»die aprikosenbäume gibt es«

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Edition K端nstlerhaus


Edition Künstlerhaus, herausgegeben von Michael Buselmeier. Band 30 Die Edition Künstlerhaus ist eine literarische Reihe des Künstlerhauses Edenkoben, einer Einrichtung der »Stiftung Rheinland–Pfalz für Kultur«; verantwortlich: Ingo Wilhelm.

© 2010 Verlag Das Wunderhorn Rohrbacher Straße 18 69115 Heidelberg www.wunderhorn.de Alle Rechte vorbehalten Erste Auflage Satz: Cyan, Heidelberg Druck: Fuldaer Verlagsanstalt, Fulda ISBN: 978-3-88423-351-1

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Michael Buselmeier (Hg.)

»die aprikosenbäume gibt es« Zum Gedenken an Inger Christensen Mit Beiträgen von Michael Buselmeier, Ulrike Draesner, Hanns Grössel, Norbert Hummelt, Ursula Krechel, Gregor Laschen, Lutz Seiler, Pia Tafdrup, Hans Thill und Søren Ulrik Thomsen

Wunderhorn 3


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Gregor Laschen Von wo worüber, nicht warum, am Meer Von der Welt sprechen, gemeint Natur, ein sommerlicher Anfang, der weit über die See hinausreichte. Eine zögerliche Zaghaftigkeit des Gesprächs und zaghaft bis ins Ende, das Zögerliche war immer greif bar, war aber den Zeichen gewichen (Natur als solche war gemeint), der stillen Systematik des Gesprochenen. Sprache als solche blieb abseits, verborgen unter Vergangenem und seinem Gewicht: »Sprache ist Delphi« (Novalis), das Gesprochene, das den Ort füllt, war immer schon gemeint. Von der Welt sprechen, die sich selbst aufschreibt, uns mit, – welch Zwischen-Raum! – während wir sprechen und der Adler aus dem Reservat drüben herübersteigt in den Himmel über Skagen, das Eis in der Ostsee, 1981, die Sandzunge Skagens Gren unter sich, die leckt nach links, die wirft sich nach rechts, er fliegt seinem Schrei nach, dem einfachen hochgezogenen Ton, hinaus auf die Ostsee, ans Ende vom Eis: (Eine lautlose Erzählung; die hohen Töne tragen die beleuchtete Stille, in der – unten – ein beweglicher Schatten sich in seinem Auge abbildet da oben, festgemacht bis zum schnellen Ende der Beweglichkeit unten.) draußen, draußen: der Schatten der Schiffe überm Horizont, wo das Dunkle 5


ins Helle umschlägt. Der Horizont war – immer schon – wieder das Band, der Horizont war diese Bindung, Verbindung, Bündnis mit dem Gesprochenen, das seine Stille behält. Von der Welt reden wie den Stein, diesen, in die Hand nehmen, ortsvergessen, seine Stille redet, dicht, eine bis zum Äußersten aufgespannte Fremde Nähe; die bewerfen wir zeilenweise mit Kugeln aus Schnee und Feuer: Figuren, leuchtend aus ihren Schatten, die stolpern in ihre Verwandlung, in die Schönheit des ersten Rhythmus zurück: durchs Meer wandernde Reisende, die Ohren verbunden gegen die Verführung. Von der Welt, Natur ist gemeint, wie übers Wohnen reden, die alten Holztreppen hoch unters Dach, wo der Wunsch da ist, noch einmal in eine andere Stadt, noch einmal die nahe und fremde Zeichensetzung aus nächster Nähe wie zur Erinnerung an das blaue Echo der Jammerbugt, den angerufenen Horizont zwischen den Körpern im Sand: aber – (Für Inger, Januar/Februar 2010)

