Aw ondjaki auszug

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Reihe fĂźr zeitgenĂśssische afrikanische Literatur Herausgegeben von Indra Wussow



ONDJAKI DIE DURCHSICHTIGEN Roman Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler

A f r i k aW u n de rhorn


Die Übersetzung aus dem Portugiesischen wurde mit Mitteln des Auswärtigen Amts unterstützt durch Litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e. V. Gefördert vom Direcção-Geral do Livro e das Bibliotecas / Portugal.

Die Arbeit des Übersetzers wurde gefördert vom Deutschen Übersetzerfonds.

Titel der Originalausgabe: Os Transparentes Lektorat: Corinna Santa Cruz © 2015 Verlag Das Wunderhorn GmbH Rohrbacher Straße 18 D-69115 Heidelberg www.wunderhorn.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schrift­liche Genehmigung des Verlages reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesamtgestaltung: 1  sans serif, Berlin Druck: NINO Druck GmbH, Neustadt / Weinstraße Umschlagabbildung: © Rui Sergio Vieira Pinto Afonso Foto Seite 2: Michael Hughes ISBN 978-3-88423-494-5


f端r Renata und f端r Michel L.



vorbei ist die zeit des erinnerns ich weine am kommenden tag wor端ber ich heute schon weinen sollte. [von Odonatos Zettel]



»sag mir nur noch, welche Farbe das Feuer hat …« der Blinde sprach zu der Hand des Jungen, der seinen Körper am Arm stützte, beide angstvoll darauf bedacht, keinen Laut von sich zu geben, um nicht von den riesigen, aus dem Boden schießenden Feuerzungen verschlungen zu werden, die nach dem Himmel Luandas jagten »könnte ich die Farbe des Feuers beschreiben, alter Mann, wäre ich Dichter, einer der Verse aufsagt« mit hypnotisierter Stimme folgte der Muschelverkäufer dem Schwanken der Temperaturen und führte den Blinden über mehr oder weniger sichere Wege, wo Wasser aus den geborstenen Rohren strömte und einen Korridor bildete für jene, die noch den Mut hatten, sich durch den Dschungel der vom Wind aufgepeitschten Flammen zu bewegen »ich bitte dich, sieh, deine Augen sind offen, ich kann es auf der Haut spüren, doch ich will mir die Farben des Feuers auch vorstellen« der Blinde klang flehend, mit dieser Stimme, die mehr zu befehlen gewohnt war als zu liebkosen, und der Muschelverkäufer spürte, dass es respektlos wäre, diesen so deutlich geäußerten Wunsch nicht zu erfüllen, der mit zärtlicher Stimme nach einer einfachen Auskunft verlangte, nach Farbe, was schwierig war und vielleicht unmöglich der Junge holte aus seinem Inneren heiße Tränen hervor, die ihn zurückführen sollten bis in die Kindheit, denn dort, in dem von Gedanken noch unbehelligten Reich, konnte der Keim einer Antwort stecken, lebendig und dem getreu, was er sah 9


»lass mich nicht sterben, ohne dass ich die Farbe dieses heißen Lichts weiß« die Flammen brüllten mit Macht, und selbst wer mit den Augen nichts sah, musste ein gelbes Gefühl der Erinnerung spüren, an Grillfisch mit Bohnen in Palmöl, heiße Mittagssonne am Strand, oder den Tag, an dem Batteriesäure ihm die Lust raubte, die Welt zu sehen »alter Mann, ich warte auf eine Kinderstimme in mir, um dir eine Antwort zu geben« von weitem und auch aus der Nähe gesehen war die Nacht wie ein Strang, dunkel und dicht, Haut eines nächtlichen Tiers, dem der Lehm vom Leib tropft, und am Himmel funkelten schüchtern die Sterne, die Starre einer besonderen Gischt, Muscheln im Sand knackten vor glühender Hitze, Körper von Menschen, die unfreiwillig verbrannten, die Stadt weinte im Schlaf, ohne, dass der Mond sie umfing der Blinde zitterte ein trauriges Lächeln auf seine Lippen »Kind, lass dir nicht zu lange Zeit, unser Leben ist fast schon gegrillt« keine Wolken, die Sonne abwesend, Mütter, die nach ihren Kindern schrien, und die blinden Kinder sahen nicht das eitle Licht dieser Stadt, die schwitzte und sich unter dem blutrünstigen Mantel bereit machte, am eigenen Leib tiefdunkle Nacht zu empfangen, wie nur das Feuer sie lehren kann Zungen und Flammen einer sich ausbreitenden Hölle, wie der trotzige Gang eines ermatteten Tiers auf der Flucht vor dem Jäger, rund und entschlossen mit dem stets sich erneuernden Willen, noch weiter zu gehen, noch mehr zu verbrennen, noch mehr Glut zu entfachen, und dann erschöpft nach dem Brennen von Körpern zu verlangen, die schon im Begriff sind, den Takt alles Menschlichen zu verlieren, geatmete Harmonie, Hände, die Haare und sorglose Schädel liebkosen in einer Stadt, in der jahrhundertelang Liebe im Schatten der Brutalität das eine oder andere Herz zum Bewohnen gefunden hatte »alter Mann, was war noch einmal die Frage?« 10


