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Poesie der Nachbarn – Dichter übersetzen Dichter begründet von Gregor Laschen

Mitarbeit: Lisa Schwesinger © 2016 Verlag Das Wunderhorn Rohrbacher Straße 18 D - 69115 Heidelberg www.wunderhorn.de © 2016 Autoren und Übersetzer Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Cyan, Heidelberg Druck: NINO Druck GmbH, Neustadt/Weinstrasse ISBN 978-3-88423-525-6

9 783884 235256


Hans Thill (Hrsg.)

Werde zum Gespenst Gedichte aus Lettland Ăœbersetzt nach Interlinearversionen von Julija Boguna und Beata PaĹĄkevica

Wunderhorn



Hans Thill

Der Marsietis sagt Ich, ich und ich. Keine Angst, gleich knackt es ein wenig im Skelett ich bin jetzt krank. Die Erde spuckt Brocken und graue Erbsen, der Wind hat einen Rock und heißt Ubu. Ich baue mir ein Haus aus nassen Maulbeeren, die hier die Straßen färben. Schwarzer Letten, Spätburgunder, früh krümmt sich was ein Polarorakel werden will. Ein Trecker mit Bambi-Motor, gefahren von der Oma, die ihr Fell nach außen trägt. Im Winter, heißt es, liegt ein sanftes Papierorakel auf Strauch und Weg. Im Winter heizt man mit Vokalen. Ich schreibe Wortskelette in den Schnee, ich schreibe gelben Nebel neben Edenkoben, den die Nibelungen schlucken, als wäre sie Deleuze. Der löst die Rätsel einer Nachbarwelt im Machtbereich der Gothic Girls mit der Formel (typisch romanisch) Poems for all – Pommes für alle! Háblame, sagt der Marsietis: fülle endlich jemand mein Glas mit gelbem oder rotem Nebel. Edenkoben, 24. Juni 2015 5



Amanda Aizpuriete


Amanda Aizpuriete

brīva kā verdzene kuru saimnieks sen aizmirsis vergoju vārdiem un vējiem brīva kā vējš kurš netiek no zemes prom ar mākoņiem dejoju sapītām potītēm gravitācijas zelta ķēdēs vārdu sudraba rotās

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frei wie die sklavin die ihr besitzer längst vergaß diene ich worten und winden frei wie der wind der von der erde nicht loskommt tanze ich mit den wolken an den knöcheln gefesselt in den goldenen ketten der gravitation im silberschmuck der worte (Matthias Göritz)

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Amanda Aizpuriete

apaugu zirnekļtīkliem un nepasacītiem vārdiem pasacītie kā papīra laiviņas aizpeld tajā upē kuras krastā reiz stāvēju peldēt nemācēdama vismaz mani vārdi aizpeld tajā upē kurai ir sievietes vārds

Spinnennetze und nicht gesagte Worte hüllen mich ein. Gesagte Worte schwimmen wie Papierboote davon in den Fluss, an dessen Ufer ich einst gestanden habe. Schwimmen kann ich nicht, doch meine Worte, die können es und schwimmen dahin in den Fluss, der seinen Namen hat von einer Frau. (Claudia Gabler)

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mich überwachsen spinnweben und nicht gesagte wörter die gesagten schwimmen als papierschiffchen im fluss an seinem ufer bin ich mal gestanden und konnte nicht schwimmen immerhin schwimmen jetzt meine wörter im fluss mit dem namen einer frau (Anja Utler)

ich verwachse mit Spinnenweben und Ungesagtem alles Gesagte schwimmt wie Boote aus Papier den Fluss hinauf an dessen Ufern ich einst stand unfähig zu schwimmen aber meine Worte schwimmen den Fluss hinauf der einen Frauennamen trägt (Carolin Callies)

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