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Michael Buselmeier „Ich schreibe wie der Schnee“ Begegnungen mit Inger Christensen Kennen gelernt habe ich Inger Christensen im Oktober 1988 im Künstlerhaus in Edenkoben. Bei einem dänischdeutschen Lyrikertreffen habe ich sechs ruhige, klare Gedichte von ihr (aus dem Band det/das) und fünf mythisch dunkle von Jørgen Sonne übersetzt, doch seltsamerweise kein einziges von Pia Tafdrup, Ivan Malinowski und Klaus Rif bjerg, die auch dabei waren. Es war die erste Veranstaltung der Reihe Poesie der Nachbarn: Dichter übersetzen Dichter, und uns mangelte es noch an Erfahrung. Ich hatte Skrupel und fühlte mich wie ein Hochstapler, weil ich die dänische Sprache nicht beherrschte. Auch hatte ich vorher nie ernsthaft versucht, Gedichte zu übersetzen, schon gar nicht mithilfe von Interlinearversionen. Die Differenz zwischen wörtlicher Übersetzung, poetischer Übertragung und freier Nachdichtung war mir im vollen Umfang nicht bewusst. Nach anfänglichem Zaudern ging ich ans Werk. Ich bemühte mich, dunkle Textstellen aufzuhellen und möglichst lesbare, also »deutsche« Gedichte herzustellen. Jørgen Sonnes Deutsch war von liebenswerter Fehlerhaftigkeit, doch er maßte sich an, nahezu alles besser zu wissen und verteidigte seine Versionen lautstark, selbst wenn sie im Deutschen keinen Sinn ergaben. Inger Christensen sprach ein vorzügliches Deutsch, aber sie protestierte nie, sah mich nur etwas traurig an, wenn ihr eine von mir gewählte Formulierung missfiel. Sie hat mir Mut gemacht, auf meine Art an den Texten weiterzuarbeiten, und so sind wir uns ein wenig näher gekommen. Sie schien überhaupt nicht gern zu sprechen. Meist saß sie schweigend und rauchend da, am langen Tisch zwischen den anderen, ein sich stetig leerendes Glas Weißwein vor sich, und beobachtete durch dicke, dunkel gefasste Bril7


lengläser das Geschehen: »Ich habe versucht die Welt auf Abstand zu halten. Ich bin fremd. / Ich fühle mich am wohlsten wenn ich fremd bin«, heißt es in einem ihrer frühen Gedichte. Einmal vertraute sie mir mit leiser Stimme an, ihr Vater sei ein Schneider gewesen und ihr LehrerinnenStudium alles andere als selbstverständlich. Sie war 1988 in Deutschland noch kaum bekannt. Das Großgedicht alphabet, ihr wohl bedeutendstes Werk, das vor allem ihren Ruhm begründen sollte, war gerade, in Hanns Grössels Übertragung, bei Kleinheinrich erschienen, und sie schenkte es mir mit einer (dänischen) Widmung. Inger Christensen liebte die Vorstellung, nicht sie schriebe ein Gedicht, sondern die Sprache selber, so als unterhielten Worte und Welt eigene geheime Verbindungen, hinter denen die Person des Autors zurücktritt und zumindest so tut, als beobachte sie nur, was – sich fortzeugend – geschieht. »ich schreibe wie das herz / das klopft schreibt / das flüstern der hände / der füße der lippen / der haut und des geschlechts«. Das sich selbst schreibende Gedicht entstehe, sagt sie in einem ihrer ebenso scharfsinnigen wie tiefgründigen poetologischen Essays, »mit derselben Leichtigkeit«, mit der eine Pflanze Blätter und Blüten treibe. Von Biologie, überhaupt von den Naturwissenschaften, verstand sie einiges, auch mit Musik und Sprachphilosophie hatte sie sich beschäftigt. Doch mehr noch als von den Theorien Noam Chomskys schien sie vom Geist der deutschen Romantik, besonders von Novalis´ Fragmenten inspiriert. »Wenn man den Menschen nur begreiflich machen könnte«, schreibt Novalis 1798 ganz in Inger Christensens Sinn, »dass es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei. Sie machen eine Welt für sich aus – sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus.« Der Umschlag von rationaler Struktur oder mathematischem System in Poesie und Gesang, die Verwandlung von extremer Künstlichkeit in eine neue, der ursprünglichen vergleichbare Sprache des »Gefühls« oder »Gemüts« prägt 8


