Susa von Mara Schindler

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Mara Schindler

Susa Erz채hlung

worthandel : verlag



2 Marcel radelte durch die Stadt, es war ein wolkenverhangener Morgen im April, der Himmel sah aus, als zürnte er. Ein Jahr war vergangen, seitdem Susa sich an ihn geheftet hatte. Ein Jahr, in dem ihm so manches durch den Kopf gegangen war, Gedanken der Trennung, Gedanken der Flucht, Gedanken, die keine Gedanken waren, nur Schweben im Raum. Er hatte versucht, sie dazu zu bewegen, zurück in die Schule zu gehen, die letzte Klasse zu wiederholen, einen Abschluss zu machen. Hatte versucht, so etwas wie Ehrgeiz in ihr zu wecken und hatte es aufgegeben. Denn Susa war aller Ehrgeiz fremd. Sie kannte nichts anderes als ihn. Wollte nichts anderes als ihn, sein Körper eine Quelle abrufbaren Glücks, in das sie so selbstvergessen tauchte, als gäbe es nichts anderes auf Erden. Anfangs hatte er ihren Durst genossen, war er imstande gewesen, ihn Abend für Abend aufs Neue zu stillen, hatte Gefallen gefunden an ihrem mageren Körper, der unter seiner Hand immer weicher

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geworden war, es verstanden hatte, die Botschaften seiner Hände zu erwidern, ihn herauszufordern, ihn bis zum Äußersten zu reizen, ihm alles zu nehmen. Doch Fülle erschöpft sich. Zur Gewohnheit gewordener Genuss hat einen faden Geschmack, wird schnell zur Fessel, wird schnell zum Zwang. Aus Zwängen befreit man sich, wenn man nur irgend kann. Marcel seufzte, als er das rote Backsteingebäude des Städtischen Klinikums vor sich auftauchen sah. Er konnte sie doch nicht einfach rauswerfen! Einmal hatte er mit ihr zu streiten versucht, hatte ihr den Farbroller aus der Hand geschlagen, smaragdgrün, mit dem sie seine Wände übertünchen wollte. Eigentlich hätte er stolz auf sie sein müssen: die Fahrt zum Baumarkt, das Anrühren der Farbe, sie hatte sogar Zeitungen auf den Boden gelegt, um die Dielen zu schützen – all das zeugte von einer Selbständigkeit, die er ihr nicht zugetraut hatte. Doch er schlug ihr den Roller aus der Hand und erboste sich über ihr Vorhaben, die Wohnung schön zu machen, wie sie es nannte, empfand es als Versuch, sein Umfeld zu annektieren, sich einzuverleiben, zu eigen zu machen. Genau das war es ja auch. Susa hatte ihr Zuhause gefunden, sie richtete sich ein, kochte seltsame Gerichte aus Nudeln und Käse, führte den Köter aus, dem sie insgeheim vorwarf, er habe was mit dem Verschwinden der Hündin zu tun, machte sogar allmorgendlich das Bett und verwischte so alle Spuren ihrer

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nächtlichen Zweisamkeit, ganz so, als hätte es sie nie gegeben. Das war klug, zögerte sie hinaus, die Wiederholung, die Wiederkehr, verlangsamte den traurigen Prozess, wie Liebe zur Gewohnheit wird. Und wenngleich Susas Hunger Jahre währen sollte und ein Sattsein ihrer Seele nicht gegeben war, spürte sie doch, wie Marcel und mit ihm sein Körper ermüdete. Müde. Erschöpft. Kaputt von der Arbeit. Kann nicht. Wenn er das sagte, zog sich etwas in ihr zusammen, befiel sie eine Furcht, die ähnelte der Furcht aus Kindertagen, Buhmann, der an der Klinke spielt. Du siehst echt fertig aus. Armin, Krankenhauskollege, breitschultrig, blondbezopft, klopfte Marcel auf die Schulter und warf ihm einen dieser komplizenhaften Blicke zu, die er verabscheute. Immer noch die Kleine? Marcel schüttelte den Kopf. Lass gut sein, Armin. Er hatte ihm einmal von Susa erzählt, in einem schwachen Moment, und es sogleich bereut. Denn natürlich hatte Armin durch die Zähne gepfiffen und getönt: Du kannst sie mir ja mal ausborgen. Ich krieg sie schon müde. Marcel schloss sein Fahrrad ab, betrat das Gebäude und dachte die nächsten Stunden an nichts, auch nicht, als er – gegen Ende der Schicht – die Tür zu Zimmer 309 öffnete, wo ein Neuzugang lag und darauf wartete, gewaschen zu werden.

