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Mit Kitsch, Klamauk und Kunst: Mitten in den Geschlechterkampf
Oper/Schauspiel Heiner
Die Marquise von O...., Schauspiel Wuppertal, Foto: UweSchinkel,
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Madeline Martzelos, Konstantin Rickert, Silvia Munzón López
Die Wuppertaler Marquise als Niki de Saint Phalle
Mit Kitsch, Klamauk und Kunst: Mitten in den Geschlechterkampf
19. September 2020: Die Premiere der Marquise von O…. steht auf dem Programm. Nach dem Lockdown im März scheint in Deutschland das Schlimmste überstanden. Schulen und Theater sind wieder geöffnet.
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Wenn auch unter strengen Hygieneauflagen. Das Land wieder erwacht aus dem Dornröschenschlaf, in das es die Corona-Pandemie versetzt hat. Nun sind die Theater wieder zu. Die zweite Welle hat Europa, hat Deutschland hart getroffen. Kein Theatervorhang hebt sich mehr; die Schulen wieder zu.
Und während ich an dieser Rezension schreibe, erwische ich mich unwillkürlich bei diesem Gedanken: Wie merkwürdig sich die Zeiten doch ähneln. Die Corona-Pandemie heute und jene überhitzte Vergangenheit, in der Kleists eigentümliche Novelle spielt.
Eine Zeit, schwankend zwischen den mit dem Siegeszug Napoleons verbundenen politischen Hoffnungen auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit einerseits und andererseits Pessimismus, Resignation und Angst. Das Virus, das die Menschen in Kleists Erzählung heimsucht, ist ein abscheulicher Cocktail aus sexueller Gewalt und Standesdünkel, moralischer Verkommenheit und Bigotterie. Die Novelle spielt inmitten des zweiten Koalitionskrieges. Während der Schlacht um die Zitadelle von M… will eine Gruppe marodierender russischer Soldaten die Marquise vergewaltigen. Ganz Offizier und Gentleman, befreit der, die russischen Truppen kommandierende, Graf die Marquise. Die aber rettet sich vor der grausamen Wirklichkeit des Krieges und ihren eigenen – politisch unkorrekten – Passionen in eine Ohnmacht. Was dann genau geschieht – ob die Marquise aus der Ohnmacht erwacht und sich willentlich dem Grafen hingibt, oder ob der Retter selbst nun zum Vergewaltiger wird, das bleibt für den Leser unklar. Möglicherweise auch für die Marquise selbst. Der wohl berühmteste Gedankenstrich der deutschen Literatur hält beide Möglichkeiten offen: „Hier – traf er, [der Graf] Anstalten, einen Arzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, daß sie [die Marquise] sich bald erholen würde; und kehrte in den Kampf zurück.“ Als die Marquise später schwanger ist, kann sie sich an nichts mehr erinnern – außer an einen Helden, der ihr „wie ein Engel erschien“. Kurzerhand verbannt sie der Vater aus dem Haus.
Die Marquise stürzt in einen Abgrund: Die Welt, die einmal die ihre war, versteht sie nicht mehr. Vergewaltigung als Mittel der Kriegsführung, Bigotterie und falsch verstandener Ehrbegriffe zertrümmern jene Mitmenschlichkeit, die man doch mindestens in der Familie erwarten dürfte. Dass Literatur es wagte, der Zeit so radikal den Spiegel vorzuhalten, rief zur Entstehungszeit Abwehr und Unverständnis hervor. Unisono tönt der kakophone Chor der Verrisse: „Nur die Fabel derselben [der Novelle] angeben, heißt schon, sie aus den gesitteten Zirkeln verbannen“, urteilt etwa Karl August Böttiger. „Kein Frauenzimmer könne die Novelle“, so Böttiger, „ohne Erröten lesen“.