Christensens grandiose, zyklisch angelegte Schöpfungen det/das (1969), alphabet (1981) und Das Schmetterlingstal (1991). Auch das folgende Zusammentreffen mit Inger Christensen fand in Edenkoben statt, im Jahr 1992, wieder ein südpfälzischer Herbst, wieder ein später Oktober, ein Wochenende mit »Schlossensturm« (Goethe) und Dauerregen. Bereits am Nachmittag war die Dämmerung aufgezogen, und ich watete durch die nebel-verhangenen Weinberge, die sich in Schlamm auflösten, auf das Künstlerhaus zu. Trat dabei, was mir noch nie passiert war, auf einen Vogel, Amsel oder Star, der am Rand einer Rebzeile kauerte und mein Kommen nicht bemerkt hatte – ein panisch zuckender, kreischender, mich zutiefst verwirrender Moment. Drinnen im Saal stand Inger Christensen bereits aufrecht und wie immer schwarz gewandet am Pult, leise, doch überaus intensiv psalmodierend, mit dänischem Akzent, während der Regen wie mit Vogelschnäbeln an die Fensterscheiben pickte und der Sturm wie mit Flügeln gegen sie schlug. Ein Rauschen oder Summen, ein von jeder Sinnvermittlung befreites Singen kam aus ihrer Brust, ein gleichförmiges, fast anonymes Sprechen, so als kämen die Verse mittels mystischer Kontemplation tatsächlich von selbst zur Welt. Mein bald darauf entstandenes, Inger Christensen gewidmetes Gedicht Oktoberlied versucht die eigenartige Stimmung dieses Nachmittags einzufangen: » Wen du nicht verlässest / Genius / ganz in Schwarz / schwebt er über dem Flutschlamm / auf klirrenden Schnapsflaschen / und trägt das Alphabet / der Menschengeschichte vor…« Ich habe Inger Christensen auch andernorts getroffen, etwa bei der Verleihung des Petrarca-Preises im Sommer 1994 in Weimar, wo wir im Liebhaber-Theater auf Schloß Kochberg direkt hintereinander lasen. Ich trug für sie Oktoberlied vor. Ich habe auch unseren Auftritt in dem badischen Städtchen Hockenheim, das ganz dem Motorsport verbunden ist, nicht vergessen. Werner Aust, Buchhändler 9


und Herausgeber der aufstrebenden Literaturzeitschrift Hirschstraße, hatte Inger Christensen im Mai 1994 in seine »Bücherecke« eingeladen, und sie hatte darauf bestanden, dass ich sie begleite. In Hockenheim wusste so gut wie niemand, wer sie war, und so bildeten wir paar aus Heidelberg Angereisten ein spärliches Publikum. Sie ließ sich nichts anmerken und las so eindrücklich lispelnd wie immer. Doch Werner Aust hatte sich mit seinen hoch literarischen Ambitionen am falschen Ort finanziell übernommen, musste erst den Buchladen, dann auch die Zeitschrift aufgeben und verschwand Ende der neunziger Jahre spurlos – ein Opfer seiner Leidenschaft für die Poesie. Im April 2003 erhielt ich von Inger Christensen aus Kopenhagen einen handgeschriebenen Brief, der so begann: »Es ist alles lange her, aber damit du weißt, dass ich inzwischen an dich gedacht habe, schicke ich dir als Beweis dieses Buch.« Es handelte sich um Hängebrücken. Berliner Renshi 1999, an dem sie zusammen mit Makoto Ôoka, Jürgen Becker und Adam Zagajewski beteiligt war. Ich blätterte das Buch flüchtig durch und legte es beiseite. Erst Monate später, als ich über Dritte erfuhr, dass Inger gekränkt sei, von mir keine Antwort auf ihre Zusendung erhalten zu haben, las ich das Renshi und entdeckte dabei auch das folgende, 7. Kettenglied: Einmal habe ich Michael Buselmeier versprochen, über die Hagebutten der Hundsrose zu schreiben. Einmal habe ich der Dänischen Enzyklopädie versprochen, über die gelbe Quitte, cydonia oblonga, zu schreiben. Ich habe es nie geschafft – Pause – Pause. Erst heute weiß ich, dass die japanische Quitte rote Blüten und kleinere Früchte hat und deshalb besser zu dem Gedicht passt, das in der Frucht drinnen geschrieben steht. Mit schlechtem Gewissen, wenn auch durchaus geschmei10


