wenn der Hintergrund derselbe ist. Es ist interessant, dass die beste Kunst oft auf so dunklen Gedanken der Menschheit basiert. Mit Le Grand Macabre vermeidet Ligeti diese Dunkelheit irgendwie, um zu einer Absurdität zu finden. ol Und Ihre Beziehung zu Ligeti? jl Von Ligeti lerne ich jeden Tag. Ich habe auch das Gefühl, dass ich mich total mit ihm identifiziere… ich habe Interviews gelesen, habe mich in seine Gedankenwelt eingelebt. Und ich denke: Ich verstehe ihn genau! Aber es ist ein sehr herausforderndes Stück: Es gibt Musik von anderen Komponisten, in denen man vielleicht ein bisschen kürzen kann. Bei Ligeti: keine Sekunde. Es ist einfach unmöglich. Ligetis Werk ist einfach zu perfekt. Und es passiert im Rahmen von Le Grand Macabre übrigens etwas Faszinierendes: Die Menschen werden auf der Bühne nicht so gehen, wie sie üblicherweise gehen. Sie werden auf der Bühne nicht so singen, wie sie üblicherweise singen. Alles wird anders sein! ol Stets findet man Opernfiguren, die einem näher oder ferner stehen. Gibt es in Le Grand Macabre eine Figur, mit der Sie sympathisieren? jl Jede Person in der Oper ist wichtig, ich habe keine Präferenzen. Auf dem Papier war ich zunächst alarmiert, weil das Bild von Mescalina so zerbrechlich und verstörend ist, und so war ich Vorherige Seiten:
JAN LAUWERS ZU LE GRAND MACABRE
anfangs auf sie fokussiert. Was bedeutet es, wenn eine Frau auf die Bühne kommt, die total betrunken ist, zweimal ermordet wird, wieder betrunken ist, misshandelt wird? Was kann man mit so einer Figur heute machen? Fast unmöglich! Ich sprach mit Marina Prudenskaya darüber: Wie fühlst du dich mit der Mescalina? Wie empfindest du sie? Das sind die Fragen, die wir uns jetzt stellen müssen. Im Probenprozess merke ich, wie komplex alle, wirklich alle Charaktere sind. Wir haben großartige Sängerinnen und Sänger, von Georg Nigl bis Sarah Aristidou, und sie alle sind sehr gefordert: Denn dieses Werk ist in vielem ganz anders als viele andere, es ist nicht Mozart oder Wagner. Aber wir haben ganz großen Spaß an der Arbeit. Fest steht für alle: Le Grand Macabre ist eine Herausforderung. ol Kommen wir zum Ende der Oper. Was soll es uns sagen? Dass es gar keine Grenze mehr gibt? Nichts Fixes mehr? Nicht einmal der Tod gibt einen Rahmen vor? jl Es gibt eine Mehrdeutigkeit. Das ist auch das, was Ligeti sagte. Man kann einerseits meinen, dass es ein nihilistisches Ende ist: der Tod ist tot. Jetzt gibt es keine gültigen Regeln mehr. Andererseits kann man es als tragisches Ende betrachten, stellen Sie sich vor, dass es keinen Tod mehr gibt! Was würde das für das Leben bedeuten?! Ich lasse das Finale, vier Wochen vor der Premiere, noch offen. Aber ich ringe durchaus mit dem Ende: Vielleicht ist das 4. Bild bei uns noch zu schön? Vielleicht muss es dunkler sein? Dann aber denke ich mir: Manchmal wollen wir alle auch etwas Trost in der Kunst finden! Kann dieses Stück Trost spenden? Vergleichen wir es mit Claudio Monteverdis L’incoronazione di Poppea,
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eine Arbeit, die ich an der Staatsoper gemacht habe. Trotz der Grausamkeit von Poppea und Nerone gibt es eine Tröstung durch die Musik. Bei Grand Macabre ist das auch möglich, Ligetis Musik kann auch sehr berührend sein. ol Ist Nekrotzar überhaupt der Tod? jl Nekrotzar ist ein Scharlatan, ein Clown, der Tod… wir wissen es nicht. Er kann auch ein verärgerter Gott sein, der den Planeten zerstören will. Oder auch ein Bild für den apokalyptischen Klimawandel. Ligeti meint: Alles ist denkbar, das Publikum soll wählen. ol Wer ist Nekrotzar für Sie? jl Ich denke, er ist der Tod. Und wenn er stirbt, dann fahren wir alle zur Hölle. Dann ist der Spaß vorbei. Und die Hölle, die ist dann auf Erden – und sie ist eine goldene Box, in der wir gefangen sind, ohne jede Hoffnung und Freude. Trotz des Alkohols, der getrunken wird, der Partys, die organisiert werden: kein Spaß mehr! Denn man kann trinken und trinken und trinken, aber es ändert nichts. Denn für einen Sinn muss das Leben zerbrechlich sein. Aber wissen Sie was: Ich erkläre Ihnen bereits zu viel! Das Publikum muss sich selbst Fragen stellen, es soll seine Ideen haben und die Verantwortung selbst übernehmen. Meine Sicht will ich keinem aufzwingen. Ganz bewusst ist das Ende der Oper bei Ligeti nicht ganz klar definiert und ich werde es auch zweideutig zeigen. Ich bin nicht dazu da, einfach festzustellen: So ist es und nicht anders! ol Die Frage nach dem Ende soll sich also jede Zuschauerin, jeder Zuschauer stellen? jl Was ich dem Publikum der Staatsoper anbieten möchte, ist, sich dieses Meisterwerk anzuschauen und seinen
Geist zu öffnen. Le Grand Macabre ist ein vielschichtiges Werk, das immer neue Fragen aufwirft. ol Und die Frage nach einer Botschaft des Abends? jl In der Kunst nach einer Botschaft zu fragen, bedeutet, die falsche Frage zu stellen. Ich bin nicht nur Künstler, sondern liebe die Kunst an sich. Ich liebe es etwa, allein in einem Museum zu sein und Bilder zu betrachten. Und jedes gute Kunstwerk verändert mein Leben. Doch Kunst entsteht im Kopf, in der Seele, im Inneren also und nicht durch sein äußeres Sein. Wenn man also aus einem Museum geht und keine Erinnerung an das, was man gesehen hat, besitzt, dann existieren die Kunstwerke nicht. Hier sehe ich den Unterschied zum Entertainment: Wenn es im Kopf und in der Seele bleibt, dann ist es Kunst. ol Interessanterweise wünschen sich viele Menschen gerade von der Kunst Antworten auf ihre Fragen. jl Antworten – und Trost. In manchen Momenten ist es notwendig, genau das zu bekommen. Manchmal aber bekommt man einen Tritt in den Hintern. Mitunter verlässt man die Vorstellung und denkt sich: »Hm, heute habe ich nichts gefunden«. Oder aber: »Das hat mir sehr viel gegeben! Jetzt habe ich viele neue Fragen.« Und diese neuen Fragen sind gut, finde ich. Daher ist es auch gut, dass das Ende von Le Grand Macabre nicht klar ist. Wenn jemand sich also denkt: »Was soll ich mit dem Finale? Ich bin noch nicht zufrieden!«, dann ist das gut! Denn für eine schnelle Befriedigung ist vielleicht Pornografie zuständig – Kunst hingegen sorgt für Mehrdeutigkeit und immer neue Fragestellungen.
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GYÖRGY KURTÁG
GEDENKWORTE FUR GYORGY LIGETI Nachruf, Trauerrede? Für mich ist er lebendiger denn je. Mein enges Arbeitszimmer in St. André: seit Monaten vollgestopft mit seinen Kompositionen, Schriften und Gesprächen, mit den über ihn verfassten Aufsätzen und Gedenkschriften; immer wieder lese ich die Partituren, höre mir alle für mich zugänglichen Schallplatten und Aufnahmen an. Vor mir das Lebenswerk – vielleicht auch sein Leben. Ständig möchte ich ihm etwas erzählen; auch davon, was ich nach Jahrzehnten von seinen Werken endlich verstanden habe. Vielleicht gibt es ja Zusammenhänge, die nur ich jetzt entdecke. So viele Fragen würde ich ihm stellen. Manchmal geben die nachfolgenden Arbeiten darauf eine Antwort, ein andermal mag es hoffnungslos sein, nun, da er sich selbst nicht mehr äußern kann, eine Erklärung zu finden. Heraufbeschwören möchte ich den Menschen, wie auch Sie ihn gekannt haben mochten. Ich muss andere zu Hilfe rufen, die seine Züge klarer darstellen können als ich. »Man musste ihn reden hören, wenn möglich auch sehen«, schreibt Wolfgang Sandner (FAZ, 17. Juni 2006), indem er auf Ligetis lebendige und ausdrucksstarke Gesten hinweist, »er beherrschte die seltsame Kunst der Sprachpolyphonie. Wer das Glück hatte, GYÖRGY LIGETI
die wundersame Art seiner sprachlichen Ausdrucksweise mitzuerleben, war danach in der Lage, seine Musik besser zu verstehen. Denn in seiner Sprache konnte man eine frappierende Kongruenz zu den Partituren entdecken: die gleichen wuseligen Klangfigurationen, die Assoziationsfülle, das Weithergeholte, nur Angetippte, das sich dennoch auf irgendeine magische Weise zu einer komplexen Spracharchitektur türmte. Ligeti war ein Gesamtkunstwerk.« Eine Erinnerung aus dem Nachruf seines engsten Freundes in den letzten sechs Lebensjahren, des Neurobiologen Gerhard Neuweiler: »… er begann, mich zu fragen, was ich gerade machte … Er fragte, und ich antwortete, er fragte nach, und ich antwortete, er bohrte tiefer und tiefer …, er glich einem Vulkan, der immer neue Ideen, Anregungen, Zweifel, Fragen ausspuckte … Er zwang mich zu genauerem Nachdenken, zum Nachforschen, und führte mich durch seine inquisitorische Neugierde in neue, für mich unerwartete Zusammenhänge in meinem eigenen Fach.« In meiner Privatmythologie schreibe ich diese Art des Bohrens dem SokratesLigeti zu. Ja, die Neugier! Jetzt zitiere ich seine Worte aus dem Jahr 1993: »So verschieden die Kriterien
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für die Künste und die Wissenschaften auch sind, Gemeinsamkeiten gibt es insofern, als die Menschen, die in diesen beiden Bereichen arbeiten, von Neugier angetrieben werden. Es gilt, Zusammenhänge zu erkunden, die andere noch nicht erkannt haben, Strukturen zu entwerfen, die bis dahin nicht existierten.« Diese nur den Großen der Renaissance eigene »unstillbare Neugier, die Euphorie des Kennenlernens und Verstehens, die schier atemberaubende Geschwindigkeit des Denkens«, wie es der ungarische Komponist László Vidovszky formuliert, das Nie-sich-Begnügen mit dem Erreichten, immer gleich auf der Suche nach neuen Wegen des Ausdrucks… Zugleich entsteht aus den Erfahrungen der Musikgeschichte von Machaut bis heute die echte Ligeti’sche Poesis. Viel ist darüber geschrieben worden, was alles er von den Errungenschaften der Folkloreforschung profitiert habe (von Briăloiu, Kubik, Simha Arom und natürlich immer und immer wieder von Bartók), doch es hat den Anschein, als hätte sogar er selbst vergessen, dass der junge Ligeti (1950-53) in einem grundlegenden Aufsatz die Gesetzmäßigkeiten des Funktionierens und Harmonisierens der rumänischen Volksmusikorchester aufgedeckt hat. »Die Wissenschaften wurden« für ihn »ebenso eine wahre Quelle der Inspiration« (Vidovszky). Mit Lobanova spricht er über die »Paradoxa und Schönheiten der mathematischen Denkweise…«. Und die Literatur, die Künste… Von Kleist bis Krúdy, von Proust bis Weöres, Hölderlin und Kafka, Shakespeare und Lewis Carroll, der Joyce des Finnegans Wake, von Beckett und Ionesco zum Borges der Labyrinthe,
von Bosch bis Piranesi, von Cézanne bis Miró und Escher – was alles spiegelt sich in dieser Musik! Unsere Bekanntschaft und Freundschaft begann vor zweiundsechzig Jahren. Die Aufnahmeprüfung für das Fach Komposition an der Budapester Musikakademie in den ersten Septembertagen 1945 war für mein ganzes Leben bestimmend. Wir warteten darauf, aufgerufen zu werden. Währenddessen blätterte ich in seinen Partituren. Ich erkannte, wie hoch sein Wissen, seine Reife und seine musikalische Phantasie über mir standen. Für ein Leben schloss ich mich ihm an. Bis 1956, solange er noch in Budapest lebte, verband mich mit ihm eine enge Freundschaft: Ich durfte Zeuge der Entstehung seiner Werke sein, teilhaben an seinem Leben, auch Zeuge seines Kennenlernens mit Vera durfte ich sein und Trauzeuge dann der 1952 stattgefundenen Heirat. Sein Leben empfinde ich als eine einzige Einheit. Ein unendlich weitverzweigtes Œuvre, zusammengehalten von der TREUE. Treue vor allem zur Kindheit. a) Sein frühkindlicher Urtraum: reglose Texturblöcke, die allmählich und unbemerkt sich wandeln, von innen indes wimmeln, sich winden, fast schon bereit, musikalische Strukturen zu bilden. Dies wird für Jahrzehnte einer seiner musikalischen Grundtypen, die in ihrer reinsten Form in den chromatischen Riesenclusters und mikropolyphonen Geflechten seiner Atmosphères aufscheinen; später in den in ihrer Vollkommenheit unerreichbaren, flehentlich klagenden Stimmenfaszikeln der Kyrienfuge des Requiems (1962-1965). b) Kylwirien, sein imaginäres Land, an dem er im Alter zwischen fünf und dreizehn Jahren baut. Er zeichnet far-
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bige orohydrographische Karten, die man auch als Miró-Gemälde akzeptieren könnte, erfindet die kylwirische Sprache und Grammatik, Geographie, Geschichte, naiv utopisch die rechtliche und gesellschaftliche Anlage Kylwiriens. Aus Kylwirien folgen seine Aventures und die Nouvelles Aventures (1962/65). Hierin artikuliert sich sein zweiter musikalischer Grundtypus: lauter Humor, dramatische Wenden, unerwartetes zuckendes Aufblitzen und ebenso unerwartetes Innehalten, Aggression und Beklommensein, die 3 Sänger formen aus einem nicht-existierenden phonetischen (superkylwirischen?!) Sprachmaterial durchaus menschliche Beziehungen. Die zwei Aventures wollte er in einem einzigen Opernprojekt vereinen: Kylwirien, so sollte der Titel lauten. Glücklicherweise ist stattdessen Le Grand Macabre geboren worden! Im Dies Irae des Requiems entfalten sich aus diesem Grundton – auf dem Siedepunkt eines Jüngsten Gerichts von Hieronymus Bosch oder Hans Memling – die Bilder der mittelalterlichen Sequenz: von Verzweiflung bis zur Beklemmung, vom Tragischen bis zur Groteske. c) In Krúdys Erzählung – gleichfalls ein frühkindliches Leseerlebnis – eine alte Witwe; die Wohnung, in Dämmerschein getaucht, mit antiken Uhren vollgepfropft, die unregelmäßig und durcheinander schlagen, doch mit ihrem Tönen eine einzigartige Atmosphäre schaffen. Aus dieser Kindheitserinnerung und der Erfahrung mit dem Poème symphonique für 100 Metronome entwickelte Ligeti einen neuen ScherzoTypus, über den bereits die Tempo- und Charakterbezeichnungen Auskunft geben: Come un mecanismo di precisione
(Streichquartett Nr. 2, III) oder Movimento preciso e meccanico (Kammerkonzert III). Die Uraufführung des Poème symphonique für 100 – mechanische – Metronome von 1962 ging in einem Skandal unter. Schon der auf die Blütezeit der Romantik hinweisende Titel und die Gegenüberstellung der von selbst mechanisch schlagenden Metronome wirkten als Provokation, als »épater le bourgeois«. In den späteren Konzerten dann zeigte sich, über die Tollkühnheit des Unternehmens hinausgehend, auch die Poesie des Werks, wenn die auf verschiedene Geschwindigkeiten eingestellten und gleichzeitig in Gang gesetzten Metronome anfangs ein undurchdringliches Geflecht bilden und die Struktur schließlich mit dem Verstummen der auf das schnellste Tempo eingestellten Maschinen (die am frühesten ablaufen) immer übersichtlicher wird. Die Schläge der zwei langsamsten, als »Solisten« allein zurückbleibenden Metronome wirken wie ein ergriffener lyrischer Abschied. Die letzten Minuten. Vera und Lukas sind bei ihm. Der Atem wird langsam, stockt, setzt von Neuem ein, wird noch langsamer. Lukas: »Wie das Ende des Metronomstücks« … der Atem wird langsam, hält inne. Zum Nachmittagskonzert am Tage der Trauerfeier das Poème Symphonique. Verblüffend, tragisch, beckettartig. Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke.
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GERGELY FA ZEK A S
LEBEN WIR – ODER NICHT ? OPER JENSEITS VON TOD UND GESCHICHTE Würde man mich bitten, die Komplexität von György Ligetis mehrschichtiger Figur in einem einzigen Bild zu zeigen, dann würde ich die Nacht vom 7. November 1956 wählen. Es war zwei Wochen nach dem Ausbruch des ungarischen Aufstandes gegen die Sowjetunion im Jahre 1956. Sowjetische Panzer besetzten die Straßen von Budapest, es gab Kämpfe mit Mitgliedern des Widerstands, die Zivilbevölkerung verbrachte den Großteil des Tages in Luftschutzbunkern. Im Keller eines Budapester Zinshauses befand sich ein vielversprechender junger Komponist, György Ligeti, Professor der Musiktheorie an der Franz-Liszt-Musikakademie, der gerade ein paar Monate zuvor eine Anthologie für sein im Jahre 1954 veröffentlichtes Lehrbuch über die klassische Harmonielehre redigiert hatte. Spät am Abend ging Ligeti zum Schrecken seiner Mitbewohner in seine Wohnung, ohne die Gefahr zu beachten. Während draußen Artilleriegeschoße herumschwirrten, drehte er das Radio auf und suchte den Westdeutschen Rundfunksender. Er wollte das um 23 Uhr beginnende Programm hören: die Ausstrahlung eines neuen elektronischen Musikstücks von Karlheinz Stockhausen, einer Schlüsselfigur der westlichen Nachkriegs-Avantgarde. Vorherige Seiten: SZENENBILD
Es ist schwer zu sagen, wie Ligeti in dieser schrecklichen Nacht diese Musik wahrnahm, über ein vermutlich schlechtes Mono-Rundfunkgerät, mit dem schweren Bombardement im Hintergrund. Seiner Erinnerung nach war er verzaubert von dem, was er hörte. Wie eine verdichtete Mischung zeigt uns dieser Moment die extrem diverse Natur von György Ligeti, der allgemein als einer der wichtigsten Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt: Der junge Komponist, ein Professor der klassischen Musiktheorie, schaut dem Tod in die Augen, um die modernste elektronische Musik der Zeit über ein schlechtes Rundfunkgerät zu hören, während sowjetische Panzer sein Heimatland unter seinem Fenster zerstören. Ligeti wurde am 28. Mai 1923 in eine jüdische Familie hineingeboren, in einem ungarischen Städtchen namens Dicsőszentmárton in Siebenbürgen, das nur drei Jahre zuvor Rumänien zugeschlagen worden war, als Resultat der Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg. Als er sechs Jahre alt war, zog er mit seiner Familie nach Kolozsvár (rumänisch Cluj-Napoca), wo er die Schule besuchte und seine ersten Kompositionsstunden erhielt. Während des Krieges wurden die meisten
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LEBEN WIR – ODER NICHT?
