© 2010 Verlag Das Wunderhorn Rohrbacher Straße 18 69115 Heidelberg www.wunderhorn.de © 2010 für die Gedichte: siehe Anhang Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: Cyan, Heidelberg Druck: Fuldaer Verlagsanstalt, Fulda Umschlagabbildung nach der Fotografie »Geiranger (Norwegen), 1935« von Ré Soupault: © 2010 Nachlaß Ré Soupault ISBN 978-3-88423-326-9
Lied aus reinem Deutschsprachige Lyrik d e s 2 1 . J a h r h u n d e r t s Nichts
Michael Braun / Hans Thill (Hg.) Wunderhorn
Fenster zur Weltnacht
Volker Braun
Als er wieder sehen konnte Ich sehe wieder klar, und beide Augen lügen Mir eine schöne Welt. Ich laß mich gern betrügen Und blicke gerne durch in Kluft und Gruft hinein. Wenn mich auch sonst nichts freut, ich lob den Augenschein.
Felix Philipp Ingold
Satellitenbild Der Himmel – das windige Dreieck unten links im Bild – ist leer als wäre er wer. Ein Heer. Frau Blau. Und schrappt wie üblich in Schüben Geschichte. Doch immer gilt er nicht für länger. Enger wird’s im Gegenlicht. Die Sonne – brutales Pokerface – ist jedermanns Schandfleck und enorm im Kommen. »Starke Gewitterschauer, schön zwischendurch, ziehende Wolken«, notiert an einem 6. Juli Hopkins: »Die Sonne kommt hervor nach einem dieser Schauer am Morgen und heiss macht sie Bodenrauch, Schotter wie Rasen, eine Zeit lang. Angenehme Genauigkeit der Heuschober und Zeilen mit Schatten auf einer Seite. Etwas Regen dann wieder, viele schnelle Wolken, zuweilen randlose weiche Meridiane, manchmal Flicken, Kämme, Sprühen an Stimuli usf. Kalter Wind. Zu Sonnenuntergang dann, in einer grauen Wand mit feuchten goldenen Hauben und Driften, hat das ganze Rund der Skyline waagrechte Wolken in natürlicher Bleifarbe aber die obern Flächen berggelb, einige mehr, einige weniger rosig. Nadeln oder Strahlen geflochten oder erfüllt mit inklinierenden Kugelflocken brechen sich, ja, Bahn.« Wie rasch sich Wolke und Hand ineinander verwandeln. So schafft Finsternis Klarheit während hinter dem gekippten Horizont 7
nun unverfroren Bläue plaudert. Vor soviel Säuen all die Perlen. Aber ehrlich geprangt.
Steffen Popp
Fenster zur Weltnacht Eine Straßenbahn schläft vor dem Haus – gelb mit gefaltetem Bügel, im Standlicht eingerollt im Bug des Triebwagens träumen zwei Schaffner kopflos, unter den Schilden ihrer Pappmützen einer bewegt sich steigt aus, ein schwacher Glutpunkt, und atmet Rauch, mit dem Rücken zum Führerhaus lange schaut er herauf, durch die orange Beleuchtung – blind wie Homer, in schwarzen Schuhen mit Stahlkappen unter dem Giebel des Uranus.
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Nico Bleutge
honigwarme pupillen ... ... und war nur dieses eine stückchen, etwas wie haut. das wird nun ganz genau betrachtet und von einer feinen hand berührt. es liegt im schatten wo sich diese wölbung zeigt, von haaren, kleinen wellen oberhalb des nackens. bald schon lösen sich die rillen ab. das weist voraus auf kahles, auf die schöne nackte an der wand, die schielt so ruhig ins zimmer, dieser runde ausgefranste mund und diese punkte auf den unterarmen hat hier der zeichner sich vertan? es will nicht recht gelingen eine öffnung zu erkennen, nur ein milder klecks sticht vor ob das zum atmen reicht, es zittert die figur, wie’s scheint hat die verschobene kontur den maler höflich angeregt ein wenig fester aufzudrücken und den schatten einzudrehn. doch kaum zu sehen ist dafür der stoff am andern ende, der allzu lose um die hüfte hängt. wo ist denn hier die naht, der feine etwas unbestimmte strich der eine möglichkeit mit einer andern möglichkeit ... … mit einer falte in der haut verknüpft. ach süßer honig auf dem weichen lid. es bleibt der nacken mit dem kleinen zart gewellten stück. und die pupillen wandern weiter
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Raoul Schrott