chelt, schrieb ich ihr zum Dank das Gedicht Die Hagebutten, das 2005 im Aprilheft der Akzente erschien: Du mahnst mich zurecht an die Hagebutten, Inger, dieses Spätjahr schwankten sie besonders dicht vor dem dauerblauen Himmel über den Weinbergen Edenkobens und ich dachte an dich, als ich sie im Vorbeigehen berührte, wie Trauben schwer, dunkelrot und noch immer unbedichtet. Was konnte ich tun, als sie mit klebrigen Fingern abzupfen und in der Hosentasche auf bewahren bis zu unsrem nächsten Geflüster auf weißem Papier. Großmutter, die sie früher zu Marmelade eingekocht hat, ist gestorben. Die Fensterläden ihres Häuschens am Bach klappern im Wind. Soll ich sie festzurren, soll ich die Hundsrose ausgraben? Schreiben wie der todgeweihte Herbst schreibt, jäh wie die Bachweiden sich biegen, die Malven sich krümmen mit einer letzten Blüte ganz oben, das Schlusslicht, das träge verglüht wie die Kohlstrünke des Nachbarn im Reif, die Vögel verwelken. Immer, wenn ich Inger Christensen traf, haben wir uns über die Wegwarte (»so endlos blau«) oder die Hagebutte verständigt, bescheiden am Rand von Wegen und Feldern wachsende und wenig beachtete Pflanzen, die eine sollte für den Sommer stehen, die andere legte ich ihr im Herbst auf den Tisch. Vielleicht waren wir auch nur froh, ein Pflanzenthema gefunden zu haben, das uns half, nicht über Persönliches oder über Literatur sprechen zu müssen. In ihrem Brief verstand es Inger Christensen durchaus, eine persönliche Nähe anzudeuten, die sonst kaum zu bemerken war. Als wir uns im Herbst 2005 wieder begegneten – es war das letzte Mal -, ging sie auf unsere Briefe und Hagebutten-Gedichte mit keinem Wort ein. Sie wirkte gealtert, das Gesicht maskenhaft, der Blick durch die Brille 11


starr in die Ferne gerichtet. Manchmal kam sie mir sogar wie eine biedere alte Dame von 70 Jahren vor, der man über die Straße helfen möchte. Doch dann las sie im Künstlerbahnhof Rolandseck aus ihren gewaltigen Schöpfungsgedichten alphabet und Das Schmetterlingstal vor, die von Naturkunde, Tonkunst und magisch belebten Landschaften zeugen – eine Feier der Poesie und des Todes, der sie umgab: »ich schreibe wie der winter / schreibe wie der schnee / und das eis und die kälte / und das dunkel und der tod / schreiben.« Anderntags trug ich ihr Köfferchen, das mir federleicht vorkam, zum Zug, und wir fuhren nach Edenkoben weiter, wo sie etwa das gleiche Programm absolvierte, aber eingangs so tat, als wisse sie noch gar nicht recht, was sie vorlesen sollte. Sie sah aus dem Zugfenster und schwieg, in sich eingesponnen, und ich hätte sie gern gefragt, ob sie ab und zu noch Gedichte schrieb oder das Schreiben nicht schon vor vielen Jahren eingestellt hatte… Über Edenkoben und das Paradies hat sich Inger Christensen in ihrem erstmals 1994 erschienenen Essay Die ordnende Wirkung des Zufalls Gedanken gemacht. Selbst im Herbst sei dort »die Paradiesillusion perfekt«; schon der allgegenwärtige Wein und die »Vorbereitung des Rausches« trügen dazu bei. Sie schildert die »schwarze Wolke« der Stare – sie nennt sie »Weindrosseln« oder auch »Paradiesvögel« –, die im Oktober die Luft über den südpfälzischen Weinbergen erfüllen. Im Bemühen, herauszufinden, was »Edenkoben« bedeutet, greift sie, wie viele andere vor ihr, zur volksetymologischen, also streng genommen falschen Erklärung vom »Garten Eden« und vom »Koben« (dem Schweinestall, der kargen Hütte), wobei sie das Künstlerhaus freilich in ein überaus günstiges, hilfreiches und rettendes Licht rückt. Sie konstatiert nämlich »eine Welt, der das Paradies mangelt, wo es aber ab und zu einen Stall gibt, der uns dazu bringt, uns an das Mangelnde zu erinnern. Ein Ort, wo wir Fremde sind und dennoch zu Hause. Ein Ort, wo wir allein sind und dennoch zusammen.« 12


