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Das Festival „Pina Bausch Zentrum under construction“ hat gezeigt: Es könnte so schön werden
Ein Haus für Wuppertal und die Welt
Das Festival „Pina Bausch Zentrum under construction“ hat gezeigt: Es könnte so schön werden.
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Vielleicht ist es am Ende die Tänzerin Julie Stanzak, die mit einem einzigen Begriff prägnant zusammenfasst, wie und was das zukünftige Pina Bausch Zentrum in Wuppertal einmal sein soll: „glocally“ nämlich. Die
Wortkombination aus „globally“ und „locally“ bringt das auf den Punkt, was in diversen Gesprächsrunden und Aktionen an allen neun Tagen des Festivals „Pina Bausch Zentrum under construction“ immer wieder zum Ausdruck kam: Es soll – „glocally“ – in die ganze Welt ausstrahlen und Menschen von überall her einladen. Und es soll lokal verankert sein, ein Haus, das offen ist für alle Menschen in Wuppertal – „locally“ eben.
Glocally in diesem Sinne war auch das Festival „under construction“ selbst, das vom 21. bis 29. November 2020 unter Leitung von Marc Wagenbach erfragte, erforschte und erprobte, was das Pina Bausch Zentrum einmal werden soll. Es gab Talkrunden, Panels, Gespräche, Filme, Workshops für unterschiedliche Altersgruppen, künstlerische Beiträge, morgendliche „Warm-ups“ und mehr – wenn auch, coronabedingt, überwiegend im digitalen Raum. Schulen, die freie Kulturszene und andere Bürgerinnen und Bürger Wuppertals waren schon im Vorfeld einbezogen worden, etwa beim Sammeln von Wünschen für das zukünftige Haus oder von „Lieblingsbewegungen“, die auf die Fassade des alten Schauspielhauses projiziert wurden; lokale Gruppen wie „Power of Colour“, der internationale Chor „Women of Wuppertal“ oder der „Tanzchor 60plus“ und einzelne Wuppertaler Künstler wie der Tänzer Milton Camilo oder der junge Musiker Horst Wegener u.a.m. waren an künstlerischen Interventionen und Gesprächen beteiligt. Die Panels und Talkrunden brachten Expertinnen und Experten miteinander in Austausch, die in unterschiedlichen Bereichen denkend und gestaltend tätig sind, ob in Wuppertal, New York, London, Gent, Hamburg oder Berlin. Und die Company des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch mit seinen internationalen Akteurinnen und Ak-
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Das Künstlerduo deufert&plischke sammelte „Lieblingsbewegungen“ und machte die Fassade des Schauspielhauses dafür zur Projektionsfläche.
Foto: Evangelos Rodoulis
teuren, die das Festival mit einer auf die Fassade des Schauspielhauses gestreamten, collageartigen Version von „Das Stück mit dem Schiff“ eröffnete, ist sowieso und war immer schon „totally glocally“.
Aber letztlich muss auch ein so prägnanter Begriff erst einmal mit Inhalt gefüllt werden. Wer einen Großteil der Veranstaltungen von „under construction“ verfolgte, der hatte am Ende wohl immer noch kein vollständiges Bild vor Augen – dafür aber einen ganzen Haufen einzelner Bausteine, die noch zum zukünftigen „gemeinsamen Haus“ zusammengesetzt werden müssen. Und in möglichen Konturen und mit vielen verschiedenen Aspekten ist doch sichtbar geworden, was dieses Zentrum einmal sein könnte. Verdammt großartig nämlich. Man stelle sich das mal vor: In der Mitte der
Stadt angesiedelt, hat sich das in seiner Architektur immer noch herausragende ehemalige Schauspielhaus in einen Ort verwandelt, der den ganzen Tag über für alle Menschen geöffnet ist und an dem man sich einfach gerne aufhält. Mit Loungemöbeln im Foyer, mit Bildschirmplätzen, Video- und Hörstationen, die Zugang zum Archivmaterial des Pina Bausch Archivs gewähren, mit Ausstellungsflächen, Räumen für Workshops und Proben, einer Bibliothek und einem Café. Ein Raum, der Begegnungen ermöglicht. Zwischen Menschen, die das Interesse am Tanz verbindet oder die einfach nur neugierig sind. Die an Workshops des Tanztheaters oder der Pina Bausch Foundation teilnehmen. Die aus der ganzen Welt herkommen, um hier zu forschen. Regelmäßig ergeht eine Einladung an Studierende
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Das deutsch-ivorischen Duo Gintersdorfer & Klaßen erarbeitete mit fünf Performern „Materialtänze“, die auch auf die Fassade des Hauses projiziert wurden.