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Schönen guten Tag, ich bin Pfleger Marcel, wie geht es Ihnen? Er trat ans Bett und warf einen routiniert-abschätzenden Blick auf den Neuen, ohne etwas Anderes zu erwarten als den ewigen Patienten unterm beigefarbenen Überwurf. Was ihm zuerst auffiel, waren ihre Augen. Die lagen wie gezeichnet in dem zerknitterten Gesicht, die Iris von einem vollendeten Grau, worin sich das gelbe Licht der Neonröhren spiegelte. Wenn Sie das Fenster ein wenig öffnen könnten, wär mir bedeutend wohler. Marcel klappte das Fenster an, zog die Handschuhe über und wandte sich erneut der Patientin zu, die ihn ganz ungeniert prüfte und mit Blicken maß, ohne überhaupt den Versuch zu machen, es zu verbergen. Die ovale Form ihres Gesichts, die langen, nicht mehr frischen Haare, die von einem dunkleren Grau als ihre Augen waren. So könnte Susa aussehen, dachte er und eine Welle der Zärtlichkeit erfasste ihn. So könnte Susa aussehen, wenn sie alt ist. Es hat was Beruhigendes, dass der Anblick einer alten Frau Sie nicht zum Weinen bringt. Marcel unterdrückte ein Schmunzeln. Wie ist es, können Sie sich alleine aufsetzen? Ich kann schon, erwiderte die Patientin, aber ich will nicht.

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Sie wollen nicht! Marcel tat entrüstet. Und warum nicht, wenn ich fragen darf? Die Alte sank noch ein wenig tiefer ins Kissen. Sie dürfen nicht. Bitte? Sie dürfen nicht fragen. Also gut. Marcel schlug die Decke zurück, schob seine Arme unter ihre Achseln, zog ihren Oberkörper hoch, der war knochig und leicht, nicht massig und schwer wie er es gewohnt war. Der Geruch, der von ihr ausging, war ihm hingegen vertraut. Er bemerkte ihn kaum. Ich ziehe Ihnen jetzt das Nachthemd aus, in Ordnung? Die Frau schloss die Augen und hob bereitwillig die Arme. Aha, dachte Marcel, das geht also noch. Er stellte die Waschschüssel auf den Nachttisch. Welches Duschgel bevorzugen Sie? Ich habe Grapefruit, Minze, Rose, Lavendel… Lavendel, erwiderte sie, ohne die Augen zu öffnen. Ich bevorzuge immer Lavendel. Marcel gab einige Tropfen in die Schüssel, fuhr mit den Fingern hindurch, bis es schäumte, tauchte den Waschlappen hinein und sah ihm beim Verdunkeln zu, bevor er ihn auswrang und über ihre welke Haut führte. Ist das gut so? Ist es zu fest?

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Oh, nein. Sie warf ihm einen unbestimmten Blick zu. Sie haben sehr sanfte Hände. Im Übrigen: Sie erinnern mich, wollen Sie wissen, an wen? Marcel hätte am liebsten den Kopf geschüttelt. Stattdessen fragte er: An ihren verstorbenen Mann? Wieder dieser Blick, verlegenes Staunen. Er war nicht mein Mann im herkömmlichen Sinne, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie richtete sich ein wenig auf, zog die Bettdecke über den Bauch, der erstaunlich fest war, kein weißes Fleisch, das Falten warf. Ich bin mit ihm durchgebrannt, sozusagen. Ihr Mund kräuselte sich selbstspöttisch. Darf ich? Marcel beugte ihre Schultern, um ihren Rükken zu waschen, derweil sie selbstvergessen in der Pose verharrte und sogar noch tiefer ging, mit den Fingern die Knöchel umspannte, als wäre dies ihre übliche Art, sich zu bewegen. Sein Name war – ach, was sagen schon Namen. Ich habe ihn beinahe vergessen. Nicht aber seinen Duft, nicht seine Hände, nicht ein klitzekleines Quentchen seines wunderbaren Körpers. Und ich dachte, nur die Jungen sind körperbesessen, warf Marcel ein wenig boshaft ein. Ich war ja jung, erklärte sie ernst. Ich war so jung, wie Sie es nie waren und niemals sein werden. Aber Sie sind

