Beah issuu

Page 1

Reihe fĂźr zeitgenĂśssische afrikanische Literatur Herausgegeben von Indra Wussow



Ishmael Beah Das Leuchten von Morgen Roman Aus dem Englischen von Susann Urban

A f r i k aW u n de rhorn


Titel der Originalausgabe Radiance of tomorrow: A Novel by Ishmael Beah Copyright © 2014 by Ishmael Beah. Published by arrangement with Sarah Crichton Books, an imprint of Farrar, Straus and Giroux, LLC, New York © 2016 Verlag Das Wunderhorn GmbH Rohrbacherstrasse 18, D-69115 Heidelberg www.wunderhorn.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: © plainpicture / Onimage / Ulrike Leyens Autorenfoto auf S. 2: © John Madere Gesamtgestaltung: 1 sans serif, Berlin Druck: NINO Druck GmbH, Neustadt / Weinstrasse ISBN: 978-3-88423-516-4


Für Priscillia – meine Frau, beste Freundin und Seelenverwandte Danke, dass Du mein Leben mit nie geahnter Liebe und Freude erfüllst.



Vorbemerkung Ich bin in einem kleinen Dorf in Sierra Leone aufgewachsen, wo die Tradition des Geschichtenerzählens meine Jungenphantasie entfachte. Bereits in blutjungem Alter erfuhr ich, welche Bedeutung das Erzählen von Geschichten hat, wir durch sie unsere Erlebnisse verarbeiten, sie uns erklären, wie wir mit dem Leben zurechtkommen können. Geschichten sind das Fundament unseres Lebens. Wir überliefern sie, damit die nächste Generation aus unseren Fehlern, Freuden und Feiern lernen kann. Als Kind saß ich jeden Abend am Feuer, wo meine Großmutter oder andere ältere Leute – Älteste, wie sie bei uns heißen – Geschichten erzählten. Manche handelten von den ethischen Grundsätzen unserer Gemeinschaft, wie man sich verhalten sollte. Manche waren einfach nur lustig, andere wiederum derart gruselig, dass man nachts nicht die Toilette aufsuchen mochte. Aber alle waren von Bedeutung und es gab einen Anlass, warum man sie erzählte. Mein Schreiben ist stark von dieser mündlichen Tradition beeinflusst. Die Gegend, aus der ich stamme, verfügt über einen ungeheuren Reichtum an Sprachen, eine Vielfalt von Ausdrucksweisen. In Sierra Leone gibt es ungefähr fünfzehn Sprachen und drei Dialekte. Mit sieben davon wuchs ich auf. Mende, meine Muttersprache, ist sehr bildhaft, und wenn ich schreibe, bin ich stets auf der Suche nach einem englischen Äquivalent für das, was ich eigentlich auf Mende sagen möchte. Auf Mende heißt es beispielsweise nicht »plötzlich brach die Nacht an«, sondern »der Himmel drehte sich um und wechselte die Seite«. Selbst einzelne Wörter sind sehr anschaulich, »Ball« auf Mende würde »Luftnest« oder »Gefäß, das Luft transportiert« heißen. 7


So entsteht bei der Übertragung ins schriftliche Englisch ein neuer Sprachmodus. »Sie kickten ein Luftnest durch die Gegend« – da bekommt die Sache auf einmal eine ganz andere Bedeutung. Als ich mit diesem Roman anfing, wollte ich alles, was Sprache für mich lebendig macht, in meine Arbeit einfließen lassen. Nach meiner Autobiografie »Rückkehr ins Leben. Ich war Kindersoldat« war ich einigermaßen ausgelaugt. Ich wollte kei­ nen weiteren literarischen Bericht über mein Leben schreiben, denn ich hatte das Gefühl, es könne nicht besonders gesund sein, jahrelang beim Erzählen nur um sich selbst zu kreisen. Gleichzeitig spürte ich, wie aufgrund dieses ersten Buchs »Das Leuchten von Morgen« an mir zerrte. Ich wollte den Menschen begreiflich machen, wie es war, in kriegsverwüstete Orte zurückzukehren, sich dort wieder ein Leben aufzubauen, Kinder aufzuziehen, einige der zerstörten Traditionen wiederzubeleben. Doch wie fängt man das an? Wie gestaltet man die Zukunft, wenn einen die Vergangenheit immer noch in den Klauen hat? Menschen kehren mit unterschiedlichen Sehnsüchten nach Hause zurück. Die jüngere Generation kommt, weil die Eltern und Großeltern erzählten, wie dieser Ort früher einmal war. Die ältere Generation klammert sich an Traditionen. In diesem ganzen emotionalen Wirrwarr wagen die Menschen ein gemeinsames Miteinander. Schreibend konnte ich, der aus einem vom Krieg zerstörten Ort stammt, von dem die meisten noch nie gehört hatten, zum Leben erwecken, was ich anders nicht hätte vermitteln können. Ich möchte den Lesern einen greifbaren Eindruck verschaffen, daher versuche ich Worte zu verwenden, die zur Landschaft passen. Aus diesem Grund finden sich in »Das Leuchten von Morgen« Anleihen beim Mende und anderen Sprachen. Es gibt in der Tradition des Geschichtenerzählens das Sprich­ wort: Wenn man eine Geschichte erzählt, gehört sie einem nicht mehr, man gibt sie gewissermaßen weg; sie gehört jedem, der sie hört, jedem, der sie aufnimmt. Man ist lediglich der Hirte dieser 8


