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Ré Soupault
Die heroischen Jahre von Weimar
Bau haus
Herausgegeben von Manfred Metzner. Text aus dem Französischen übersetzt von Beate Thill.
Wunderhorn
Ré Soupault, Selbstporträt, 1939
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Das Bauhaus Die heroischen Jahre von Weimar Als er im Jahr 1919 das Bauhaus gründete, war Walter Gropius (geboren 1885 in Berlin) bereits ein bekannter Architekt und Mitglied des »Deutschen Werkbundes«. Der Werkbund war 1907 von Künstlern und Industriellen mit dem Ziel gebildet worden, die Gestaltung der Industrieprodukte zu verbessern. In der Architektur forderte er klare, nüchterne, den Materialien entsprechende Formen. Unter seinen Gründern waren international bekannte Architekten wie Henry van der Velde, der aus Belgien stammte und in Deutschland wirkte, sowie Peter Behrens. Beide hatten als Maler begonnen, wurden dann aber zu Erneuerern der Architektur, zu Ziehvätern einer neuen Generation von Architekten. Peter Behrens war zuerst mit Industriebauten berühmt geworden, er gilt zudem als der erste »Industrial Designer« in Europa. Wie Walter Gropius gehörten vor dem Ersten Weltkrieg auch Mies van der Rohe und Le Corbusier zu den Schülern von Behrens. Walter Gropius sollte neben seiner Klugheit, seinem Weitblick und seiner beruflichen Erfahrung auch zugute kommen, daß er hartnäckig war und zugleich gewandt, 5
sensibel und menschlich. Wegen dieser besonderen Gaben seines Leiters hat das Bauhaus trotz einer äußerst schwierigen Anfangsphase überlebt. Gropius hatte 1911 mit einem Entwurf für das FagusWerk1 in Alfeld (Niedersachsen) Aufmerksamkeit erregt, wo er die neuen Grundsätze der jungen Architektur »Licht, Luft und Hygiene« angewandt hatte. Als er im Frühjahr 1919 ein Manifest veröffentlichte, war dies Ausdruck einer moralischen und geistigen Situation, deren überliefertes Bild nicht der damaligen Wirklichkeit entsprach. Das Manifest, das später zu Unrecht häufig als »romantisch« bezeichnet wurde, lautete so: »Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau! Ihn zu schmücken war einst die vornehmste Aufgabe der bildenden Künste, sie waren unablösliche Bestandteile der großen Baukunst. […] Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! Denn es gibt keine ›Kunst von Beruf‹. Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem Handwerker. Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers. […] Bilden wir also eine neue Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung, die eine hochmütige Mauer zwischen Handwerkern und Künstlern errichten wollte! Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.« 2 1 In diesem Unternehmen wurden Schuhleisten hergestellt. 2 Aus: Manifest des Staatlichen Bauhauses in Weimar, 1919 6
Dieses Manifest zog eine große Zahl junger Menschen an, nicht nur mit der These einer Einheit von »Kunst und Handwerk«, sondern vor allem wegen seiner Ethik, wegen seines hohen Tons, der den Glauben an einen Neuanfang vermittelte. Die Formel wurde übrigens bald zu »Kunst und Technik« erweitert, denn »das Bauhaus war keine Einrichtung mit einem klaren Programm, es war eine Idee …«,3 wie es sein letzter Direktor Ludwig Mies van der Rohe ausdrückte. Diese Idee hat der Welt zum einen eine völlig neue Art des Kunststudiums gebracht, die um die ganze Welt ging, zum anderen neue, vom Dekorativen befreite rationale Formen, die nicht nur in der Architektur Anwendung fanden, sondern bei allen Gegenständen, die den Menschen umgeben, angefangen bei Tassen und Tellern bis zu den Möbeln, Tischen, Stühlen etc. Alles, was heute unter dem Begriff Bauhaus-Stil zusammengefaßt wird. So war in der »Weltbühne« 1930 zu lesen: »Heute weiß jeder Bescheid. Wohnungen mit viel Glasund Metallglanz – Bauhausstil. Desgleichen mit Wohnhygiene ohne Wohnstimmung: Bauhausstil. Stahlrohrsesselgerippe: Bauhausstil. […] Kein Bild an der Wand: Bauhausstil. … ALLES GROSSGESPROCHEN: BAUHAUSSTIL.