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Uraufführungen mit Choreografien von Richard Siegal und Rainer Behr

Kontinuität und Aufbruch beim Tanztheater Wuppertal Pina Bausch

Uraufführungen mit Choreografien von Richard Siegal und Rainer Behr

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Bettina Wagner-Bergelt, Intendantin des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, im Gespräch mit Dramaturg Stefan Dreher

Frau Wagner-Bergelt, es gibt endlich im Tanztheater wieder eine Premiere, und zwar im März 2021 Ja, das ist richtig. Wir halten daran fest und ändern, wenn uns die Situation wieder einmal dazu zwingen sollte. Wir mussten ja coronabedingt die spannenden EncountersKreationen in der letzten Spielzeit absagen. Das war ein harter Schlag. Fünf Choreografen sollten an einem gemeinsamen Abend arbeiten, an einem künstlerischen Konzept, und neue, kooperative, demokratische Arbeitsformen ausprobieren. Ein aufregendes Konzept. Daraus hatte ich dann auch die Idee zur diesjährigen Premiere weiterentwickelt. Unter dem Stichwort „Kontinuität und Aufbruch“ wollte ich dem Ensemble die Möglichkeit geben, an Themen des Encounters-Abends mit zwei der fünf Choreografinnen und Choreografen weiterzuarbeiten, nämlich mit Richard Siegal und Rainer Behr. Ich bin kein Freund von Eintagsfliegen, ich denke immer konzeptionell und langfristig. Für das Ensemble wäre das eine Chance der Vertiefung gewesen, der Intensivierung und Weiterentwicklung von Themen wie Cultural Appropriation, die eine ganz zentrale Frage des aktuellen künstlerischen Diskurses – auch vor dem Hintergrund von Rassismus-Debatten – ist. Was gehört mir, was eigne ich mir an, wo beginnt das Aneignen, wo nehme ich illegitimerweise fremde Formen an? Das Aufeinandertreffen von Folkwang- und Tanztheatertraditionen auf der einen und eher abstraktem, neoklassischem Tanz auf der anderen Seite bleibt uns jetzt auch mit dieser Doppelpremiere. Gleichzeitig sind es Arbeiten eines externen Choreografen und eines von mir sehr geschätzten Mitglieds des Tanztheaters, jemand aus den eigenen Reihen, der seit vielen Jahren spannende Choreografien präsentiert hat, aber nie im Opernhaus mit einer eigenen Arbeit zu sehen war.

Ist es nicht noch immer schwierig, Premieren zu planen? Viele Ihrer Kolleginnen und Kollegen haben Neuproduktionen für eine ganze Zeit ausgesetzt. Ja, das ist richtig. Wir können nicht davon ausgehen, dass wir im Februar normal proben werden wie vor Corona. Das heißt, es wird Tests geben müssen, eine Blase, in der nur diejenigen drin sind, die zusammenarbeiten, Tänzerinnen und Tänzer, Technik, Requisite, Kostüm, Maske etc.. Das haben wir ja wie alle Theater alles lange und erfolgreich durchgespielt, und bisher auch ohne eine einzige Ansteckung. So soll das auch bei dieser Premiere wieder funktionieren.

Das heißt, es müssen noch immer extra Corona-Produktionen erarbeitet werden, die alle Vorschriften einhalten? Nein, nicht ganz. Aber wir werden statt eines Doppelabends, wie er geplant war, zwei Premierenabende herausbringen, einen mit der Uraufführung von Richard Siegal in einer Installation des englischen Bildhauers Anish Kapoor und mit einer Neukomposition von Alva Noto. Und zehn Tage später die Uraufführung von Rainer Behr, zum ersten Mal im Opernhaus, mit Michael Simon als Lichtdesigner. So bleiben die Gruppen kleiner und überschaubarer, und das Publikum kann sich auf zwei komplette Abende freuen – nach der langen Durststrecke vielleicht auch ein Geschenk.