Familienmitglieder in Konzentrationslagern ermordet, darunter auch sein Vater und jüngerer Bruder. Wie durch ein Wunder überlebte er. Ab 1945 lebte er in Budapest und studierte Komposition an der FranzLiszt-Musikakademie in der Klasse von Sándor Veress und danach, nachdem sein Professor emigriert war, in der Klasse von Ferenc Farkas. Kurz vor der Aufnahmeprüfung begegnete er seinem lebenslangen Freund, dem Komponisten György Kurtág, in den Gängen der Liszt-Akademie. Nach seinem Abschluss sammelte er Volkslieder in Rumänien und wurde dann Professor für Musiktheorie an der Akademie. 1951 heiratete er Vera Spitz, eine junge Psychoanalytikerin, mit der er in den letzten Tagen des Jahres 1956 in den Westen floh. Ihr einziger Sohn, Komponist und Schlagzeuger Lukas, wurde 1965 in Wien geboren. Zwei Jahre später nahm Ligeti die österreichische Staatsbürgerschaft an und verbrachte den Rest seines Lebens in Deutschland und Österreich. Er hielt regelmäßig Kurse in Schweden ab und lebte 1972 für ein Semester in den Vereinigten Staaten als Gastprofessor an der Universität Stanford. Im Jahr darauf wurde er Professor an der Musikhochschule in Hamburg. 2006 starb er in Wien. Er benannte einmal die europäische Kultur als seine Heimat, aber es wäre passender, die ganze Erde oder sogar das ganze Universum als seine wahre Heimat zu sehen, da sein Denken von allem und jedem inspiriert war: die Tradition der westlichen Kunstmusik (bis zurück zu ihren mittelalterlichen Wurzeln), die Melodien, Rhythmen und Gefühle der osteuropäischen Volksmusik, die komplexen rhythmi-
schen Strukturen der karibischen Populärmusik wie auch die afrikanische Musik der Subsahara, die unterschiedlichsten Kompositionsmethoden von zeitgenössischen Komponisten (selbst jener, die den meisten als inkompatibel vorkamen), Literatur vom Ungarn Sándor Weöres bis zum Deutschen Hölderlin, vom Rumänen Ionesco bis zum Engländer Lewis Carroll (im Wesentlichen in diesem Zickzackmuster), neue und alte Theorien der Naturwissenschaften, komplizierte Mechanismen von Maschinen, interne Gesetze von Naturphänomenen und chemischen Prozessen, Entdeckungen der fraktalen Geometrie und Chaostheorie – die Liste kann unendlich fortgesetzt werden. Und er war auch fasziniert von der Unendlichkeit. Für Ligeti, einen Komponisten, der immer unter dem Zauber des Neuen stand, war es nicht selbstverständlich, dass er sich der Oper zuwandte, dem traditionellsten Genre, das mit jahrhundertealten Konventionen überladen ist. »Sprengt die Opernhäuser in die Luft«, der berühmt-berüchtigte Ausspruch von Ligetis AvantgardeKollegen Pierre Boulez in einem Interview aus dem Jahre 1967, zeugt nicht von Verachtung für das Genre, sondern für das konservative Repertoire und die schlampige Arbeitsmoral der Opernhäuser. Ligeti liebte das Genre seit seiner frühen Kindheit – er wurde mit sieben Jahren zum ersten Mal in eine Oper in Kolozsvár mitgenommen. »Werke von Verdis mittlerer Periode oder Bizets Carmen sind in mir eingebrannt«, sagte er 1979 in einem Interview mit Péter Várnai. »Ich brauche nicht daran zu denken, ich brauche sie nicht zu suchen, sie sind immer in mir präsent.«
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GERGELY FA ZEK A S
Seine Fähigkeit, den Inhalt eines Textes musikalisch auszudrücken, ist erkennbar in seinen frühen ungarischen Liedern und Chören, die er vor seiner Emigration komponierte. Sein erstes wesentliches Werk im Westen, eine elektronische Komposition namens Artikulation (1958), ist ein Experiment der musikalischen Wiedergabe des menschlichen Sprechens mit elektronischen Mitteln. Drei Vokalstücke, die er in den 1960er Jahren schrieb, können als konkrete Vorstudien für die Oper betrachtet werden: Aventures und Nouvelles Aventures (1962–1964) verwenden nicht begriffliche Texte, die zu einer stark gestischen Musik gesetzt sind und damit das absurde Musiktheater ins Extreme treiben. Aber noch wichtiger für die Oper ist das Requiem, das Magnum Opus, das Ligeti für den schwedischen Rundfunk Mitte der Sechzigerjahre komponierte. Das monumentale Werk ist das bedeutendste Beispiel von zwei wichtigen stilistischen Elementen in Ligetis musikalischen Universum: Mikropolyphonie und »Gestürme«. Ersteres bezieht sich auf die dicht geschriebenen polyphonischen Texturen, in denen das intensive Zusammenspiel von chromatischen Musikpassagen eine scheinbar bewegungslose, statische musikalische Oberfläche schafft. »Gestürme« bezieht sich auf die gewalttätigen, kontrastierenden Gesten der Musik: das ungarische Wort, das Ligeti dafür benützt, »handabandázás«, ist unübersetzbar – es umfasst eine Art von lautem, überdrehten, aggressiven Sprechen und Gestikulieren ohne erkennbare Bedeutung. Nach der Prämiere des Requiems war es Göran Gentele (1917–1972), Direktor der Königlich-Schwedischen
Oper, der Ligeti mit einer Oper beauftragte. Der Komponist dachte zunächst daran, als Thema Kylwiria zu nehmen, das imaginäre Land, das er aufwendig in seiner Kindheit erfunden hatte. Er zeichnete seine Landkarten, erschuf seine Sprache, baute seine Mythologie auf. Dieser erste Plan wurde verworfen, und die nächste Idee war die uralte Geschichte des Ödipus. Alle diese Pläne landeten jedoch im Mistkübel, als Gentele, nunmehr Direktor der Metropolitan Opera in New York, 1972 bei einem Autounfall starb. Dann schlug Bühnenbildnerin Aliute Meczies das Drama La Balade du Grand Macabre von Michel Ghelderode (1898–1962), einem belgischen surrealistischen Dichter, als Grundlage für das Libretto vor. Dabei geht es um die Gestalt des Todes, der den Weltuntergang herbeiführt, wonach aber nach dem endgültigen Zusammenbruch alles genauso weitergeht wie vorher. Entweder war Nekrotzar ein Betrüger oder die Welt hat einen Punkt erreicht, wo sogar der Tod versagt. Ligeti arbeitete am Libretto (einer freien Adaption des ursprünglichen Dramas) mit Michael Meschke, dem damaligen Direktor des Stockholmer Puppentheaters, zusammen und hatte bereits zu Beginn der Textabfassung sehr konkrete musikalische Ideen. Das Thema des Todes beschäftigte Ligetis Fantasie sein Leben lang, da er schon in jungen Jahren damit zu tun hatte (lange vor der schrecklichen Nacht vom 7. November 1956). In einem Essay mit dem Titel Begegnung mit Kurtág im Nachkriegs-Budapest beschreibt er lebhaft die besondere Beziehung, die die Menschen während des Krieges mit dem Tod hatten: »Wir leben nicht wirklich. Seit der Deportation unserer
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Familien waren Leben und Tod ein und dasselbe geworden. Wer starb, der starb, wer zufällig am Leben blieb, blieb am Leben.« Nach Fertigstellung der Oper erklärte er die Gründe für seine Beschäftigung mit dem Tod mit psychologischen Begriffen: »Die Situation, dass ich sehr häufig und lange Zeit an der Schwelle des Todes stand, sowohl kollektiv als auch individuell, wird in meiner Musik projiziert. Nicht so, dass die Musik tragisch würde – ganz und gar nicht. Menschen, die schreckliche Dinge erlebt haben, werden keine ernsthaft schreckliche Kunst erschaffen. Sie werden sie verfremden.« Verfremdung war ein gemeinsames Kennzeichen der Theatermusik in der Nachkriegszeit und Ligeti selbst hat dies bereits in den zwei Aventures angewandt. Aber er fand, dass er im Genre der Oper nicht weitergehen konnte als Mauricio Kagel in seiner »Antioper« Staatstheater, welche 1971 uraufgeführt wurde. Ligeti entschied sich daher, eine »Anti-Anti-Oper« zu schreiben, also eine Oper, in der er nicht nur den Tod behandelte, sondern die gesamte Tradition der westlichen Kunstmusik, der er das Blut heraussaugte, ähnlich wie Nekrotzar, die Figur des Todes, der in der zweiten Szene der Oper in die Kehle der sexhungrigen Mescalina beißt. Blut spritzt auf die Bühne, wenn Musikgeschichte aus Ligetis Partitur schwappt. Konkrete und verzerrte Zitate erscheinen und verschwinden wieder spurlos, Motive von Beethovens Eroica-Symphonie, Purcells Dido und Aeneas, Monteverdis Lamentos, Liszts Klaviermusik, Offenbachs Operetten, Verdis Chören, Schuberts Galoppen, Motive von Mozart und Haydn, virtuose barocke Koloraturen
und komplexe Kontrapunkte tauschen miteinander Platz, und alles, was in der Musik des 20. Jahrhunderts bedeutend und unbedeutend war, von Schönbergs Zwölftontechnik zum Geräusch von Autohupen. Das ist nicht mehr länger Mikropolyphonie, sondern überdrehtes Makrogestürme. Ist es eine postmoderne Oper? Ist es eine moderne Oper? Ist es eine klassische Oper? Keines davon und doch alles. Es ist eine idiosynkratische Ligeti-Oper. Der Komponist benutzte die Metaphor eines Flohmarktes als Erklärung des scheinbar disparaten Stils und Aufbaus des Stückes: »Wenn du in der Mitte davon bist, hinter dir die verschiedenen Waren, umgeben von lautem Geschrei, dann ist ein Flohmarkt bloß ein Mischmasch. Aber wenn du von einem Balkon aus hinschaust, dann werden die vielen kleinen Bewegungen ein vereinigtes Ganzes, ein großes Muster.« Dann brachte er eine Anekdote über den Komponisten Leó Weiner (1865– 1960), dem legendären Kammermusikprofessor an der Liszt-Akademie: »Als der alte Weiner während eines Dinners versehentlich ein Stück Pâté fallen ließ, drückte er es mit der Schuhsohle in den Teppich, damit niemand es bemerken sollte. Ich machte es genauso: Ich drückte den gesamten Müll der Musikgeschichte in diese Oper.« Manchmal wirkt es, als ob Ligeti mit dem Genre ringt, und es ist schwierig zu entscheiden, wer gewinnt. Ligeti kann die Oper mit zahlreichen eigenen Erfindungen imprägnieren, aber letztendlich hat das Genre das letzte Wort. Es gibt eine Handlung, auch wenn sie vielleicht besser zu Trickfilmen oder Horrorfilmparodien passt als zu der prestigeträchtigen Kunstform der
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Oper. Aber insgesamt gesehen ist die Struktur ziemlich konventionell: vier Szenen, mit einem Liebespaar in der ersten, einem sadomasochistischen Paar in der zweiten und dem politischen Paar des Weißen Ministers und Schwarzen Ministers in der dritten, mit – natürlich – Nekrotzar dauernd im Hintergrund oder Vordergrund, der vorgibt, der Tod selbst zu sein. Und dann gibt es die vierte Szene, einen Epilog, der erzählt, dass nach der Vollziehung des Jüngsten Gerichtes nichts passiert (oder das Jüngste Gericht bloß Fake News war). Es gibt klassische Gesangsrollen, auch wenn sie an die Grenzen der menschlichen Stimmmöglichkeiten gehen: Nekrotzars Bariton hat ein Gewicht, das eines überforderten Wagnerianischen Helden würdig ist; sein Diener (und manchmal sein Pferd) Piet vom Fass ist ein strahlender Tenor, der mit einer Vitalität singen muss, von der Rossini nur träumen konnte, der zarte hohe Sopran des Fürsten Go-Go (der entweder von einem Kontertenor oder einem Kindersopran gesungen werden kann) und der scharfe hohe Sopran des Chefs der geheimen politischen Polizei mit seinen aggressiven Koloraturen, die manchmal bis zu den Sternen reichen, den schrecklichen Sternen, die der Hofastronom Astradamors mit Teleskopen beobachtet, um zu sehen, ob sie das Ende der Welt bringen werden. Und dann gibt es konventionell wirkende Opernnummern, Duette für die Liebenden Amanda und Amando (ursprünglich Spermando und Clitoria genannt), die sich das ganze Stück lang in einem leeren Grab lieben; Arien für andere Personen, begleitet von einer Vielzahl von musikalischen Formen, Stilen und instrumentalen Farben; es
gibt sogar eine Ouvertüre, auch wenn sie für zwölf Autohupen geschrieben ist (die Zwölf ist kein Zufall: sie war die Fetischzahl der Nachkriegsserienkomponisten, die in die Fußstapfen von Arnold Schönberg traten). Die Premiere von Le Grand Macabre sollte im April 1977 stattfinden, musste jedoch um ein Jahr verschoben werden, teils wegen der außerordentlichen Schwierigkeiten der Musik und teils, weil einige Teile des Librettos als pornographisch angesehen wurden. 150 internationale Journalisten meldeten sich für die Premiere in Stockholm an, und die Oper schlug bei Kritikern und Publikum voll ein. In den letzten 45 Jahren gab es fast 40 verschiedene Produktionen weltweit, ein Kunststück, das nur sehr wenige Opern aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schafften. Für die Salzburger Produktion von 1996 revidierte Ligeti das Werk, indem er den Großteil des ursprünglich gesprochenen Dialogs strich oder vertonte und die Form des Stückes glättete. Es war eine skandalöse Produktion unter der Regie von Peter Sellars, vor allem, weil Ligeti mit der direkten Botschaft der Produktion sehr unzufrieden war. Ligeti war der Meinung, dass die Essenz der Oper falsch verstanden wurde, weil sie im Kern von Ungewissheit und Ambiguität handelt. So fragt Piet kurz vor dem Ende der dritten Szene: »Überleben wir – ja oder nein?« Die Oper kann als Verkörperung der Antwort Ligetis auf diese einfache Frage gesehen werden, und seine Antwort kann daher entsprechend einfach formuliert werden: Wer weiß?
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AUS: GRAHAM GREENE: MONSIGNORE QUIJOTE
DER BÜRGERMEISTER LÄCHELTE. »VIELLEICHT WERDEN WIR AUCH DEN TOD BESIEGEN, DURCH TRANSPLANTATIONEN.« »DA SEI GOTT VOR», SAGTE PADRE QUIJOTE. »DENN DANN WÄRE DER MENSCH VERURTEILT, IN EINER WÜSTE ZU LEBEN, DIE KEINE GRENZEN HAT. OHNE ZWEIFEL. OHNE GLAUBEN. ICH MÖCHTE IHM LIEBER DAS WÜNSCHEN, WAS WIR EINEN GLÜCKLICHEN TOD NENNEN.«
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WAS IST ABSURDES THEATER? Wie absurd: Der Eintrag »Absurdes Theater« im Theaterlexikon stellt infrage, ob die Autoren, deren Werke unter dieser begrifflichen Klammer zusammengefasst werden, überhaupt einen gemeinsamen Nenner haben: »Ist die von Kafka, Sartre und Camus abgeleitete philosophisch-literarische Kategorie des Absurden mehr als ein publizistisches Schlagwort?« Nur ein Schlagwort also, um das schwer Fassliche für das verständnislose Publikum leichter einordbar zu machen? Es lag jedenfalls in den 1960er Jahren in der Luft. Der Dramatiker Wolfgang Hildesheimer hielt 1960 die Erlanger Rede Über das absurde Theater und betonte, dass er noch nie etwas über das absurde Theater gelesen habe und seine Ausführungen rein subjektiv seien. Etabliert hat den Begriff vom Theater des Absurden dann der in Ungarn geborene, in Wien aufgewachsene und 1940 nach London emigrierte Theaterwissenschaftler, Kritiker, Dramaturg und Übersetzer Martin Esslin durch die gleichnamige Monographie, die 1961 erschien – 25 Jahre vor dem zitierten Theaterlexikoneintrag. Esslin schrieb
sie tatsächlich als Akt der Verzweiflung: Stücke der damals neuartigen Dramatik, die ihn, den Theatermenschen, selbst so tief berührten, stießen bei weiten Teilen des Publikums und der Kritikerschaft auf Unverständnis und Ablehnung, wie er im Vorwort zur Neuauflage erklärt. Als Beispiel nennt er Samuel Becketts Warten auf Godot, das bei seiner Uraufführung 1953 zu Skandalen führte, heute aber zum Kanon der (Theater-)Weltliteratur zählt und sicher dazu beitrug, Beckett zum Literaturnobelpreisträger von 1969 zu machen.