Kleists Erzähler trägt diese unwahrscheinliche Erzählung im vorwärtsdrängenden, sich überschlagenden Ton eines Chronisten und Verfassers eiliger Depeschen vor. Doch wie bringt man eine solch unerhörte Begebenheit auf die Bühne? Wie dramatisiert man diese surreale, den dunklen Kosmos Kafkas präludierende Erzählung? Regisseurin Kristin Trosits widersteht der naheliegenden Versuchung einer naheliegenden Aktualisierung, die die Metoo-Bewegung in den Fokus rückt. Es hätte sich angeboten, den Vater der Marquise als Filmmogul Weinstein auf die Bühne zu zerren. Doch nichts dergleichen. Herzlichen Dank! Stattdessen setzt die Wuppertaler Inszenierung auf eine radikal erweiterte Szenische Lesung, die zwischen Schauspiel, Performance und Tanz (Choreografie: Jeremy Curnier) oszilliert. In atemlosen Tempo wechseln Madeline Martzelos, Silvia Munzón-López und Konstantin Rickert die Rollen, sind abwechselnd Erzähler, Marquise, Vater, Bruder, Mutter, Graf. Eine artistische Ensembleleistung, die dem Zuschauer hohe Konzentration abfordert, die aber zugleich das Dunkel der erzählten Welt durchleuchtet, in der die Grenzen zwischen Realität und Traum im Niemandsland der Erinnerungen verschwimmen: Wie in einem Spiegelkabinett begegnen die Figuren einander und erkennen sich selbst im Zerrbild der anderen. Kleist war ein Großmeister der Schilderung sonnambuler, tranceähnlicher Zustände, jenen Fluchtbewegungen der Seele, in die sie sich begibt, wenn sie überfordert ist, Sehnsüchte und Leidenschaften mit dem Realitätsprinzip in Kongruenz zu bringen. Zunehmend verliert die Marquise in der camera obscura ihres Seelenlebens Halt und Orientierung. Der lange Sturz ins Bodenlose beginnt.
Und so kämpfen, rasen, raufen sich Martzelos, MunzónLópez und Rickert im permanenten Rollenwechsel durch das Werk: Highspeed-Theater mit fulminanten Transitionen. Das großartig minimalistische und zugleich expressive Bühnenbild von Nina Sieverst trägt die Handlung: Wie in einer Kampfarena verfolgt der in die Rolle des Voyeurs gedrängte Zuschauer diese ultimative Gender-Combat Show, in der sich der Graf und die Marquise einen gnadenlosen Geschlechterkampf liefern. Zugleich wird er Zeuge eines Seelendramas und einer Familientragödie. Die tragischen Verstrickungen der Figuren werden häufig komödiantisch verzerrt, der Bogen ins Klamaukhafte überdehnt. Wie etwa die Persiflage der Herzblatt-Sendung Rudi Carrells als Blaupause für die Suche der Mutter nach dem idealen Bräutigam für die „gefallene“ Tochter. Längst ist die Wahl auf den mehr als standesgemäßen Grafen gefallen; und doch soll die hochnotpeinliche Wahrheit, dass der Graf der Vater des zukünftigen Kindes der Marquise ist, durch echte Liebe geadelt werden. Entlarvt aber nicht gerade dieser schrille Kitsch vortrefflich die gesellschaftliche Verlogenheit? „Kunst, diese sehr ernsten Scherze“, so sah es schon Goethe.
Doch rollen wir die Handlung noch einmal zurück: Vor ihrer schicksalhaften Begegnung mit dem Grafen flüchtete die Marquise in die Welt der Kunst. So heißt es in der
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Die Marquise von O...., Schauspiel Wuppertal, Foto: UweSchinkel,
Madeline Martzelos, Konstantin Rickert, Silvia Munzón López
Novelle: „Im Kommandantenhaus ihres Vaters hatte sie die nächsten Jahre mit Kunst, Lektüre, mit Erziehung, und ihrer Eltern Pflege beschäftigt, in der größten Eingezogenheit zugebracht.“ Splended Isolation, goldener Käfig: Dieser verzweifelte und zum Scheitern verurteilte Versuch, Kunst und Familie als Quietiv des Lebens zu leben, wird in der Wuppertaler Marquise in frappierende Bilder übersetzt. Plastikfolien hängen an den Gestängen der Raute. Zu Technoklängen klatschen die Schauspieler sie im aggressiven Gestus des Action-Painting mit grellen Neonfarben zu. Die zu Niki de Saint Phalle verwandelte Marquise rebelliert gegen Einsamkeit, gegen Lieb- und Sinnlosigkeit: Die beschmierten Folien verstellen den Blick auf die Welt nun endgültig. In ihrer Wut schüttet sie die Farbeimer auf den Boden. Immer wieder rutscht sie aus auf dem glitschigen Bühnengrund: Sinnbild des verzweifelten Versuchs, den Triebenergien durch Sublimierung und Anpassung zu entgehen. So ist die Marquise prädisponiert für den Schritt vom Wege.