die Stadt blutüberströmt, von ihren Wurzeln hinauf bis zu den Spitzen der Häuser, war gezwungen, sich dem Tod zu ergeben, und die Pfeile, die sein Nahen verkündeten, waren nicht trocken, sondern flammende Speere, die ihr Körper brüllend empfing wie eine erahnte Bestimmung und der Alte wiederholte seine verzweifelte Bitte »sag mir nur, welche Farbe das Feuer hat …« Odonato lauschte der Stimme des Feuers sah es wachsen in Bäumen und Häusern, erinnerte sich an die Spiele aus seiner Kinderzeit, als Feuer mit niedlichen Linien aus Pulver gemacht wurde, das sie im Geschäft seines Stiefvaters stahlen, labyrinthische Zeichnungen, fein, auf dem Boden, ein Streichholz setzte das gefährliche Spielzeug in Brand, bis er eines Tages aus Neugier und Übermut probiert hatte, etwas davon auf seine linke Handfläche zu geben. ohne zu zögern hatte er die Haut und Schmerzen entzündet – die Narbe, über die er nun strich, während ein weit größeres Feuer die Stadt in einem gigantischen Tanzen von über den Himmel hallenden Gelbtönen verschlang das Feuer brüllte Odonato hatte schon nicht mehr die Kraft, auch nur das geringste Anzeichen von Staunen auf seine Lippen zu malen, nicht einmal ein schlichtes Lächeln, die Hitze stieg ihm in die Seele, seine Augen brannten von innen heraus Weinen hatte schon nichts mehr mit Tränen zu tun, war eher die Metamorphose von inneren Regungen, die Seele besaß Wände – poröse Texturen, die Stimmen und Erinnerungen zu verändern vermochten »Xilisbaba …«, er schaute auf seine Hände, aber sah sie nicht, »wo bist du, meine Geliebte?« im ersten Stock des Gebäudes hatte Xilisbaba ihren Körper mit Wasser getränkt, um sich vor dem Feuer zu schützen, atmete schwer, hustete langsam, als wolle sie keinen Laut von sich geben in der Hand hielt sie ein Stück Sisal, wie es auch um den linken Knöchel ihres Mannes gebunden war, Schweiß und Xilisbabas 11


Bewegungen zerfaserten es zu durchnässten Flusen, die sich auf ihre Füße legten, die anderen schauten, geleitet von den Geräuschen und dem wogenden Bild ihrer Haare, in ihre Richtung draußen brüllten die Stimmen von Menschen die Hände der Frauen suchten einander, eine zarte, fast heimliche Geste, mehr um die Ängste miteinander zu teilen als Wärme MariaComForça, der große Kraft nachgesagt wurde, spürte, dass sie, um die Tränen der Gevatterin zu besänftigen, andere Stär­ken hervorholen musste in Xilisbabas Gesicht flossen Tränen in regelmäßigen Strömen, MariaComForça versuchte, ihr Gesicht zu erkennen, erriet ihre Züge – Salzklüfte –, spürte ihre Traurigkeit frei in der Luft, wollte sie am Handgelenk fassen, doch das Pumpen von Xilisbabas Herz in Gedanken an ihren Mann oben allein auf dem Dach des Gebäudes war nicht mehr als ein lautloses Murmeln der Venen »Maria … ich will meinen Mann noch ein letztes Mal sehen … um ihm die Dinge zu sagen, über die man ein Leben lang schweigt« MariaComForças Hand drückte beruhigend, und Xilisbaba ließ sich die Wand hinab gleiten, ihre Kleidung, ihre Schuhe, ihre Haare und ihre Seele »ganz ruhig, Gevatterin, Feuer ist wie der Wind, er brüllt, doch mit ganz kleiner Stimme.«

das Haus hatte sieben Stockwerke und atmete wie ein lebendiges Wesen man musste seine Geheimnisse kennen, die nützlichen und auch die unangenehmen Eigenschaften der Zugluft, die Funktion seiner uralten Rohre, der Stufen und der ins Nirgendwo führenden Türen. Einbrecher hatten bereits am eigenen Leib die Erfahrung gemacht, wozu dieses verzwickte Labyrinth wirklich imstande war, mit seinen untereinander verbundenen, selbstständig handelnden Durchgängen, und selbst die Bewohner achteten voller Respekt jede Ecke, jede Wand, jeden Treppenabsatz 12