« 4 Anläßlich des Jahrestags seiner Gründung5 ist es von besonderem Interesse, an die schwierigen Anfänge des 3 Zitiert nach: Sigfried Giedion: Walter Gropius. Mensch und Werk. Stuttgart (Hatje) 1954, S. 29 4 Ernst Kállai: Zehn Jahre Bauhaus. in: Die Weltbühne. Heft 4, 1930, S. 135 5 Ré Soupault schrieb diesen Artikel zum 50-jährigen Jubiläum des Bauhaus; Anm. d. Ü. 7
Bauhauses und die sozialen, wirtschaftlichen, künstlerischen und geistigen Bedingungen zu erinnern, in denen es entstanden ist. Seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs hatte Deutschland jahrelang Hunger gelitten und hungerte weiter. Zudem war im Krieg eine Militärdiktatur mit der bekannten Härte eingeführt worden, so daß die Jugend dieser Jahre in dem mehr oder weniger klaren Bewußtsein heranwuchs, Opfer unerträglicher Lebensbedingungen zu sein. Die Weimarer Republik schuf zunächst ein Klima großer Hoffnungen. Schließlich gab es schon seit Beginn des Jahrhunderts Jugendbewegungen, als eine Art Opposition gegen den militaristischen und nationalistischen Geist, der seinem Wesen nach keinen freien Gedanken zuließ. Das Manifest mit dem Appell zu einem »Neuen Glauben« zog also eine große Zahl junger Menschen an. Die Deutschen unter ihnen kamen zumeist aus »Wander vogel«-Gruppen, die zu dieser Jugendbewegung gehörten. Aber viele stammten auch aus Österreich, aus Osteuropa und vom Balkan. »Die Studierenden, so erinnert sich der Kunsthistoriker Bruno Adler (London), »kamen aus verschiedenen sozialen und geographischen Bezirken, einige trugen noch die Uniform, einige kamen sichtlich aus der Jugendbewegung, und alle schienen aufgeschlossen und guten Willens, das ihrige beizutragen zu einer Veränderung der Kunst und nicht nur der Kunst – zu einer Veränderung der Kunst und des Lebens. […] Mit dem Ersten Weltkrieg war die Ordnung, die scheinbare Ordnung der bürgerlichen Welt, zusammengebrochen, und jetzt sollte mit der Erneuerung der Menschheit Ernst gemacht werden.« 6 Ein weiterer Zeuge der Anfänge, Helmuth von Erffa, 8
ist heute Professor für Kunstgeschichte am BrunswickCollege (USA):6 »Ich machte Bekanntschaft mit dem Bauhaus, oder vielmehr mit seinen Studenten, an einem Herbstnachmittag des Jahres 1920. Ich arbeitete damals in der Telemann-Bücherei, Schillerstraße, Weimar. Eine lärmende Horde junger Leute, die meisten in Soldatenuniform, drang unter großem Hallo in die Buchhandlung ein, und nahm, ohne um Erlaubnis zu fragen, die Bücher aus dem Schaufenster, um ein riesiges Plakat mit der Einladung zu einem ihrer Abende darin zu plazieren.« Natürlich wurde der junge Angestellte vom Buchhändler streng gerügt, er selbst fühlte sich aber stark zu den jungen Leuten hingezogen und freundete sich mit ihnen an. Erffa wurde Gast und später selbst Schüler des Bauhauses. Er nahm an Festen teil, bei denen Ludwig Hirschfeld Akkordeon spielte, später gab es auch ein Jazz-Orchester, er beteiligte sich am Drachenfest7, vor allem aber besuchte er Vorträge und Veranstaltungen aller Art, denn Weimar hatte sich zu einem Treffpunkt 6 Bruno Adler: Das Weimarer Bauhaus. (Bauhaus-Archiv) Darmstadt 1963, ohne Seiten. 