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Ectopia

Probe Ectopia, Maria Giovanna Delle Donne, Naomi Brito

Choreografie von Richard Siegal 2021, aufgeführt mit Shooting into the

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Corner (2008-09) von Anish Kapoor©Anish Kapoor.

Foto rechte Seite: Anish Kapoor, Shooting into the Corner, 2008–2009

©Anish Kapoor. All rights reserved BILDKUNST, 2021

Beobachtungen zur Entstehung von Richard Siegals neuer Choreographie für das Tanztheater Wuppertal

Für das Tanztheater war die komplexe Choreografie der Verschiebungen und Umdisponierungen in der eskalierenden CoronaSituation im Frühling und Sommer 2021 eine große Herausforderung. Mit der aktuellen

Schließung des Wuppertaler Opernhauses infolge der Flutkatastrophe und Zerstörung der Bühnentechnik fanden die Komplikationen eine unvorhersehbare Steigerung. Im Besonderen stand eine erneute Absage der Premiere von Richard Siegals neuer Arbeit Ectopia für das Tanztheater im Raum.

Glücklicherweise sind ein neuer Spielort und ein neues

Premierendatum gefunden: Nur zwei Tage später als eigentlich geplant findet die Uraufführung am 6. November 2021 (weitere Aufführungen am 7., 10., 11. November) im Forum Leverkusen statt, 50 km vom Opernhaus Wuppertal entfernt.

Probe Ectopia, Tsai Wei Tien, Oleg Stepanov,

Choreografie von Richard Siegal 2021,

aufgeführt mit Shooting into the Corner (2008-09)

von Anish Kapoor©Anish Kapoor.

Damit nimmt Richard Siegals Kreation für das Ensemble - in Zusammenarbeit mit Anish Kapoor (Installation Shooting into the Corner), Alva Noto (Musik) und Matthias Singer (Licht) - wieder den Platz der ersten Neuproduktion in der aktuellen Saison des Tanztheaters ein. So wie schon in der Spielzeit 20/21 angekündigt, diesmal mit dem vollständigen Titel „Ectopia“.

Für die Tänzerinnen Naomi Brito, Maria Giovanna Delle Donne, Taylor Drury, Azusa Seyama, Tsai-Wei Tien und die Tänzer Dean Biosca, Alexander Lopez Guerra und Oleg Stepanov begannen die Proben im November 2020, noch bevor das Okay zur Zusammenarbeit mit Sir Anish kam. Richard Siegal hat im Ansatz eine für das Tanztheater ganz und gar unübliche Herangehensweise gewählt, nämlich die Übertragung vom eigenen Körper und individuellen Bewegungsvokabular des Choreografen auf das Ensemble. Dazu trafen sich die Tänzerinnen und Tänzer in Einzelproben mit Siegal. Man kann sich das Ganze wie einen unendlich liebevollen und friedfertigen Ring- oder Boxkampf unter Corona-Bedingungen vorstellen, begleitet von Barbara Kaufmann als aufmerksamer Probenleiterin und Schiedsrichterin. In den mehrstündigen Begegnungen entspannen sich getanzte Gespräche, die kaum durch gesprochene Anweisung unterbrochen werden. Mit dem ersten Schritt folgt die Tänzerin, folgt der Tänzer dem Choreografen. Und doch ist es vielleicht genau andersherum, denn trotz der eindeutigen Rollenverteilung ist nicht mehr zu erkennen, wer führt und wer folgt. Der fast archaisch hierarchisch anmutende Ansatz von Richard Siegal – vordergründig diametral entgegengesetzt zu Pina Bauschs Fragen und ihrer Suche nach der individuellen Stimme der Tänzerin, des Tänzers - öffnet eine andere Tür zu getanzter Gleichberechtigung. Weder das eine noch das andere, führen oder geführt werden, bewegt Menschen, sondern das, was zwischen beiden entsteht. Der Raum, den sie zwischen sich formen, den sie tanzen. Über diese Leere, das Dazwischen, verschränken sich die Körper und lassen - oft in unerklärlicher Gleichzeitigkeit - getanzte Muster, Gesten und Zeichen entstehen. Sie wechseln ihre Besitzerin, ihren Besitzer und werden zum Probenende festgeschrieben.