Springen wir vom Anfang zum Ende der Novelle. Die findet scheinbar ein Happy End. Auf eine von der Marquise aufgegebene Zeitungsannonce hin, in welcher sie den Vater ihres zukünftigen Kindes sucht, meldet sich der Graf. Der Vater der Marquise willigt nach einigen Irrungen und Wirrungen in den Heiratsantrag des Grafen ein, setzt aber einen Ehevertrag auf, der dem zukünftigen Gatten alle Pflichten abverlangt, aber keinerlei der damals noch bewilligten Rechte eines Ehemanns einräumt: Verbotene Liebe. Aber die Standesregeln sind wieder in Kraft gesetzt. Wie brüchig dieser verlogene Burgfrieden einer überkommenen Gesellschaft ist, zeigt eine Szene am Ende der Novelle: „Drauf endlich öffnete sie [die Mutter] die Tür, und sah nun – und das Herz quoll ihr vor Freuden empor: die Tochter still, mit zurückgebeugtem Nacken, die Augen fest geschlossen, in des Vaters Armen liegen; indessen dieser, auf dem Lehnstuhl sitzend, lange, heiße und lechzende Küsse, das große Auge voll glänzender Tränen, auf ihren Mund drückte: gerade wie ein Verliebter! Die Tochter sprach nicht, er sprach nicht; mit über sie gebeugtem Antlitz saß er, wie über das Mädchen seiner ersten Liebe, und legte ihr den Mund zurecht, und küßte sie. Die Mutter fühlte sich, wie eine Selige; ungesehen, wie sie hinter seinem Stuhle stand, säumte sie, die Lust der himmelfrohen Versöhnung, die ihrem Hause wieder geworden war, zu stören.“
Man liest möglicherweise leicht über diese Stelle der Novelle hinweg und deutet sie als ein Bild wiederhergestellten Familienfriedens. Tatsächlich ist dies aber die wohl dunkelste Stelle der Novelle: Mit diesem inzestuös aufgeladenen Bild deckt Kleist die Verlogenheit der Gesellschaft und die damit verbundene Unterdrückung sexueller Begierden auf. Keinerlei Zweifel an diesen Zusammenhängen lässt die Wuppertaler Inszenierung. Sie durchleuchtet schonungslos – wie auch schon Kleist ein Jahrhundert vor Freud – die Menschen mit den Röntgenstrahlen der Psychoanalyse und macht so das Unbewusste sichtbar.
Noch stärker ist der Schluss: Die Ehe mit dem Grafen, der der Marquise zuerst wie ein Engel, dann aber wie ein Teufel erscheint, ist die Hölle auf Erden. Und das zeigt die Schlusssequenz so: Durch einen langen, einen Phallus assoziierenden Stock sind die Marquise und der Graf zugleich voneinander getrennt und miteinander verbunden. In einem atemberaubenden Totentanz umkreisen sie einander, rammen den Stock einander in Magen, Herz und Geschlecht. Silvia Munzón-Lopez und Christian Rickert kämpfen, als ginge es um Leben und Tod. Lange, sehr lange dauert dieser Kampf. Bis das Paar einen Zustand fast tödlicher Erschöpfung erreicht, der ihnen Frieden und – wer weiß – vielleicht sogar ein spätes Glück schenkt.
Heiner Bontrup
Sollte wider Erwarten der Lockdown am 10. Januar 2021 enden, ergäbe sich die Chance die Wuppertaler Marquise am Sonntag, dem 24. Januar um 18 Uhr im Theater am Engelsgarten zu sehen. Nähere Informationen: www.schauspiel-wuppertal.de