Geschichte, kann sie in diese oder jene Richtung lenken, aber manchmal geht sie unerwartete Wege. Dieses Gefühl habe ich bei »Das Leuchten von Morgen« – ich bin der Hirte der Geschichte, aber Sie führen sie hoffentlich auf eigene Wege. Ishmael Beah



1 Dies ist das Ende oder vielleicht der Anfang einer neuen Geschichte. Jede Geschichte beginnt und endet mit einer Frau, einer Mutter, einer Großmutter, einem Mädchen, einem Kind. Jede Geschichte ist eine Geburt. Sie kam als Erste dorthin, wo der Wind nicht mehr zu atmen schien. Einige Meilen vor der Stadt hatten sich die Bäume ineinander verschlungen; ihre Äste wuchsen bis zum Boden hinab, vergruben die Blätter in der Erde, versteckten sich vor den Sonnenstrahlen, die ihnen ein Morgen vorgaukeln wollten. Einzig der Pfad leistete Widerstand, ließ sich nicht vom Gras überwuchern, als ahnte er, dass sein Hunger nach der lebensspendenden Wärme nackter Füße bald gestillt würde. »Schlangen« nannte man diese langen und verschlungenen Wege, auf denen man dem Leben begegnete oder zu Orten gelangte, wo es Leben gab. Wie Schlangen waren sie bereit, ihre alte Haut abzustreifen, das braucht seine Zeit, Unterbrechungen sind nötig. An diesem Tag lösten ihre Füße eine solche Unterbrechung aus. Vielleicht lassen jene, die schon viele Jahre hinter sich haben, als Erste ihre Freundschaft zum Land wieder aufleben, vielleicht ist das aber auch nur Zufall. Ihr knochiger Körper, gehüllt in ein fadenscheiniges, von vielen Wäschen ausgebleichtes Tuch, wurde von einem Lüftchen dorthin gestupst, wo früher ihr Dorf gewesen war. Die Flipflops hatte sie abgestreift und sich auf den Kopf gelegt; behutsam setzte sie ihre Schritte, störte den getrockneten Schlamm mit ihren bloßen Füßen auf. Mit geschlossenen Augen nahm sie den süßen 11