WAS ALSO KENNZEICHNET DAS THEATER DES ABSURDEN – FALLS ES DAS GIBT? Es lohnt sich, etwas genauer auf dieses Werk zu schauen, möchte man verstehen, was sich hinter dem fraglichen Begriff verbirgt, gilt Warten auf Godot doch als Inbegriff des absurden Theaters. Die klassische Struktur des Dramas mit Einheit in Zeit, Ort und Handlung, die der griechische Philosoph Aristoteles gefordert hatte, werden im absurden Theater über den
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Haufen geworfen. Samuel Beckett wendet sich jedoch nicht komplett von diesem Referenzhorizont ab, vielmehr knüpft er an die Struktur an, um sie gewissermaßen ad absurdum zu führen. Der Ort wird herausgearbeitet – nur ist nicht klar, welcher reale Ort überhaupt repräsentiert werden soll, die Zeit ist diffus und die Handlung ist extrem ereignisarm, einen Spannungsbogen sucht man vergebens. Wenn die Personen sprechen, scheinen ihre Dialoge vor allem den Zweck zu verfolgen, die Zeit totzuschlagen, um das im Titel angekündigte Warten zu überbrücken. Das gilt ebenso für die Clownerien und Spielereien der Protagonisten – reiner Zeitvertreib. Die Individuen werden als verdammt zur permanenten, sisyphoshaften Wiederholung dargestellt, das Warten als sinnlos und ohne Erfolgsaussicht. Theater als moralische Anstalt im Sinne Schillers? Weit gefehlt. Belehrt es sein Publikum oder unterhält es dieses? Wohl eher nicht. Beckett scheint sich eher an der italienischen Stegreifkomödie des 16. Jahrhunderts Commedia dell’Arte zu orientieren als am aristotelischen Drama. Doch die Menschen werden aus den vermeintlichen Gewissheiten herauskatapultiert – was eben als absurd gelesen werden kann. Dahinter steht die philosophische Schule des Existenzialismus, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in Frankreich als dominante Strömung durchsetzte. Besonders die Philosophie des Absurden von Albert Camus sollte wirkmächtig für das Theater werden. Bei Camus beschreibt das Absurde die Konstellation zwischen dem Menschen, der Sinn sucht, und der Welt, die Sinn verneint. Entlehnt vom lateinischen absurdus, das in der wörtlichen Über-
setzung eigentlich misstönend bedeutet, bezeichnet der Begriff etwas Unsinniges oder Abwegiges. Auch in anderen intellektuellen Strömungen wie dem Dadaismus oder dem Surrealismus spielt das Absurde eine wichtige Rolle. Im Bereich des Theaters manifestiert sich die Idee in Dramen mit irrealen und grotesk-komischen Szenen, die vorwiegend in Frankreich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstehen. Im Eindruck der gerade erst überwundenen und noch stark nachhallenden historischen Katastrophe des Weltkriegs zeigen sie den Menschen als entwurzelt, orientierungslos, ohne Halt. Die Sinnhaftigkeit der Welt wird radikal und brutal infrage gestellt. Gemeinsam ist den Dramatikern des Absurden eine Abkehr vom konventionellen Drama. Sie verzichteten auf eine zusammenhängende Handlung und auf einen vorantreibenden Dialog. Die Figuren verfangen sich in sinnlosen Dialogen, reden ins Leere oder verstehen einander schlicht nicht mehr. Neben Samuel Beckett (1906– 1989) sind es Autoren wie Jean Tardieu (1903–1995), Arthur Adamov (1908– 1970), Eugène Ionesco (1909–1994) und Jean Genet (1910–1986), deren Werke zumindest teilweise unter diesem Begriff zu subsumieren sind. Und eben der hierzulande nahezu unbekannte Michel de Ghelderode (1898–1962), dessen La Balade du Grand Macabre von 1934 die Grundlage für das Libretto Le Grand Macabre von Michael Meschke und György Ligeti bildet. Oder halt – wieder so eine Absurdität auf der Suche nach einem Verständnis für das Theater des Absurden: 1961 warnt Martin Esslin in seinem Standardwerk davor, die Werke Ghelderodes als absurdes Theater einzu-
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ordnen, nein, sie gehörten der parallel verlaufenden Strömung der »poetischen Avantgarde« an. Nur fünf Jahre später erscheint La Balade du Grand Macabre dann in deutscher Übersetzung in einem illustren Sammelband neben Werke von Eugène Ionesco und Jean Tardieu. Der Titel des dtv-Buches: Absurdes Theater. Doch selbst Esslin räumt ein, dass eine scharfe Trennungslinie zu ziehen schwierig sei bei all den Gemeinsamkeiten. Spannend ist die Unterscheidung, die er vornimmt, allemal: Beide Strömungen gründen sich auf Fantasie und Traumwirklichkeit und lehnen dramatische Grundregeln wie zuvor bereits beschrieben ab. Die Stücke der poetischen Avantgarde seien aber spürbar lyrischer, weniger brutal, drastisch oder grotesk. Und auch die Einstellung zur Sprache sei eine andere. Während das Theater des Absurden diese radikal abwertet, suchten die Autoren der poetischen Avantgarde Bilder, die aus einer Fülle sprachlicher Assoziationen zusammengefügt sind. Aus heutiger Sicht macht diese Unterscheidung vor allem deutlich, wie ambitioniert Esslins Vorhaben war, ästhetische Strömungen noch mitten in der Zeit ihrer Entstehung zu fassen, zu beschreiben und sinnvoll zu bündeln, zumal die Autoren sich selbst nicht einordnen wollten. György Ligeti jedenfalls war von de Ghelderodes Stück fasziniert: »Es war für meine musikalisch-dramatischen Vorstellungen wie geschaffen: ein Weltuntergang, der dann gar nicht wirklich stattfindet, der Tod als Held, der aber vielleicht nur ein kleiner Gaukler ist, die kaputte und doch glücklich gedeihende, versoffene, verhurte Welt des imaginären ›Breughellandes‹.« Es ist ein groteskes Meisterwerk, eine glänzende Paro-
die auf die Frage, wie sich die Menschen im Anblick einer nahenden Katastrophe verhalten. »Ich bringe euch die frohe Botschaft: Das Ende der Zeiten ist gekommen!«
WER WAR MICHEL DE GHELDERODE? Die Stücke des belgischen Autors Michel de Ghelderode (1898 – 1962) sind heute kaum mehr auf den Spielplänen zu finden, wenige wurden ins Deutsche übertragen und selbst diese sind heute nur noch schwer zu beschaffen. Dabei schrieb Ghelderode rund 50 Stücke, auch für Marionettentheater, dazu Lyrik, Prosa, Hörspiele und sogar Musik und wurde von den Franzosen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg begeistert als Avantgarde-Autor in Beschlag genommen. Im Laufe seines Lebens wechselte er oft die Rollen – er war unter anderem Seemann, Soldat, Journalist, Archivar und Dramaturg. Ja, selbst der wohlklingende Name Ghelderode ist eine Maske: als Adémar Adolphe-Louis Martens geboren, nimmt er ihn 1918 zunächst als Pseudonym, 1930 dann offiziell an. Er ist künstlerisch tätig und gleichzeitig in der Gemeindeverwaltung beschäftigt, fruchtbare Schaffensphasen wechseln mit Krisen und Jahren der schweren Krankheit. 1934 entstehen gleich mehrere seiner Hauptwerke, neben La Balade du Grand Macabre auch Masques ostendais, Sortie de l’acteur, Sire Hallewyn und Mademoiselle Jaïre. Nur fünf Jahre später wandte sich Ghelderode fast vollständig vom Theater ab. Ghelderodes Vater war Archivar und gab dem Sohn die Liebe zur Geschichte mit. Diese manifestiert sich immer wieder in der Wahl der Sujets: Seine mittel-
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alterlichen Narrenpossen quellen über vor Verlockung, Sünde und Todesmotiven; die Figuren wirken wie entlehnt aus Mysterienspielen und der Commedia dell’arte. »Man könnte meinen, Ghelderodes Schauspiele verschmelzen bisweilen zu einem einzigen, immensen memento mori«, so die Theaterwissenschaftlerin Barbara Damm. Bei aller Faszination für die Vergangenheit nahm Ghelderode spätere literarische Entwicklungen gar vorweg, etwa das muntere Spiel mit den Identitäten. Er entführt das Publikum in eine Scheinwelt, ins Unwirkliche, jenseits von Normalität und kausaler Logik – eben ein Pionier des absurden Theaters. Durch die Maske eines Clowns blickt er auf das Leben und belächelt es als drolliges und dummes Abenteuer. »Le Grand Macabre kommt mir manchmal vor wie das Warten auf Godot der Oper«, meinte die Opernregisseurin Tatjana Gürbaca einmal in einem Interview. Nur zu verständlich angesichts der Figuren, die wie Marionetten, an denen sich Gott und Teufel als Puppenspieler versuchen, als antipsychologisch gedachte Charaktere »beckettgleich in einem Universum von Bedeutungs-
losigkeit und Ungewissheit treiben« (Damm). Im Unterschied zu Dramen eines Beckett oder Ionesco zeigt Ghelderodes Stück die Sinnfreiheit allerdings nicht als moderne Erfahrung, sondern als jahrhundertealtes Phänomen des menschlichen Schicksals. So kommt sie zwar in einem lebensfroheren Gewand daher, ist aber nicht weniger schwer verdaubar – das Lachen bleibt einem im Halse stecken.
»ABSURDE DARSTELLUNGEN« ODER DIE »DARSTELLUNG DES ABSURDEN«? Ein sinnloses Schicksal? Das werden die Menschen wohl nie wahrhaben wollen. Dies erkannte auch Wolfgang Hildesheimer, und so brachte er es gleich zu Beginn seiner Erlanger Rede Über das absurde Theater auf den Punkt: »Das absurde Theater dient der Konfrontation des Publikums mit dem Absurden, indem es ihm seine eigene Absurdität vor Augen führt. Das Publikum selbst aber möchte das Absurde (…) nicht auf sich beziehen« – und findet daher lieber die theatralischen Darstellungen absurd.
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MICHEL DE GHELDERODE UND DIE BALLADE VOM »GRAND MACABRE« »Libretto von Michael Meschke und György Ligeti nach Michel de Ghelderodes La Balade du Grand Macabre«, teilt uns der Theaterzettel mit. Nicht der Text unserer Oper stammt von Ghelderode, sondern das Stück, die Idee und die Botschaft. Die Begegnung mit Ligetis Grand Macabre wird demnach gewiss auch unser Interesse am Verfasser der Textvorlage wecken. Gibt man jemandem, von dem angenommen sei, er habe von Michel de Ghelderode noch nie gehört, eines von dessen Stücken zu lesen, so wird es diesem gewiss nicht leicht werden, sich in des Dichters lugubren Welt auch nur dem Jahrhundert nach zu orientieren. Ist, was er vor Augen hat, nun mittelalterliche Volksdichtung oder surrealistisches Theater? Phantastische Romantik nach Hoffmanns Art oder vielmehr Protokoll einer bizarren Imago in der Nähe Kafkas? Seinen Lebensdaten nach gehört Ghelderode in die erste Hälfte des
20. Jahrhunderts. Er wurde 1898 in Brüssel (Ixelles) unter dem Namen Adémar Adolphe-Louis Martens geboren und starb 1962 in der belgischen Stadt Schaerbeek. Als angehender Literat beschloss er, den »... zu verbreiteten und charakterlosen Namen Martens« aufzugeben und erwählte sich als Pseudonym von stärkerem Relief jenen Namen »Michel de Ghelderode«, den ein entfernter Vorfahre einst getragen hatte. Später erreichte er die Anerkennung dieses Patronyms auch als bürgerlichen Namen durch königliches Dekret. Dieser Schritt war in vieler Hinsicht bezeichnend für den Charakter des hypersensiblen Dichters: → Der Klang des neuen Namens war schön und selten, → sein Ursprung lag im mittelalterlichen Flandern, Ghelderodes geistiger Heimat. → Das aristokratische Element mochte
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auf des Dichters lebenslange Absonderung von den Menschen und seine Einsamkeit hinweisen. → Der Namenswechsel entsprach Ghelderodes Vorliebe für Masken und Maskierung, → und er bezeugte den vollkommenen Bruch mit seiner Kindheit schweren Angedenkens. Man könnte sagen, dass ein Großteil von Ghelderodes Werk Reflexe seiner Kindheit zeigt. Diese war durch einen übermächtig herrschenden Vater geprägt und durch die unerbittliche Strenge und Einsamkeit des Jesuitenkollegs, in dem er erzogen wurde. Muster gewalttätiger Unterdrückung begegnen denn auch regelmäßig in seinen Stücken. Mit 16 Jahren erkrankte er an Typhus und entging nur knapp dem Tode. Damals träumte ihm von einer Alten, die ihm zuraunte: »Fürchte nichts! Diesmal stirbst du nicht, doch hüte dich vor deinem 64. Jahr!«. Ghelderode starb zwei Tage vor seinem 64. Geburtstag. Die Ausei na nderset z u ng m it dem Tod ist Ghelderodes wichtigstes Thema. Die Omnipräsenz des Todes in seinen Stücken reflektiert das Oszillieren zwischen Todessehnsucht und Todesangst in Ghelderodes Leben. Als Jungverliebter flaniert er stundenlang durch die Friedhöfe Brüssels; den alten Dichter aber beschreibt der Poet und Maler Jean Stévo folgendermaßen: »Das Gesicht verätzt von der Zeiten Säure, verbraucht von langer Bitterkeit, die dem verletzten Mund die Falte schuf; verbraucht von panischer Angst, die die Augenhöhlen tief gegraben hat, jedoch einen Blick bestehen ließ, erstaunlich klar, ein tiefes Wasser, in dem Silberreflexe huschten.«
Die panische Angst war die vor dem Tode, die er in seinen Stücken beschwor. Man hält die Balade du Grand Macabre für sein optimistischstes Werk, denn hier triumphiert der Tod zum Schluss gerade nicht. Der Tod ist ein Schwindler, der Weltuntergang schlägt fehl. Die Vitalität der Trunkenbolde erweist sich als stärker; aus dem Totentanz wurde ein bacchantisches Fest. Und mehr noch: die Tyrannei der beiden Minister (im Stück »Viper« und »Basilisk« genannt) und der Salivaine (Mescalina) ist besiegt; der Schluss gehört den Liebenden, die im Grabe Leben zeugten in einer Nacht, die eigentlich dem Tod gehören sollte. Das Volk von Breughelland darf endlich wieder seine alte Hymne singen, die unter der Herrschaft der Minister verboten war: Land von Gold und Blau, Erde gedeihlich und fett, Wo die Sterblichen glücklich und ohne Sorgen sind, Altes Bruegelland, du knusprige Heimat... Unter den gallischen Ländern bist du das Paradies. ... Oh König Gambrinus, reich uns zu trinken, Schenkʼ deinen Kindern den Rausch. Begießʼ doch unsere brennenden Schlünde... Im Krügelstemmen liegt all unser Ruhm. Der Operntext folgt Ghelderodes Stück getreulich, ist jedoch entschlossen verknappt. In diesem Konzentratiosprozess hat die melancholisch-lyrische Sprache des Stückes ihren Charakter verändert und ist direkter, härter und moderner geworden.
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Das »Breughelland« des Grand Macabre ist, unter verschiedenen Namen und Aspekten, auch sonst immer der Schauplatz von Ghelderodes Stücken: ein imaginäres Flandern zur Zeit eines imaginären Mittelalters. Ghelderode lehnte es ab, die Welt, die ihn umgab, zum Thema seiner Stücke zu machen, und er sagte von sich: »Meine Mutter brachte mich in einem Jahrhundert zur Welt, das nicht das meine war.« Obwohl er fast ausschließlich französisch schrieb, sind die Folklore, die Geschichte, die Landschaft und vor allem die Malerei Flanderns immer seine Hauptinspirationsquelle geblieben. Seine Werke stehen in engem Kontakt mit den phantastischen Bildfindungen von Pieter Bruegel, Hieronymus Bosch und James Ensor. Er selbst misstraute dem Wort und wünschte ein Theater voll von starken Sinnesreizen, voll Farbe und suggestiven Effekten. Die »Akustik« eines Stückes war ihm wichtiger als der intellektuelle Gehalt des Textes. Er schrieb für das Marionettentheater und hatte eine starke Obsession für Masken. Die burleske Komik seiner Stücke wurzelt gewiss im populären Puppentheater. Ein fixer Bestandteil seines Theaters sind Zwerge und Spaßmacher, ein zentrales Motiv ist der Durst. Wie der Schauplatz immer der gleiche bleibt und viele Motivbausteine immer wiederkehren, bei aller phantastischen Vielfalt seiner Stücke, so bleibt auch der Kreis der handelnden Personen beschränkt: »Meine Figuren bilden eine Familie, die mich begleitet, und je nach Bedarf nehme ich sie, wie es mir behagt. Habe ich einen von ihnen nötig, so rufe ich ihn auf; ich sehe nichts Unzukömmliches dabei, in zwei verschiedenen Stücken dieselbe Person
auftreten zu lassen. Wenn ich einen Knecht brauche, dann nehme ich denselben Knecht mit seinem Namen, seiner Livrée und seinen Unarten.« Als einer, der mit seiner Zeit und ihren Menschen überworfen war, schuf er sich auf dem Theater seine eigene Welt nach der Eingebung seiner starken Phantasie. Man hat über seine Stücke sagen können, dass so verschieden auch eines vom andern sei, sie doch nur Bruchstücke seien, die zusammengelegt das Bild von Ghelderodes imaginärem Kosmos zeigen. Ghelderodes Schaffenszeit fällt im Wesentlichen zwischen die beiden Weltkriege. Nach etwas früher Prosa debütiert er 1918 als dramatischer Autor mit La Mort regarde à la fenêtre; vor Beginn der Aufführung hält er einen Vortrag über E. A. Poe. Sein Weg ist vorgezeichnet: Seine Erzählungen werden immer an Poe denken lassen, und für sein Theater steht der Titel seines ersten Stückes (Der Tod schaut durchs Fenster) paradigmatisch. 1923 tritt er eine Stelle als Beamter der Stadt Schaerbeek bei Brüssel an, wo er, von den Kollegen mit feindseligem Misstrauen beäugt, auf Kanzleipapier an seinen Stücken schreibt: La Mort du Docteur Faust 1925, Escurial, Christoph Colomb und Images de la vie de Saint François 1927, Don Juan und Les Femmes au tombeau 1928, La Tentation de Saint Antoine, Pantagleize und Barrabas 1929. Mehrere dieser Stücke waren Auftragswerke für das Flämische Volkstheater (Vlaemsche Volkstooneel), das mit Ghelderodes Stücken Erfolg hatte und seinen Namen in Belgien populär machte. Doch 1932 hörte diese Truppe zu bestehen auf und damit endet für immer Ghelderodes Kontakt zur Erfahrung des lebendigen Theaters. Erst
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jetzt aber entstehen seine Hauptwerke: Magie rouge 1931, Sire Halewyn, La Balade du Grand Macabre und Mademoiselle Jaire im besonders fruchtbaren Jahr 1934, Hop Signor 1935, LʼEcole des Bouffons 1937. Im Jahre 1939 erklärt Ghelderode, nicht mehr für das Theater schreiben zu wollen. Er verfasst hinfort Erzählungen, und nur zweimal wieder erliegt er der Versuchung der Bühne, Le Soleil se couche und Marie la Miserable. Sein Ruhm verblasst; Aufführungen seiner Stücke sind rar. Seit 1936 setzt ihm fortschreitendes körperliches Leiden schwer zu. Während des Krieges gestaltet er eine regelmäßige Rundfunksendung, was ihm nach der Befreiung den Vorwurf der Kollaboration einträgt. Er wird in Schande aus dem öffentlichen Dienst entlassen und muss lange um seine Rehabilitation kämpfen. 1949 wird er krankheitshalber pensioniert. Ab 1947 häufen sich jedoch die Aufführungen von Ghelderodes Stücken in Paris. Nach einem beträchtlichen Skandal mit Fastes dʼEnfer bricht in Paris eine Art »Ghelderode-Fieber« aus, das bis ca. Mitte der 1950er Jahre anhält. Hingerissen von der bizarren Originalität seines Œuvres stellten manche Exegeten seinen Namen neben denjenigen Shakespeares und nannten ihn den größten Dichter des zeitgenössischen Theaters. Dann verebbte die Begeisterung, und der langsame Weg ins Vergessen begann. Der Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis 1962 kam sein Tod zuvor. Wien lernte einige von Ghelderodes Stücken ab 1959 kennen, 1960 Magie rouge und La Balade du Grand Macabre. Seit 1978 ist dieses Werk in der Gestalt, die ihm György Ligeti gab, auf
