![](https://assets.isu.pub/document-structure/220426142415-a11b9ff2947bdd5af1d53a5ad775ed45/v1/87a5f48251491099407c0e946c631167.jpeg?width=720&quality=85%2C50)
7 minute read
Neue Einfachheit“?
Ulrich Leyendecker mit dem Widmungsträger seines Gitarrenkonzerts Maximilian Mangold, Foto: Timo J. Herrmann/Musikverlag Sikorski, Hamburg
Einige Gedanken zum Wuppertaler Komponisten Ulrich Leyendecker
Advertisement
„Neue Einfachheit“ war der Titel eines Artikels in der „Neuen Zeitschrift für Musik“
im Jahr 1978. In ihm war die Rede von Komponisten, die sich bewusst von der Avantgarde der sogenannten „Darmstädter Schule“ distanzierten, die von Komponisten wie Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez maßgeblich geprägt worden war. Sie benutzten bevorzugt sogenannte Reihentechniken wie die Dodekafonie oder Serialität bzw. die Elektronik als Grundlagen ihrer Kompositionen. Die Komponisten der sogenannten „neuen Einfachheit“ hingegen streiften sehr bewusst und konsequent das Regelhafte dieser Techniken in der Komposition ab und ersetzten es durch spontane Kompositionsprozesse, die Freiheit in der Gestaltung ließen, die in den Reihentechniken, wenn man sie ernst nahm, nicht möglich waren.
Im Kontext des Begriffes „Neue Einfachheit“ fiel neben Namen wie Wolfgang Rihm, Manfred Trojahn und Detlef Müller-Siemens auch immer wieder der von Ulrich Leyendecker. Nun neigen Begriffe oft dazu, Sachverhalte zu vereinfachen oder verkürzt „auf einen Nenner“ zu bringen. Und tatsächlich muss man den Begriff der „Neuen Einfachheit“ inhaltlich infrage stellen. Die Musik der genannten Komponisten ist alles andere als „einfach“. Aber sie wandte sich wie erwähnt einerseits von den Reihentechniken ab und relativierte andererseits stark den Fortschrittsglauben in der sogenannten „Neuen Musik“. Dies tat sie nicht zuletzt dadurch, dass sie stilistisch an die Musik der Jahrhundertwende anknüpfte, so z.B. an die Gustav Mahlers und der Komponisten der „Zweiten Wiener Schule“, und ausgehend davon eigene stilistische Wege suchte.
Daher verwundert es auch nicht, dass die Musik der erwähnten Komponisten stilistisch vielfältig und sehr unterschiedlich ist, mithin der Begriff einer „Schule“ gänzlich unangebracht wäre. Das, was die Komponisten verbindet, ist die Generationszugehörigkeit (alle sind zwischen 1946 und 1956 geboren) und der ästhetische Ansatz des Komponierens. Diese (vielleicht zu) ausführlich anmutende Einleitung zu einem Beitrag über Ulrich Leyendecker ist gleichwohl nötig, um das Umfeld zu verstehen, in dem er wirkte.
Ulrich Leyendecker wurde 1946 in Wuppertal gebo-
ren. Den ersten Kompositionsunterricht erhielt er bei Ingo Schmitt, dem Leiter des (damaligen) Bergischen Landeskonservatoriums, der seinerseits ein Schüler des bedeutenden franko-schweizerischen Komponisten Frank Martin war. Über ihn wurde Leyendecker quasi zu einem Enkelschüler dieses Komponisten. Und die gewissermaßen französische „clarté“, auch eine Vorliebe für die Musik Claude Debussys, meint man später in manchem Werk Leyendeckers zu hören. Komposition und Klavier studierte er dann bei Rudolf Petzold und Günter Ludwig an der Kölner Musikhochschule. Ab 1971 unterrichtete er an der Musikhochschule in Hamburg das Fach Musiktheorie, ab 1981 als nunmehr Professor auch Komposition. 1994 wurde er zum Professor für Komposition an der Musikhochschule in Mannheim berufen. Diese Position hatte er bis zum Jahr 2005 inne. Seitdem arbeitete Leyendecker als freischaffender Komponist.