Ähnlich ein spätes, auf Januar 2007 datiertes, in deutscher Sprache geschriebenes Gedicht, das Inger Christensen dem Lyriker Gregor Laschen gewidmet hat, dessen Vor- und Nachname sich aus den Anfangsbuchstaben der dreizehn Verse ergibt, also ein Akrostichon. Es trägt den Titel Erinnerung an Edenkoben: G rün in Grün und später Blau in Blau R egen stürzt schon aus den Vogelwolken E denkoben überschwemmt von Zwitschern G elb in Gelb dann plötzlich Rot in Rot O der später dann der reine Purpur R egenbogen zweimal Regenbogen L andschaft also draußen vor dem Fenster A ber Landschaft auch schon eingedrungen S chon durch meine Augen eingedrungen C haotisch wo der Weg zu meiner fernen H and gesucht wird, die als Teil der Landschaft E denkoben schreiben kann, ganz Wort, ganz N ame, dennoch Landschaft zweimal Landschaft

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Hanns Grössel Durch Ingers alphabetische Natur Am Anfang stand ein Hörspiel: Angekleidet, um zu überleben, der erste Text von Inger Christensen, den ich übersetzt habe. 1968 wurde dieses Hörspiel in Deutschland gesendet, in den folgenden Jahren weitere drei Hörspiele, zuletzt Ein Abend auf Kongens Nytorv. Da hatte ich Inger Christensen schon in ihrer großen Kopenhagener Wohnung in der Dag Hammarskjölds Allé, nicht weit von Kongens Nytorv, besucht und auch ihren Mann Poul Borum kennengelernt. Der S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main entdeckte damals ihren Roman Azorno, den ich ebenfalls übersetzen konnte und der 1972 in der kurzlebigen Reihe Fischer erschien, immerhin Inger Christensens Debüt auf dem deutschsprachigen Buchmarkt, wenn man von dem großen Prosagedicht Wassertreppen absieht, das ich in eine Anthologie dänischer Erzähler der Gegenwart aufgenommen hatte; die war 1970 bei Reclam in Stuttgart herausgekommen. Azorno fiel Helmut Heissenbüttel auf. In einer Sammelbesprechung des Norddeutschen Rundfunks ging er auf Inger Christensens Schreibweise ein und umschrieb den Roman als »ein Ding in jener anderen Welt, in der Sprache sich auf eigene Faust auf Abenteuer begeben kann«. Da war ein erster Funke übergesprungen, ein literarischer Brückenschlag, den man als Auftakt zu Inger Christensens später so engen Beziehungen zu deutschsprachigen Schriftstellern sehen kann. Bis die Lyrikerin Inger Christensen bekannt wurde, dauerte es freilich. Zwar hatten sich früh schon Kieler Skandinavisten eingehend mit ihrer Gedichtkomposition det aus dem Jahre 1969 beschäftigt und darüber geschrieben, aber weder aus det noch aus Inger Christensens früheren Gedichtbänden lagen Texte in deutscher Übersetzung vor. Mehrmals hatte sie mir Bücher geschickt: ihre Erzählung 14


