Vaußt. Eine Diaboliade von Myron Hurna

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Myron Hurna

VauĂ&#x;t Eine Diaboliade

worthandel : verlag


An manegen grôzen unde liehten werke / hât diz timber werc sîn teil / unde ez bekêre alsô guot als sie. / Umbe daz wache der hœrære ze allen stunden / unde vernime diu lêre / diu durch des lebens bilde brinnet / des mære man hie saget. / Disiu ist vür wâr ein wildez geferte / daz nieman teilen enwil. / Alliu spilliute gërn gar inneclîche / ze spiln diz spil. / Liute unde der tiuvel stânt bereit. / Ez wirt sîn ein spiel wunneclich / des dû, holder hœrære, vernëmen solt / daz under ir gesiht diu wârheit larven birt. / Nû aber kum unde kêre der werlt den rücke zuo / der lieht dû lange sô unsenfteclîche enbërn solt / daz dû mit uns nider verst / als der getriuwe orph.

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lte Geschichten werden immer wieder erzählt, um dem Zuhörer Neues zu sagen. Und neue

Geschichten werden oft auf altbekannte Weise erzählt. Ebenso diese Geschichte eines jungen Mannes, der, nicht ganz zwanzigjährig, dem Teufel verfiel und zu großem Unglück kam und auch andere ins Unglück zog. Es ist dies die Geschichte des Jos Vaußt, die eigentlich nur in Fußnoten zu erzählen ist, denn so bedeutend das menschliche Unglück manchmal sein kann, so unbedeutend ist doch oft seine Lehre – und zu belanglos ist das kurze Leben eines Betrügers und Hochstaplers, um Lehren zu erteilen. Jos Vaußt, einziger Sohn der Gesche und des Hannes Vaußt, wurde im achtzigsten Jahr des vorletzten Jahrhunderts in dem Dorf T. in der Nähe von Blankenburg im Harz geboren, wo er aufwuchs als hässlicher und plumper Bursche, der von anderen in der gemeinsten Weise gehänselt wurde, verspottet von den Schulkameraden, beschimpft als Jockel, Blödmann, Idiot, Loser, gezogen an den Haaren und von allen Jungen wie ein Tölpel behandelt. Sie ließen ihn in den Schulpausen zur Mutprobe Käfer essen und verdrängten ihn wo es ging unsanft mit den Ellbogen. Seine Eltern waren Bauern, die Verhältnisse

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beschränkt, sein junges Leben unglücklich soweit er sich erinnern konnte, aber er bildete einen seltsamen Stolz aus, der zur Sturheit, ja zu Hochmut neigen konnte. Jos war anhänglich gegen seine Mutter, die, da die Arbeit reich und schwer war, den Jungen oft wegschickte, sogar fort stieß. Er wurde zur Nachbarin geschoben, die den Unbrauchbaren zum Teufel wünschte, ja nur weg aus der Wohnung und zum Vater hin, der ihn prügelte, weil er ihn bei seiner Arbeit im Stall störte, so dass Jos manches Mal blaue Flekken erhielt, zusätzlich zu jenen aus der Schule. Die schlimmsten Jahre waren diejenigen seit seiner Einschulung, die ihn vor aller Augen zu einem höchst untalentierten, unbegabten und auch faulen Jungen machten, zu einem Kretin, kraftlos und ängstlich, wie aus Kompensation träumerisch und anfällig für melancholische Zustände, die alles in ihm lähmten, ihm aber sein Unglück nur dumpf ins Gedächtnis brachten. Wäre er kein Mensch, er lebte das Leben einer Kuh, die man mit dem Stock hierhin und dorthin treibt. Erst im fünfzehnten Lebensjahr erhellte sich sein Dasein. Das lag an zwei Begebenheiten: Jos Vaußt hatte in seiner quälenden Einsamkeit die Bücher als stumme Gefährten und Tröster entdeckt, die er, im