im ersten Stock verschreckten geborstene Rohre und eine unglaubliche Dunkelheit jeden Verirrten oder Eindringling Wasser im Überfluss und zur vielfältigen Verwendung versorgte von dort das gesamte Gebäude, wurde eimerweise gehandelt, um damit Wäsche und Autos zu waschen, OmaKunjikise war eine der wenigen, die das überschwemmte Gebiet trockenen Fußes durchqueren konnten, ohne auszurutschen »ein Fluss ist das«, sagte sie stets auf Umbundu, »nur Fische fehlen noch und Krokodile« die alte Frau war wenige Tage nach dem Tod von Xilisbabas leiblicher Mutter nach Luanda gekommen und, weil sie den Hunger nicht mehr ertragen hatte, bei deren Trauerfeier aufgetaucht, hatte dort unter Tränen die Dringlichkeit ihres Bedürfnisses dargelegt, sich für ihr Eindringen entschuldigt und in tiefstem Umbundu, dabei Xilisbaba tief in die Augen schauend, gesagt »wer auch immer gestorben ist, ich kann für den Tod beten. meine Stimme reicht bis auf die andere Seite …« Xilisbaba, die das Leben bereits von seiner allzu wirklichen Seite zu lesen imstande war, hatte die alte Frau mit einem Glas Rotwein begrüßt, ihr ihren Platz überlassen und einen Teller mit Essen kommen lassen, dem besten Calulú der Trauerfeier, und ausdrücklich gesagt, man solle ihr bloß kein gestrecktes Funji servieren, die Dame brauche wie sie gutes Maismehl, um den Irrsinn und den Rhythmus Luandas ertragen zu können »deine Mutter lacht«, hatte die Alte gesagt »meine Mutter bist jetzt du«, hatte Xilisbaba geantwortet während der Trauerzeit und erst recht nachdem alle Rechnungen für das zum Gedenken der alten Dame gereichte Essen und Trinken beglichen waren, war Odonato weit über die Grenzen des üblichen Elends hinaus abgemagert Xilisbaba fiel auf, dass ihr Mann stiller geworden war, sich zwar mit den Kindern unterhielt, mit den Nachbarn Belanglosigkeiten austauschte, sich um Arbeit bemühte und an den Batterien im Radio herumdrehte, die keinen Strom mehr liefern wollten, obwohl er sie in die Sonne gelegt hatte, 13


doch seine Bewegungen, wenn er durch den Morgen spazierte, sich am Kopf kratzte, wenn er die auf der Straße gefundene Zeitung las, sich ankleidete oder sich streckte, all diese Bewegungen machten kein Geräusch mehr und der Frau wurde klar, dass es ihr Mann war, der eigentlich trauerte, wie sein Blick so ins Weite ging, sah Xilisbaba ihn in seiner Jugend, noch träumerisch, draufgängerisch mit den Händen und mit dem Mund, zu der Zeit, als er sie abgepasst hatte im überfluteten ersten Stock, sie war mit Obst hochgekommen, er hatte die Früchte an ihrem Körper zerdrückt und hatte gelacht angesichts der erwarteten Überraschung am späten Nachmittag Odonato bewegte nicht mehr als die Finger, die seiner rechten Hand streichelten über den Ring an der linken, Xilisbaba sah, wie Odonato ihn sich abstreifte und in der Tasche verstaute, der Finger war zu schmal geworden für den Ehering sie seufzte tief Sauerstoffmoleküle fluteten in ihr Herz, ihre Venen und ihren Kopf, neue Energie unterwegs in die äußersten Enden ihres Körpers, doch das Phänomen hatte bereits seinen Lauf genommen das Verborgene ist wie ein Gedicht, es kann jeden Moment auftauchen.

seine Füße waren es gewohnt, jeden Tag viele Kilometer zu laufen, alte Füße an einem jungen Körper der Muschelverkäufer lief gern über den Sand auf dem StrandDerInsel, den funkelnden Boden seiner nächtlichen Albträume, zu Hause war er in der benachbarten Provinz Bengo, doch früh hatte er sich in Luanda verliebt, wegen des salzigen Meeres er nannte das Meer »salziges Meer« und schaute nach ihm jeden Tag mit derselben Verliebtheit, als seien sie sich gerade erst gestern mit der Haut und der Zunge begegnet 14


tauchte langsam, als berührte er eine Frau, kostete das Salz und erlebte stets neu jenes Staunen beim Tauchen, so lang wie seine Lunge und seine Augen es ihm erlaubten, er kannte die Felsen und Boote, die Fischer und Fischhändlerinnen, hatte den warmen Duft von getrocknetem Fisch an den Händen, den er auslegen half, und vor allem kannte er Muscheln die Muscheln aufgewachsen war er in Bengo, zwischen den Flüssen, den Buntbarschen, doch eines Tages war er dem salzigen Meer begegnet mit seinen Booten, den Angelruten und den Muscheln »alter Mann, mach mir doch auch eine Rute zum Angeln« »du hast doch nicht einmal ein Boot, fährst nicht hinaus auf das Meer« »… ich will die Angel, um auf dem Land selbst zu fischen: nach Leben!« am StrandDerInsel war er als fleißig und ehrlich bekannt, half Fische schleppen mit einem freundlichen, unschuldigen, ein­­ nehmenden Lächeln auf den Lippen, verkaufte und lieferte aus, schickte Salz und auch Geld an die Verwandtschaft in Bengo die Füße des Muschelverkäufers waren über die Jahre kristallisiert, wie die Außenseite der Boote auf der Insel, Scherben und Nägel verursachten ihm höchstens ein leichtes Jucken, trotzdem trug er die Sandalen aus Leder, die ihm sein Vetter geschenkt hatte eine Glasperlenkette um den Hals einen Beutel mit Muscheln über der Schulter, die Augen, die keine Geheimnisse preisgaben, zusammengekniffen er hatte von MariaComForça gehört, die sich mit Finanzdingen beschäftigte, und dachte, vielleicht interessierte sie sich auch für seine Muscheln er hatte welche in allen Farben und Formen, für den praktischen Gebrauch oder schlicht als Schmuck, in so vielen Sorten und Preislagen, dass man ihm schwerlich über den Weg laufen konnte, ohne der Versuchung zu erliegen, wenigstens eine davon zu behalten, für jetzt oder später: zu den Frauen sprach er ganz langsam, um Raum zu lassen für Fantasie und die Bedürf15