Leyendecker erhielt zahlreiche Stipendien, wie z.B. die der „Studienstiftung des deutschen Volkes“ und
der „Cité Internationale des Arts Paris“. Auch wurde er Mitglied der „Freien Akademie der Künste“ in Hamburg und in Mannheim. Er erhielt den „Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen“, und er war er Gast in der „Villa Massimo“ in Rom.
Leyendecker war eine ausgesprochen beliebte Lehrer-
persönlichkeit. Zuerst in Hamburg, später in Mannheim, bildete er Generationen von jungen Komponistinnen und Komponisten aus, die einerseits einen erfolgreichen Weg als Komponisten gegangen sind, andererseits ihren Lebensunterhalt mit dem bestreiten konnten, was sie im Studium gelernt hatten. Das ist ein nicht zu vernachlässigender Aspekt. Leyendecker unterrichtete undogmatisch und versuchte nie, aus seinen Schülerinnen und Schülern kleine „Leyendecker“ zu machen. Einen jeden ermunterte er, seinen eigenen Weg zu gehen. Und das tat er mit Erfolg auch in der Hinsicht, dass er seine Studierenden ermutigte, sich stilistisch vielseitig auszubilden und ohne Scheuklappen auf die Musikwirklichkeit zu reagieren und sich in ihr zurechtzufinden. Er war ein geduldiger und aufmerksamer Zuhörer, der indes klare Meinungen und Positionen hatte – und diese auch vertrat. Er verfügte über einen ausgeprägten, aber sehr trockenen Humor, der ein Zusammensein mit ihm immer zu einer ebenso interessanten wie angenehmen Sache machte, was auch der Verfasser dieses Beitrags mehrfach erfahren durfte. Dabei konnte Leyendecker auch durchaus „granteln“, aber niemals in einer verletzenden Weise. Ein „Gesellschaftsmensch“ war Leyendecker nicht. Repräsentative Zusammenkünfte mied er eher, als dass er sie suchte. Das war klar die eine Seite eines Künstlers, der vor allem an der konsequenten und kontinuierlichen kompositorischen Arbeit interessiert war, an seiner eigenen und an der seiner Schüler.
Leyendecker selbst ging als Komponist einen ganz ei-
genen Weg. „Ich möchte sagen, die Art der Anwendung meiner Mittel, die formale Entfaltung, die Farbmischungen, die Art und Weise, Melodien, Klänge und Rhythmen zu entwickeln und aufeinander zu beziehen, sind eigen, und das macht die Neuheit meiner Musik aus. Rücksicht auf den Zeitgeist habe ich dabei nie genommen …“
Leyendeckers erklärtes Ziel war es, eine Musik zu schreiben, zu der ein Zugang jenseits von Spezialistentum, also für ein ganz normales Publikum, möglich war. Das heißt nicht, dass seine Musik im eigentlichen Sinne populär war. Aber sie war eben auch nicht „hermetisch“ an die Freunde avantgardistischer Musik gerichtet. Die Folge war, dass man Leyendeckers Musik nur selten in den Programmen
einschlägiger Festivals für Neue Musik antraf, sondern eher in gängigen Symphonie- oder Kammerkonzertreihen. Auch Kompositionsaufträge kamen vor allem aus diesem Umfeld. Hier fühlte sich Leyendecker mit seiner Musik deutlich besser aufgehoben und heimisch. Wie bei vielen Komponisten so ist auch bei Leyendecker festzustellen, dass er mit zunehmendem Alter dazu neigte, die kompositorischen Strukturen seiner Musik transparenter zu machen und melodische Gestalten zu schaffen, die spontan und emotional erfahrbar sind. Das erleichterte auf der einen Seite den spontanen Zugang zu seiner Musik, führte andererseits aber nicht zu einer Simplifizierung. Insofern kann man auch in seinem Schaffen von einem echten Reifungsprozess sprechen. Die Beschäftigung mit der Musik anderer – älterer – Komponisten brachte in seinen letzten Schaffensjahren einige Werke hervor, die man dem Genre „Musik über Musik“ zurechnen kann. Als Beispiel sei hier „Pensées sur un prélude“ für Orchester genannt, ein Werk, das Claude Debussys Klavierprélude „Des pas sur la neige“ reflektiert.