aus Mantua (Das gemalte Zimmer), später die französische Übersetzung von alfabet, das 1981 in Dänemark erschienen war und mit dem sie bei uns wirklich bekannt wurde. Josef Kleinheinrich in Münster, studierter und promovierter Skandinavist und Lyrikliebhaber, hatte Mitte der achtziger Jahre seinen Verlag gegründet und fragte mich, ob ich alfabet für ihn übersetzen wolle. Das tat ich um so lieber, als ich damit meine Zweitsprache reaktiveren, mich sozusagen in Dänisch realphabetisieren konnte, und als das Buch 1988 in einer zweisprachigen Edition herauskam, geschah ein kleines Wunder: im September dieses Jahres stand alfabet / alphabet auf Platz 1 der Bestenliste des Südwestfunks. Josef Kleinheinrich veröffentlichte darauf hin in schneller Folge Das gemalte Zimmer und den Essayband Teil des Labyrinths, beide innerhalb einer Reihe mit Dänischer Literatur der Moderne, als deren Herausgeber der Kieler Skandinavist Bernhard Glienke zeichnete. In ihm fand ich einen idealen Lektor und Redakteur – ideal, weil er einer der drei gewesen war, die sich 1972 mit det beschäftigt hatten, weil er Inger Christensens damals vorliegende übrige Werke kannte, weil er nicht nur ein genauer Philologe, sondern zugleich ein Mann des absoluten Gehörs für literarische Nuancen war, mir also nicht nur die Dänismen austreiben konnte, in die man als deutscher Übersetzer aus dem Dänischen so leicht verfällt, sondern auch das mot juste wusste, wenn ich es nicht hatte finden können. Leider ist Bernhard Glienke früh gestorben. Deshalb zögerte ich lange, mich auf die Übersetzung von det ­einzulassen: für diese Arbeit wäre er der prädestinierte Gesprächspartner und Ratgeber gewesen. Andererseits: ich hatte versuchsweise aus det schon den Epilogos übersetzt, hatte sogar mit Inger Christensen bei einer Lesung diesen Versuch vorgetragen, und Norbert Wehr hatte ihn in seinem Schreibheft abgedruckt. Josef Kleinheinrich fragte mehrmals in der Sache an, und Inger Christensen, der nichts ferner lag als zu drängeln, war denn doch anzumer15


ken, dass sie nichts dagegen gehabt hätte, wenn auch det aus dem Jahre 1969 deutschsprachigen Lesern zugänglich gemacht würde. Mehr als schiefgehen kann es nicht, dachte ich schließlich und machte mich an die Arbeit. Nicht der Umfang des Buches stellt die Schwierigkeit dar, auch nicht die Verständlichkeit der Textteile im einzelnen, denn Inger Christensen ist keine Hermetikerin, sondern die feinen verbalen Verknüpfungen der Teile miteinander – Verknüpfungen, die durch Wortfolgen und Wendungen hergestellt werden, die Inger Christensen in leichten Abwandlungen aufgreift und für deren Varianten nicht immer deutsche Äquivalente zu haben sind. So heißt es in Die Handlung, Konnexitäten 7, zu Anfang: „1. De går i krig for hinanden I krig mod hinanden 2. Indimellem mens de endnu har overskud nok til at uddele døden så langsomt at den ligner liv søger de at elske hinandens had 3. Det er dig Det er mig Det er vores mellemværende“. »Indimellem« heißt soviel wie »zwischendurch« oder »dazwischen«; mellem, das Wort für zwischen, ist aber zugleich Teil des Substantivs mellemværende, und mit jemand ein mellemværende zu haben, kann auch bedeuten, dass man mit ihm ein Hühnchen zu rupfen hat. Ein Wort, das einerseits gemeinsames »Interesse«, andererseits noch fällige Abrechnung miteinander bezeichnet, haben wir im Deutschen nicht; deshalb bin ich auf ein substantiviertes »Dazwischen« ausgewichen, das nicht mehr als eine Verlegenheit ist. Mit den seltenen Stellen, an denen Inger Christensen sprach- oder wortspielerisch wird, hatte ich ähnliche Mühen, so in dem Gedicht Opspilet aus ihrem ersten Gedichtband Lys, 1962 erschienen und erst 2008 auf deutsch herausgekommen. Wo sie mit zwei dänischen Verben, spile 16


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