nisse jeder Einzelnen, den Polizisten auf der Straße schenkte er Muscheln als Haarschmuck für ihre Freundinnen, Männern machte er konkrete Vorschläge für die Verwendung in ihren Büros oder Autos, den Frauen der Botschafter zeigte er Muscheln als exotische Dinge, von denen schon keiner mehr wusste, dass man sie sich zu Weihnachten schenken kann, Herstellern von Kerzenständern gegenüber pries er die Vorteile der riesigen hohlen Muscheln und den Schimmer des Lichts auf dem Material aus dem Meer, Priestern machte er klar, wie besonders sie auf dem Altar aussähen, alten Frauen empfahl er sie als Erinnerung, den jungen als originelle Anhänger, Kindern als Spielzeug, um das sie andere Kinder beneiden würden, Nonnen verkaufte er Muscheln in Kruzifixform, Restaurantbesitzern als Vorspeisenteller oder Aschenbecher, Scheiderinnen schwärmte er von der Vielfältigkeit des Materials vor und wie schön es klimpert, Friseurinnen versuchte er davon zu überzeugen, dass Glasperlen längst nicht mehr Mode waren, und vor Verbrechern redete er sich eilig heraus, er trage nichts über der Schulter als einen Beutel voll Zeug, das für nichts zu gebrauchen sei an einer roten Ampel war der Muschelverkäufer dem Blinden begegnet, hatte seinen Beutel von der Schulter gleiten lassen und auf dem Boden abgestellt, dem Blinden gefiel das Geräusch seiner Muscheln »hören Sie?« »ich verstehe nicht« »ob Sie gut hören« »ich höre ganz normal. wenn Sie das Geräusch aus dem Sack meinen, das sind Muscheln« »ich weiß, dass es Muscheln sind. ich bin zwar blind, aber ich weiß, wie die Dinge klingen. darum geht es nicht …« »um was dann?« »ich kann das Salz in den Muscheln hören« der Muschelverkäufer hatte nicht gewusst, was er antworten sollte, der Blinde sagte nichts mehr es wurde grün, und keiner von beiden ging weiter. 16


Xilisbaba stieg aus dem Candongueiro, beladen mit Tüten voller Gemüse und in Begleitung ihrer Tochter Amarelinha, die Lippen des Muschelverkäufers wurden sehr ernst, er wusste nicht, was Amarelinhas Blick zu bedeuten hatte, die ebenfalls mit Tüten beladen war und schwitzte »was ist?«, fragte der Blinde »ich weiß nicht«, der Muschelverkäufer hängte seinen Beutel wieder über die Schulter das Knirschen der Muscheln oder des Salzes, hatte Amarelinha aufhorchen lassen ihr Körper schob sich an ihnen vorbei, doch nur der Blinde wusste sich darüber Gedanken zu machen, wie viele Düfte er mit sich führte: reife Mangos, nächtliche Tränen, Schwarztee und Tee aus der Wurzel der männlichen Papayastaude, schmutziges Geld, Omo für die Wäsche, altes Seil, Zeitungen, Teppichstaub, Muff Mutter und Tochter liefen schnell zu dem Gebäude hinüber, gingen hinein, um die Pfützen vor dem leeren Aufzug herum, Amarelinha hob ihr Kleid etwas an und folgte der Mutter, die sich auf der Treppe besser auskannte als sie im vierten Stock, schon ganz außer Atem, begegneten sie ihrem Nachbarn Edú »geht es besser, Edú?« »besser wird es nicht mehr. auch nicht schlechter in letzter Zeit. also geht es, Frau Xilisbaba« »das ist gut« »ich würde ja helfen, aber mir fehlt die Kraft«, bedauernd hob er seine riesigen Hände »macht nichts. es sind nur noch zwei Stockwerke« »ist das Wasser da unten unter Kontrolle?« »ja, alles normal« Edú hielt sich immer im vierten Stock auf, der längste Weg, den er zurücklegte, war von seiner Wohnung hinaus auf den Gang, um zu rauchen und die schmutzige Luft von Luanda zu atmen. er konnte sich nur mit viel Mühe bewegen, sogar inter17


nationale Spezialisten hatten sich schon mit seinem Fall befasst an seinem linken Hoden hatte er eine riesige Hernie, die man »Mbumbi« nennt und die je nach Wetter und psychischer Disposition mal größer, mal kleiner wurde, weshalb er schon von unterschiedlichstenWissenschaftlern untersucht worden war, von Natur- bis zu Sozialwissenschaftlern, Metaphysikern, Heilern oder einfach nur Neugierigen. noch kein einziges Angebot, sich operieren zu lassen, hieß es, habe er annehmen wollen, weder aus Angola, noch aus Schweden oder Kuba, denn man habe ihm noch nicht die richtige Summe geboten für seine Angst »außerdem habe ich mich daran gewöhnt: jeder ist so, wie er ist …« Amarelinha schaute zu Boden und hoffte, die Mutter würde schnell wieder zu Atem kommen und weitergehen »Ihre Tochter wird ja mit jedem Mal hübscher«, bemerkte Edú, »irgendwann bringt sie uns einen jungen Mann an« Amarelinha wurde verlegen und lächelte höflich, dann gingen sie schweigend die restlichen Stufen hinauf im fünften Stock wohnte der StummeGenosse, hilfsbereit, still, ein großartiger Grillmeister aufgrund seiner geheimen Methode, Grillkohle anzufeuern, vor allem, wenn es nicht viel davon gab aus seiner Wohnung klang die Melodie von Muxima, gesungen von WaldemarBastos, und Xilisbaba musste schon wieder an ihren Mann denken der StummeGenosse saß vor seiner Tür und schälte Kartoffeln und Zwiebeln, zwei riesige Tüten, und Amarelinha staunte wie immer über die Geduld, mit der dieser Mann seine Arbeit verrichtete alle wussten, beim Schälen war der StummeGenosse unermüdlich und Perfektionist »guten Tag«, murmelte er »guten Tag«, antwortete Xilisbaba Nachbarn griffen gern auf sein scharfes Armeemesser zurück, die Verkäuferinnen aus dem Erdgeschoss, die eiligen Passanten 18