Duft der Kaffeeblüte wahr, den der Wind gelegentlich übers Land fächelte – eine Frische, die über den Wald hinaus ihren Weg in die Nasen weit entfernter Reisender fand. Ein derartiger Wohlgeruch verhieß einen Ort der Rast, an dem man seinen Durst stillen und, falls man sich verlaufen hatte, nach dem Weg fragen konnte. An diesem Tag brachte der Duft sie jedoch zum Weinen, aus einem leisen Wimmern wurde das Schluchzen zu einem Schrei nach der Vergangenheit. Ein Schrei, ein Lied fast, der den Verlust betrauerte. Sie wiegte sich zu dieser Melodie; das Echo ihrer Stimme brachte ihren Körper zum Beben, erfüllte erst sie und dann den Wald. Meile um Meile wehklagte sie, riss an Sträuchern, so fest es ihre Kräfte erlaubten, und ließ die Zweige fallen. Schließlich erreichte sie das stille Dorf, kein Hahnenschrei begrüßte sie, keine Stimmen ins Spiel vertiefter Kinder, kein Hammerschlag des Schmieds, der rotglühendes Eisen zu Werkzeug formte, kein aus Feuerstellen emporsteigender Rauch. Selbst ohne diese Zeichen einer scheinbar lang vergangenen Zeit war sie so glücklich über ihre Rückkehr, dass sie zu ihrem Haus rannte; für ihr Alter gewannen ihre Beine erstaunlich an Kraft. Dort brach sie in Tränen aus und jäh verstummte das Lied der Vergangenheit in ihrem Mund. Vor einiger Zeit war das Haus angezündet worden, rußgeschwärzt reckten sich die verbliebenen Pfeiler in die Luft. Tränen füllten ihre dunkelbraunen Augen und rollten langsam über ihr schmales Gesicht, bis die hohen Wangenknochen nass waren. Sie weinte, um das Geschehene anzunehmen und mit ihren zu Boden fallenden Tränen die Geister der Toten herbeizurufen. Sie weinte, weil sie sieben Jahre lang dazu nicht fähig gewesen war, denn um die Jahre zu überleben, in denen die Waffen den Ältesten die Worte aus dem Mund raubten, musste mit allem Vertrauten gebrochen werden. Auf dem Weg nach Hause war sie an vielen Städten und Dörfern vorbeigekommen, deren Anblick dem ähnelte, was sie jetzt vor sich sah. Eine der Städte war besonders gespenstisch gewesen – links und rechts der Hauptstraße waren menschliche Schädel aufgereiht. Jedes Mal, 12


wenn der Wind aufkam, schüttelte er die Schädel, ließ sie langsam kreisen, so dass es schien, als würden die leeren Augenhöhlen die Vorbeihastenden anstarren. Trotzdem hatte sie den Gedanken verbannt, auch ihr Dorf könnte niedergebrannt sein. Nur so ließ sich die Hoffnung aufrechterhalten, die sie nach Hause trieb. Den Namen ihrer Heimat würde sie nicht einmal in Gedanken aussprechen. Aber eine fremde Stimme brach aus ihr heraus: »Wird das je wieder Imperi werden?« Diese bestürzte Frage brachte dem Wind den Namen ihres Heimatdorfes zu Gehör. Sie kam wieder zu sich und lief durch das Dorf. Überall lagen Knochen herum, menschliche Knochen, und sie konnte einzig unterscheiden, ob es ein Kind oder ein Erwachsener gewesen war. Ihr fiel der Tag ein, an dem sie um ihr Leben hatte rennen müssen. Es war gegen Ende der Regenzeit gewesen, als alle an ihren Häusern Reparaturen vornahmen und die Fassaden neu tünchten. Es gab neue Dächer, aus Stroh oder Zink, und manche der Häuser bekamen einen leuchtenden Anstrich, verliehen der Trockenzeit Farbe. Zum ersten Mal hatte ihre Familie die Mittel für einen Zementbewurf und konnte die Mauern streichen, unten schwarz, bis zum Fenstersims grün und bis unters Dach gelb. Bewundernd stand sie mit Kindern, Enkeln und Mann davor. Sie ahnten nicht, dass sie am folgenden Tag alles verlassen und auf immer voneinander getrennt werden würden. Als Schüsse durch das Dorf hallten und Chaos ausbrach, am Tag, an dem der Krieg in ihr Leben trat, hatte sie sich vor der Flucht umgedreht und einen langen Blick zurückgeworfen. Wenn sie starb, wollte sie dies zumindest mit einer schönen Erinnerung an ihr Zuhause tun. Sie kehrte zurück, weil sie nirgendwo wahres Glück gefunden hatte. In Flüchtlingslagern und bei freundlichen Fremden hatte sie nach echter Freude gesucht, die sich nicht aus Ablenkung speiste, Freude, die nur das Stück Erde bot, auf dem sie nun stand. 13