Also wird es kein geteilter Abend werden? Nein, es werden zwei Premieren mit je vier Vorstellungen in Wuppertal. Beide Choreografen haben einiges Gewicht, denke ich. Einerseits in ihrer künstlerischen Gegensätzlichkeit, andererseits auch im Kontext ihrer eigenen Werkgeschichte. Richard Siegal hatte sich zudem von Beginn unserer Produktionsgespräche an auf den Plan kapriziert,

Bettina Wagner-Bergelt und Stefan Dreher, Foto: Milan Nowoitnick Kamper

in sein Stück ein so genanntes „Moving painting“ des weltberühmten englisch-indischen Bildhauers Anish Kapoor zu integrieren. Und das Wunder geschah: Sir Anish hat unserer Anfrage nach seinem Werk mit Begeisterung zugestimmt und freut sich, alles zu tun, damit seine Installation „Shooting into the corner“ Teil des Raumes in Richard Siegals Stück für das Tanztheater Wuppertal werden kann. Mit dieser Zusammenarbeit mit einem so wichtigen bildenden Künstler verweisen wir einerseits zurück auf Pina Bausch und ihre langjährige Zusammenarbeit mit Künstlern wie Rolf Borzik oder Peter Pabst, deren Räume ja nicht im eigentlichen Sinne Bühnenbilder waren, die dem Stück dienten. Sie waren ganz eigenständige künstlerische Statements, optisch und in ihrer Aussage sehr stark und unabhängig. Gleichzeitig weist eine solche Zusammenarbeit in eine Zukunft, in der das Tanztheater hoffentlich neben seiner Pflege des Erbes von Pina Bausch entscheidende Position beziehen wird in der Moderne, konzeptionell und in der Zusammenarbeit mit wegweisenden Künstlern anderer Genres. Auch im Hinblick auf das zukünftige Pina Bausch Zentrum … Der Ansatz gilt in seiner Radikalität auch für Rainer Behr, der alle Produktionsbereiche in seinen Produktionen bisher gern selbst in die Hand genommen hat, der seinen Raum aus der Bewegung, aus den Angeboten, der kreativen Zusammenarbeit mit seinen Tänzerinnen und Tänzern entstehen lässt. Daraus entwickelt sich langsam so etwas wie eine Atmosphäre, eine Landschaft aus Material, die sich ständig verändert durch die Aktionen der Performer. Am liebsten hat Behr Alltagsräume, in denen Menschen ihrer normalen Tätigkeit, ihrer Arbeit, ihrem Leben nachgehen, und da hinein setzt er seine Werke. Beiläufig fast, unspektakulär, aber unglaublich zwingend in seinem Zugriff auf die Wirklichkeit, eine Art von Konstruktion und Dekonstruktion, die in Wellen abläuft. Er arbeitet mit Michael Simon zusammen, einem einzigartig vielseitigen Künstler, mit dem ich, wie mit Siegal, sehr lange gearbeitet habe. Ein fantastischer Lichtdesigner, Videokünstler, Regisseur und Bühnenbildner, dessen Räume und architektonische Lösungen für die frühen Werke von Forsythe Legende sind, dem diese offene, sich entwickelnde Arbeitsweise von Rainer Behr sehr vertraut ist und der ihn darin begleitet – er selbst nennt das Bühnenbild-Dramaturgie.

Wird es in Zukunft ähnliche Formate wie Encounters für Kreationen des Tanztheaters geben? Ja, es gibt weitere solche Konzepte wie Encounters, die wir vielleicht noch im Rahmen der Underground-Serie oder anderer Formate im Schauspielhaus zeigen werden. Digitale Formate machen jetzt viele andere, ich verlasse mich doch lieber auf die Sensation des authentischen Erlebnisses und die reale Begegnung, wo immer sie möglich ist.

Bettina Wagner-Bergelt übernahm am 1. Januar 2019 die Intendanz und künstlerische Leitung des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. Sie war von 2000 bis 2016 Stellvertretende Direktorin des Bayerischen Staatsballetts und von 1990 bis 2016 Leitende Dramaturgin und baute in München ein herausragendes internationales Repertoire aus Moderne und Avantgarde.

Stefan Dreher ist Dramaturg und Referent der künstlerischen Leitung des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. In der Zusammenarbeit mit Ensemble und Gästen liegt ihm sehr daran, neue Prozesse individueller künstlerischer Suche beim Tanztheater zu unterstützen und diese als besondere Chance wahrzunehmen. Es geht um persönliche Eigenheiten, den Facettenreichtum von Tänzerinnen und Tänzer und die Kunst sich immer wieder neu zu erfinden und sich trotzdem treu zu bleiben.

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