Fleischspieße und Brötchen mit Paprikawurst anboten, nutzten seine häuslichen Fertigkeiten für ihre in abgestandenem Öl zubereiteten Pommes Frites sie kamen in den sechsten Stock Amarelinha stellte die Tüten vor der Wohnungstür ab und klopfte zwei Mal, langsam OmaKunjikise öffnete die Tür eine alte Gießkanne aus Metall wartete auf Amarelinha im Flur, eine Reihe bunter Töpfe wurde sorgfältig bewässert, präzise und umsichtig waren ihre Bewegungen, als sei sie OmaKunjikises leibliche Enkelin, und am Nachmittag beschäftigten sich dieselben Hände mit Bändern und Perlen, zauberten Ketten, Ringe und Armbänder für die Mädchen, die sich alles Mögliche einfallen ließen, um sie später zu kaufen »wir werden gute Geschäfte machen, mein liebes Kind«, hatte MariaComForça aus dem zweiten Stock zu ihr gesagt, »du bringst die Arbeitskraft deiner Hände ein, und ich kümmere mich um den Verkauf an die Kunden« unter dem wachsamen Blick ihres Mannes räumte Xilisbaba die Sachen in die Küchenschränke, wenn Odonato die Leute beobachtete, schaute er auf ihre Hände, gern sah er OmaKunjikise zu, wie sie bedächtig kochte, gab vor, in der Zeitung zu lesen, und bestaunte dabei, wie schnell und genau seine Tochter mit ihren Händen die Glasperlen auffädelte, er war früher auch sehr geschickt gewesen, mit Holz, doch die Pflichten seiner Zeit als Beamter hatten einen Teil dieser Handfertigkeiten zunichte gemacht »Papiere stempeln … hat meine fließenden Bewegungen stumpf gemacht« Odonato betrachtete Hände und Essen: geschenkt und gefunden in Abfällen vom Supermarkt, wo irgendein Bekannter arbeitete »wir essen nur noch, was andere nicht mehr wollen«, sagte er »Essen fortzuwerfen ist Sünde, wenn es noch zu gebrauchen ist« 19


»Sünde ist, nicht genug Essen für alle zu haben«, erwiderte Odonato und trat aus der Küche auf den Balkon schaute über die Stadt, das chaotische Durcheinander der Autos, der Leute, die eilig umherrannten, Verkäufer, chinesische Motorräder, riesige Geländewagen, ein Briefträger, das Auto, das mit heulender Sirene vorbeifuhr, und ein Blinder an der Hand eines Jungen mit einem Beutel über der Schulter »machst du dir Sorgen?« Xilisbaba stellte sich neben ihn »Ciente lässt nichts von sich hören, keiner weiß etwas von ihm« CienteDoGrã, Odonatos Ältester, hatte seine Jugend von Bar zu Bar ziehend verbracht, war Teilhaber einer berüchtigten Diskothek gewesen, hatte dann aber als notorisch unpünktlicher Türsteher geendet, Nadeln aus Apotheken gestohlen und es schließlich zu einem gewohnheitsmäßigen Heroinkonsumenten gebracht, dann aber, als er älter wurde, sich in einer Gruppe von Rastafaris auf Liamba und kleinere Diebstähle beschränkt orientierungslos aus Berufung stand er früh auf, um mehr Zeit für das Nichtstun zu haben, und pflegte die Obsession, irgendwann einen amerikanischen Geländewagen Grand Cherokee zu besitzen, so hatten ihn seine Freunde als Kenner, »Ciente«, des Grand Cherokee getauft, was bald zu CienteDoGrã abgekürzt wurde »können wir irgendetwas tun?« »nur hoffen, dass er nichts mehr anstellt.«

der Briefträger schwitzte und wischte sich mit einem völlig durchnässten Taschentuch den Schweiß ab. schon vor Monaten hatte er bei seinem Chef, einem dicken Mulatten aus Benguela, ein Moped beantragt für seine beschwerliche Tätigkeit des Briefeaustragens »ein Moped? dass ich nicht lache. sei froh, wenn wir dir einen Tretroller geben. wenn dir die Arbeit nicht passt, macht sie ein anderer. ein Moped … so weit kommt es noch!« 20