Sie erinnerte sich an einen nicht allzu lang zurückliegenden, auf Tage des Hungers folgenden Nachmittag und an eine kostbare Schüssel Reis mit gedünstetem Fisch, die man ihr gab. Anfänglich aß sie hastig, dann erschlafften ihre Muskeln, die zum Mund geführte Hand wurde schwer. Der Pfeffer schmeckte anders als der, dessen Erinnerung in ihr noch nachschwang, und das Wasser kam nicht aus einer kleinen Kalebasse, die nach dem Tontopf roch, in dem man in ihrem Haus das Wasser kühlte, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Um am Leben zu bleiben, aß sie auf und trank, aber sie wusste, das Leben sollte mehr sein, als solche vorübergehenden Bestätigungen der eigenen Existenz. Einzig die Erinnerung an das Geräusch gemörserten Pfeffers, an den beißenden Duft, der sich der Dorfluft bemächtigte, und an das Gelächter über die flüchtenden Männer und Jungen, verlieh dem Essen Würze. »Sie lassen sich so leicht verjagen«, hatte ihre Mutter in das Gelächter der anderen Frauen hinein gesagt, deren Augen und Nasen, anders als die der Männer und Jungen, keinerlei Reaktion zeigten. Wieder betrachtete sie die Knochen, ihr Blick schweifte über die Haufen hinweg, sie rang nach Kraft, um weiterzugehen. »Das ist immer noch mein Zuhause«, sagte sie leise zu sich, drückte seufzend die nackten Füße tiefer in die Erde. Der Abend senkte sich und der Himmel wollte sich auf die andere Seite drehen. Sie setzte sich auf den Boden, ließ den Nachtwind tröstend übers Gesicht, über ihren Schmerz wehen, ihre Tränen trocknen. Als sie ein kleines Mädchen war, hatte die Großmutter ihr erzählt, dass in den stillsten Stunden der Nacht Gott und Götter ihre Hände im Wind schwenkten und alles von der Erde wischten, was einem neuen Tag im Wege stehe. Auch wenn im Morgengrauen ihr Schmerz nicht völlig verschwunden war, fühlte sie doch in ihrem Herzen neue Kraft, die ihr den Gedanken eingab, sie sollte sich aufraffen und die Knochen säubern. Den Anfang machte sie bei ihrem Haus; die Knochen in ihren Hän14


den zitterten, vielleicht lag es an der kühlen Morgenluft oder an den Gefühlen, die sie beim Zusammenklauben der menschlichen Überreste überkamen. Ihre Füße trugen sie zu der hinter dem Haus liegenden Kaffeefarm. Zart und doch fest umfasste sie die Knochen, dachte darüber nach, wie wenig vom Menschen übrig blieb. »Verleiht einem nur das die Knochen ummantelnde Fleisch einen Wert? Oder bleibt man in Erinnerung für das, was man getan hat, während einen das Leben durchströmt?« Sie sinnierte nicht weiter, damit sich ihre Gedanken beruhigen konnten. So ließen sich die Erinnerungen an jene Menschen, an denen sie nun so leicht trug, am besten festigen. Ihr Verstand wurde ein rauchgefüllter Ameisenhügel. Sie ach­tete kaum darauf, wohin sie ging. Der Boden war ihren Füßen vertraut; Augen, Ohren und Herz befanden sich auf einer anderen Reise. Sie bog um eine Ecke und ihr Griff löste sich; das Geräusch der auf die staubige Erde klappernden Knochen ließ ihr das Herz tief in den Bauch rutschen. Beim Anblick eines knienden Mannes, der Knochen wie Brennholz zusammenbündelte, gaben ihre Knie nach. Zwar wandte er ihr den Rücken zu, doch sie wusste, dass er bejahrt war, denn seine Haare hatten die Farbe stehender Wolken, auch seine Bewegungen verrieten das Alter. Ihr Herz kehrte an seinen angestammten Platz zurück, ihr Körper konnte seinen Aufgaben wieder nachkommen. Der alte Mann, der einen Schatten hinter sich spürte, fing zu reden an. »Wenn du ein Geist bist, zieh bitte friedlich weiter. Ich tue diese Arbeit, damit die Menschen bei der Rückkehr in dieses Dorf vor diesem Anblick verschont bleiben. Zwar haben ihre Augen Schlimmeres gesehen, aber ich will ihnen dieses letzte Bild der Verzweiflung ersparen.« »Dann helfe ich dir.« Sie bückte sich und sammelte die fallengelassenen Knochen sowie einige weitere ein, kam langsam näher. »Diese Stimme kenne ich. Bist du das, Kadie?« Er zitterte, seine Hände waren nicht mehr zu der Arbeit fähig, die er tat, seit sich der Himmel den letzten Schlaf vom Antlitz gewischt 15