So wie Tanz immer erst wirklich anfängt zu tanzen, wenn die Widersprüche so groß werden, Worte nicht mehr genügen, um sie zu beschreiben, so wandelt sich der oben beschriebene, friedfertige Ansatz im Entstehungsprozess zu einer spannungsgeladenen, vielstimmigen Auseinandersetzung, wenn sich die Soloformate der Entwicklungsphase über- und gegeneinanderstapeln. Unter leicht gelockerten Corona-Regulierungen passiert dies Ende Februar 2021 im Studio in Duo- und Trioformation. Dann, noch mit Abstandsregeln, ändert sich die Konstellation im März mit den ersten Bühnenproben. Duos und Trios wandeln sich mit einem Mal zum Oktett. Dies geschieht zeitgleich mit dem Aufbau der Installation von Anish Kapoor. Der in England in einem spezialisierten Studio gebaute Bühnenraum bedurfte eines viele Tonnen schweren Transports, der als einer der ersten unter Brexitbedingungen den Ärmelkanal überquert hat.

Das Werk „Shooting into the Corner“ von Anish Kapoor, für Museen und Galerien um 2008 ersonnen, wird zum ersten Mal auf einer Opernbühne zu sehen sein und besteht aus einer Kanone, die Kapoor zusammen mit einem Team von Ingenieuren entwickelte, und aus zwei gewaltigen Wänden, die in ihrer Schnittlinie die titelgebende Ecke formen. Technisch handelt es sich eigentlich um ein gigantisches Luftgewehr, das mit blutroten, circa elf Kilo schweren Kugeln geladen wird. Sie bestehen aus einer Farbwachsmischung, die bei Zimmertemperatur vom festen in einen zähflüssigen Zustand übergeht. In der plötzlichen Entladung dieses riesigen Kompressors gehen die Farbpigmente der Geschosse in kinetische Energie über, versprühen sich über die ganze Bühne, um nach dem Aufprall eine

Probe Ectopia, Tsai Wei Tien, Azusa Seyama, Choreografie von Richard Siegal 2021, aufgeführt mit Shooting into the Corner (2008-09) von Anish Kapoor©Anish Kapoor

zweite sinnliche Wandlung auf Wänden, Boden und den Körpern der Tänzerinnen und Tänzer zu durchlaufen. Ein ungeheuer rutschender Gleitfilm verformt, verfeinert und sublimiert die faszinierende Ganzkörperzeichensprache, die Siegal im komplexen Übergaberitual choreografiert hat, und trägt die Farbe zurück in den Raum. Ein physischsinnlicher Dialog und zudem eine nicht ganz ungefährliche Grenzerkundung, die sich in eine immer komplexere Bewegungskomposition hineinsteigert. Es entsteht ein virtuoses vielstimmiges Tanzgebilde. Eine Komposition getanzter Gespräche, die ganz unerwartet sichtbar werden und auf eindringliche Weise von einer fremden, einer sinnlicheren Wirklichkeit erzählen.

Die Welt aus den Angeln zu heben, scheint ein etwas megalomanes Vorhaben zu sein, aber vielleicht steht dahinter nur der sehr menschliche Wunsch aufzuwecken und aufzuwachen. Die Arbeiten von Pina Bausch haben die Bühnenwelt immer wieder auf unnachahmliche Weise auf den Kopf gestellt und die Zuschauenden wacher und lebendiger aus den Theatern entlassen. Auch wenn die Ansätze wie erwähnt ganz unterschiedlich sind, eint alle am Prozess zu „Ectopia“ beteiligten Künstlerinnen und Künstler diese ganz gleiche Motivation zu kreativer und künstlerischer Arbeit. Dies gilt für Richard Siegal, die Tänzerinnen und Tänzer, die dem Tanz von „Ectopia“ mit Haut und Haaren verfallen sind, Alva Noto mit einer betörenden Komposition und seiner nie enden wollenden Klangerzeugung und der beweglichen, durch und durch eigenwilligen Lichtsuche von Matthias Singer. Aufeinandertreffende Extreme und unterschiedlichste künstlerische Sprachen verbinden sie zu einem Gesamtkunstwerk und vielleicht zu einer ganz neuen Perspektive für das Tanztheater.

Stefan Dreher Dramaturg des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch

Alle Fotos, außer Seite 53 oben: All rights reserved DACS/BILDKUNST, 2021, Foto: Evangelos Rodoulis

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