und so hatte der Briefträger sich überlegt, schriftlich könne er vielleicht mehr Glück haben und siebzig Briefe verfasst mit der Hand und auf hellblauem, liniertem Luftpostpapier, ordnungsgemäß frankiert und an die feinen Leute in Alvalade, Maianga und Makulusu verteilt sowie an Abgeordnete, einflussreiche Unternehmer und den Transportminister höchstselbst darin listete er seine Gründe auf, die Kilometerleistung, die seine Tätigkeit erforderte, deren geografische Herausforderungen, und beantragte unter Bezugnahme auf eine fürs Erste erfundene Internationale Vorschrift für das Briefträgerwesen die Bereitstellung wenigstens eines Fahrrades mit achtzehn Gängen und die Wartung durch autorisierte Vertragshändler, doch er hatte nie Antwort bekommen »du sollst Briefe austragen, nicht selbst welche schreiben«, hatte sein Chef gelacht der Briefträger beschloss, eine Pause zu machen, öffnete seine Ledertasche und zog einen beliebigen Brief heraus, öffnete ihn vorsichtig und vergewisserte sich, dass er auch etwas von dem weißen Kleber aus Mehl dabei hatte, den er benutzte, um gelesene Briefe wieder zu verschließen es war eine schöne, aber unsichere Schrift, an den Rändern mit Zeichnungen von Vögeln und Wolken, wie geografische Koordinaten aus der Schule zu Zeiten der Portugiesen in seiner Heimat­ stadt »ein Fleischspieß gefällig, Genosse Briefträger?«, fragte MariaComForça und ließ die Glut tanzen »gern, wenn ich anschreiben lassen kann, ich bin momentan etwas knapp mit den Kwanzas« »anschreiben geht nur gegen Vorkasse«, lachte Maria »du bist mir eine Gaunerin! das ist ja dann Anschreiben umgekehrt, ist das erlaubt?« »ist in Luanda irgendetwas nicht erlaubt?« der Briefträger schluckte das Wasser herunter, das ihm vor Hunger und Durst im Mund zusammengelaufen war, MariaCom­ 21


Força bekam einen Anflug von Mitleid, doch an Mitleid verdient man nichts, und die Stadt war zu teuer für Almosen »lesen Sie wieder die Briefe der anderen, Genosse Briefträger?« »ach, nur zum Spaß, um die Zeit zu vertreiben. ich mache es so wie die Kinder: nachher vergesse ich alles wieder« MariaComForça stocherte in ihren glühenden Kohlen, blies gezielt in die Glut und schaute durch den Rauch hindurch zu dem Briefträger herüber »ach, könnte ich auch nur vergessen …« der Briefträger verzog das Gesicht, um die Hitze wenigstens für einen Moment zu vertreiben, bat um ein Glas Wasser, las noch etwas in dem Brief und versicherte sich, dass er tatsächlich in der Stadt Sumbe aufgegeben worden war »gute Nachrichten?« »kann ich nicht einmal sagen. wer wohnt denn im fünften Stock?« »der StummeGenosse« »lässt er Trinkgeld springen, wenn ich bis da oben hinauf­gehe?« »das weiß ich nicht …« im ersten Stock hielt der Briefträger an, damit seine Augen sich an das Dunkel gewöhnten Wasser strömte durch unsichtbare Kanäle, seine Füße in den abgetretenen Sandalen wurden nass zuerst spürte er einen Schwindel, umgekehrt, nicht sein Kopf kreiste, sondern die Füße schienen zu winzigen Tanzschritten anzusetzen »der Hunger wahrscheinlich«, dachte er Hunger, der Menschen ganz seltsame Dinge empfinden, Unvorhersehbares tun lässt, Hunger, der motorische Fähigkeiten und Sinnestäuschungen erfindet, Hunger, der Wege auftut oder Unglück heraufbeschwört, aber nein, der Ort war es, wusste er, denn da war ein Duft, der nicht zu riechen war, und ein Wind, der nicht wehen wollte, Wasser, das man spürte, ohne es zu sehen, folgte einem Sog, der nicht natürlich war, einem Strudel vielleicht 22


»was man so denkt mitten am Tag … oder aus Hunger …« seine Augen hatten sich an das Dunkel gewöhnt, nun kam er sich vor wie abgeschirmt von der Außenwelt hörte den Lärm von der Straße wie durch einen Filter, der ihm nur das Wichtigste aus jedem Gespräch oder Gedanken übertrug »nachher behauptet noch jemand, ich würde Liamba rauchen im Dienst« das Licht hatte eine unbeschreibliche Farbe, malte Gelbtöne auf das schmutzige Weiß der Wand, bediente sich des Wassers, um sich in anderem Grau neu zu erfinden, das nicht dunkel sein konnte; das Wasser spiegelte den Augen des Briefträgers Funken zurück, blau, rötlich, dichte Kaskaden sein Kopf wurde luftiger, der Hunger ließ nach »wenn es so ist, ist es besser, hier noch ein wenig zu bleiben« als er sich gegen die Tür lehnen wollte, hinter der früher ein Aufzug gewesen war, spürte er eine innere Hitze von seinen Hoden aufsteigen, wie er sie schon lange nicht mehr so deutlich gespürt hatte, er schaute zum Eingang und dann zur Treppe, es war niemand zu sehen er strich sich leicht mit der Hand über die Hose, spürte seinen Penis beinahe unruhig in der verschlissenen Unterhose, schloss wieder die Augen, atmete noch einmal diese widersinnige Kühle seine Testikel erwachten er war verlegen, bedeckte die Vorderseite seines Körpers, atmete tief; feuchte Gedanken fluteten in sein Gehirn, er schwitzte innerlich, als käme ihm gerade eine kindische, vergnügte Angst; erst dann ging er weiter staunend über die Stille sah niemanden auf den Treppenabsätzen und wunderte sich, dass keine Kinder da waren als er in den dritten Stock kam, hörte er eine Stimme eine spröde Melodie singen, wahrscheinlich kam sie aus einem alten Plattenspieler mit fünfundvierzig Umdrehungen 23