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ja auch ein Mann, fügte sie versöhnlich hinzu. Es gibt Strömungen, die können nur Frauen erfassen. Die Tür ging auf, Schwester Judith kam herein, einen Eimer unterm Arm. Komme zum Haarewaschen, sagte sie fröhlich. Seid ihr fertig? Die Alte verzog das Gesicht. Ach, wissen Sie, ich dulde keine Frauenfinger an meinem Kopf. Das bekommt mir nicht. Schwester Judith warf Marcel einen fragenden Blick zu, der zuckte kaum merklich die Schultern. Na schön. Sie stellte den Eimer ab. Aber nicht, dass mir später Klagen kommen. Wusch er ihr also das lange Haar, benetzte es, seifte es ein, massierte mit kräftigem Druck ihre Kopfhaut, ließ in einem dünnen Strahl das Wasser darüber fließen, spülte gewissenhaft und kam sich sehr seltsam bei allem vor. Dabei war es nicht der offensichtliche Genuss der Frau, der ihn verwirrte. Es war die Entschiedenheit, mit der sie Bedürftigkeit vortäuschte, ihr beharrliches Fordern, das keinen Widerspruch zuließ, als hätte sie ein unumstrittenes Recht auf diese Art Behandlung. Eine merkwürdige Frau, dachte er laut, als er nach Schichtende mit Judith auf einer Bank im Park saß und rauchte. Sie wusste gleich, wen er meinte. Thea Lindemann, duldet nur Männerhände an ihrem Kopf. Du scheinst ihr zu gefallen, Marc, das tut nicht je-

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der. Sie lachte leise, ohne Spott. Sie lebt im Pflegeheim, ich hatte dort meine erste Stelle, mein Gott, wie lange ist das her, acht Jahre bestimmt. Sie fischte eine neue Zigarette aus ihrer Tasche, das letzte Streichholz zerbrach. Marcel kramte nach seinem Feuerzeug, doch sie winkte ab. Ich sollte sowieso nicht. War sie damals schon so? – Wer? – Na, diese Thea Lindemann. Ach so. Judith fuhr sich durch das kurze, braune Haar, das ihr so glatt am Schädel lag wie ein Helm. Also merkwürdig, ja, das war sie damals schon. Aber ich durfte ihr zumindest noch die Haare waschen. Sie verzog den Mund, als schmollte sie. Marcel musste lachen. Das gefiel ihm an ihr: dass sie mit der Wirklichkeit spielen konnte, was zu erzählen hatte. Susa wusste nichts zu erzählen, konnte nicht zwischen Spaß und Ernst unterscheiden. Bei ihr war es die Unbeholfenheit eines Kindes, die ihn lachen machte, meist schämte er sich dann über sich selbst. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass sie mit allem noch ganz gut alleine fertig werden würde, fuhr Judith fort. Du hast ja gesehen, wie die sich noch bewegen kann, diese Verrenkungen. Sie hob anerkennend die Brauen. Das soll ihr mal Einer nachmachen.

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Warum lebt sie dann so? Marcel sah in den Himmel hinauf, der war von einem unbestimmten Blau. Wer geht schon freiwillig ins Pflegeheim, wenn er die Wahl hat? Judith zuckte die Schultern. Vielleicht hat sie ja keine Wahl. Marcel sah sie an, suchte in ihrem Gesicht nach einem Zeichen, einem Hinweis. Sie sah sehr müde aus. Traurig. Bleich. Ist eigentlich alles in Ordnung bei dir? Judith wich seinem Blick aus, nickte zerstreut und ging, nachdem sie sich hastig verabschiedet hatte, über den Kiesweg davon. Zuhause wartete Susa auf ihn, mit gerötetem Gesicht. Schau mal, rief sie, ich hab Kartoffelbrei gemacht mit Spinat, der ist nur ein bisschen angebrannt. Sie lief zum Herd, öffnete die Ofenklappe, nahm einen Topf heraus. Marcel stöhnte. Ich hab schon gegessen. Wirklich, Susa, ich hab’s dir so oft gesagt, du musst mir nichts kochen. Ich weiß doch, erwiderte sie, aber wenn ich nun will? Wieder seufzte Marcel. Er kam sich vor wie der entnervte Vater eines schwererziehbaren Kindes. Jetzt kam sie auf ihn zu, hagere Gestalt mit den immer steifen Brustwarzen, die sich durch den dünnen Stoff ihres Kleides bohrten, ein azurblaues Sommerkleid, das in den Juli gehörte, nicht in den April. Und wieder fiel ihm auf,

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Über die Autorin Mara Schindler, 1982 in Mecklenburg geboren, ist nach langer Suche am Fluss ihrer Kindheit fündig geworden. Sie schreibt Geschichten für den Kakadu von Deutschlandradio Kultur, hat gerade ein Kinderbuch beendet und spürt nun den Möglichkeiten nach, wie es mit Susa weitergehen könnte. www.maraschindler.de


1. Auflage April 2013 © 2013 worthandel : verlag, Dresden Umschlag, Satz & Layout: Enrico Keydel Lektorat & Korrektorat: Enrico Keydel Coverfoto: Mara Schindler Die Verwertung dieses Textes, insbesondere Vervielfältigung, Sendung, Aufführung, Übersetzung, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Genehmigung durch den Verlag urheberrechtswidrig. ISBN 978-3-935259-11-8 ISBN 978-3-935259-15-6 (ebook-Ausgabe) Alle Rechte vorbehalten www.worthandel.de



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