Schaut man sich Leyendeckers Werkkanon an, so überwiegt deutlich die Instrumentalmusik gegenüber der
Vokalmusik. Letztere stellt sich vor allem mit der Besetzung Stimme und Kammerensemble dar. Das traditionelle Duo Gesang und Klavier bleibt eine einmalige Ausnahme. Leyendeckers Führung der Singstimme bleibt bei aller durchaus vorhandenen Schwierigkeit der Partien immer singbar. Das ist eine große Qualität, die sie vor einer großen Menge vergleichbarer zeitgenössischer Literatur auszeichnet. Große Vokalformen wie etwa Oper und Oratorium kommen im Werkkanon nicht vor. Dass der Komponist mit dem Fehlen der Gattung Oper längst seinen Frieden gemacht hatte, zeigt eine seiner letzten Kompositionen, „Aprèslude noir. Schluss-Szene zu einer nicht geschriebenen Oper“. Dem ungewöhnlichen Titel dieses Werkes meint man eine feine Ironie zu entnehmen … In der Instrumentalmusik fällt auf, dass Leyendecker sich hier traditioneller Gattungen bedient, die auf eine große historische Tradition zurückblicken können, wie etwa das Streichquartett, das Streichtrio, die Symphonie, die Sonate oder das Konzert. Dieses Bekenntnis zur Tradition ist keine Äußerlichkeit, sondern gewissermaßen Programm, gleichzeitig Abgrenzung von der Avantgarde, die genau das vermied.
Die sechs Konzerte bilden die größte Gruppe unter den zyklischen Werken. Sie gelten traditionell dem Klavier, der Violine und dem Violoncello, weniger traditionell der Viola, der Bassklarinette und schlussendlich der Gitarre. Zu diesem Instrument hatte Leyendecker bereits in jungen Jahren eine Beziehung, die sich im frühen Solowerk „Verso Parsifal“ erstmals bedeutungsvoll zeigte.
Fünf Symphonien setzen ebenso einen gewichtigen
Schwerpunkt. Die erste aus dem Jahr 1974 zeigt den Komponisten noch auf dem Weg der Suche ausgehend von zwei für Leyendecker wichtigen Komponisten, Anton Webern und Alban Berg. Dass letzterer schließlich die wichtigere Anregung war, zeigt sich bereits in der zweiten Symphonie, die elf Jahre später entstand.
In der Kammermusik bilden die drei Streichquartette einen klaren Schwerpunkt und damit auch ein echtes Bekenntnis zur Tradition. Es ist interessant, dass sich der Komponist dieser Gattung in den letzten 35 Jahren seines Lebens nicht mehr zugewandt hat. Schon von der Besetzung her ist die Sonate für Flöte, Viola und Harfe eine klare Referenz an den von Leyendecker hochgeschätzten Claude Debussy.
Die solistischen Werke für Klavier und andere Instrumente bilden eine eigene Kategorie. Sie sind mit einer Ausnahme samt und sonders vor dem Jahr 2000 geschrieben, fallen somit aus der Zeit, in der Leyendecker bisweilen „zur süffig ausfallenden Geste“ (Timo Jouko Herrmann) neigte, heraus. Gerade in ihnen können wir daher dem „frühen“ Leyendecker besonders gut nachspüren.
In seiner Geburtsstadt Wuppertal, die dem Komponisten 1987 den „Von der Heydt-Preis“ der Stadt Wuppertal verlieh, ist seine Musik in den letzten zehn Jahren nicht mehr erklungen. So soll dieser bescheidene Beitrag an einen der wichtigsten deutschen Komponisten nach 1950 erinnern. Ulrich Leyendecker starb am 29. November 2018 in Bonn. Am 29. Januar dieses Jahres wäre er 75 Jahre alt geworden. Lutz-Werner Hesse