die Bühnen, nunmehr des Musiktheaters, zurückgekehrt. Zum Abschluss möchten wir Nadine Castro zitieren, die über den Dichter und sein Werk geschrieben hat: »Ghelderode war kein Philosoph und hatte noch viel weniger die Absicht, einer zu sein. Es macht gerade die Faszination seines Theaters aus, dass es einen Menschen offenbart, der das Opfer seiner Plagen und seiner Träume ist, und der niemals ein zusammenhängendes und schlüssiges Denksystem ersonnen hat. Seine ganze Karriere lang ist er den gleichen Obsessionen nachgehangen, die sein Gesicht und seine Werke formten, und er starb, ein Dichter, als ›greises Kind‹.«
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Folgende Seiten: PIETER BRUEGEL DER TRIUMPH DES TODES
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DIE ZELEBRATION DES GROTESKEN György Ligeti ließ sich von einem »verfressenen, versoffenen und verhurten Breughelland« für seine Oper Le Grand Macabre inspirieren. Er hielt sich damit an den größten flämischen Maler des 16. Jahrhunderts, Pieter Bruegel den Älteren (1525/30–1569), ein Vorbild, dessen fantastischer Reichtum an Visualisierung seinesgleichen sucht und nicht findet. Im madrilenischen Prado befindet sich eine radikale und infernalische Kreation aus seiner Hand. Es zeigt Bruegel als künstlerischen Erben von Hieronymus Bosch. Beide sind phantasmagorische Maler. Der Triumph des Todes (um 1562) lässt sich in die mittelalterliche Tradition der Darstellung des Jüngsten Gerichts und damit des Endes der Welt einordnen. Doch kein Vorgänger bereitet die Betrachtenden auf den Reichtum von Bruegels Vorstellungskraft vor. In einer trostlosen Landschaft, beleuchtet vom orangefarbenen Schein der Feuer, erobert die Armee des Todes, bestehend aus in Wickeltücher gehüllte Skelette, die Welt. Es ist eine wüste Landschaft vor einer Küste mit brennenden und kenternden Schiffen. Die wenigen vorhandenen Bäume sind abgestorben und dienen zum Totengeläut oder als Marterinstrumente. Im Vordergrund regiert der Tod mit seinen Bataillonen gut gerüsteter und militärisch formierter Skelette. Dem Höllenfürst Nekrotzar intentional ähnlich, PIETER BRUEGEL Ausschnitt aus DE DULLE GRIET
metzelt ein Knochenmann, auf einem skelettierten Pferd reitend, seine Opfer nieder, als apokalyptischer Reiter, ein Sensenmann. Währenddessen greifen andere Gerippe die Menschen mit Messern, Speeren und Schwertern an. Von entfesselter Gewalt getrieben, übernimmt der Tod die Herrschaft über die in eine apokalyptische Weltlandschaft verwandelte Schöpfung, man verbleibt in staunendem Entsetzen. Die Tafel ist vollgestopft mit grotesken Begebenheiten und blutrünstigen Tötungsarten. Es sind nicht nur symbolische Tode, die hier gestorben werden. Dafür hätte es genügt, Sense und Sanduhr als weitverbreitete, traditionelle Attribute des Todes darzustellen. Ein Fürst in Rüstung und Hermelingewand, nennen wir ihn hier einfach Go-Go, wird von einem Skelett darauf aufmerksam gemacht, dass in dem Stundenglas seines Lebens der Sand durchgeronnen ist. Es schlägt die Stunde des Todes. Ein zweites Knochengerüst, spöttisch in eine Rüstung gekleidet, beschlagnahmt das königliche Gold. Ein Hund leckt das tote Kind in den Armen seiner toten Mutter, deren Lebensfaden gerissen ist. Ein weiteres Gerippe schneidet einem Pilger die Kehle durch. Zwei Soldaten, gekleidet in die traditionelle Tracht des Landsknechts mit aufgeschlitzten Ärmeln und bunten Hosen, leisten den Skeletten heftigen, aber aussichts-
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losen Widerstand. Nur ein verliebtes Paar (Ligetis Amanda und Amando?), das gemeinsam aus einem Notenbuch singt, ist so ineinander vertieft, dass es die schrecklichen Ereignisse, die sich um es herum abspielen, nicht wahrnimmt oder durch die Kraft der Liebe zu ignorieren in der Lage ist. Ihre Unwissenheit wird jedoch nicht lange anhalten: Ein Gerippe begleitet sie auf der Viola und ist dabei, ihre Seelen zu beanspruchen. Ein riesiger, schwarzer Streitwagen symbolisiert den Höllenschlund. Er zermalmt die Körper unter seinen Rädern und wird von Monstern begleitet. Es sind Darstellungen, die im Gedächtnis bleiben. Wer an die Hölle glaubte, musste annehmen, dass die eigene Sündhaftigkeit diese hier sichtbaren und somit wohl auch erlebbaren Folgen nach sich ziehen wird. Bruegel stellte dar, woran man sonst nur glauben konnte. Die Worte der Priester, von der Kanzel herab an ein gläubiges Publikum gerichtet, können kaum so eindringlich gewesen sein. Aber Bruegels Bild ist nicht nur eine Vision des Bevorstehenden am Ende der Welt, eines apokalyptischen Weltgerichts ohne Richter, es ist auch ein Bild von der Hölle auf Erden von einzigartig konzentrierter Grausamkeit. Bruegel hat hier das alte Motiv des Totentanzes ins Massenhafte, das Apokalyptische ins Militärische gewendet. Das lässt an Parallelen zum Zeitgeschehen und zu Schlachtendarstellungen denken. Und so könnte es sein, dass Bruegel in seiner apokalyptischen Vision des letzten Krieges aller Kriege die Sinnlosigkeit aller Kriege darstellen wollte, des Krieges, in dem der einzige Sieger der Tod ist. Seine Zeit war, wie jede andere, geprägt von Gewaltherrschaft. Hinrichtungen waren an der Tagesordnung. Schmerz musste
ausgehalten werden. Die wahre Hölle befindet sich auf Erden?! Die säkulare Apokalypse verdeutlicht das im 16. Jahrhundert immer zu denkende memento mori und schreit in unsere Gegenwart herüber: Was ihr seid, sind auch wir gewesen; und was wir sind, werdet auch ihr sein! Es gibt keinen Hinweis auf Erlösung, Ist alles hilf- und hoffnungslos? Die bedeutendste Gruppe der Gemälde Bruegels befindet sich im Kunsthistorischen Museum in Wien. Die Malweise des Triumph des Todes ist verwandt mit Kampf zwischen Fasching und Fasten (1559). Hier wird eine Auseinandersetzung Bruegels mit der Volkskultur seines Landes deutlich. Die liebevolle Gestaltung der Einzelheiten verrät ein großes Interesse, eine Anteilnahme des Künstlers an dieser Kultur. Pieter Bruegel d. Ä. hat das bunte Treiben zur Karnevalszeit rings um den Brunnen auf einem Dorfplatz dargestellt. Von einem erhöhten Standpunkt aus kann das zunächst verwirrend vielfältige Geschehen gut überblickt werden. Zwischen dem Wirtshaus links, der Kirche rechts und der in die Tiefe führenden Häuserzeile im Hintergrund wimmeln Erwachsene und Kinder durcheinander – Krüppel und Marktfrauen, Kleriker und Bauern, Gaffer und Schauspieler, die zum Teil am Faschingszug teilnehmen oder ihn betrachten, zum Teil jedoch durchaus auch mit anderen Dingen des täglichen Lebens beschäftigt sind. Eine Frau hockt in der Nähe des Brunnens und backt über einem offenen Feuer frische Waffeln, ein Schwein wühlt gleich daneben im Kot, ein Stand mit Fischen zieht Käufer an. Im Bereich der Kirche, wo erbarmungswürdige Bettler auf Almosen hoffen und Tote auf der Straße liegen, herrscht ebensolches Gedränge
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wie im Gasthaus gegenüber, vor dessen Eingang ein Fastnachtsspiel aufgeführt wird und einer der Säufer auf einem Fass eingeschlafen ist, während ein Zecher aus dem Fenster des ersten Stocks speit. Krankheit und Tod waren zu Bruegels Zeit, sicher viel mehr als heute, im Alltag gegenwärtig. Im Vordergrund trifft eben von links, auf einem von mehreren Figuren mühsam vorwärtsgeschobenen Weinfass sitzend, der feiste, besoffene Prinz Karneval (vergleichbar mit Piet vom Fass?) auf eine dürre Gestalt, die als Verkörperung der bevorstehenden Fastenzeit von rechts durch einen Mönch und eine Frau herbeigezogen wird. Während Prinz Karneval der Fastenfigur abwehrend einen Bratspieß mit Schweinskopf und Geflügel entgegenhält, trägt diese einen langen Brotschieber mit zwei kleinen Heringen wie eine Lanze vor sich her. Es ist ein parodiertes Ritterspiel. In den krassen Gegensätzen, die als Karneval und Fasten aufeinandertreffen, schilderte Bruegel einerseits volkstümliche Bräuche der Faschingszeit in Flandern. Andererseits lässt sich das Bild auch als philosophische Reflexion des Malers über den Zustand der Welt deuten, was auf einen humanistisch-erzieherischen Anspruch Bruegels hinweist. Dem hedonistischen Schlaraffenland ist die Selbstversagung gegenübergesetzt. Es ist ein Turnier, ein Kampf des angenehmen Lasters gegen die öde Askese. Doch der Anschein, Exzess und Mäßigung seien unversöhnliche Gegensätze, trügt. Die Narretei zieht sich als Leitmotiv durch die gesamte Komposition. Bruegel stellt nicht nur die Säufer und die Bigotten bloß, sondern den Menschen an sich. In der Mitte sind ein Paar in Rückenansicht und ein Narr
mit einer brennenden Fackel hervorgehoben. Eine Gestalt erinnert an die Figur des Elck, das ist Jedermann. Mit erloschener Laterne und mit einem bis über die Augen gezogenen Hut erscheint sie blind und hilflos. Ein bewaffneter Mann beansprucht ebenso wie der Narr die Führung. Das Motiv des Erkennens und der Verblendung ist in Bruegels Werk allgegenwärtig. Der Weg der Vernunft ist schwer zu finden. Wem überlässt man auf dem Weg zur Selbsterkenntnis die Führung? Dem bewaffneten Mann oder dem Narren? Zumindest begeht das Paar gesenkten Blicks einen Mittelweg. Überwiegt im infernalischen Todestriumph die Furcht, die derjenige empfindet, der entweder das Jenseits nicht mehr glorifizieren mag oder den nur Höllenangst zum Glauben treibt, so drückte sich hier ein Gleichgewicht zwischen Leben und Tod aus, das wohl für die ältere Zeit allgemeingültig war. Der Künstler verurteilt weder den über tr iebenen kör perlichen Lu s t ge w i n n no ch d ie le ibve rneinende Askese, die das Missfallen und den Zorn Gottes fernhalten soll. Br uegel sieht diese Gegensätze aus der objektivierenden Distanz. Wirtshaus und Kirche werden bei ihm zu gleichwertigen Polen, die Kirche ist nicht mehr in ihrer bildlichen Repräsentanz als umfassendes und bergendes Kirchengebäude die gesellschaftliche Superinstitution, die alle kulturellen Prozesse unter sich subsumiert. Man hat sogar den Eindruck, als bewege sich das Ganze unentscheidbar im Kreis. Gerade der Mangel an aggressiver Schärfe legt es nahe, seine Form versöhnlichen Humors und freundlich-zugetanen Verständnisses als ein Zeichen
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für das Eintreten des Malers für ein Interesse des gehobenen Bürgertums mit dem niederen Volk aufzufassen. Bei aller Kritik am Überschreiten eines rational gesetzten Maßes durch die unteren Schichten ist Bruegels Darstellung des Volkes doch von Sympathie getragen. Angesichts der ökonomisch motivierten und theologisch legitimierten Bekämpfung der Volkskultur durch die Klasse, der Bruegel selbst angehörte, sucht er im Bild noch zu bewahren, was dem Untergang anheimzufallen drohte. Vom spätantiken Lukian bis zu den Brüdern Grimm spannt sich der Bogen einer Vorstellung des irdischen Paradieses für Schlemmer und Faulpelze. 1530 erschien von Hans Sachs der Schwank Schlaraffenland, eine Sittenlehre‚ die ihre Moral aus negativen Beispielen gewinnt. Das Schlaraffenland liegt drei Meilen hinter Weihnachten und ist nur durch einen Berg aus Hirsebrei erreichbar, um jedes Haus ist ein Zaun, geflochten aus Bratwürsten, aus den Brunnen fließt der Wein den faulen Zechern ins Maul; gebratene Hühner, Gänse und Tauben fliegen den Bewohnern in den Schlund. Ein Jungbrunnen lässt sie nicht altern. Dazu triumphiert die Faulheit: »Wenn wer der Faulste wird erkannt, derselb’ ist König in dem Land«. In Bruegels Gemälde in München (1567) genießen Vertreter der verschiedenen Stände das Lotterleben: Söldner, Bauer und Studierte liegen in so grenzenloser Weise satt gefressen da und dies so, dass uns die Freude rasch vergeht. Sinn des Gemäldes ist wohl die Verurteilung von Völlerei und Faulheit, der alle Stände anhängen. Sie sind an den mit Speisen überladenen Tisch wie an das Rad des Schicksals gekettet. Hans
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Sachs meint: »Habt auf Arbeit acht, weil Faulheit hat nie Gutes gebracht«. Das Schlaraffenland wurde von Taugenichtsen entdeckt. Es ist beileibe keine Verherrlichung des Überflusses, sondern im Gegenteil eine bedingungslose Verurteilung von Faulheit und Laster. Das Thema gehörte zum Erbe der jahrhundertealten Wunschträume von einem kummerlosen Dasein. Die wiederholten Wehklagen über die Wucherpreise für Getreide lassen vermuten, wie scharf die Folgen von Missernten war. Der Wunschtraum von einem Ort, wo jeder essen kann, was der Bauch zu fassen vermag, erscheint historisch dermaßen nachvollziehbar, dass man den Inhalt des Gemäldes als sonnenklar bezeichnen möchte. Auch über eine Distanz von etwas mehr als vier Jahrhunderten steht das reale Gemälde für den Kunstliebhaber von heute in einem nach wie vor scharfen Gegensatz zu einem geschichtlichen Hintergrund, das heißt die Erinnerung an die tragischen damaligen Geschehnisse. Die Dulle Griet (1562) ist vielleicht die bedeutendste Hexenfigur in der bildenden Kunst des Abendlandes. Sie ist auch wildgewordene Hausfrau, Megäre und Amazone, sie enthält Züge eines gefallenen Engels und solche einer verbissenen Spießerin. Um Habsucht geht es, um Besitzgier und Geiz. Eine entschlossen dreinblickende Frau in Rüstung, begleitet von einem Trupp plündernder Kriegerinnen, befindet sich auf einem Raubzug durch die Hölle. Von überall her eilen männliche Soldaten und Dämonen, um ihr Hab und Gut zu verteidigen. Hierarchische Beziehungen zwischen Männern und Frauen werden der Lächerlichkeit preisgegeben. Traditionelle Geschlechterrollen werden umgekehrt. Mit Rüstung und
PIETER BRUEGEL KAMPF ZWISCHEN FASCHING UND FASTEN
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Schwert erkämpft sie sich ihren Weg, eine Pfanne als weitere Waffe. Die Tolle Grete stellt die verkehrte Welt und zugleich den Kreislauf des Lebens dar. Ein Dauerthema Bruegels. Die Ordnung unserer Welt scheint aufgehoben. Doch hat Bruegel die Frauen nicht als positive Heldenfiguren dargestellt. Sie siegen, aber sie triumphieren nicht, gewinnen auch nicht gerade die Sympathie der Betrachter*innen. Ein eindeutiges Plädoyer für die Aufwertung der Frau hat er hier nicht abgegeben. Wie in vielen Details ist er auch hier doppeldeutig. Einerseits zeigt er die Frauen überlegen, andererseits scheint er zu sagen: Wer die männliche Dominanz und damit die christliche Weltordnung infrage stellt, der gilt als abnorm oder irre. Die Maler des 16. Jahrhunderts haben die Frau verschönt: als Nymphe, Venusgestalt oder reich geschmückte Patrizierin, als Madonna oder Märtyrerin. Fast immer wurden Frauen gefeiert, versuchten die Maler ihr Modell einem Ideal anzugleichen. Ungeschönte oder absichtlich abstoßend gemalte Frauen waren die Ausnahme. Meist entstanden solche Bilder nördlich der Alpen. Alles ist bei dieser Frau gegen die Regeln wohlgefälliger Präsentation gemalt: Kein Haar umspielt die Stirn, die Haut wirkt stumpf, der zahnlose Mund steht offen, die Kleider sind schäbig, der Harnisch gibt nicht dem Busen Glanz und Fülle, er hängt auf dem Bauch. Und statt sich graziös dem Zuschauer zuzuwenden, rennt sie mit schweren Schritten an ihm vorbei. Immerhin, die Dulle Griet und die Frauen hinter ihr sind deutlich menschliche Wesen. Von den Männern lässt sich das nicht behaupten. Sie erscheinen nur als Teufel, Dämonen, Halbtiere oder bis zur Unkenntlichkeit eingekleidete Krieger. Das Leben
im 16. Jahrhundert war beschwerlich. Die Menschen wurden mit der Pest und anderen Krankheiten sowie mit Armut und Ausbeutung konfrontiert. Zahlreiche Gemälde von Bruegel zeigen, dass ihn diese Mühsal des Lebens beschäftigte. Die Dulle Griet ist ein Satansweib, das allen Gefahren trotzt und sich vor nichts und niemandem fürchtet, weder vor dem Teufel noch vor der Hölle. Sie plündert selbst vor dem Höllenschlund noch ihre Beute zusammen. Was sie raubt, scheint ihr relativ egal zu sein. Ihr Beutel und ihr Korb sind mit Tafelgeschirr vollgestopft und darüber hinaus trägt sie eine Geldkiste unter dem Arm. Mit den verfallenen Gebäuden, den abscheulichen Kreaturen, mit den bizarren Behältnissen, den Bränden und dem glühenden Horizont zeichnete Bruegel das Bild einer entfesselten und verlorenen Welt. Bruegel zelebriert genussvoll die Geschöpfe seiner künstlerischen Fantasie und schafft eine kaum noch zu steigernde groteske Atmosphäre. Unser Verständnis schwankt zwischen einerseits dem absoluten Chaos, der Furie und dem Wahnsinn von Krieg und Terror und andererseits dem gigantischen Scherz.
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ZUR ENTSTEHUNG DER OPER LE GRAND MACABRE Nach der Uraufführung meines Requiems in Stockholm, im März 1965, fragte mich Göran Gentele, damals Chef der Stockholmer Oper, ob ich mir ein Stück für die Gegebenheiten und den Apparat der großen Opernbühne vorstellen könnte. Ich sagte sofort und begeistert ja und schlug eine Art Oper mit dem Titel Kylwiria vor. Kylwiria war ein imaginäres Land meiner Kindheit, ein Ort der Tagträume, meine »private Mythologie«. 1962 hatte ich bereits Aventures und den zweiten Satz der Nouvelles Aventures komponiert, und zur Zeit der Gespräche mit Gentele 1965 beendete ich gerade den ersten Satz der Nouvelles Aventures. Die ersten Ideen zu Kylwiria waren Aventures-ähnlich: keine deutlich verfolgbare Handlung und ein nichtbegrifflicher, rein emotionaler Text. Doch je mehr ich über Kylwiria nachdachte, je mehr Vorstellungen, Entwürfe, Skizzen entstanden, desto klarer wurde mir, dass die Welt der Aventures abgeschlossen war, dass ich mich nicht wiederholen durfte und dass für ein abendfüllendes musikalisches Bühnenstück eine Handlung als Rückgrat, als Gerüst für Affekte, Charaktere und Bühnensituationen, unerlässlich war.