es war Jazz er hängte seine Ledertasche über die andere Schulter und spürte eine angenehme Erleichterung wo der Lederriemen gedrückt hatte, war nun wieder Platz für die normalen Umrisse seiner Haut, er fuhr kreisend mit den Fingern darüber, das Gefühl, dass seine Haut wieder an ihre Stelle zurückkehrte, war angenehm, er streichelte auch über die andere Schulter, die nun ihrerseits deformiert wurde das breite Trageband war aus einem Material, das einem festen Seil nur nachempfunden war, ihn aber in all den Jahren noch niemals im Stich gelassen hatte, die Geheimnisse dieses Gewebes kannten nur seine Schultern, eine Art vorläufige Narbe, die durch das regelmäßige Wechseln der Seiten und kreisendes Streicheln wieder verschwand »ein Fahrrad wenigstens, es muss nicht einmal ein Moped sein« er trat langsam näher, rückte den alten, verstaubten Anstecker gerade, der ihn als Angestellten der NationalenPostBehörde auswies, nahm wieder den Brief in die Hand, vergewisserte sich mit einem gezielten Blick, dass er ihn wieder verschlossen hatte, und tat so, als würde er die Adresse lesen fünfter Stock, Maianga-Gebäude, dem Überbringer. PS: Gebäude hat ein riesiges Loch im Erdgeschoss. nicht zu verfehlen der StummeGenosse schälte Kartoffeln ohne ein Lächeln, strich sich ab und zu über den dichten Schnurrbart, neben ihm standen Pantoffeln, doch üblicherweise ging er barfuß, auch in Anwesenheit der Nachbarn der Briefträger hüstelte irgendwo in Luanda, weit weg, pfiff ein Papagei dieselbe Melodie wie die aus dem Plattenspieler, der Briefträger schaute den StummenGenossen an, der sein scharfes Messer in der linken Hand hielt. von der Kartoffel tropfte bereits erdiges Wasser »bitte entschuldigen Sie, dass ich nicht an meine Schuhe herankomme«, sagte schließlich der StummeGenosse »kein Problem, ich bin nur ein einfacher Briefträger, ich habe einen Brief für den fünften Stock« 24


»das muss ein Irrtum sein, niemand hat mir je geschrieben« »Irrtum ausgeschlossen. wollen Sie sehen?« »ich sehe sehr schlecht«, der StummeGenosse wischte sein Messer an seinem rechten Hosenbein ab »guter Freund, bitte nehmen Sie nur diesen Brief! mein Chef macht mir eine Menge Probleme, wenn ich Briefe zurückgehen lasse« »ist gut, legen Sie ihn auf den Tisch« »welchen Tisch?« »den da drinnen« der StummeGenosse schälte weiter seine Kartoffeln im Rhythmus einer Frau, sein Blick verschwand so weit in die Ferne, dass der Briefträger keinen Zweifel mehr daran haben konnte, dass der Mann, der dort mit dem Messer in der Hand saß und einem Haufen noch zu schälender Kartoffeln, tatsächlich nicht gut sah und ihn nicht mehr sah ob er nun dort stehen blieb, schreiend fortrannte, die Wohnung betrat oder nicht »wenn Sie gestatten«, stammelte der Briefträger und trat in die Wohnung die Hälfte der Geräusche war Musik, die andere Hälfte, bezaubernd gleichmäßig, war das Knarzen der uralten Nadel auf der Schallplatte der Briefträger stellte seine Tasche an der Tür ab und ging bis zu dem kleinen Tisch zwei rote Fäden durchzogen den Raum wie eine doppelte Wäscheleine und gaben den Lautsprecherboxen Halt auf den kleinen Fensterchen zum Gang hinaus der Klang der Trompete massierte seine Schulter, zwitscherte ihm sanft ins verschwitzte Gehör, brachte ihn dazu, sich zu setzen und ein weiteres Glas Wasser zu finden, er schaute zur Tür, sah die entschlossenen, geübten, schneidenden Bewegungen des StummenGenossen, sah, dass sein Knie sich zur Seite bewegte in einem Rhythmus, der nicht der Musik folgte 25


