Patrick Chamoiseau: Für die richtige Überschreitung

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Patrick Chamoiseau: Für die richtige Überschreitung Zuerst erschienen in L’Humanité Dimanche, 20. November 2015

Die kapitalistischen Demokratien sind nicht vorbildlich. Ihre Auswüchse, ihre Raubzüge, ihre Ungerechtigkeiten, ihre heimtückische ökonomische Barbarei gehören einer Ordnung an, die wir verinnerlicht haben und von der wir immer ausgehen, wenn wir versuchen, ihren Raubbau an der Zukunft zu bekämpfen. Diese Ordnung gibt ein Maß vor, das inzwischen den ganzen Planeten umfasst, wir leben mit ihm, und weil wir mitten in seiner ökonomischen Gewalt stecken, fällt es uns schwer, eine globale Alternative zu dem Horror der Profitmaximierung, zu dem Entwicklungsweg, den jedes Land allein gehen muss, und zu dem Gesetz des Westens zu denken. Was bleibt uns also? Bestimmt nicht, uns „außerhalb des Maßes“ zu stellen, wenn es noch im Maß der herrschenden Ordnung und seinen Schatten bleibt. Dieses „Außerhalb“ ist dem Maß unterworfen und reproduziert es. Nein. Wir brauchen eine Überschreitung. Aber nicht die Überschreitung der Terroristen. Wenn die Überschreitung einen Protest wiedergibt, der unvermittelt und allgemein bleibt, hat sie keine Alternative und keinen Vorschlag. Die Barbarei des Terrors ist in diesem Sinne eine verzweifelte Überschreitung, die nur in Verzweiflung treibt. Wenn die Überschreitung nichts anderes bietet als das absolut gesetzte Attentat, wenn sie keine andere Perspektive eröffnet, wenn sie jedes akzeptierte Verhalten mit Füßen tritt, jede Ethik hinter sich lässt, sich dem ungezügelten Hass hingibt, einem Wahnwitz der Gewalt, dann hat sie nur ein Ziel: alles in ihren Abgrund des Opfertods hineinzusaugen. Dies ist ihr einziger, völlig sinnloser Sieg. Diese Überschreitung ohne Sauerstoff reißt alles nieder. Sie verschließt jeden Horizont. Sie erbeutet alle Bilder. Sie schafft ein übermächtiges Symbol. Darin liegt ihre Versuchung. Sie simuliert die Illusion einer absoluten Sicherheit, sie behauptet, eine Waffentüchtigkeit, die sich zur Guillotine macht, das Unrecht und die Rache seien die einzigen Wege, sich Luft zu verschaffen. Ihre Sinnlosigkeit hat eine große Macht. Ihre morbide Logik behauptet, nur mit einer solchen Logik könnten wir das Gesicht wahren. Aber wir können etwas entgegensetzen, indem wir den falschen Schein zertrümmern. Das Bewusstsein, in einer gemeinsamen Welt zu leben, nannte Edouard Glissant Mondialität. Sie ist unsere einzige Zuflucht gegen die ökonomische Globalisierung. Glissant sah die Poetik einer Überschreitung der Überschreitung als den einzigen Weg, um die Mondialität in Betracht


zu ziehen. Die Welt befindet sich nicht mehr in der konservativen Ruhe des maßvollen Maßes (mesure de la mesure). Auch nicht in der bequemen Beschränkung auf eine maßvolle Überschreitung. Unsere Welt gibt die wohltuenden Revolutionen auf, die von Überschreitungen des Maßes ausgelöst wurden und uns doch so schöne Perspektiven zeigten. Die Überschreitung der Überschreitung – über die gefährlichen Revolutionen, den begrenzten Protest oder die dürftige Reaktion auf die Umstände hinaus – bedeutet, etwa Neues aufzubauen, sie gehört in den Bereich der Neugründung (refondation). Es handelt sich um die Neugründung unserer Vorstellungswelten und Weltvorstellungen, unseres Imaginären. Diese Überschreitung bietet Optimismus, einen Überblick und neue Horizonte. Mit ihr ist unsere Angst angesichts des Terrors nur eine Erschütterung, die nichts aufgibt. Unser Mitgefühl ist eine gesteigerte Energie. Unsere Ethik gibt keinen Heller auf die von oben verordneten und angeblich so eindeutigen „Werte“. Die Rache ist nur eine weitere Episode des ursprünglichen Verbrechens. Absolute Sicherheit herrscht nur in der totalitären Fiktion, in der eiskalten Unmenschlichkeit, doch nie in einer Demokratie, im Auf und Ab der prinzipiellen Zugewandtheit, in der Akzeptanz des Anderen als dem wahren Glauben, in Gegenseitigkeit und Austausch, die uns verändern und erst verwirklichen. Unsere Sicherheit ist keine Festung. „Zivilisation“ bedeutet für uns nur das Beste. Sie versteht, hilft, heißt willkommen und erneuert sich auf diese Weise. Sie weiß, dass die Barbarei auch in uns ist, auch aus uns hervorbrechen kann. Sie stigmatisiert niemanden und sucht keinen Sündenbock. Sie macht keine Unterschiede zwischen den Mördern, die Syrien heimsuchen. Sie stützt sich auf die Muslime wie auf alle anderen Glaubensrichtungen. Sie nennt Palästina beim Namen. Sie pflegt ein gemeinsames Gedächtnis, das die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht unterschiedlich einstuft. Ihr Friede beruht nicht auf Ungerechtigkeiten, Arroganz oder strafloser Ausbeutung. Ihre Freiheit respektiert Andere. Ihr Gesetz ist überall gültig und allen zugänglich. Sie besteht nicht in einer kriegerischen Hymne oder in „Ausnahmen“, die es gestatten, zu zerstören, was wir waren, was wir sind und was wir in Zukunft noch werden möchten. Sie beteiligt sich an nichts, was sich schon als Barbarei oder als Sackgasse erwiesen hat, aber sie zeigt alle diese Möglichkeiten auf. Sie bewältigt sie, überwindet sie damit und erhält sie so für alle zur Warnung im Bewusstsein. Sie pflegt Umgang mit der Schönheit. Das ist unsere einzige sehr heitere Antwort. Der gemeinsame Gesang des einen Planeten! Übersetzung: Beate Thill


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