1969 entwarf ich daher ein neues, ganz andersgeartetes Libretto, ebenfalls mythologisch, doch nicht mehr Kylwiria, sondern eine Variante der Oidipus-S age. Wenn ich mich schon für eine Handlung entschieden hatte, die als roter Faden das Stück durchziehen sollte, dann sollte es eine allgemein bekannte Handlung sein, die man nicht erzählen und erklären muss. Diese Oidipus-Variante sollte aber keinesfalls im griechischen Milieu spielen und nicht im mindesten antikisierend sein: Mir schwebte ein stark schematisiertes, comicartiges Bühnengeschehen vor – mein Ideal waren da die Cartoons von Saul Steinberg –, und auch die Musik sollte unmittelbar, comicartig übertrieben, farbig und verrückt sein. Das Oidipus-Libretto wurde in der endgültigen Fassung, samt einer Anzahl musikalischer Entwürfe, 1971 fertig: Die gesungenen Texte waren noch immer Aventures-artig, also nichtbegrifflich, aber die Handlung war bildhaft deutlich und, trotz der nichtverständlichen Texte, verfolgbar. In der Zwischenzeit ging Göran Gentele von Stockholm nach New York und wurde Leiter der Metropolitan Opera. Im
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Frühsommer 1972 sprach ich telefonisch mit ihm – es sollte unser letztes Gespräch sein –, wir planten ein Treffen im Herbst in New York, um alle Einzelheiten der Aufführung festzulegen: Gentele wollte dann von der Metropolitan Opera Urlaub nehmen, um 1974 in Stockholm Oidipus zu inszenieren. Im Juli 1972 starb Gentele bei einem Autounfall auf Sardinien. Nach Genteles plötzlichem Tod konnte ich eine Zeitlang nicht mehr an die Arbeit an der Oper denken – zu sehr war dieses Projekt von Anfang an mit seiner Person verbunden. Inzwischen, schon 1971, war Bertil Bokstedt Chef der Stockholmer Oper geworden. Es war rührend und rücksichtsvoll von ihm, dass er für meine Trauer Verständnis hatte und mir Zeit ließ, ein anderes Opernprojekt vorzubereiten; denn in den Monaten nach Genteles Tod hatte ich erkannt, dass ich nicht mehr an diesem Oidipus weiterarbeiten konnte. Auch wurde mir allmählich klar, dass sich die Idee der nichtbegrifflichen Texte nicht weiterverfolgen ließ – zu sehr hatte sich diese Art der Textkomposition während der sechziger Jahre abgenutzt. Ich brauchte nicht nur eine klar verständliche Handlung, sondern auch einen ebenso klar verständlichen, gesungenen und gesprochenen Text: Aus der »Anti-Oper« wurde allmählich eine »Anti-Anti-Oper«, also, auf einer anderen Ebene, wieder »Oper«. Festgehalten habe ich an der Idee des hyperfarbigen, comicartigen musikalischen und dramatischen Geschehens: Charaktere und Bühnensituationen sollten direkt, knapp gehalten, unpsychologisch und verblüffend sein – das Gegenteil einer Literaturoper. Handlung, Situationen, Charaktere sollten durch die Musik zum Leben
erweckt werden, Bühnengeschehen und Musik sollten gefährlich-bizarr, ganz übertrieben, ganz verrückt sein: Die Neuartigkeit dieses Musiktheaters sollte sich nicht in Äußerlichkeiten der Aufführung, sondern im Inneren der Musik, durch die Musik manifestieren. Das musikalische Gewebe sollte nicht »symphonisch« sein. Die musikdramatische Konzeption sollte sich, in entschiedener Distanz zum Bereich Wagner-Strauss-Berg, eher an Poppea, an Falstaff, an den Barbiere annähern und doch anders sein – eigentlich keiner Tradition verpflichtet, auch nicht der Tradition der »Avantgarde«. Auf der Suche nach dem neuen Sujet traf gegen Jahresende 1972 in BerlinWilmersdorf das Team der geplanten Stockholmer Aufführung zusammen: der Regisseur und Direktor des Stockholmer Marionettentheaters Michael Meschke, die Bühnenbildnerin Aliute Meczies und der Musikwissenschaftler Ove Nordwall. Wir suchten zunächst einen Stoff bei Alfred Jarry, die Spur Jarry führte zum »absurden Theater«, doch ich wollte ja kein Sprechtheater mit Musik als Zutat, sondern die totale Verschmelzung von Handlung und Musik: Bühnengeschehen durch Musik. Den Namen Michel de Ghelderode kannte ich damals nicht: Sein Werk ist, zu Unrecht, außerhalb des belgischfranzösischen Kulturkreises allzu wenig bekannt. Da meine Vorstellungen um irgendein tragikomisches, übertrieben schreckliches und doch nicht wirklich gefährliches »Jüngstes Gericht« kreisten – Ähnliches hatte ich bereits 1964 im »Dies irae«-Satz des Requiems komponiert: Aufhebung der Angst durch Verfremdung –, erinnerte sich Aliute Meczies plötzlich, dass es ein solches Theaterstück ja gäbe, und
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sie brachte uns Ghelderodes La Balade du Grand Macabre. Dieses Stück war für meine musikalisch-dramatischen Vorstellungen wie geschaffen: ein Weltuntergang, der gar nicht wirklich stattfindet, der Tod als Held, der vielleicht aber nur ein kleiner Gaukler ist, die kaputte und doch glücklich gedeihende, versoffene, verhurte Welt des imaginären »Breughellandes«. Verschwommen, halb unbewusst erinnerte ich mich dann, das ich dem Namen Ghelderode doch schon einmal begegnet war: Irgendwann vor Jahren, im verrauchten Darmstädter Schlosskeller, erwähnte der belgische Komponist Jacques Calonne, nach seiner Art so ganz nebenbei, Ghelderode sei etwas für mich, doch dann verschwand seine Stimme im Weinduft und in den Klängen des »Sergeant Pepper«. Nun war Ghelderodes Balade noch immer Sprechtheater und sollte in ein der Musik dienendes Libretto umgestaltet werden. Michael Meschke übernahm die Aufgabe, das Stück zu kondensieren, zu »jarryfizieren«. Schon Ende März 1973 legte er eine erste Fassung vor, die ich mir aber noch konzentrierter wünschte. So schrieb Meschke im Sommer 1973 ein neues Libretto. Die Handlung blieb die Ghelderodes, die Sprache aber war wie von Jarry – sehr intensiv, knapp und direkt. Damals, im Sommer 1973, arbeitete ich noch an Clocks and Clouds, dann im Winter 197374 und im Frühjahr 1974 an San Francisco Polyphony. Das war sozusagen die Inkubationszeit für den »Makabren«. Auch musste ich Meschkes Text weiter verändern: Wegen der Eigenart der Musik brauchte ich Verse und Reime, und zwar ganz unbeholfene, in der Art der Friederike Kempner und Julie Schrader, zudem auch fehlerhaftes Latein und
falsche Zitate aus der Offenbarung des Johannes. Meschke erlaubte mir großzügig die »Umdichtung« des Librettos. Auch über ein dramaturgisch schlüssiges Ende mussten wir uns noch viel die Köpfe zerbrechen. Wenn durch den Weltuntergang, der wie eine Seifenblase zerplatzt, kein anderer stirbt als eben der Große Makabre, und wenn er tatsächlich der Tod war, dann bricht folgerichtig das »Ewige Leben« aus: Man ist doch im Himmel, und der Weltuntergang hat stattgefunden. Was aber, wenn all das heftige Geschehen nur eingebildet, wenn der Große Makabre nur ein Gaukler war? Dies ist Ghelderodes Auffassung, doch zeigt sein im ganzen geniales Theaterstück gerade gegen Ende, bei der Lösung des dramaturgischen Knotens, einige Schwächen. Ich entschied mich für eine Abänderung seiner Version: Es bleibt völlig offen, ob der Große Makabre der Tod ist oder nur ein kleiner, wenn auch durch sein Sendungsbewusstsein ins Heroische gesteigerter und verklärter Gaukler, und die Handlung schließt mit einer Art Triumph des Eros: Der Tod und die ganze dunkle Zukunft ist uns egal, es gibt nur »hier und jetzt«. Die Umgestaltung des Librettos habe ich zum Großteil während des Komponierens vorgenommen: Textänderungen und Verse entstanden stets nach den Erfordernissen der Musik. Nach einigen vorbereitenden Skizzen im Sommer 1974 begann ich die eigentliche Komposition des Grand Macabre im Dezember 1974: Zu Weihnachten waren die ersten Partiturseiten fertig. Die Arbeit dauerte etwa zweieinhalb Jahre. 1975-76 komponierte ich ununterbrochen, nur zwischen Februar und April 1976 schrieb ich parallel noch ein anderes Stück: Monument, Selbstportrait, Be-
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wegung für zwei Klaviere, für die Brüder Kontarsky. Im April 1977 wurde die Arbeit am Grand Macabre abgeschlossen, Ende April lag die letzte Partiturseite in Reinschrift vor.
ZUR NEUFASSUNG DER OPER LE GRAND MACABRE Als ich diese »Oper« komponierte (197477), war ich hinsichtlich der realen (und oft enttäuschend groben) Bedingungen des Opernbetriebs ziemlich naiv. Opernsänger können singen und spielen, doch nicht immer adäquat sprechen (allerdings gibt es einige Ausnahmen: wunderbare Sänger-Schauspieler!). Kabarettisten und Schauspieler wiederum singen nur gelegentlich. In der überlieferten Gattung der Operette (und ihrer anglo-amerikanischen Variante des Musicals) werden zwar Sänger-Schauspieler beschäftigt, nur gibt es in dieser Tradition keine so anspruchsvollen, technisch schwierigen Gesangslinien, wie ich sie im Macabre vorgesehen und komponiert habe. Meine Unerfahrenheit bezog sich also nicht auf die Oper und Operette als solche (ich hatte ja seit meiner Kindheit viele Theater- und Musiktheateraufführungen erlebt – die mitteleuropäische Musikkultur in Klausenburg und Budapest war hochentwickelt), sondern auf die Aufgabenstellung: Schauspieler-Sänger können – mit wenigen Ausnahmen – den gesangstechnischen Anforderungen des Macabre nicht entsprechen. Meine Zusammenarbeit mit Michael Meschke (wir waren zu gleichen Teilen die Librettisten) war harmonisch, doch Meschke war und ist der große Fachmann für das Marionettentheater, und er legte Wert auf gesprochene Passagen, während mir wichtig war, die in Versen
geschriebenen Stellen nach meinen musikalischen und vor allem rhythmischen Vorstellungen zu gestalten. Das als Vorlage dienende Theaterstück von Michel de Ghelderode ist Französisch, Meschke hat als Muttersprachen Deutsch und Schwedisch, und unsere Zusammenarbeit ergab ein deutsches Libretto. Doch ist meine Muttersprache Ungarisch, und mein Deutsch ist, gelinde gesagt, holprig. Das war insofern kein Hindernis, als die Uraufführung in Stockholm (am 12. April 1978) ohnehin in schwedischer Sprache stattfinden sollte. (Dass es später sowohl deutsche als auch italienische, französische und englische Aufführungen geben sollte, konnte ich nicht voraussehen.) Die Übersetzung vom Deutschen ins Schwedische hatte Meschke vorzüglich realisiert. Dann kam ich mit meinen Änderungen für die Rhythmisierung, was an sich aber auch kein Problem war, da ich Schwedisch spreche. Dennoch wurde das Resultat ein Zwitter – halb Oper, halb Schauspiel. Selbstverständlich gibt es eine deutsche Tradition des populären Singspiels, etwa die Zauberflöte und den Freischütz, doch der Macabre ist allzu verzwickt und vielschichtig für ein Singspiel. Es gab damals in Stockholm auch insofern Rezeptionsschwierigkeiten, als ein Teil des Publikums – Fachleute und vor allem Kritiker aus der ganzen Welt – kein Schwedisch verstand und deshalb die langen gesprochenen Dialoge als »Leerstellen« empfand. Ich musste einsehen, dass das Stück in dieser Form nicht wirklich lebensfähig war. In den folgenden Jahren habe ich dann, bei jeweils neuen Realisationen, immer mehr Textstellen weggelassen. Es gibt eine gültige CD-Einspielung der ursprünglichen Opernfassung
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als Mitschnitt eines Konzerts unter Leitung von Elgar Howarth im Wiener Konzerthaus, das der Österreichische Rundfunk 1987 aufgezeichnet hat (Wergo 6170-2). Um all das, was ich verändert habe, nachzuvollziehen, kann man diese Aufnahme mit der hier vorliegenden neuen Version vergleichen. Wohl war ich in den siebziger Jahren längst kein Anfänger mehr, doch habe ich seither, in knapp zwanzig Jahren (die Neufassung entstand 1996 in etwa zehn Monaten), viel Erfahrung gesammelt: kompositorisch, dramaturgisch und vor allem die Orchestrierung betreffend. Und ich habe mehrere Aufführungen des Macabre gehört, mit sehr unterschiedlichen darstellerischen und akustischen Bedingungen. Die Orchestrierung ist jetzt insgesamt »schlanker«, viele Verdopplungen von Instrumentalstimmen wurden gestrichen. Radikal verändern musste ich die tiefen Partien der Posaunen (stellenweise auch der Kontrabasstuba), denn meine instrumentaltechnischen Erwartungen waren damals allzu optimistisch. Selbstverständlich war schon in der ersten Fassung alles spielbar, die Frage war nur, mit welchem Probenaufwand. In der »groben Opernpraxis« gibt es immer viel weniger Proben als nötig, und die Posaunisten spielten manchmal den zweiten Oberton statt des tiefen Pedaltons. So habe ich diese »schwarzen« Untiefen für Kontrabässe und Kontrafagott uminstrumentiert. Vor zwanzig Jahren waren Kontrafagotte, die bis zum tiefen B hinunterreichen (eine Oktave tiefer als die Fagotte), noch nicht überall vorhanden, heute aber kann man von perfektionierten Instrumenten ausgehen. Auch der Umfang der Bassklarinette wurde nach unten erweitert – all das habe ich jetzt ausgenutzt. Auf
diese Weise ist vieles besser spielbar geworden, es gibt keine »utopischen« Stellen mehr. Das Libretto des Macabre enthält viele Elemente der abstrakten Dichtung. 1962-65 hatte ich die beiden »abstrakt-konkreten« Sprach-, Gesangs-, Geräusch- und Musikstücke Aventures und Nouvelles Aventures komponiert, ohne zu ahnen, dass diese beiden Stücke einmal den Ausgangspunkt des in den siebziger Jahren komponierten Macabre bilden würden.
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ZWIELICHTIGER SCHAUPLATZ ÜBER DEN ORT VON LIGETIS LE GRAND MACABRE Kindern erzählt man Geschichten zum Einschlafen, Erwachsenen, damit sie wach werden. Vor Le Grand Macabre steht das Schild: Nur für Erwachsene. Aber was für eine Geschichte erzählt György Ligeti diesen in seiner Oper? Ist es die Geschichte einer Dystopie oder die einer Utopie? Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort, wohl aber eine etwas verwickelte; sie gilt es zu entwickeln. Bevor man sich an ein solches Unterfangen trauen kann, ist aber eine Gegenfrage zu beantworten, nämlich: Sind die Begriffe ›Utopie‹ und ›Dystopie‹ überhaupt angemessen, um über Ligetis Oper zu sprechen? Bisher hat man diese Begriffe gemieden, sofern es um Le Grand Macabre ging. In der gründlichsten Studie, die vorliegt, der Monographie von Peter Edwards aus dem Jahr 2016, kommt das Wort »utopisch« nur an einer Stelle vor. In einer Fußnote erwähnt der Autor, dass Ligetis Vater »einen utopischen Roman über das Scheitern des Kapitalismus geschrieben hatte, in dem er eine gerechte Gesellschaft ohne Geld entwarf. In jungem Alter malte sich György Ligeti seinerseits das utopische Land Kylwiria aus.« Die einzige Erwähnung des Utopischen bei Edwards bezieht sich also nicht einmal auf den Gegenstand seines Buches, Le Grand Macabre. Dass sich die Deuter in dieser Hinsicht so auffallend zurückhalten, überrascht
nicht einmal sonderlich – und zwar aus zwei Gründen. Erstens scheint bereits Ligeti selbst dem Thema ausgewichen zu sein. In einem Radiogespräch des Jahres 1972 mit Clytus Gottwald, das unter der Überschrift »Gustav Mahler und die musikalische Utopie« geführt wurde, gelingt es Ligeti fast bis zum Schluss, einen Bogen um das Titelwort »Utopie« zu machen. Sein Unterredner behauptet zu Beginn, Mahler habe »Modelle des Utopischen entfaltet«; als »eine Einlösung eines utopischen Modells, das die Musik Mahlers aufstellte«, rühmt Gottwald das Orchesterwerk Lontano (1967) von Ligeti. Dieser aber, dem Sinn eine entschieden andere Wendung gebend, ersetzt in seiner Antwort den Ausdruck »utopisch« durch »imaginär«. Am Ende des Gesprächs lässt sich Ligeti dann doch noch zu einem Lippenbekenntnis herbei: Erst in der Gegenwart der 1970er Jahre, bemerkt er beiläufig, könne angesichts von Vertretern der Pop Art wie Edward Kienholz (1927–1994) die musikalische Technik Charles Ivesʼ (1874– 1954) in ihrer »utopische[n] Aktualität« gewürdigt werden. Die Weite des Wortes »Utopie« schrumpft so zu der Aussage, Ives sei seiner Zeit um einige Jahre voraus gewesen. Es gibt noch einen zweiten Grund, der Frage nach Utopie und Dystopie im Werk Ligetis zögerlich zu begegnen –
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jedenfalls im Fall dieses Werks, Le Grand Macabre. Utopien und Dystopien trugen sich seit jeher mit und im Ernst vor; Ligetis Oper kommt ersichtlich nicht so daher. Le Grand Macabre ist komisch, lächerlich, verspielt, witzig, frivol, farcenhaft, parodistisch und dem Nonsens geneigt. Diese Qualitäten der Oper, ihre Weisen der Darstellung also, klammern jeglichen Inhalt, den sie bietet, ein, nicht zuletzt den im Titel der Oper umschriebenen Inhalt, einen sonst so ernsten: den Tod. Allerdings: Es gibt nicht nur die Klammern; in den Klammern steht etwas. Und unter dem, was in ihnen steht, zeigt sich eben doch die Welt in der zweifachen Perspektive von Utopie und Dystopie. Gewiss bleibt das, was in Klammern steht, nicht unberührt von diesen. Die Tendenz der Oper zur Farce induziert sogar, wie sich zeigen wird, die Frage nach dem Utopischen und Dystopischen des Werks. Utopie und Dystopie bildeten in ihrer langen Tradition eine Alternative. Die klassische utopische Literatur entwarf ideale Staatsgebilde, deren Bürger ein Leben in Frieden und Glück führen. Sie haben es gefälligst zu führen. Denn für sie galt und gilt jederzeit Sarastros unreiner Reim: »Wen solche Lehren nicht erfreun, / verdienet nicht ein Mensch zu sein.« Den allzu beglückenden Musterstaaten kontrastieren, dystopisch, Panoramen der Verwüstung, etwa in den bereits zur Zeit der Erstfassung von Ligetis Oper und bis heute haussierenden Katastrophenfilmen. Als Ligeti zuerst mit Werken an die Öffentlichkeit trat, um 1950, geschah es im Rahmen einer merkwürdigen Verschränkung von Utopie und Dystopie: in dem unter sowjetischer Fuchtel etablierten Staatssozialismus. Dessen utopisch gefärbte Propaganda – auch hier ein Ver-
sprechen allgemeinen Glücks, für Arbeiter, Bauern und möglicherweise auch Komponisten – entging dem wachen Sinn Ligetis so wenig wie die dystopische Wirklichkeit staatlicher Gängelung nahezu des gesamten gesellschaftlichen Lebens, nicht zuletzt der Kunst. Vor beidem floh Ligeti in die Phantasie, manifest als die von Peter Edwards erwähnte nostalgische Utopie Kylwiria. Le Grand Macabre erwuchs später aus Kylwiria, jedoch in tiefgreifender Wandlung. Diese Wandlung vollzog sich als Subversion des Gegensatzes von Utopie und Dystopie. Durch das Unterlaufen ihrer Antinomie wird Utopisches und Dystopisches jedoch nicht belanglos für Ligetis Oper – im Gegenteil. Insofern die utopisch-dystopische Formation das Werk im Ganzen betrifft, würde kein Hinweis auf diese oder jene Einzelheit die angedeutete These begründen. Ligeti und sein Ko-Librettist Michael Meschke verschränken Utopie und Dystopie im Macabre gleichsam durch Bewegung hin zu einem dieser Pole und korrespondierende Gegenbewegung: (1) In der Gestalt des »Grand Macabre« erscheint der Tod auf Erden und droht, alles Leben auszulöschen – in der unübertroffenen Charakterisierung des Chefs der Gepopo: eine »Kakakakakakastrophe« (II/3) und als solche ein dystopisches Szenario. (2) Doch es bleibt bei der Drohung. Die Erde wird bewahrt vor dem Schicksal der Vernichtung allen Lebens: »Der Tod ist tot« (II/4) – eine utopische Wendung, die das dystopische Szenario annulliert. (3) Indes steht zumindest der Teil der Welt, den die Oper vorführt,
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»Breughelland«, unter einem aberwitzigen Regime – dieser dystopische Zug stellt seinerseits die utopische Rettung infrage. (4) Schließlich aber – und an dieser Stelle macht sich geltend, was oben »Klammer« genannt wurde – lässt Ligetis Oper, durch ihren Text wie durch ihre Musik, stets im Ungewissen, was an ihr, sofern überhaupt irgendetwas, ernstzunehmen ist. Wie bereits bemerkt, waren Utopie und Dystopie, von Thomas Morus bis George Orwell, Genres des Ernstes: In ihrem Kern meinten sie, was sie sagten, aus einem Pathos der Hoffnung oder der Verzweiflung heraus. Bei Ligeti hingegen bleibt unter allen menschlichen und göttlichen Dingen keines verschont von Komik, Parodie oder mindestens Zweideutigkeit. Er treibt, wie es in einem Vers Schillers heißt, »mit Entsetzen Scherz«; mit der Aussicht auf Rettung treibt er ihn ebenso. Auf diese Weise unterminiert Ligeti, gleichermaßen, den Glanz der Utopie wie die Finsternis der Dystopie. Während in den ersten drei genannten Schichten des Werks ein Gegensatz von Utopie und Dystopie gewahrt bleibt, wenngleich beide in eine Handlung hineingezogen werden, fällt der Gegensatz kraft der vierten Ebene in sich zusammen. Trifft diese Deutung das Werk insgesamt, so würde dies unter anderem erklären, weshalb Peter Sellarsʼ Regie der Uraufführung von Ligetis Neufassung des Macabre im Rahmen der Salzburger Festspiele 1997 den Komponisten enttäuschte: Denn Sellars legte das Werk so eindeutig wie einseitig als Dystopie aus. SZENENBILD
Utopie und Dystopie werden als Leitthema des Grand Macabre bereits kenntlich in Piets »Breughellandlied«, das die erste Szene eröffnet und zum Motto der Oper wird: Dies irae, dies illa, solvet saeclum in… O, goldnes Breughelland, das keine Sorgen kennt, gib deinen Kindern einen Rausch! O, altes Paradies, wo bist du hin? Diese wirre und doch auch wieder hellsichtige Äußerung eines Betrunkenen stellt das Ende der Welt unmittelbar neben den Mythos des Goldenen Zeitalters. Beschwört Piet vom Fass in den ersten beiden Versen die Apokalypse, so schreckt er dann doch zurück vor dem Wort »favilla«, zu Deutsch »Asche«, das auf Zerstörung des Irdischen weisen würde. Stattdessen preist Piet seine Heimat, »Breughelland«, als ein Gemeinwesen, »das keine Sorgen kennt«. Das einzige Land, das keine Sorgen kennt, und zugleich die volkstümliche Utopie schlechthin, nennt man im Deutschen »Schlaraffenland«. Auf Niederländisch – und damit einschlägig für ein »Breughelland« – heißt es »Het Luilekkerland«. So lautet auch der Titel eines Gemäldes Pieter Bruegel des Älteren, das in der Münchner Alten Pinakothek zu sehen ist. Es erschließt mehr an Ligetis Oper als Bruegels mit Blick auf sie immer wieder angeführter Triumph des Todes von 1562. Denn Le Grand Macabre ist ja gerade kein Triumph des Todes. Nahezu unentwegt wird in dieser Oper hingegen, wie im Schlaraffenland, konsumiert.