Foto: Knut Klaßen
in aller Welt, um hier in Wuppertal mit dem Werk von Pina Bausch zu arbeiten – und es überhaupt erst einmal kennenzulernen. Es ist ein Ort, wo Neues entstehen kann, aber wo nicht jeder etwas schaffen muss – wo man auch einfach auftanken kann, ein Kraftort, ein Ort des freien Spiels und des Experiments.
Ein Raum für Begegnungen: zwischen Künstle-
rinnen und Tänzern, die hier Projekte entwickeln und ihre Arbeitsprozesse auch für Außenstehende transparent machen. Und natürlich auch mit den ehemaligen und den aktuellen Mitgliedern des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, denn: „WE DON’T LEAVE! THIS IS OUR HOUSE!“, wie Tänzerin Nazareth Panadero in einer wunderbaren Performance (von der südafrikanischen Choreografin Robyn Orlin mit Wuppertaler Akteurinnen und Akteuren in wenigen Tagen erarbeitet) quasi in Großbuchstaben ausrief. Aber da sprachen vielleicht auch die Geister des Hauses – und auch denen wird man im zukünftigen Pina Bausch Zentrum ja vielleicht begegnen können.
Man stelle sich ein Haus vor, in dem die Pina Bausch Foundation und das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch mit ihrer Arbeit dafür sorgen, dass das Erbe der großen Choreografin gehütet und bewahrt wird, die aber auch die Flamme weiterreichen, an der sich die Inspiration von vielen anderen künstlerisch arbeitenden Menschen entzünden kann – und zwar durchaus mit unkalkulierbaren Ergebnissen. Ein Ort künstlerischer Freiheit. Ein Haus, in dem kreatives Schaffen von der Schülerarbeit bis
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Julie Shanahan, Ensemblemitglied des Tanztheater Wuppertal, in dem Film „Coakroom Encounters – Garderobenbegegnungen“ von Helena Waldmann.
Foto: Evangelos Rodoulis
zur Spitzenproduktion ermöglicht und gewürdigt wird; ein „Thinktank“, in dem zum Beispiel über neue, hybride Kunstformen aus analoger und digitaler Welt nachgedacht wird sowie über das Potenzial von Tanz im Besonderen und künstlerischen Prozessen im Allgemeinen im Kontext von gesellschaftlichen Transformationsprozessen. Und aus dem heraus Produktionen und Projekte entstehen und in die Stadt hineinwirken, Projekte, die solche Prozesse anstoßen, befördern, begleiten, hinterfragen – und umgekehrt Impulse, die aus der Stadtgesellschaft kommen, aufspüren und aufnehmen.
Ein Ort, bei dem nicht ein einzelner Kopf die Inhalte vorgibt, sondern der von vielen mitgestaltet werden kann. Ein Ort, an dem man nicht schon ganz genau weiß, was einen erwartet, sondern wo man neue ästhetische Erfahrungen machen kann; wo man etwas sieht und erlebt, was man noch nicht kannte. Wo man einen neuen Blick auf das Vertraute gewinnt und plötzlich ein Fenster zur Welt aufgeht, wie bei der Performance „Rhythmus und Vermessung in einem schönen Haus“, als ein Tänzer von der Elfenbeinküste seine assoziativen Eindrücke bei der Erforschung des Hauses („Bisschen kaputt hier.“/„Wohin mit dem Gestrüpp?“) in Beziehung zu politischen Geschehnissen in seinem Heimatland setzte. Wo man vielleicht schon an der Garderobe von einer so köstlichen Performance überrascht wird, wie sie die Choreografin Helena Waldmann mit „Cloakroom Encounters – Garderobenbegegnungen“ mit Eddie Martinez, Nazareth Panadero und Julie Stanzak – drei „Granden“ des Tanztheater Wuppertal – erarbeitet hatte.
All das könnte das Pina Bausch Zentrum einmal werden. All das sind Vorstellungen, Hoffnungen, Ideen und Visionen, die Menschen bei „under construction“ auf verschiedenen Wegen zum Ausdruck gebracht haben. Wuppertalerinnen und Wuppertaler verschiedenster Lebensalter, mit und ohne Migrationshintergrund, Schülerinnen und Schüler, Pina-Bausch-Fans, Tänzerinnen und Tänzer; Choreografinnen, Performer, Nachhaltigkeitsforscher, Theaterintendanten, Ministerin, Oberbürgermeister, Bundestagsabgeordneter, Lehrerin, Musiker.
