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Oh Karl
Stills aus Frank Ns Film „Oh Karl“
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Frank Ns faszinierend schöner und wütender Beitrag zum Engelsjahr
Im Rahmen des Engelsjahres hat der Wuppertaler Filmemacher Frank N einen Film geschaffen, der das Thema der Umweltzerstörung in einen engen Zusammenhang mit der Philosophie Karl Marx’ und Friedrich Engels’ setzt. Eine Rezension.
In diesem Jahr brannte die Erde, brannte in Brasilien, brannte auf Rhodos, brannte in Sizilien, in Griechenland, in der Türkei. In diesem Jahr ertranken WuppertalBeyenburg, Weindörfer in der Ahr, Städte im Erfttal. Der Golfstrom, der Cornwall, dem Süden Englands, den Kanalinseln ein sanftes mediterranes Klima und uns heitere Sommer beschert hatte, schwächte sich ab. Aus Stürmen wurden Tsunamis, die Erde bebte, und ein Atomkraftwerk kollabierte. Feuer, Wasser, Luft und Erde, die vier Urele-
mente, bislang in einer lebensfreundlichen Harmonie, wenden ihre Energie gegen den Menschen. Die Erde wird ein unfreundlicher, ein lebensabweisender Ort.
Folge des menschgemachten Klimawandels, Folge der unerbittlichen Gier des Menschen, Folge einer Haltung, die die Erde und die Natur als unerschöpfliches Ressourcenlager versteht. Schon Karl Marx hatte in seiner Schrift „Dialektik der Natur“ die Umweltkatastrophe als Folge eines entfesselten Kapitalismus prognostiziert. Dieser Spur folgt Frank N, der mit den Mitteln des Films ein kämpferisches Plädoyer für den Kampf gegen den Klimawandel geschaffen hat. „Wer hofft“, sagt er, „ist ein Loser.“ Und man möchte im Geiste das Zitat der französischen Philosophin Simone Weil hinzufügen: „Die Wirklichkeit des Lebens besteht nicht aus Gefühl, sondern aus Aktivität!“ Also Kampf!
Projektionen sagen das Verschwinden der ostfriesischen Inseln in einem halben Jahrhundert voraus, die Inseln meiner Kindheit. Zeeland, dem Meer von den Niederländern mühevoll abgerungen, wird ein modernes Atlantis. Die Horror-Nachrichten und apokalyptischen Szenarien der Wissenschaft erfüllen viele Jugendliche mit Angst: Haben wir noch eine Zukunft? Viele ältere Menschen, wie der Autor dieser Zeilen, haben sich in einer hedonistisch gefärbten Resignation eingerichtet.
Dort, wo Marx in seinem Aufsatz zur Dialektik der Natur kluge Sätze aneinanderreiht, bedient sich Frank N der Grammatik des Films: Schnitt und Kameraeinstellungen. An die Stelle des gesprochenen Worts tritt weitgehend die Abfolge von Bildern. In vier Filmkapiteln nebst einem Epilog umkreist Frank N in einer Art filmischem Essay das Thema der Umweltzerstörung. Er spricht von der schöpferischen Kraft der Natur und Destruktivität der Kultur.
Schon das Intro mit seinen faszinierenden Zeitrafferaufnahmen evoziert im Zuschauer einen Zustand der
Zeitlosigkeit: eine Reise zurück an den Anfang allen Seins. Bilder vom Feuer, die an die aufsteigenden Blasen in den Lavalampen der 1970er-Jahre erinnern, bieten eine breite Projektionsfläche für Assoziationen: Energie, aus der das Sein entstanden ist? Oder Energie, in der die Welt vergehen wird? Ein Assoziationsraum, der auch durch den Soundtrack zum Film geöffnet wird. Der Wuppertaler Musiker und Soundtüftler Charles Petersohn hat zu dem Film psychedelische Klangwelten geschaffen, die jederzeit tief unter die Haut gehen und die Kraft der Bilder potenzieren. Dabei gestaltet Frank N Bildwelten, die den entfesselten Kapitalismus sinnhaft vor Augen führen, wie etwa Zeitrafferaufnahmen aus der Vogelperspektive auf die gigantischen Straßennetze und die Hochhäuser von Metropolen wie Hongkong. Sie zeigen das völlige Verschwinden der Natur: funktionale und funktionierende Systeme von bizarrer Schönheit, die aber den Keim der Selbstzerstörung in sich tragen.
Danach taucht der Film ein in eine Erinnerung an den paradiesischen Urzustand: Der Mensch lebt in Einheit mit der Natur. Umso schlimmer ist das Erwachen aus diesem Traum der Menschheit: Aneinandergeschnitten werden Sequenzen von Müllhalden, Menschen in bitterer Armut, Umweltverschmutzung – die tief traurig stimmenden Folgen des Klimawandels. Eine wütende filmische Anklage gegen den durch den Kapitalismus entfesselte Zerstörung der Natur und unserer Lebensgrundlagen, die zugleich den Zusammenhang zwischen der Ausbeutung des Menschen und der Ausplünderung der Natur durch den Menschen verdeutlicht.
In einem der vier filmischen Kapitel ergreift der Filmautor selbst das Wort: Seine Botschaft ist in Wut gehüllter Pessimismus, doch sein Film selbst ist ein Appell, sich gegen die Zerstörung der Umwelt zu engagieren, möglicherweise im Bewusstsein des Scheiterns.
Im Epilog zeigt die Kamera die Gesichter zweier junger Menschen, die sich für die ökologische Jugendbewegung „Fridays for Future“ engagieren. Einen ganzen Kosmos von Gefühlen fängt die Kamera ein: Ängste und Widerstandswille, Skepsis und Kampfbereitschaft, Mulmigkeit und Hoffnung. Beim Blick auf die Gesichter dieser jungen Menschen fällt mir, ich weiß nicht, warum, ein weiteres Zitat von Simone Weil ein: „Es gibt nur eine Methode, um Bilder zu verstehen – nicht versuchen, sie zu interpretieren, sondern sie so lange anschauen, bis das Licht hervorbricht.“ In diesem Sinne bringt Frank Ns Film ein wenig Licht in die Welt.
Heiner Bontrup
Filmvorführung mit anschließendem Gespräch:
10. Oktober 2021, 20 Uhr Freibad Mirke In der Mirke 1, 42109 Wuppertal Gäste: TBA Mehr Informationen unter: https://oh-karl.jimdofree.com/termine/