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ANDREAS DORSCHEL
Het Luilekkerland stellt eine Utopie mühelosen Konsums dar. 1567 wusste Bruegel zu malen, wofür die Psychologie erst 400 Jahre später einen Namen fand: »instant gratification«. Ei und Schwein traben gleich mit beiliegendem Besteck daher, damit man sie geradewegs verspeisen kann. Bei aller Bequemlichkeit bietet dieses Paradies jedoch nicht gerade einen schönen Anblick. Zu sehen ist auf Bruegels Gemälde ein Durcheinander wie leblos anmutender Körper. Es könnte sich um die Darstellung des Endes einer Welt handeln, wenn auch nicht gerade des Endes der Welt. Die Utopie erweist sich als Dystopie, weil sie um jeden Preis Utopie sein sollte. George Orwell, einer der großen dystopischen Autoren des 20. Jahrhunderts, hat die Sache auf den Punkt gebracht: »Die Leere der Idee fortwährenden Genusses führt Bruegels Gemälde Das Land der Faulenzer« – gemeint ist Het Luilekkerland – »vor Augen, auf dem drei große Fettbrocken Kopf an Kopf nebeneinander schlafen, während gekochte Eier und gebratene Schweinshaxen herumrennen, um sich wie von selbst verspeisen zu lassen.« Was Orwell hier als »große Fettbrocken« (»great lumps of fat«) bezeichnet, nimmt sich für Betrachter des Bruegel’schen Bildes nicht wie Charaktere aus. Das Dasein dieser Gestalten erschöpft sich in Verdauung. Charakter aber formt sich nicht im Verbrauch, sondern im Handeln. Von dieser Darstellung her versteht man, weshalb de Ghelderode und später Ligeti gemeinsam mit Meschke zu dem Namen »Breughelland« griffen. Es ging ihnen wohl kaum darum, ein imaginäres Flandern zu beschwören; Lokalfarbe tritt nirgends hervor. Was diese Autoren an Bruegel reizen konnte, mag vielmehr die im
20. Jahrhundert virulente Einsicht gewesen sein, dass – und wie – Dystopie und Utopie in einander verknotet sind. Selbst Piet, dem »großen Fettbrocken« und Namensvetter Pieter Bruegels, ist jener Zusammenhang nicht ganz entgangen, wenn er von Breughelland vor allem Trunkenheit begehrt: »gib deinen Kindern / einen Rausch!« Denn Rausch ist desto begehrenswerter, je unerträglicher die Wirklichkeit eines Ortes ist. Breughelland, eben noch als ein »goldnes« gepriesen, scheint doch nicht so golden, wenn selbst Piet sich nach besseren, aber vergangenen Tagen sehnt: »O, altes Paradies, / wo bist du hin?« Dass die Welt des Macabre um den Konsum kreist, machte die katalanische Gruppe La Fura dels Baus in ihrer Inszenierung des Jahres 2009 sinnfällig. Während des Vorspiels der Oper projizierte sie eine üppige Mahlzeit auf die Rückwand der Bühne von Barcelonas Gran Teatre del Liceu; aufgetischt aber war Fast Food. In ihrer Fülle wäre die gezeigte Mahlzeit in den längsten Zeiten der Geschichte utopisch gewesen; denn in den längsten Zeiten der Geschichte herrschte Mangel. Doch Fast Food verhält sich zu einem wirklichen Festessen wie das stumpfe Geräusch der Autohupen im Macabre-Vorspiel zum Glanz der Trompeten in der Toccata von Monteverdis Orfeo, Ligetis kompositorischem Modell. Der Anblick im Liceu war dystopisch noch bevor das Publikum und die Protagonistin des Videos die Vorboten der Apokalypse erschaut hatten. Das Mahl, schäbig wie es war, stieß ab, nicht zuletzt des Unrats halber, mit dem es die Welt verdreckte. In einer Konsumgesellschaft ist Speis und Trank nicht einfach Speis und Trank; mit ihnen einher geht die Produktion von Ab-
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fall. Und Müll ist jedenfalls nicht das, was einst unter dem Namen Schlaraffenland erträumt wurde. Geht es in Le Grand Macabre um Konsum und um Tod, so steht in dieser Konstellation das eine nicht einfach neben dem anderen, ohne weiter mit ihm zu tun zu haben. Vielmehr ist es ein Akt übermäßigen Konsums, der die Strategie des Todes durchkreuzt: Nekrotzar wird besoffen gemacht (II/3). Untergründig speist sich Ligetis und Meschkes Libretto aus der eigentümlichen Beziehung, die Konsum und Tod in der modernen Welt eingegangen sind. Sobald das ewige Leben als Antwort auf den drohenden Tod unglaubwürdig wurde, avanciert der Konsum zur Gegeninstanz des Todes. Moderne Menschen fühlen sich lebendig, wenn, weil und solange sie konsumieren, oder sich zum Konsum anschicken. Auch für den Konsum gilt ja zumeist, dass Vorfreude die größte Freude ist. So erschließt sich der Sinn jener bezeichnenden Abwandlung, die Fürst Go-Go, Piet und Astradamors dem Cartesischen »Cogito, ergo sum« angedeihen lassen: »Wir haben Durst / ergo wir leben« (II/4). Begehren erweist Vitalität. Denn in ihm liegt die Überzeugung, der Begehrende habe jedenfalls genügend Zeit, das begehrte Objekt zu verzehren. Konsum verbunden mit Rausch erlaubt gar, das Elend von Leben und Tod zu vergessen. Diesen Zusammenhang zu erläutern bedeutet nicht, moralisierend gegen das Begehren zu räsonnieren. Denn Begehren ist nicht zu vermeiden. Selbst wenn die Hölle auf Erden losbräche, würden Menschen noch begehren. Eben ihrer Unvermeidlichkeit halber sind Begehren und Konsum jedoch auch nicht dazu angetan, einen Ort zu empfehlen. Vorherige Seiten: SZENENBILD
Le Grand Macabre unter dem Blickwinkel von Utopie und Dystopie zu deuten heißt freilich, in einer Weise über das Werk zu reden, die Ligeti missfallen hätte. Um zu dieser Einschätzung zu gelangen, muss man nicht erst Passagen aus Interviews mit Ligeti herbeizitieren. Es genügt ein Blick aufs Werk selber, und zwar auf seine letzte Strophe: Fürchtet den Tod nicht, gute Leut’! Irgendwann kommt er, doch nicht heut’. Und wenn er kommt, dann istʼs soweit… Lebt wohl so lang in Heiterkeit! (II/4) Mit der These, dass Ligeti und Meschke in Le Grand Macabre den Gegensatz von Utopie und Dystopie unterlaufen, verträgt sich die Strophe zwar durchaus. Denn sie weist Utopismus ebenso nachdrücklich zurück wie dystopische Visionen. Gegen Utopismus besteht die Strophe auf menschlicher Sterblichkeit, gegen dystopische Visionen besteht sie auf Heiterkeit. Verlegenheit bereitet die Strophe vielmehr ihrer Banalität und politischen Naivität wegen. Die Hitlers und Stalins dieser Welt, die auch Ligeti nichts erspart hatten, gewähren ihren Opfern erst gar keinen Raum zur Erheiterung. Wer selbst im Opernhaus daran festhält, den eigenen Kopf zu betätigen, dem wird der Schluss des Textes von Le Grand Macabre skandalös erscheinen – skandalös nicht seiner Radikalität, sondern gerade seiner Harmlosigkeit halber. Michael Tanner, Philosoph in Cambridge und zugleich einer der gescheitesten Opernkritiker Englands, hat den strittigen Punkt klar artikuliert: »Le Grand Macabre ist ein zutiefst anarchisches Werk, das sich über viele Dinge lustig macht, die uns am Herzen liegen oder mit Schrecken erfüllen. Seine
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Schwäche zeigt sich am Ende, wenn uns gesagt wird, wir sollten ›in Heiterkeit‹ leben, da wir nie sicher sein könnten, wann wir sterben werden, auch wenn wir wüssten, dass es irgendwann soweit sein wird. Sollten zwei Stunden der Umwertung aller Werte nicht in einer etwas überraschenderen Auskunft enden?« Tanners Gedanke ist durchaus nicht weit hergeholt. Angesichts der Figuren des Macabre, die, wie Mescalina, eher wie Untote als wie Lebendige wirken, fragt es sich in der Tat, was es bedeuten könnte, in Heiterkeit zu leben. Dennoch lässt sich eine Antwort auf Tanner formulieren, und zwar in dreifacher Hinsicht. Erstens: Könnte eigentlich etwas überraschender sein als der Umstand, dass ein derart vor Ideen sprühender Autor wie Ligeti seine einzige Oper mit – wie Tanner es an anderer Stelle ausgedrückt hat – »einer solch monumentalen Platitüde« schließt? Zweitens verwechselt Tanner die Stimme der Figuren im Stück mit der Stimme des Autors. Wir haben kein Recht, die Schlussverse zu Ligetis Botschaft zu erklären – selbst dann nicht, wenn der Komponist sein Werk in diesem Sinne kommentiert hätte. Künstler sind nach ihren Werken zu beurteilen, nicht nach ihren Kommentaren zu ihren Werken. Als Künstler sind sie jeweils unvertretbar; als Kommentator des Werks ist jeder von ihnen nur einer unter vielen Kommentatoren. Im Werk ist klar, dass die letzten vier Zeilen des Grand Macabre den Figuren gehören. Die Strophe zeigt dann, dass sie – in prägnanter Analogie zur scena ultima von Mozarts Don Giovanni – nichts aus den bestürzenden Ereignissen gelernt haben. Drittens endlich stellt die Musik der abschließenden Passacaglia in ihrer Strenge gewiss keine Platitüde dar,
mögen die Worte der letzten vier Verse (und auch, was ihnen vorausgeht) noch so sehr auf eine solche hinauslaufen. Bedeutende Vokalmusik sagt nicht, was der Text ohnehin schon sagt. Sie geht über ihn hinaus, zuweilen auch gegen ihn. Das ist ihre Art, uns Erwachsene, wenn wir zuhören, wach zu halten.
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GEORG NIGL als NEKROTZAR
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OLIVER LÁNG
EINE KURZE WIEN- GESCHICHTE Mitunter kann es schnell gehen. Ein Jahr dauerte es, bis Giuseppe Verdis Otello nach der Uraufführung an der Mailänder Scala im Haus am Ring erklang. Unter einem Jahr im Falle von Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana. Unter drei Monate bei Richard Strauss’ Rosenkavalier. Und nicht viel länger bei Verdis Falstaff. Im Falle von György Ligetis Le Grand Macabre hingegen – und man bedenke die enge Verbundenheit dieses Komponisten zu Wien, wo er auch lebte! – musste man in der Bundeshauptstadt verblüffend lange warten. Kein Wunder, dass ein Kritiker in diesem Zusammenhang über das »verschlafene Wien« schrieb. Denn: 1978 fand die Uraufführung der Oper in Stockholm statt, erst neun Jahre später raffte man sich auf, das Werk in dieser Stadt wenigstens konzertant zu präsentieren: Das ORF RSO-Wien (damals: ORF-Symphonieorchester) führte im Konzerthaus unter Elgar Howarth (der Uraufführungsdirigent!) das Werk bejubelt auf. Graz war Wien übrigens wieder
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EINE KURZE WIEN-GESCHICHTE
einmal zuvorgekommen: Im Rahmen des steirischen herbstes brachte ein Gastspiel aus Nürnberg bereits 1981 den Macabre nach Österreich, für Bühnenbild, Ausstattung und Raumgestaltung zeichnete Marco Arturo Marelli verantwortlich, jener Theatermacher, der heute Ehrenmitglied der Wiener Staatsoper ist. Doch bleiben wir in Wien: Von einem »Geniestreich ersten Ranges« sprach anlässlich der konzertanten Aufführung ein Rezensent in der Presse, sein Kollege in der Wiener Zeitung erkannte »umwerfend lebendiges« Theater: »Die virtuose Machart, insbesondere auch die musikalische, ließ ein Werk entstehen, das gewiss zu den originellsten Stücken des Musiktheaters in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört.« Und doch brauchte es noch einmal sieben Jahre, bis man die Oper in Wien endlich auch szenisch erleben konnte. Es war das Wiener Operntheater, jene von Sven Hartberger geleitete, so wichtige und voranbringende Institution, die im Zuge ihrer Entdeckungsreise des Zeitgenössischen das Werk im Jugendstiltheater zur szenischen Wiener Erstaufführung brachte. »Spannendes, lebendiges Musiktheater«, hieß es im Kurier, von einem »großen Wurf« war die Rede. Und: »Äußerst selten wird in Opernaufführungen so überzeugend und mit so großem körperlichen Einsatz gespielt.« Inszenierung: Gidon Saks, musikalische Leitung: Andreas Mitisek, Nekrotzar: Martin Winkler (er sang später an der Wiener Staatsoper u.a. den Alberich im Ring des Nibelungen). Das Werk kehrte wieder: 2012 führte die Neue Oper Wien im MuseumsQuartier Le Grand Macabre auf, Walter Kobéra dirigierte, Carlos Wagner inszenierte. Im Kurier wurde explizit auf die Gegenwartsbezogenheit der Oper hingewiesen, im Standard las man über die »irrwitzigen orchestralen Kulminationen und die kontemplativen Momente« des Werks. Im Zuge der programmatischen Präsentation der Klassiker des 20. Jahrhunderts wird 2023, man hätte den 100. Geburtstag des Komponisten gefeiert, Le Grand Macabre erstmals auch im Haus am Ring gegeben. Pablo Heras-Casado leitet die Premiere, Jan Lauwers inszeniert, choreographiert und entwirft das Bühnenbild. Folgende Seiten: SZENENBILD
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JAN LAUWERS
»WENN ES IN DER KUNST KEINE MEHRDEUTIGKEIT GIBT, DANN IST SIE FÜR MICH NICHT INTERESSANT. DENN WENN MAN DAS MEHRDEUTIGE IN DEN VORDERGRUND BRINGT, SCHAFFT MAN NEUE MÖGLICHKEITEN, ENTSTEHEN NEUE FRAGEN. UND IN DER KUNST GEHT ES UM FRAGEN. NICHT UM ANTWORTEN. UM FRAGEN.«
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ELKE JANSSENS
ICH KANN NUR HINWEISEN EIN PORTRÄT EINES PORTRÄTISTEN »Ein Künstler muss den Mut haben, sich überhaupt mit der Materie zu beschäftigen. Die Idee kommt an zweiter Stelle. Das Politische ist immer präsent, aber nie dominant. Diesen Denkfehler begehen viele Menschen in Bezug auf die Position der Kunst. Die Suprematisten haben dies bewiesen. Michelangelo hat dies bewiesen. Seine Sixtinische Kapelle hat die Zeit dank ihrer Form überlebt, nicht aufgrund des Inhalts.« (Jan Lauwers) Immer wieder bricht Jan Lauwers von seinem Metier als bildender Künstler auf, um ein neues Bild oder eine neue Geschichte zu kreieren, die »mit beiden Beinen in der Gesellschaft steht«. Stets hochaktuell, provokant in seiner Infragestellung von Form und Inhalt, ausgehend von der Materie, um so dem Unfassbaren Form zu verleihen. Wie ein Schwamm saugt er alles um sich herum auf: »Im Velázquez-Zimmer im Prado werde ich zu Velázquez und verstehe all seine Probleme. Ich bin ein Chamäleon. Als Künstler kann ich in jeden Menschen schlüpfen.« Die weiße Leinwand, das weiße Blatt, nimmt einen entscheidenden
Platz ein. Aus dem Nichts hinterfragt er mit Farbe die Technik des Zeichnens, mit seinem Stift die Technik des Schreibens, mit seinem Theateroder Opernwerk das Medium selbst. Er transponiert Fragen von einer Kunstform in andere. Die Urheberschaft entfaltet im renommierten Künstlervereinigung Needcompany ihre volle Wirkung, das er 1986 zusammen mit Grace Ellen Barkey gründete. Als bildender Künstler ließ er sich durch den schwer fassbaren Charakter der darstellenden Künste inspirieren. Indem die Urheberschaft mit Needcompany eine zentrale Position einnahm, wurden Werke kreiert, in denen sich jedem Medium so selbstständig wie möglich angenähert wird, um so dem volatilen Medium Theater mehr Autonomie zu verleihen. Es ist auch nicht verwunderlich, dass zu Lauwersʼ Vorbildern Autoren zählen, wie der Autor-Cineast John Cassavetes und die Schriftsteller James Joyce und Ernest Hemingway. »Theater steht für Zusammenarbeit«, so Lauwers. Sein Gesamtwerk ist eine Suche nach der Erstellung eines
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ELKE JANSSENS
ganzheitlichen Porträts der Person, mit der er gerade arbeitet. Zum Beispiel sind der Charakter und die Person, die den Charakter zum Leben erweckt, für Lauwers gleichermaßen wichtig. Er schreibt auf der Haut des Individuums u nd ve r s ucht , z e it ge nö s s i s che Dogmen der Vielfalt und Identität zu überwinden. Er stellt die Menschheit in den Mittelpunkt. Dem Scheitern, der Liebe, dem Kampf, dem Großen und dem Kleinen werden stets ein besonderer Platz eingeräumt. Da es nur wenige »große Rollen« für Frauen im Theater gab, war Lauwers auch stolz darauf, mit seinem Werk diesbezüglich Einf luss zu nehmen. Er schrieb bedeutende Rollen für Grace Ellen Barkey und Viviane De Muynck, um nur einige zu nennen. Für Letztere schrieb er das renommierte Stück Isabella’s Room, das John Freeman in seinem gleichnamigen Buch als eine der »besten Aufführungen der Welt« bezeichnete. Im Jahr 2025 wird er mit Mezzosopranistin Kate Lindsey und Schauspielerin Romy Louise Lauwers arbeiten, die die Rolle der (Kriegs-)Fotografin Lee Miller übernehmen. Aus theaterwissenschaftlicher Sicht ist sein Werk in einer bestimmten Strömung angesiedelt. Der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann schrieb im Jahr 2000 das Buch Postdramatisches Theater, in dem er die Arbeit von Needcompany als Beispiel verwendet, um die traditionellen Grenzen des Theaters zu durchbrechen und neue Wege zu erkunden und so in den darstellenden Künsten Bedeutung und Ausdruck zu kreieren. Um diese Situation besser zu verstehen, ist hier die Verknüpfung mit der Basis des Theatralischen angebracht.