hatte. Kadie antwortete leise, als fürchtete sie, die eingetretene tiefe Stille zu stören. Der Mann zögerte, ob er sich zur Begrüßung der Freundin umdrehen sollte. Eine Weile beobachtete er die Bewegungen seines Schattens. Und die ganze Zeit über hörte er Kadie seufzend mit den Knochen klappern. Wenn er sich umdrehte, musste er mit ihrem Anblick zurechtkommen. Ihr könnten Gliedmaßen fehlen, sie könnte entstellt sein. Tief hatten sich seine Augen in die Erde gegraben. »Bitte heb die Augen vom Leib der Erde und sieh deine Freundin an. Bestimmt wird dein Herz einen Freudentanz aufführen, wenn du siehst, dass es mir so gut wie möglich geht.« Sie legte ihm die rechte Hand auf die Schulter. Er hielt diese fest und hob langsam, wie ein bei einem Schabernack ertapptes Kind den Kopf. Prüfend glitt sein Blick über den Körper der Freundin: beide Hände vorhanden, die Beine auch, Nase, Ohren, Lippen … »Ich bin hier, Moiwa, so wie ich auf die Welt gekommen bin.« »Kadie! Du bist da, du bist da.« Er berührte ihr Gesicht. Sie umarmten sich und setzten sich einander gegenüber, sahen sich an. Lächelnd schöpfte sie Wasser aus dem angebotenen alten Topf, in dem eine zerbrochene Kalebasse auf der Oberfläche schwamm. Pa Moiwa hatte eines dieser runden, würdevollen Gesichter, die stets nachdenklich wirken und ein Lächeln nie lange bewahren. Seine Gestalt war schlank, die Hände und Finger waren schmal. »Etwas anderes konnte ich zur Wasseraufbewahrung nicht finden.« Er erzählte ihr nicht, dass er sich vor einer Woche Imperi so weit genähert hatte, bis er den großen Mangobaum in der Dorfmitte sehen konnte, sich dann aber nicht weiter vor traute. Das Heimweh wurde von den Kriegsgräueln verdrängt, die sich vor sein geistiges Auge schoben. Zuerst hörte er die Wehklagen der Verstorbenen – Menschen, die er gekannt hatte. In einem der vielen ausgebrannten Fahrzeuge beim Fluss richtete er sich eine provisorische Bleibe ein. Die Fahrzeuge hatten dem Bergbauun16


ternehmen gehört, das sechs Monate vor Kriegsausbruch kurz vor der Inbetriebnahme gestanden hatte. Die Verantwortlichen hatten keine Brücke über den Fluss bauen wollen, was sich nach Kriegsbeginn rächte, denn wie sollten die Autos, die Anlagen herübergeschafft werden? Anfänglich verlachten die Ausländer, die für das Bergbauunternehmen arbeiten sollten, die Möglichkeit, dass sie jemals ihre mit Lebensmitteln, Kleidern und anderem Zeug vollgestopften Autos würden zurücklassen müssen, doch beim ersten Schuss suchten sie, mit nur einer Tasche bepackt, das Weite, warfen sich in Kanus, die beinahe untergingen und von ihrer Angst geschüttelt wurden. Mit weitaufgerissenen Augen flehten sie den Kanubesitzer an, schneller zu paddeln. Moiwa fragte seine Freundin Kadie lediglich, wie sie ihren Geist ins Dorf zurückgeführt, welchen Weg sie genommen habe. »Die, die vor dir sitzt, hat an dem Tag, an dem sie geboren wurde, mit ihren Füßen die Erde hier berührt. Und sie ist den Weg gegangen, der ihr ins Herz eingeschrieben ist.« Wärmesuchend rieb sie die Hände aneinander. »Das hätte ich eigentlich wissen müssen, meine liebe Kadie.« Sie hatte sich überhaupt nicht verändert, benutzte die Straße nur, wenn es keine Wege gab. Sie glaubte an das Wissen ihrer Ahnen, die diese Wege gezogen hatten und das Land besser kannten als diese Ausländer, die einfach in ihre Maschinen stiegen und Straßen in die Erde gruben, ohne einen Gedanken an das Land zu verschwenden, wo es atmet, wo es schläft, wo es wacht, wo es Geister beherbergt, wo es nach Sonne verlangt oder dem Schatten eines Baumes. Beide lachten, wussten sie doch, dass die alten Wege teilweise noch existierten, mochten sie auch gefährdet sein. Als das Lachen verebbte, wurden einige Worte gewechselt, vieles blieb ungesagt, aufgehoben für den nächsten Tag, der in den übernächsten und den überübernächsten überging. Manches blieb besser unausgesprochen, solange Händeschütteln und Umarmungen Gefühle ausdrücken konnten – bis die Stimme Kraft fand, den Mund zu verlassen und das unter dem Mantel der Erinnerung Verborgene ans Tageslicht zu holen. 17


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.