7 Das Laternenfest im Sommer und das Drachenfest im Herbst waren wichtige Ereignisse für die Schüler des Bauhaus, denn sie konnten dort ihren kreativen Bedürfnissen mit billigen Materialien freien Lauf lassen: Papier und Farbe. Sobald der Herbstwind kam, kletterten alle auf einen der Hügel in der Umgebung der Stadt und jeder ließ seinen Drachen steigen. Eine Journalistin jener Zeit hat die außerordentliche Vielfalt der Formen und Farben beschrieben: » … wunderbare schillernde Ungeheuer, Fische mit langem glitzerndem Schwanz, seltsame kubistische Formen, Schlangen, Ballons, Sonnen, Sterne, Luftschiffe, Muscheln, vielfarbige Märchenvögel, Pegasus mit dem fliegenden Mantel …« 9
der literarischen und künstlerischen Avantgarde entwickelt. Erffa erinnert sich, daß viele der jungen Leute russische Bauernkittel mit bunter Schärpe trugen. Anfangs pflegten sich die jungen Leute abends im Kantinensaal zu treffen, um über das Bauhaus und seine Aufgaben zu diskutieren. Bruno Adler schreibt dazu: »Es ging dabei ziemlich lebhaft zu, und weil eine banale Musikplatte unaufhörlich auf einem elenden Grammophon heruntergeleiert wurde, mußten sich die Debattierenden oft sehr anstrengen, um sich Gehör zu verschaffen. So ging einmal der Streit um die Frage, ob nicht ein Lehrgang für Maltechnik das dringendste Erfordernis sei. […] Die Diskussion wurde lebhafter und lauter, bis schließlich eine junge Malerin auf einen Stuhl stieg – sie war nämlich sehr klein – und aus tiefer Überzeugung versicherte, daß die beste Maltechnik nichts nützen werde, solange man sich bei einer so miserablen und stumpfsinnigen Musik unterhalte.« 8 Bruno Adler bemerkt nebenbei, daß der junge Mann, Georg Callmann aus Hamburg, der den Unterricht in Maltechnik so eifrig forderte, ebenso wie Friedl Dicker aus Wien, die die Frage so gut auf den Punkt gebracht hatte, später in Konzentrationslagern ums Leben kamen. Die Atmosphäre in der Stadt Weimar war nicht sehr günstig für Leute, die zeigten, daß sie nicht nur die Kunst, sondern auch das Leben verändern wollten. Die »braven Bürger« der Goethestadt waren davon zutiefst verstört. Es genügte, daß eine junge Frau in Sandalen und mit kurzgeschnittenen Haaren und ein junger Mann mit weiten Hosen den »Frauenplan« überquerten, an dem das Goethehaus liegt, und die Spießer schrien um Hilfe. 8 Bruno Adler, a.a.O. 10
Johannes Itten, 1921
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Die Tochter eines reichen Industriellen von Weimar trug unter dem Einfluß der Bauhaus-Ideen, sie war dort Studentin, die Möbel ihres Zimmers im väterlichen Haus auf den Dachboden, um sie durch verschieden proportionierte Kisten zu ersetzen, die sie rot, orange, blau, grün und gelb anmalte. War das nicht ein Zeichen kollektiven Wahns? Die Handwerker von Weimar fühlten sich vom Bauhaus bedroht. Nur Gropius war fähig, die Schwierigkeiten der ersten Jahre in Weimar zu meistern. Zum einen hatte er sich gegen die Angriffe von außen zu wehren, zum anderen mußte er versuchen, unter den Schülern eine gewisse Ordnung herzustellen, da sie wild entschlossen waren, sich jedem Kompromiß mit der älteren Generation zu verweigern. Die Zusammenstöße zwischen Eltern und Kindern wurden immer zahlreicher und heftiger. Gropius war stets bemüht, die Dinge zu glätten, was mitunter nicht leicht war. Er war mit den Jungen solidarisch, aß mit ihnen zusammen das Essen in der Kantine, das (zumindest zu Anfang) kaum genießbar war. Doch er ließ keinerlei politische Tätigkeit zu. Die Lage war nämlich noch komplizierter, die alte Kunstakademie von Weimar war durch die Einrichtung des Bauhauses nicht aufgelöst worden. Im gleichen Gebäude in der Kunstschulstraße überlebte eine kleine Gruppe der alten Schule, die weiter dem Akademiedenken anhing. Dieser Konflikt erklärt, warum Gropius anfänglich nur eine kleine Zahl von Meistern um sich scharte. Lyonel Feininger, Gerhard Marcks, bald auch Georg Muche und vor allem Johannes Itten, der bis 1923 eine wichtige Rolle spielte. Ohne Itten und den 1919 von ihm eingeführten Vorkurs hätte das Bauhaus nicht die Aus12