335 v. Chr. skizzierte der griechische Philosoph Aristoteles in seiner Poetik eine Analyse der Tragödie, die heute die Grundlage des westlichen Theaters bildet. Darin beschrieb er eine Reihe von Konventionen in Bezug auf Handlung und erzählerische Entwicklung (Anfang, Mitte, Ende, Höhepunkt), Katharsis und theatrale Zeichen. Das Theater besteht aus verschiedenen Zeichen/Elementen/Codes, die in Dekor, Kostüm, Musik, Tanz, Gestik etc. übersetzt werden... Diese Elemente werden als illustrativ für den Inhalt der Geschichte angesehen, sodass der Betrachter die Aufführung nachvollziehen kann. Diese Zeichen sind auch in anderen Kunstformen zu finden. Repräsentation und Symbolik spielen dabei eine zentrale Rolle. Bilder von Botticelli, Bruegel oder Bosch sind überladen mit Zeichen, die eine Geschichte erzählen und Verweise implizieren. Lehmann unterstrich, dass sich das postdramatische Theater von der traditionellen Bedeutung dieser theatralen Zeichen entfernt. Die Geschichte wird nicht länger nach festgelegten Konventionen erzählt. Es wird eine neue Form erprobt, bei der der Betrachter aktiv nach seiner eigenen Bedeutung sucht. Neben der textuellen Dramaturgie entsteht auch eine äquivalente visuelle Dramaturgie. Die Geschichte wird in Fragmenten erzählt; das Bühnenbild ist nicht länger eine anekdotische Untermalung der Erzählung, sondern erhält Eigenständigkeit; Musik, Tanz, Kostüm und Bild erhalten einen ebenso wichtigen Platz wie die Geschichte, wodurch eine Vielzahl von Bedeutungen kreiert wird. Wo herkömmliche darstellende Künste eine traditionelle lineare Struktur hervorbringen, wird diese im postdramatischen Theater durchbrochen.
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ICH KANN NUR HINWEISEN
Repräsentation wird zur Präsentation. Die Idee der Präsentation hat ihren Ursprung in der Performancekunst, die sich um das Hier und Jetzt dreht und die Trennung zwischen Realität und Fiktion durchbricht. Auch der Philosoph Gilles Deleuze greift auf diese Präsentationsidee zurück: »Denken ist nicht Repräsentieren, sondern Kreieren.« Lauwers’ Arbeit ist in all diesen bisherigen Facetten exemplarisch. Jede Arbeit sucht nach der Idee der Präsentation, in welcher der einzigartige Charakter zum Vorschein kommt. Der Meta-Text entspricht dem Text. Er verwendet eine, wie er es nennt, Off-Centre-Strategie, bei welcher der zentrale Punkt nicht mehr der wichtigste ist. Verschiedene Schichten, verschiedene Off-Centres beanspruchen ihren Platz, um die Geschichte zu erzählen und verschiedene Bedeutungen zu kreieren. Jedes Medium wird autonom behandelt. Lauwers’ Arbeit ist äußerst bildhaft. »Alle Medien, die ich verwende, sind durch das Konzept des Bildes verbunden. Das Konzept des Bildes ist in der Tat das Einzige, worum es mir geht. Wann ist ein Bild ein Bild? Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ein Bild erst dann zum Bild wird, wenn es sich im Gedächtnis des Betrachters verankert. Das ultimative Bild existiert nur durch Zerstörung: die Zerstörung aller vorherigen Bilder.« Im Jahr 2018 wagte sich Lauwers mit Lʼincoronazione di Poppea an die Oper. Dramaturg Erwin Jans erklärte Folgendes: »Lauwers ist kein Regisseur. Er inszeniert kein Repertoire, sondern den Moment, in dem aus dem Zusammenspiel von Formen, Körpern, Text und Musik etwas Neues entsteht. Auch aus diesem Grund ist es vielleicht kein Zufall, dass Jan Lauwersʼ erste Oper eine
Barockoper ist. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts stand die Barockoper am Beginn der Entwicklung eines neuen Genres, das sich noch nicht vollständig kodifiziert hatte. So hat beispielsweise Monteverdi die Partitur für die Sänger erweitert, aber die Partitur für die Musiker auf ein Minimum reduziert. Einige Gesangsstücke werden nur durch den Generalbass begleitet: ›Monteverdis Musikpartitur lässt viel Freiraum, um Instrumente hinzuzufügen. Sie gibt den Musikern Raum für die Interaktion miteinander und mit den Sängern. Ich möchte zu einer Art Free Jazz kommen, bei dem sich Musiker und Musikerinnen sowie Sängerinnen und Sänger beim Spielen und Singen finden. Im Gegensatz zu klassischen Sängern reproduzieren Barocksänger nicht, sie produzieren im Hier und Jetzt.‹ (Lauwers)« Im Jahr 2021 untersuchte Lauwers mit Intolleranza 1960 von Luigi Nono ein weiteres Opern-Extrem. Nicht umsonst ein feuriges politisches Werk voller katastrophaler Bilder und Geschichten, die in einem musikalischen Meisterwerk die Menschenwürde unterstreichen. Erwin Jans: »Die Konfrontation zwischen Autonomie und Engagement, zwischen der Klarheit der politischen Position und der unwiderruflichen Zweideutigkeit, die Kunst auszeichnet, zieht sich wie ein roter Faden durch die Aufführungen von Lauwers des letzten Jahrzehnts.« Mit Le Grand Macabre von György Ligeti landen wir in einer weiteren Ecke des 20. Jahrhunderts: Die extreme Präzision der musikalischen Federführung geht mit dem Thema des Jüngsten Gerichts und der Turbulenz eines flämischen Dans macabre auf Konfrontation, ohne eine klare Moral erkennen zu lassen. Ligeti weigert sich,
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die Debatte zu klären, und überlässt die Wahl zwischen Lachen, Angst, Leben oder Tod seinen Interpreten und dem Publikum. Und hier schließt er sich stark der Handhabung der Moral durch Lauwers an. In der Performance Images of Affection aus dem Jahr 2002 lässt Lauwers den Erzähler Folgendes sagen: »All I can do is point.« (Ich kann nur hinweisen.) Vielleicht beschreibt dies am besten, wie vielschichtig
Lauwers arbeitet. Indem er die Entscheidungen, die er trifft, die Texte, die er schreibt, die Bilder, die er kreiert, in den Vordergrund stellt, schafft er Aufmerksamkeit, ohne zu moralisieren. Er bringt Dinge an die Oberfläche, hinterfragt sie. Allein in der Wahl, die er für seine Opernproduktionen traf – schauen Sie sich Monteverdi, Nono und Ligeti an –, kann er ›hinweisen‹. Der Rest ist Geschichte.
ISABEL SIGNORET als AMANDO
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MARIA NAZAROVA als AMANDA
EMILY HEHL
PROBEN- TAGEBUCH
Montag, 2. Oktober, 17 Uhr
Nach zahllosen Monaten der Vorbereitung ist es heute endlich so weit: Die Proben für György Ligetis Le Grand Macabre beginnen an der Wiener Staatsoper. Viele Menschen tummeln sich auf der Probebühne im Arsenal. Neben den beteiligten Künstlerinnen und Künstlern finden sich auch zahlreiche Mitarbeitende des Hauses und der Werkstätten zusammen. Direktor Bogdan Roščić begrüßt die Runde und übergibt das Wort an den belgischen Regisseur Jan Lauwers: »Ich wurde in einer Kirche in Antwerpen getauft. Und genau diese Kirche ist auf einer Zeichnung des Malers Pieter Bruegel aus dem 16. Jahrhundert zu sehen.« Andere Gemälde dieses Künstlers waren wiederum eine wichtige Quelle für Ligeti, als er Le Grand Macabre komponierte und die Handlung im Breughelland verortet. Und auch für Jan Lauwers bleiben sie die zentrale Inspiration für diese Inszenierung: »Alles entsteht aus diesen Bildern von Bruegel: die Farben, Kostüme, Szenen und Bewegungen auf der Bühne.« Sechs Wochen haben wir nun, um diesem Breughelland szenisch und musikalisch Leben einzuhauchen!
Dienstag, 10. Oktober, 10 Uhr
John Lee Hooker und The White Stripes dröhnen aus den Lautsprechern auf der Probebühne im Arsenal. Was diese Musik mit Le Grand Macabre von György Ligeti zu tun hat? Es ist der dritte Probentag mit dem Slowakischen Philharmonischen Chor und diese Frage stellt sich hier schon niemand mehr. Die morgendlichen WarmUps mit dem Choreographen Paul Blackman sind zur willkommenen Routine geworden. Über 50 Menschen
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PROBENTAGEBUCH
vermischen sich in diesem Raum zu einer beeindruckenden Gruppe von individuellen Persönlichkeiten – Chorist*innen, Solist*innen und Tänzer*innen sind kaum mehr voneinander zu unterscheiden. Der vielleicht größte Anspruch, den Regisseur Jan Lauwers an seine Inszenierung von Ligetis Meisterwerk hat!
Montag, 16. Oktober, 10 Uhr
Heute ist ein Tag der Debüts. Während wir auf der Probebühne mit allen beteiligten Sängerinnen und Sängern an einer Szene des Stücks proben, wird auf der Bühne das Bühnenbild für Le Grand Macabre bei der technischen Einrichtung zum ersten Mal aufgebaut. Und im Orchesterprobensaal lässt das Wiener Staatsopernorchester unter der Leitung von Pablo HerasCasado erstmalig dieses Werk von Ligeti erklingen. Nicht nur das erste Mal in dieser Produktion, sondern überhaupt das erste Mal in der langjährigen Tradition der Wiener Staatsoper! Und in weniger als einem Monat wird die Premiere von Le Grand Macabre auf der Bühne der Wiener Staatsoper zu erleben sein.
Donnerstag, 19. Oktober, 8.15 Uhr
8.15 Uhr ist für das Regieteam eine doch eher ungewöhnliche Uhrzeit für den Arbeitsbeginn. Heute stehen uns knapp zehn Stunden auf der Bühne der Wiener Staatsoper zur Verfügung, um das Licht für die Inszenierung zu kreieren. Wir setzen die Arbeit da fort, wo wir um 22.45 am Vorabend aufgehört haben. An einem Haus, das einen so vollen und abwechslungsreichen Spielplan anbietet, wird jede freie Minute auf der Bühne genutzt. Parallel findet im Funkhaus die erste Orchestersitzprobe statt: Sänger*innen und Orchestermusiker*innen proben gemeinsam mit dem Dirigenten Pablo Heras-Casado »im Sitzen« – also ohne Szene, la prova all’italiana. An der Szene wird am Abend auf der Probebühne weitergearbeitet. Nach dem Ende der Beleuchtungsprobe springen wir also auf unsere Fahrräder und beginnen eine halbe Stunde später im Arsenal unsere szenische Probe. Dem Feierabend blicken heute alle freudig entgegen!
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EMILY HEHL
Mittwoch, 25. Oktober, 17.00 Uhr
Seit mehr als 14 Tagen finden in Israel und Gaza Kämpfe statt. Wie sehr beeinflussen solche Neuigkeiten diesen Probenprozess? Le Grand Macabre erzählt vom drohenden Untergang der Welt, der Tod alias Nekrotzar verkündet das unmittelbar bevorstehende Ende der Menschheit. In solch einem Stück hallen die dunklen Geschehnisse der Welt besonders wider. Doch das Ende, das Ligeti komponiert, wirft Fragen auf. Fragen, die sich das Regieteam und die Sänger*innen gemeinsam stellen. Denn in einem spanischen Volkstanz erklingen plötzlich reine Harmonien und die Überlebenden verkünden unerwartet ein Happy End. »Fürchtet den Tod nicht, gute Leut’! Irgendwann kommt er, doch nicht heut’! Und wenn er kommt, dann ist’s so weit… Lebt wohl so lang, in Heiterkeit!« Diese Sätze scheinen in diesen Tagen unglaublich zynisch. Ein Ende für das Ende zu finden – das war der Versuch der heutigen Probe. Und es wird nicht der letzte gewesen sein.
Montag, 30. Oktober, 10.30 Uhr
György Ligeti komponiert in Le Grand Macabre einige Stellen für Bühnenmusik. Das bedeutet, dass Musikerinnen und Musiker nicht im Graben spielen, sondern auf und hinter der Bühne sind. Oder in diesem Fall sogar im Zuschauerraum spielen sollen. In unserer heutigen Bühnenprobe widmen wir einen großen Teil genau diesen Momenten. Wo klingt es am besten? Und was bedeutet es für die Inszenierung, wenn Musik plötzlich von anderen Orten erklingt? Wohin wandert die Aufmerksamkeit des Publikums? Fragen, die Dirigat und Regie gleichermaßen betreffen. Das Bühnenorchester der Wiener Staatsoper steht heute bereit, um alle Möglichkeiten auszuprobieren. So lange, bis die Erwartungen an Klang und Szene übereinstimmen. Eine dreistündige Probe verfliegt da besonders schnell.
Dienstag, 31. Oktober, 10.30 Uhr
Wenn zwei Hände zu einhundert werden und statt 88 Tasten ein gesamtes Orchester erklingt, dann erreicht eine Opern-
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PROBENTAGEBUCH
produktion langsam die Zielgerade. Bisher haben alle szenischen Proben mit Klavier stattgefunden. Die Pianisten Peter Tilling und Anton Ziegler haben alles gegeben, um dieser dichten und komplexen Partitur von Ligeti auch am Flügel Klang zu verleihen. Doch heute begegnen sich Inszenierung und Orchester bei der Bühnenorchesterprobe zum ersten Mal. Alle Blicke fallen gespannt in den Orchestergraben: Neben den Instrumenten, die dort wenig überraschen, hält Le Grand Macabre dabei einige Schmankerl bereit. Türklingeln, Autohupen, Kuckucks-Flöten, Wecker, eine Sirene, ein Metronom, Sandpapierblöcke, zerrissene Papierbögen, zerknüllte Papierbögen, Küchentöpfe, quakende Enten, brüllende Löwen… Diese Auflistung ist tatsächlich keine ausgefallene Requisitenliste, sondern ein Auszug aus der Auflistung der beteiligten Instrumente.
Samstag, 4. November, 10.00 Uhr
Im Zuschauerraum kann man heute zum ersten Mal erahnen, was das Publikum bei der Premiere erleben wird. Demzufolge sitzen viele Mitarbeitende aus der Wiener Staatsoper und den Werkstätten im Parkett, um diese Klavierhauptprobe zu sehen. Solist*innen, Tänzer*innen und der Slowakische Philharmonische Chor sind in Kostüm und Maske, Licht und Video fluten die Bühne. Das Breughelland erwacht langsam zum Leben, eine große Farbpracht bewegt sich auf der Bühne, die Körper sind selten still. Wie in den Gemälden von Pieter Bruegel existieren in dieser Inszenierung konstant verschiedene Handlungen und Erzählungen nebeneinander. »Ambiguität« ist das Wort, das Regisseur Jan Lauwers seit vielen Wochen immer und immer wieder erwähnt. »Bruegel’s paintings are ambiguous. And so is Ligeti’s score!« Dieses Breughelland, das Jan Lauwers, Lot Lemm, Ken Hioco und Paul Blackman geschaffen haben, wird heute fotografiert. Denn die Frist für den Druck des Programmhefts rückt in unmittelbare Nähe – und damit wird dies auch die letzte Episode des Tagebuchs. In einer Woche wird in diesem Zuschauerraum das Premierenpublikum sitzen, und Sie werden dieses Programmheft in den Händen halten! Emily Hehl war Produktionsdramaturgin und Regieassistentin bei Le Grand Macabre.