»kann ich mir dieses Glas Wasser nehmen?« das Schweigen nahm er als Zustimmung, die Schallplatte war am Ende der ersten Seite angekommen, die Nadel suchte hartnäckig nach weiterem Jazz »drehen Sie die Platte um, dieser Trompeter wird immer erst auf den B-Seiten gut«, sagte der StummeGenosse der Briefträger trank das Wasser, hätte gerne mehr, doch bei dem Wunsch ließ er es bewenden, an den Wänden hingen Fotografien und Poster mit seltsamen Gestalten darauf, ausländische Aufschriften, manche davon Bilder von Sängern, andere zeigten Ausschnitte wie Hände auf Klavieren, Saxofonen, fetten Mikrofonen, eines an der Wand erkannte er wie ein vertrautes Gesicht, er ging näher heran, wischte sich den Schweiß von den Augenbrauen und las den Namen, es war derselbe wie von der Platte, deren B-Seite nun spielte, er hörte Stimmen von draußen, stellte das Glas ab, ging zu seiner Tasche mit den Briefen, eine Alte mit weißen Haaren stellte sich zu dem StummenGenossen, sie redeten »ich bringe die Wurzel erst am Mittwoch, heute gab es keine. geht es besser?« »ob es mir besser geht? weiß ich nicht. schlechter jedenfalls nicht, und das zählt. aber ich habe Schmerzen am Körper. die Knochen …« die Alte verabschiedete sich mit einer matten Bewegung, stieg weiter die Treppen hinauf, und bei dieser Gelegenheit trat der Briefträger wieder aus der Wohnung »da stand ein Glas Wasser« »gut so, entschuldigen Sie, dass ich nicht aufgestanden bin, ich bin etwas kraftlos« der StummeGenosse stellte den Eimer beiseite, nahm einen alten Fächer für Grillkohle, riesig und abgerissen, fächerte sich drei Mal zu, er hatte eine Art Geheimpakt mit dem Catolotolo, regelmäßigen Fieberschüben mit Unwohlsein, das den Patienten, falls nicht behandelt, über Jahre begleitet, verschwindet und mit denselben Symptomen wieder zurückkehrt 26


»hartnäckiger Catolotolo«, lächelte langsam der StummeGenosse, »schon diagnostiziert von den Ärzten …, ein chronisches Problem« der Briefträger kratzte sich am Kopf und überlegte, was er sagen könnte, rückte seine Tasche zurecht, wischte sich seitlich an der Hose die Hände ab »gut, falls Sie etwas brauchen, sagen Sie einfach Bescheid« »danke. Limonade gibt es erst nächstes Mal vielleicht wieder, ich bin im Moment nicht so flüssig« »ja, Kota«, verabschiedete sich der Briefträger von der Treppe aus schaute OmaKunjikise dem Briefträger in die Augen, der wandte seinen Blick ab er fühlte sich wohl, hatte nicht viel zu verbergen und war auch nie misstrauisch gegenüber den Alten gewesen, erst recht nicht, wenn ihre Haare schon weiß waren OmaKunjikise lächelte, machte ein Geräusch, das fast nicht zu hören war, und stieg hinauf Richtung sechster Stock wo sie auf Odonato traf, der in die Ferne schaute, OmaKunjikise sah ihn von hinten, von der Sonne umflossen, und sie zitterte wie lange nicht mehr, schloss die Augen, strengte sich an, wollte zwei oder drei Tränen verdrücken, um ihre Augen zu säubern doch die Wahrheit ist rein und kennt heimliche Wege, ihr Ziel zu erreichen »Nato …«, rief OmaKunjikise ganz leise Odonato drehte sich langsam um, ließ der Alten weder Raum noch genug Schatten für Zweifel die Sonne, aufgeteilt in Portionen von Intensität, heiß und senkrecht zu dieser Stunde, die Sonne, ihre über sterngleiche Weiten gereisten Lichtstrahlen durchquerten den Körper des Mannes, ohne den logischen Grenzen seiner Anatomie zu gehorchen es gab Licht, das ihn umspielte, und Licht, das ihn nicht mehr umspielte »Nato … dein Körper …«, die Alte legte ihre beiden Hände auf die Brust, wie sie es seit ihrer Kindheit tat, um sich zu beru­higen 27


schüchterne Strahlen von äußerster Feinheit, traurige Fäden von Gelb durchquerten Odonato am äußeren Rand seines schmalen Körpers, am Rand seiner Hüften, seiner Knie, auch durch seine Handrücken und Schultern drang das Licht von weit her, als könne ein menschlicher Körper, wirklich und durchblutet, zu einem wandelnden Sieb werden »beruhige dich, Mutter«, Odonato ging auf sie zu »das ist es nicht«, sagte OmaKunjikise, »ich denke an deine Familie, die Deinen … meine arme Tochter!« Odonato ging einen wässrigen Maracujasaft holen, den die Alte sehr liebte »Zucker ist keiner da, aber trink« die Musik aus dem fünften Stock drang herauf, die Alte klopfte mit dem Fuß und lächelte Odonato zu, zog die Tücher zusammen, die ihre Schultern bedeckten und einen Teil ihres Halses ihre trockenen Hände, die schlaffe Haut, ihre entschlossenen Gesten »hast du es auch gesehen, Mutter?« OmaKunjikise schaute ihm in die Augen, so sprach sie mit allen, die ihr Umbundu nicht gut verstanden, und sagte ihm vieles von dem, was sie schon lange geahnt oder gewusst hatte, doch erst jetzt, in diesem heißen Moment, endlich verstand »ich habe die Zukunft gesehen«, murmelte sie.

der Klang der Sirene war bis hoch im sechsten Stock zu hören der Minister im Auto sagte zu seinem Fahrer, er solle anhalten und ihn absetzen, dann eine längere Runde drehen, er würde anrufen, wenn er abgeholt werden wolle doch der Minister wollte gar nicht abgeholt werden »sicher, dass es das richtige Haus ist?«, fragte er vor dem Aussteigen »das ist es, sehen Sie nicht das Loch, Camarada Minister?« »doch« 28


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