strahlung erlangt, die heute seinen Ruhm auf der ganzen Welt begründet. Itten war Schweizer. 1913-1916 hatte er zu der Gruppe um Adolf Hölzel in Stuttgart gehört, einem Vorläufer des modernen Kunstunterrichts. Seit 1916 führte Itten eine eigene Schule in Wien. Er hatte zahlreiche Schüler, von denen ihm vierzehn im Jahr 1919 nach Weimar folgten. Sie bildeten den ersten Kern der Bauhaus-Schüler. Itten schreibt: »Es stellen sich mir drei Aufgaben. 1) Beim Studenten die kreativen Kräfte freizusetzen, damit die künstlerische Begabung hervortreten kann. Das heißt, ihm die Gelegenheit für persönliche Erfahrungen zu geben, damit er daraus lernen könne. Allmählich sollen sich die jungen Menschen von allen Konventionen lösen, und so den Mut finden, eine echte eigene Schöpfung anzugehen. 2) Die Berufswahl der Studenten soll durch Übungen mit den verschiedenen Materialien und Oberflächen erleichtert werden: Holz, Metall, Glas, Stein, Ton, Weberei etc. … 3) Die grundlegenden Regeln der Komposition müssen unterrichtet werden. Während des Arbeitens sollen sich die subjektiven und objektiven Probleme der Formen und Farben vielfach durchdringen …« Es wurde Itten vorgeworfen, sich zu viel mit östlicher Philosophie zu befassen: unter seinem Einfluß stürzten sich viele Schüler in mittelalterliche Mystik, indische und chinesische Philosophie oder einen Exotismus, der nichts mit den europäischen Problemen der Epoche zu tun hatte. Itten erklärte sein Vorgehen folgendermaßen: »Die vielen Umwälzungen des Krieges hatten in allen Bereichen eine chaotische Situation entstehen lassen. Unter 13
den Studenten fanden endlose Diskussionen statt. Sie suchten mit großem Eifer nach einer neuen geistigen Haltung … mir wurde bewusst, daß die wissenschaftliche und technische Entwicklung an einem kritischen Punkt angelangt war. Die großen Worte von »Rückkehr zum Handwerk« oder »Einheit von Kunst und Technik« konnten diese Probleme nicht lösen. Mir wurde klar, daß man der wissenschaftlichen und technischen Forschung einen Ausgleich in der Entwicklung geistiger Kräfte entgegenstellen mußte. … In der Folge wurde ich belächelt, weil ich vor dem Unterricht Atem- und Konzentrationsübungen durchführen ließ …« Itten wandte sich auch gegen die von einigen Kritikern geäußerte Meinung, die frühen Jahre des Bauhauses seien »romantisch« gewesen: »Im Gegenteil«, schreibt er, »nach meiner Auffassung waren es die universalistischen Jahre.« Es ist zu unterstreichen, daß auch nach Ittens Weggang der Vorkurs weiterhin nach dessen Lehrmethoden unterrichtet wurde. Zunächst übernahm Moholy-Nagy, später, in Dessau, wurde der Vorkurs von Joseph Albers geleitet. Albers wie auch Moholy-Nagy sollten später ihre Erfahrungen in den USA anwenden. Ittens Unterricht basierte auf einer Theorie der Kontrastierungen. Materialien, Oberflächen, Farben, Rhythmus und Ausdruck der Formen wurden anhand ihrer Gegensätze analysiert und gestaltet. Es waren sehr lebendige Unterrichtsstunden, bei denen sich jeder selbst befragte und seine Ideen einbrachte. Groß-klein, lang-kurz, breit-schmal, dick-dünn, schwarz-weiß, vielwenig, gerade-gekrümmt, spitz-gerundet, horizontalvertikal, diagonal-kreisförmig, hoch-tief, leere Form-volle Form, glatt-rauh, hart-weich, kontinuierlich-unterbro14