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OLIVER LÁNG IM GESPRÄCH MIT ANDREA SCHURIAN UND PHILIPP BLOM
WEITERMACHEN WIE BISHER? ÜBER DEN TOD, DEN SINN UND DAS ENDE DER OPER IN DER HEUTIGEN ZEIT ol
Fangen wir mit dem Ende der Oper an: Der Tod ist – womöglich – tot. Wie stellen Sie sich eine Welt vor, in der der Tod nicht existiert? Ist es das Ende aller Werte und Regeln? Hört jeder Wille auf? Feiern wir ewig weiter und betrinken uns? pb Also, wenn ich wüsste, dass ich mich die nächsten 700 Jahre jeden Abend betrinken müsste, wäre das keine besonders tolle Aussicht. Nein, der Mensch kann mit dem ewigen Leben gar nicht umgehen, weil unser Dasein so sehr auf die Spanne, die wir haben, bezogen ist. Das ist natürlich eine kulturelle Prägung. Auch deswegen wären wir völlig ungeeignet, ewig zu leben und diese Zeit für irgendwas zu nützen, was uns erfüllt. Ich glaube, uns würde einfach nichts mehr befriedigen. as Weil Sie die Prägung angesprochen haben: Kulturen gehen mit dem Tod ganz unterschiedlich um. Manche verehren ihn und empfinden ihn als jenen Augenblick, auf den hingearbeitet wurde. Jetzt erst ist die Seele frei und das Universum für einen da. Ich habe einmal in Bali ein Begräbnis miterlebt, das wirklich ein Fest war: Der Sarg KS WOLFGANG BANKL als ASTRADAMORS
wurde in die Höhe geworfen, herumgewirbelt und es wurde getanzt, damit der Geist ja nicht mehr auf die Erde zurückfindet. ol Aber wäre der Mensch dadurch, dass er in seiner Endlichkeit beschnitten würde, sinnentleert? Anders gefragt: Braucht die Menschheit überhaupt so etwas wie den Tod? as Auf der einen Seite ist der Tod, ganz banal, natürlich eine Zumutung. Aber ich kann mich erinnern, dass ich mit 18 Jahren Simone de Beauvoirs Alle Menschen sind sterblich las – und das hat mich ungemein schockiert. Den Gedanken, dass man ewig lebt, alles rund um einen vergeht, man Freunde verliert und es immer weitergeht: den fand ich furchtbar. Denn natürlich hat das Feiern nur dann einen Sinn, wenn man weiß, dass es irgendwann auch einmal zu Ende geht. pb Ich beschäftige mich viel damit, was uns mit anderen Tieren verbindet und wie ähnlich wir ihnen sind – tatsächlich sind wir ihnen auf hundert Weisen viel verwandter, als wir dachten und als uns vielleicht lieb ist. Es scheint aber tatsächlich so, dass wir das
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einzige Wesen mit dem Wissen um die eigene Sterblichkeit sind. Andere Primaten verstehen zwar, was der Tod ist und haben sogar Rituale, um sich von Verstorbenen zu verabschieden. Aber sie wissen offensichtlich nicht, dass es sie auch selbst betrifft. Dieser bewusste zeitliche Horizont aber, der schafft eine ganz neue Realität. Und er schafft ein Bedürfnis nach Sinn oder Trost. ol Erzeuge ich mir also Sinn durch das Bewusstsein der Sterblichkeit? Um mich selbst zu trösten, muss ich dem Dasein einen Sinn geben? pb Die Sterblichkeit ist etwas, was einen vollkommen untröstlich macht. Sich vorzustellen, dass ein Mensch, den man liebt, eines Tages womöglich nicht mehr da ist, dass man selbst irgendwann ausgelöscht sein wird – darüber muss man sich hinweghelfen. Für mich ist eines der erstaunlichsten Dinge, dass die einzige Sicherheit, die wir haben, darin besteht, dass wir eines Tages tot sein werden. Also: scheitern. Und trotzdem stehen wir jeden Morgen auf und tun etwas Sinnvolles. Ich persönlich habe das Gefühl, dass der Mensch, abgesehen von Hunger und Durst, drei Antriebe hat: Sex, Angst und ein Begehren nach Sinn. as Wobei die Angst auch dadurch bestimmt ist, dass wir unsere Endlichkeit kennen. pb Und insofern ist sie eine Realität, die unser Leben und vor allen Dingen unsere Vorstellungskraft bestimmt. as So sehr ich gerade eben die Unsterblichkeit beängstigend fand: Der Tod beängstigt mich ebenso. Er ist ja geradezu eine Energieverschwendung: Wir denken, komponieren, sprechen, machen, schreiben, lieben, arbeiten – und das alles ist mit einem Schlag weg!
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Würden wir überhaupt noch schaffen, wenn wir unsterblich wären? Vielleicht ist es eine Chance, Trost und Sinn zu finden: Wenn ich schon sterben muss, dann baue ich wenigstens den allerhöchsten Turm. Oder schreibe ein Gedicht, damit, wenn es gut ist, vielleicht etwas von mir überlebt. pb Oder ich habe Kinder. as Man tut das alles ja auch, ohne ständig die Todesangst im Kopf zu haben. Ich glaube nicht, dass man jeden Tag permanent denkt: »Ach, ich bin sterblich.« Sondern es funktioniert genau umgekehrt, man verdrängt das Sterben, bis einen ein Todesfall wieder in die Realität zurückgeholt. ol Jan Lauwers meint, dass im Jahr 1978, als Le Grand Macabre zur Uraufführung kam, die Welt noch lichter war. Sehen Sie das auch so? Dass 2023 bedrängender ist als die 1970er Jahre? pb Ich würde sagen: Auf jeden Fall dunkler und auch beängstigender! Ganz abgesehen von der Klimakatastrophe und den aktuellen Kriegen kann man ganz allgemein sagen, dass die 1970er Jahre in Westeuropa eine Zeit eines robusten liberalen Traums waren, in der man dachte, dass die Welt besser wird und alles vorwärtsstrebt. Es gab das Versprechen: Deinen Kindern wird es einmal besser gehen als dir. Das ist heute verschwunden. Eigentlich fürchten wir uns vor der Zukunft. Ja, wir wollen gar keine Zukunft, wir wollen uns vor ihr schützen. Vor allem aber glauben wir nicht mehr, dass sie besser wird als die Gegenwart. Und dazu muss man kein Klimaaktivist sein, das ist ein ziemlich breites gesellschaftliches Grundgefühl.
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as Dem kann ich sehr zustimmen. Zu beängstigend möchte ich aber auch noch das Wort beengend hinzufügen. Ja, heute gibt es eine beengtere Art, die Welt zu sehen. pb Kleine Präzisierung: Das Lichte galt es hauptsächlich für Menschen aus der Mittelklasse im Westen. In Osteuropa hat das damals so nicht stattgefunden. as Das ist ein spannender Aspekt, weil die Perspektiven im Osten tatsächlich ganz anders waren. Erst die Öffnung Ende der 1980er Jahre brachte die ersehnte Freiheit und Zukunftsfreude. Nach dem Fall der kommunistischen Systeme haben sich, wenn auch nicht immer ganz robuste, aber immerhin Demokratien etabliert. Also genau das, wovon wir geträumt haben. Umso erstaunlicher und trauriger ist es, dass es sich auch dort wieder verengt hat. ol Aber warum hat sich alles gewandelt? Wir wissen um die Klimakatastrophe und die Kriege. Aber ist das der Grund? Oder hat es auch mit einem generellen wirtschaftlichen Aufschwung zu tun, der in den 1970ern zu spüren war? Viele Menschen wussten damals: nächstes Jahr wird mehr Geld in der Kasse sein als dieses Jahr. Die freie Sexualität, an der man sich erfreute, ist heute sicherlich noch freier. Offenheit ist ein wichtiges Thema. Warum spüren wir das nicht? pb Ich glaube, mit unserem Konsum ist es auf eine gewisse Weise ein bisschen wie mit der Unsterblichkeit. Wenn alles immer zu haben ist, dann ist es auch weniger wertvoll. Damit will ich nicht sagen, dass alle Menschen in unserer Gesellschaft unbegrenzt konsumieren können. Es gibt viel Armut.
Dennoch sind Konsumgüter zum Teil mehr und verfügbarer geworden. Die große Veränderung ist aber eine ganz andere. Die kurze Version lautet: »Siegen macht dumm.« Und die etwas längere Version wäre, dass der Sieg des Liberalismus dazu geführt hat, dass in westlichen Ländern mutwillig soziale Marktwirtschaften zerstört und abgebaut wurden. Das beeindruckendste Beispiel dafür ist Großbritannien, wo heute 3 Prozent der Menschen arbeitslos sind, aber 25 Prozent unter der Armutsgrenze leben. Das heißt Vollzeit arbeiten, aber wie im Großbritannien von Charles Dickens von ihrer Arbeit nicht leben können. Und das in der sechstgrößten Ökonomie der Welt! Irgendwann, ab den 1980er Jahren, wurde der wirtschaftliche Aufschwung nicht mehr an die Arbeiterinnen und Arbeiter weitergegeben. Die Produktivität ging zwar weiter in die Höhe, die Löhne aber wurden flach und gingen eher runter. So entstand – und entsteht – eine riesige Schere. Und der Profit geht buchstäblich in die Taschen von 10 Prozent der Bevölkerung. Die anderen 90 Prozent sind ausgeschlossen, werden nicht mehr ernst genommen, nicht mehr gehört. Und das merken sie natürlich. Irgendwann verlieren diese Menschen ihren Glauben an das System und denken sich: Wenn das eine liberale Demokratie ist, dann brauche ich sie nicht. Eine wahnsinnig gefährliche Entwicklung! Sie erklärt viel von der gesellschaftlichen Apathie, nämlich, dass es kein gemeinschaftliches gesellschaftliches Projekt mehr gibt. Wir sind trotz unseres Reichtums paradoxerweise eine ziemlich hoffnungslose Gesellschaft geworden. as Ich glaube, es kommt noch ein Punkt dazu: Auf diese Hoffnungslo-
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sigkeit trifft auf der anderen Seite eine vollkommen überreizte Aufgeregtheit durch die sozialen Medien. Die Menschen sind angefüllt mit richtiger, aber auch mit sehr viel falscher Information. Nun fühlt man sich auf der einen Seite abgehängt, scheint aber auf der anderen Seite mitten drin zu sein, mit so einem das Gefühl des Ja, da kann ich jetzt was bewegen! Doch aus der Überflutung entsteht auch eine Hoffnungslosigkeit, vor allem auch, wenn man nicht genau weiß, wie man die Informationen einordnen kann. Ich sehe bei den jungen Leuten heute, dass sich die Lebensentwürfe und Hoffnungen ziemlich von jenen unterscheiden, die ich in meiner Jugend hatte. Ich war vollkommen überzeugt, dass ich mit dem, was ich kann und mir Freude macht, mein Leben bestreiten werden kann. Nicht eine Sekunde zweifelte ich daran. Die jungen Leute hingegen tun das. ol Doch warum fragen sich das junge Leute? Hat man nicht mehr Möglichkeiten und Freiheiten als in den letzten Jahrzehnten? as Zunächst gab es die Pandemie, die eine Zäsur im Selbstverständnis der Menschen war. Vor allem für die Jungen war sie einfach beängstigend. Dann kam der Ukraine-Krieg, jetzt in Israel diese Katastrophe, und obendrauf noch der Klimawandel. Es kommen einfach permanent beängstigende Nachrichten, es beschleicht einen das Gefühl, dass es nur mehr schlechte Nachrichten gibt. pb Diese bekommen wir natürlich auch, weil alles, was uns emotionalisiert, auf Social Media von Algorithmen gepusht wird, damit wir längere Zeit dranbleiben. Als ich Kind war, gab es jeden Abend die Tagesschau: Für mich zwar langweilig, doch ordentlich
gemacht, relativ solide recherchiert und relativ unabhängig. Das hat bedeutet, dass am nächsten Morgen Menschen, die unterschiedlich gewählt haben und die Welt unterschiedlich sahen, sich bei der Arbeit zumindest über dieselben Fakten unterhalten konnten. Heute reden wir gar nicht mehr über dieselben Fakten, nicht mehr über dieselbe Welt. Und ich weiß nicht, ob eine Demokratie das auf Dauer übersteht. Also ich glaube, junge Menschen haben ganz recht, unsicher zu sein. Weil sie nicht wissen, in was für einer Welt wir heute leben. as Und gleichzeitig gibt es heute wahnsinnig strenge und beschränkende Regeln. pb Aber das sind ökonomische, nicht moralische. as Gerade die moralischen Regeln finde ich stark und beschränkend. Der erhobene Zeigefinger! Das ist eher stärker geworden als in meiner Jugend. ol Gibt es nicht die Hoffnung, dass das Dunkle nur ein Zwischentief ist auf dem Weg zu neuen Höhen, zu einer neuen, glücklicheren Freiheit? Dass der Mensch an sich besser wird? Viktor Frankl hingegen meinte, dass der einzige Fortschritt, den es gibt, der technische sei. as So, wie Adorno meinte, dass die Utopien sich meistens als Enttäuschung erwiesen hätten. pb Die Idee des Fortschritts ist eine sehr westliche, eigentlich eine Variante der christlichen Heilsgeschichte. Im Sinne von: Die Geschichte hat ein Ziel. Wie Frankl glaube ich an einen technologischen Fortschritt. Nicht aber an einen moralischen oder künstlerischen. Natürlich haben wir in einigen Dingen Fortschritte gemacht, doch ist das auch ein Nebenprodukt eines Reichtums,
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der auf Kosten gigantischer Naturzerstörungen erwirtschaftet wurde. Man fragt sich: Ist das ein Nullsummenspiel? Zweifellos werden die kommenden Jahrzehnte schwieriger, und das erzeugt Sorgen. So fragen mich Menschen manchmal: Schaffen wir das alles überhaupt noch? Und dann ist meine Reaktion: Ja, was denn eigentlich? Den ewigen Frieden? Das ewige Glück? Die Unsterblichkeit? Nein, Leben ist sich durchwurschteln, faule Kompromisse machen, jeden Tag neu versuchen, immer wieder scheitern und am Ende endgültig scheitern. Ich glaube insofern nicht, dass wir immer zu neuen Höhen gehen. ol Da wir in einem Opernhaus sitzen, frage ich noch einmal: Und die Kunst kann hier vielleicht auch Trost vermitteln? Einen Weg aus unserer Endlichkeit? as Dazu fällt mir ein Zitat von Antonin Artaud aus seinem Van-Gogh-Buch ein: »Keiner hat je geschrieben oder gemalt, geformt, modelliert, gebaut, erfunden, es sei denn, um der Hölle zu entkommen.« Ich denke, das ist ein so kluger Satz! Denn er fasst alles, was wir geredet haben, ein bisschen zusammen. Eigentlich ist alles, was wir tun, nur darauf ausgerichtet, der Hölle zu entkommen. pb Und der Sterblichkeit. as Der entkommen wir nicht, aber der Hölle: vielleicht. pb Sie erwähnten anfangs das Feiern. Ich habe immer das Gefühl, wir feiern gegen etwas an, wie beim Festmahl von Don Giovanni am Ende der Oper. Feiern hat, wenn es nicht völlig verblödet ist, immer auch eine Geste von Trotz: Wir sind noch hier, wir können noch! as Das klingt in Ligetis Oper auch durch. Wie heißt es am Ende? Wir
sind noch hier, wir sind noch nicht tot. Wenn es soweit ist: gut. Aber jetzt ist es noch nicht soweit. pb Die Sterblichkeit ist unser aller Tragödie. Wir brauchen sie noch. ol Können wir im Gegensatz zu früheren Zeiten – und zum Opernfinale – nicht mehr einfach weitermachen wie bisher? Selbst wenn der Tod tot wäre? Sind wir an diesem Punkt angekommen, an dem die Brände, die wir gelegt haben, womöglich nicht mehr zu löschen sind? pb Viel klügere Menschen als ich meinen: Ja, da sind wir angekommen. Was mit dem Klima passiert, ist unglaublich bedrohlich und lässt sich auf Jahrhunderte nicht mehr umdrehen. Und vor allem: Wir haben mit der Künstlichen Intelligenz etwas geschaffen, was wir nicht mehr verstehen und was wir auch nicht mehr einfangen können. Da müssen Sie jetzt gar nicht an neue Biowaffen denken und an perfekte Fake News. Sondern viel einfacher, ich nenne ein triviales Beispiel: Durch Künstliche Intelligenz kann man jetzt wunderbar in allen Sprachen kommunizieren, ohne diese erlernen zu müssen. Aber in Bezug auf die Sprachen, die ich gelernt habe, erinnere ich mich nicht nur an meine Mühen, sondern auch an meine Freude: dass ich etwas entdeckt habe, das eine Kultur ausmacht, das Menschen ausmacht, dass ich jemand anders werden kann in dieser anderen Sprache. Um diesen Reichtum betrügt mich die KI. as Und man gerät in eine einsame Ecke, weil man mit den anderen nicht mehr spricht, sondern nur die KI dafür verwendet. Das heißt, man verliert auch wirklich zwischenmenschliche Kontakte, Beziehungen. Abgesehen davon auch im Hirn einige Synapsen,
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die nicht unwesentlich sind, um die Welt betrachten und beurteilen zu können. Jetzt komme ich zu den jüngeren Menschen zurück, denen diese Einsamkeit vielleicht gar nicht so bewusst ist. Aber die doch irgendwie spüren, dass da noch viel Welt herum ist, mit der sie nichts zu tun haben. ol Ich habe es nicht geschafft, das Gespräch zu einem positiven Ende zu führen. as Das positive Ende wäre, dass unser Leben absurd ist, genauso wie Le Grand Macabre. ol Dann hätte es ja keinen Sinn. as Ich bezweifle ihn ja auch, zumindest die Sinnsuche.
pb Sinn ist a priori immer etwas, was wir in die Welt hineinprojizieren. Ich vergleiche das gerne mit der mentalen Landkarte, mit der wir uns bewegen, um Ziele zu erreichen. Wir brauchen sie. Aber an die Orte, die auf der Landkarte nicht verzeichnet sind, kommen wir nicht. ol Jetzt zitiere ich noch einmal Viktor Frankl: Es klappt nicht, nach dem Sinn zu suchen. Er muss einen finden, nicht umgekehrt. as Ja, das glaube ich auch, dass einen der Sinn findet und man ihn nicht suchen kann. Man kann nur tun. Und im Tun ergibt sich ein Sinn.
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Hochgenuss trifft Hochkultur OFFIZIELLER SEKT DER WIENER
GRANDE CUVÉE
S TA AT S O P E R
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IMPRESSUM GYÖRGY LIGETI
LE GRAND MACABRE SPIELZEIT 2023/24 STAATSOPERN-ERSTAUFFÜHRUNG AM 11. NOVEMBER 2023 Herausgeber WIENER STAATSOPER GMBH, Opernring 2, 1010 Wien Direktor DR. BOGDAN ROŠČIĆ Musikdirektor PHILIPPE JORDAN Kaufmännische Geschäftsführerin DR. PETRA BOHUSLAV Redaktion SERGIO MORABITO, ANDREAS LÁNG, OLIVER LÁNG Gestaltung & Konzept EXEX Layout & Satz ROBERT KAINZMAYER Druck PRINT ALLIANCE HAV PRODUKTIONS GMBH, BAD VÖSLAU TEXTNACHWEISE Clemens J. Setz: Nekrotzars Kinder – Pablo Heras-Casado: Ein furioser Geniestreich – Jan Lauwes im Gespräch: Mehrdeutigkeit als Antwort auf alle Fragen – Gergely Fazekas: Leben wir – oder nicht? (übersetzt von Andrew Smith) – Judith Staudinger: Was ist absurdes Theater? – Daniel Uchtmann: Die Zelebration des Grotesken – Andreas Dorschel: Zwielichtiger Schauplatz – Oliver Láng: Eine kurze Wien-Geschichte – Elke Janssens: Ich kann nur hinweisen (übersetzt von Interlingua) – Emily Hehl: Probentagebuch – Andrea Schurian und Philipp Blom: Weitermachen wie bisher? TEXTÜBERNAHMEN György Ligeti: Die Handlung, aus: Gesammelte Schriften, Band 2, Schott, 2007 – György Kurtág: Gedenkworte für György Ligeti, aus: Reden und Gedenkworte, 35. Band, Wallstein Verlag – Ernst Czerny: Michel de Ghelderode und die Ballade vom »Grand Macabre«, aus: Programmheft des Wiener Operntheaters, 1994 – György Ligeti: Zur Entstehung der Oper Le Grand Macabre, aus: Gesammelte Schriften, Band 2, Schott, 2007 LEKTORAT Martina Paul BILDNACHWEISE Cover: Damien Hirst, For the Love of God, 2007 © Damien Hirst and Science Ltd. All rights reserved, Bildrecht, Wien 2023 / Bildkonzept Cover: Martin Conrads, Berlin Szenenbilder: Michael Pöhn / Wiener Staatsoper GmbH (Seiten: 2-3, 10-11, 17, 24, 36-37, 67, 70, 75, 78-79, 85, 90), @ marcelurlaub.com (Seite 15) AKG-Images: Seiten 32, 52-53, 54 Kunsthistorisches Museum Wien: Seiten 58-59 Jan Lauwers: 28-29
Nachdruck nur mit Genehmigung der Wiener Staatsoper GmbH / Dramaturgie. Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten.
KOPFZEILE
UNSERE ENERGIE FÜR DAS, WAS UNS BEWEGT. Das erste Haus am Ring zählt seit jeher zu den bedeutendsten Opernhäusern der Welt. Als österreichisches und international tätiges Unternehmen sind wir stolz, Generalsponsorin der Wiener Staatsoper zu sein. 99 Alle Sponsoringprojekte finden Sie auf: omv.com/sponsoring
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Spotify-App öffnen, Code scannen und Le Grand Macabre-Playlist hören
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