Favoritenstraße 60
Fassadenbeschriftung des Uhren-, Juwelen- und Silberwarengeschäfts von Adolf Grünsfeld
Objekte aus dem Wien Museum
Favoritenstraße 60 S. 6
Von Lackenbach nach Wien S. 10
1938 – Verfolgung und Inhaftierung S. 23
Eigene „Arisierungsstelle“ für die Uhren- und Juwelenbranche S. 28
Behördenschikanen S. 39
Novemberpogrom, Verhaftung, Deportation S. 48
Flucht in letzter Minute S. 52
Letzte Spuren der Familienmitglieder S. 59
Der Juwelier von La Paz S. 64
Kontakt zur alten Heimat S. 68
Überlebt und traumatisiert S. 71
Erinnerung im Museum S. 77
Die Fassadenbeschriftung am Haus Favoritenstraße 60 vor der Abnahme im Sommer 2019
Favoritenstraße 60
Es war im Jahr 2018, als nicht weit entfernt vom hektischen Verkehrsknoten Südtiroler Platz eine alte Werbeaufschrift entdeckt wurde, die sich auf einem vorspringenden Mauerteil eines Wohnhauses befand. Sie war – nach Jahrzehnten hinter einem hölzernen Wandpaneel – bei Renovierungsarbeiten zum Vorschein gekommen und trotz starker Abnutzungen und Beschädigungen noch gut zu lesen. Die silber- und goldfarbenen Buchstaben auf blauem Feld verkündeten, was vor 1938 an dieser Adresse zu finden war: „Adolf Grünsfeld / Uhren, Juwelen / Gold- u. SilberwarenLager / IV. Favoritenstr. 60 / Einkauf u. Umtausch / [von] alten Schmuckgegenständen“. Signiert ist die Malerei mit „R. Oppelt Nfg.“. Der Malerbetrieb befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft in der Viktorgasse 4.1 Ohne das Auftauchen dieser Fassadenbeschriftung wäre die Geschichte der Grünsfelds wohl für immer im Verborgenen geblieben. Wer aber waren sie?
Abb. S. 7 Werbeanzeige des Malerbetriebs Rudolf Oppelt in Lehmann’s Allgemeiner Wohnungs-Anzeiger, Inserate, Band 1, 1902
Abb. S. 8/9 Ansichtskarte der Favoritenstraße, um 1900. Links ist das Haus zu sehen, in dem Adolf Grünsfeld ab 1906 sein Geschäft hatte, auf der Seitenwand frühere Werbeaufschriften
1 Die Wandmalerei wurde in den 1920/30er Jahren vom Schildermaler Anton Stöhr angebracht. Er hatte den von Rudolf Oppelt
1880 gegründeten Betrieb 1902 übernommen und unter dem Namen „Rudolf Oppelt, Nachf. Anton Stöhr“ weitergeführt.
Von Lackenbach nach Wien
Die Geschichte der Familie Grünsfeld beginnt in Lackenbach im heutigen Burgenland. Als Adolf dort am 13. Juli 1870 als Sohn des Kaufmanns Markus (Miksa) und der Julie Grünsfeld (geb. Schwarcz) geboren wurde, war der Ort ungarisch (Lakompak) und lag im Komitat Ödenburg (Sopron). 1869 lebten dort 779 Jüdinnen und Juden, das entsprach 62 Prozent der Bevölkerung.2 Die jüdische Gemeinde gehörte gemeinsam mit Eisenstadt, Mattersdorf, Kobersdorf, Frauenkirchen, Kittsee und Deutschkreutz einem orthodoxen Gemeindeverbund an, der unter dem Schutz der Fürsten Esterházy stand. Die Anfänge der „Sieben-Gemeinden“ (hebräisch Schewa Kehilot) gehen ins 17. Jahrhundert zurück, als Schutzbriefe der Esterházys diesen Ortschaften vollkommene Autonomie in inneren Angelegenheiten verliehen.3 Die Gemeinden mussten dafür Schutzgebühren an das Fürstenhaus zahlen. Das Gemeindeleben war durch Statuten geregelt, die auf dem jüdischen Religionsgesetz (Halacha) beruhten und mit einer Mehrheit der Gemeindemitglieder beschlossen wurden. Diese Statuten umfassten sämtliche Lebensbereiche und waren für die Gemeinde und ihre Mitglieder verpflichtend.4
2 gemeinde-lackenbach.at/ Judentum.. 1017,,,2.html (10. 07. 2024). 3 Vgl. Felix
Tobler: Die Fürsten Esterházy als Schutzherren der jüdischen Sieben-Gemeinden 1612–1848 (Mitteilungen aus der Sammlung Privatstiftung Esterhazy, Bd. 12), Eisenstadt 2021. 4
1871 – ein Jahr nach Adolfs Geburt und 23 Jahre nach der Revolution von 1848 – regelte der ungarische Staat sein Verhältnis zu den jüdischen Gemeinden neu: Er anerkannte die Bildung von orthodoxen, liberalen und sogenannten Status-quo-ante-Gemeinden, die ihre bereits bestehenden Regeln beibehielten.5 Die Schewa Kehilot und damit auch die Lackenbacher schlossen sich dem Verband der orthodoxen Gemeinden Ungarns an. Die Regelung in Ungarn unterschied sich übrigens stark von dem 1890 erlassenen Israelitengesetz der österreichischen Reichshälfte, das keine Rücksicht auf die unterschiedlichen Gruppierungen innerhalb der jüdischen Gemeinden nahm. Abb. S. 12/13 Synagoge in Lackenbach, 1920/30er Jahre
Wie in den meisten jüdischen Gemeinden wurde auch in Lackenbach großes Gewicht auf die Erziehung der Jugend gelegt. Die Vermittlung der Tora und der jüdischen Lehre sowie das Lernen selbst gelten im Judentum als religiöse Pflicht. Die sogenannte Cheder, in der die Kinder nur in religiösen Fächern unterrichtet wurden, musste allerdings ab 1871 auf Regierungsanordnung auch säkulare Fächer in den Stundenplan aufnehmen. Aus dieser „reformierten Cheder“ entstand eine vierklassige jüdische Volksschule, in der eine Vereinigung von traditionell-jüdischer und weltlicher
4 Vgl. Rafaela Stankevich: Die jüdische Gemeinde Lackenbach, in: David. Jüdische Kulturzeitschrift 9 (2016) 110, davidkultur.at/ artikel/die-judische-gemeindelackenbach (11. 07. 2024). 5 Vgl. Wolfdieter Bihl: Die Juden in der Habsburgermonarchie 1848–1918, in: Zur Geschichte der Juden in den östlichen Ländern der Habsburgermonarchie (Studia Judaica Austriaca, hg. von Kurt Schubert, Bd. 8), Eisenstadt 1980, S. 25–27.