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Dunkel der Schulbibliothek sitzend und aus Mangel an eigenem Geld, eben dort las; nicht die bekannten, uns geläufigen Werke großer Dichter, sondern weitaus geringere Lektüre, die Dichtungen namenloser lokaler Schriftsteller: Gelegenheitspoeme, marginale Essays, Causerien, Glossen, Gerümpel in Frakturschrift, Provinzielles allemal, Harzdichtungen und stabgereimtes Liedgut. Und dennoch, er las mit Eifer. Unbekannt und dunkel dürfte ihm Manches geblieben sein, aber es war ein der Erkenntnis gegenüber viel größeres Gefühl, das ihn zum Lesen trieb, sicher kein Glücksgefühl, kein Gefühl der Erhabenheit, sondern eher ein Gefühl der Ruhe, die er erhielt, ein Rasten und Atemholen nach jeder Stunde, in der er zum Gespött seiner Kameraden geworden war, der Rückzug in den Pausen, die wohltuend waren. Zwar kamen auch hier seine Kameraden zu ihm um ihn zu quälen, aber immerhin wurden jetzt die Bücher Zeugen seines Martyriums. Das zweite Ereignis in seinem Leben, das ihn zum ersten Mal nicht nur mit der Ruhe der Bücher, sondern auch mit der sie bereichernden Unruhe der Liebe bekannt machte, war eine neue Schülerin. Die Neue wurde ihnen als Vinea von Klewitz vorgestellt. Von

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diesem Moment an, da er ihre feine Gestalt und ihr birkenweißes Gesicht sah, verliebte er sich in sie. Abrupt stürzte das warme Blut in seinen Kopf und verbreitete sich von dort wie eine Krankheit in seinem Körper, brachte nie gefühlte Organe in Regung und pumpte alle verborgenen Kräfte in die Venen. Wie er Vinea sah, erschien sie ihm als das schönste und ehrwürdigste Geschöpf, von neuen, barmherzigen Mächten ins Herz der Welt gepflanzt, ein von innen leuchtendes Kristallgeheimnis, an dem er nur zu gerne in den Schulstunden rätselte, um Zeichen ihres Interesses oder ihrer Zuneigung zu erkennen. Jos Vaußt las von nun an nicht nur, er schrieb selbst auch, und seine Gedichte widmete er heimlich Vinea, ohne sie ihr anzutragen. Anfangs waren es dürftige Zeilen, noch nicht einmal Verse, aber übers Jahr, in dem er Vinea immer stärker liebte, fand er immer kunstvollere Formen und entdeckte, nebenbei bemerkt, selbstständig und ohne Anleitung der Dichter einfache steigende und fallende Taktreihen, zudem Daktylus und Anapäst, erweiterte er sein Kompendium um ganze Strophenformen - Kürenbergstrophe, Nibelungenstrophe und Meistersangstrophe -, ohne die Vorlagen zu kennen; einfach als Urbilder keim-

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Myron Hurna wurde 1978 in Bad Hersfeld geboren und studierte an der Freiburger Albert-LudwigsUniversität Philosophie und Germanistik. Er veröffentlichte bisher die Studie „Modernität in der Lyrik Paul Celans“, den Essay „Das Alter. Philosophie einer Lebensphase“, eine „Einführung in die Lyrik und Poetik Paul Celans“ sowie 2012 den Essay „Späte Gegenwart. Zur Historisierung des Holocaust“.


1. Auflage März 2013 © 2013 worthandel : verlag, Dresden Umschlag, Satz & Layout: Enrico Keydel Lektorat & Korrektorat: Matthias Engels & Enrico Keydel Gestaltung des Schutzumschlages unter Verwendung des Gemäldes „Last Judgement“ (Triptychon) von Hans Memling (1433 - 1494) Die Verwertung dieses Textes, insbesondereVervielfältigung, Sendung, Aufführung, Übersetzung, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Genehmigung durch den Verlag urheberrechtswidrig. Alle Rechte vorbehalten www.worthandel.de ISBN 978-3-935259-78-1 (Ausgabe mit Coverabbildung) ISBN 978-3-935259-80-4 (Ausgabe mit schwarzem Cover) ISBN 978-3-935259-81-1 (ebook-Ausgabe)


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