chen, flüssig-fest etc. Diese Kontrastübungen nach Itten lassen sich in jeder Sparte der Kunst anwenden. Itten legte auch großen Wert auf die Analyse der Werke alter Meister. Gegen diesen Teil seines Lehrplans wurde die Kritik immer schärfer, bis Gropius sich im Jahr 1923 offen dagegen stellte.9 Itten reichte daraufhin lieber seine Kündigung ein, als auf einen wichtigen Teil seiner Lehre zu verzichten. Wenige Jahre später eröffnete er in Berlin eine eigene Schule. Seine Stärke lag darin, andere zu bewegen, er besaß ein pädagogisches Genie, die geheimnisvolle, unerklärte und unerklärliche Gabe, dem Schüler die eigenen kreativen Fähigkeiten zu entdecken. Das Bauhaus verdankt Itten sehr viel. Bevor die weiteren Meister kamen, die Gropius nacheinander berief: Klee, Schlemmer, Kandinsky, und schließlich Moholy-Nagy, kam zunächst der Winter 192021, in dem viele Schüler abwanderten. Es war ein Exodus in Richtung Italien, der Gropius ernsthafte Sorgen bereitete. Dies ist erwähnenswert, denn es zeigt die ungewöhnliche moralische Freizügigkeit der Jugend von damals, die auch große materielle Schwierigkeiten in Kauf nahm. Die Mehrzahl der Schüler war völlig mittellos. Sie litten Hunger, die Werkstätten, die während des Kriegs als Militärspital gedient hatten, waren ungeheizt, und zu Anfang herrschte überdies Mangel an Tischen, Stühlen, an jeglichem Mobiliar: die Studenten mußten auf dem Fußboden sitzend arbeiten. Kurz vor dem Staatsbank9 Oskar Schlemmer schrieb über den Konflikt zwischen Itten und Gropius in sein Tagebuch: »Itten will das Talent, das in der Stille sich bildet, Gropius den Charakter im Strom der Welt (und das Talent dazu).« Oskar Schlemmer: Idealist der Form. Briefe, Tagebücher, Schriften, Leipzig (Reclam) 1990, S. 79. Anm. d. Ü. 15
rott von 1923 sank der Wert des Geldes täglich. So war es nicht verwunderlich, daß einer der »Wahrheitsapostel«, die nach dem Ersten Weltkrieg durch Deutschland zogen, manche Studenten mit der Idee ansteckte, dieser grausamen Realität zu entfliehen. Bei dem Apostel handelte es sich um einen gewissen Haeusser, einen ehemaligen Sektfabrikanten. Er behauptete, der erste »Täter des Worts und nicht Hörer allein zu sein.« Er zitierte Jesus, Lao-Tse und Nietzsche. Er hatte alles, »Familie und Hab und Gut verlassen«, zog von Stadt zu Stadt (zu Fuß natürlich), um des Menschen Heil zu predigen. Er wurde verhaftet, in eine Irrenanstalt gebracht, aber wieder entlassen, nachdem er seine Verfolger von seiner Mission überzeugen konnte. Als er nach Thüringen kam, erklärten etwa zwanzig Bauhaus-Schüler »Kunst für Krampf«,10 und folgten dem Apostel zu Fuß nach Italien, in das sonnige Land ihrer Träume. Aus Furcht, das Bauhaus müßte aus Mangel an Studenten schließen, erließ Gropius die strenge Regel: »Jeder, der das Studium mitten im Semester abbricht, wird aus der Liste der Studierenden gestrichen.« Solche Extravaganzen verschwanden aber so schnell, wie sie aufgetaucht waren. Oskar Schlemmer kam Anfang 1921, Paul Klee begann im Herbst 1921 zu unterrichten. Aber das größte Ereignis war die Ankunft von Wassily Kandinsky im Jahr darauf. Oskar Schlemmer hatte zuvor in Stuttgart gewirkt. Als Maler und Bildhauer galt sein Hauptaugenmerk dem Menschen im Raum und er fühlte sich naturgemäß stark von Theater und Ballett angezogen. Er entwarf Bühnenbilder für Theaterstücke, zu denen häufig Paul Hinde10 zitiert nach Schlemmer, a.a.O., S. 71 ; Anm. d. Ü. 16