Es sind alles Bausteine für das zukünftige „gemeinsame Haus“. Das neuntägige Festival „under construction“ hat – trotz der notgedrungenen Verlegung ins Digitale – viele verschiedenen Menschen darüber in Austausch gebracht – solche, die ganz konkret an diesem Haus „mitbauen“, und solche, die es einmal beleben und „bewohnen“ sollen. Nicht alle Programmpunkte waren gleichermaßen gut gelungen – etwa das doch etwas zweifelhafte digitale „Kekse backen mit Marc Wagenbach“. Aber was soll’s. Dem Leuchtturm bricht nicht die Spitze ab, wenn in der ersten Etage die Plätzchen verbrennen oder in der zweiten mal der Videostream wackelt. Wenn das Ganze ein gemeinsamer Weg werden soll, der viele Menschen mitnimmt, dann braucht es keinen Perfektionismusanspruch, der wohl schon im Vorfeld dem ein oder anderen Tanzkritiker den Blick verstellt hat, sondern Offenheit und Mut zum Experiment, bei dem auch mal was schief gehen darf.
Allerdings: Ein paar Sachen mehr braucht es schon noch – auch dies kam beim Festival
durchaus zur Sprache. Vor allem kann man nicht bis zur erhofften Fertigstellung des Umbaus 2027 warten, dann die Türen öffnen und hoffen, dass sich das Haus von selbst mit Leben füllt oder ein bestellter Intendant das schon macht. Mit dem „Wir bauen gemeinsam ein Haus.“ muss vielmehr ab sofort ernst gemacht werden: Es wäre geradezu fahrlässig, die Impulse, die das Festival gesetzt hat, verpuffen zu lassen. Schon in den vergangenen Jahren hat es verschiedene Aktionen vonseiten des Tanztheaters und der Foundation gegeben, um das Schauspielhaus als zukünftiges Pina Bausch Zentrum ins Bewusstsein zu heben – mit „under construction“ gibt es jetzt ein griffiges Label, unter dem die verschiedensten Aktionen immer wieder erkennbar zusammenkommen können. Und es braucht nicht erst 2027, sondern schon jetzt solche Vermittler, „Katalysatoren“ oder „Agentinnen“, wie Tanztheater-Intendantin Bettina Wagner-Bergelt sie nannte, die ein Gespür für die in der Stadt und in der Gesellschaft virulenten Themen haben und die Verbindungen herstellen können zwischen der Stadtgesellschaft und dem, was im Pina Bausch Zentrum Gestalt annimmt.
Was jetzt ganz konkret vor allem nottut, ist eine kluge Ausschreibung des Architekturwettbewerbs, die den Bewerbern genau diese Vision des Pina Bausch Zentrums, wie sie bei „under construction“ in Umrissen sichtbar geworden ist, vermittelt. Und es werden Architekten gebraucht, die in der Lage sind, das umzusetzen und dabei mitzudenken, dass sie ein Gebäude für die Zukunft bauen. Und das soll offen sein für viele Möglichkeiten: „Weil Kunst immer reagieren muss auf die Themen ihrer Zeit“, wie Bettina Milz, Leiterin des Referats für Theater und Tanz im Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, es in einer Gesprächsrunde formulierte.
Zur Sprache kam während des Festivals „under construction“ übrigens auch immer wieder, was das Pina Bausch Zentrum genau NICHT werden soll: Kein elitärer und exklusiver Kunsttempel nämlich, kein Ufo, das sich äußerlich und inhaltlich gegen die Stadt abschottet, kein Elfenbeinturm für Tanzspezialisten.
Stattdessen: Ein Haus für Menschen aller Altersstufen, Hautfarben und Kulturen. Dem man schon ansieht: Du brauchst keine Scheu zu haben hineinzugehen, denn es ist ein Ort der Freiheit, der Toleranz und des Miteinanders. Muss man eigens betonen, wie nötig unsere Zeit solche Orte hat? Und gibt es einen besseren Platz dafür als Wuppertal, wo das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch die Stadt seit fast 50 Jahren mit der Welt verbindet, die Welt nach Wuppertal holt und Pina Bausch mit den zeitlos-existenziellen Themen ihrer Stücke zugleich immer auch am Puls der Zeit (oder ihr voraus) war?
Am Ende aber braucht es den Mut, das alles nicht nur zu proklamieren, sondern auch zu leben – wie Salomon Bausch die vielleicht wichtigste Losung ausgab, an der sich alle Beteiligten ab sofort und immer wieder werden messen lassen müssen.
Anne-Kathrin Reif
under construction
Die künstlerische Leitung hatte der Tanzwissenschaftler Dr. Marc Wagenbach, ehemals Assistent von Pina-Bausch und wissenschaftlicher Leiter der Pina Bausch Foundation in ihrer Aufbauphase. Etliche der gestreamten Formate sind weiterhin im Internet abrufbar unter www.under-construction-wuppertal.de.