cefalu als sie die stadt der sarazenen war tauchten wäscherinnen die kleider in süßwasserbecken am meer · wellen rannen in die kanäle über schwemmten die seife schäumend aus und flossen wieder ab · über dem gehäufe der häuser ragte ein felsen aus muschelkalk auf in form eines kopfes: und in seinem relief lag das reinste weiß · sonst setzte man blei der lohe aus und erhielt so beinah den glanz von wasserskies verdigris war aus griechenland und gleich wie grünspan salz das man aus kupfernem gewann · für die moscheen kam türkis aus nishapur und spiegelte das grün wider am meer und von jenseits dessen auch ultramarin zermahlener lapislazuli aus dem hindukush der über dem feuer zu weißem glas erlosch zerraspelt wurde aus den ästen des indischen waid indigo die wäscherinnen aber sagten an-nil dazu weil das pulver so blau war wie der fluß den sie nie gesehen hatten und zur tinktur aus smyrna al-azarah saft aus den wurzeln der färberröte · nichts aber war teurer als das sekret von wellhornschnecken: purpur der am roten meer noch zu gestein erstarrte · rehj al-ghar dagegen war erzstaub und kam in höhlen vor erhitzt verdampfte er nur · auf den wellen und ihrem licht jedoch zerfiel sein rauschrot nacht für nacht zu dem feinkörnigen goldfarbenen pigment der sonne und den serifen mit denen jede sure hier beginnt die see bis weit hinaus ein zerlesener foliant dessen seiten die klippen bleichen · ein kaltes aufbrennen im kalk um dem morgen wieder sein weiß abzugewinnen als sie die stadt der sarazenen war wrangen wäscherinnen die kleider auf steinernen waschbrettern aus · aufspannen gingen sie die wäsche dann oben in den gärten ein bild des sommers · halbschatten die in der hitze flirrten worte die in der nachmittagsstille weit trugen 10
und niemand je um sie in schrift zu übertragen eine sprache deren fließende buchstaben ich nur benütze – die geschwungenen unterlängen die ich wie küsten setze häfen als punkte darüber – um dir zu schreiben: wie andere die vielleicht keine briefe schrieben aber von einer reise farben in kleinen beuteln mitbrachten weil sie es nicht besser zu sagen vermochten als das dunkle farbpulver auf ein leeres blatt zu schütten den blick der zugewandt die sie zu ihrer geliebten hatten 31.12.00
Ulf Stolterfoht
engere hängung zwängung im strengeren sinn. gib dich dem untertitel hin: süßes stettin und fluxmaschin – in pixeln auf stramin. klastischer spin. wenn nun an diesem punkt ein schlupf gelänge / ein wesentlicher quetsch – dann? dann: in allen belangen verhangene sonne. linguistischer turn: dasein am seidenen zwirn. demnach nämliche senge. fortwährend benenne: knabe in öl. knabe vor meer. lamm auf erstaunlich weißem makadam. technisch gesprochen „an“. was eben einzig canvas kann. und – zunehmend ikonischer schwund: hase vor migrationshintergrund. jetzt (spätestens jetzt) muß kleine schwester kaninchen an böse wölfe und an unterwasserfüchse denken / an all die kneifer und beißer und unerträglichen säger. milchner / rogner / datenträger – reicht das? denk schon. dann komm: gib dispersion! gib karmesin! schmächtiger quinn. bobcat vor parkendem van. versionen davon. plansprache-option. eintritt in phase II. zäh zieht sich weiter titelei. beträfe nun drei ungemalte bilder: verbringung gdingen. das posen vor oppeln. sowie: der ruch der über königshütte hing / noch hindenburg umfing. nun schnell zurück in die erzeugte welt: mädchen mit schmerzhaft geöffneten löffeln. 11
und hinter den spiegeln ein tiegel / ein striegel / ein loch. doch du bist zu dick. friesischer riese. bereitest anderen die trasse. schreist: seid ihr endlich soweit? aber sicher-gekicher. ältlicher knabe entsteigt der gezeit. zwei hasen verlassen die sasse.
Silke Scheuermann
Prisma Jene Art Blindheit von der wir lernten daß sie zum schärferen Sehen gehört die Art wie Brenngläser Augen aufrüsten die Familie ins Blickfeld zitiern so daß das Gewirr ihrer Interessen sich zeigen muß Im Okulus: alles was schlecht ist samt seiner Beweise von Macht Wir wurden immer vor alle Tragödien gezogen und keiner durfte in der Pause schon gehen Ich verstand nicht wieso Ich verstand lange gar nichts und dann eine Menge und zwar im Augenblick als ich mich auf Vaters Brille setzte und nur die Hälfte blieb heil ein einzelnes rundes Glas: die Brille eines Zyklopen
Hans Thill
Blumenstraße die ohrenlosen Marder und Autogummivertilger durchs bunte Papier fitzenden Schleichratten zu Füßen der Kassiererinnen in ihren blauen hellaufklingenden Stahlkassetten klemmte das unter Achseln getragene aus Lumpen zusammengebackene Wunschgeld im Traum sagten wir Panama Fisch im Überfluß morgens brüllten die Diesel aus Blech und die frühen Aluminiumfahnen grüßten Lidl Lidl 12
Harald Hartung
Blick in den Hof Während es anfängt zu schneien schaukelt das Mädchen im Hof schaukelt sich tief ins wachsende weiße Dunkel Glück ist ein Sekundenschlaf Ich schaue auf, die leere Schaukel schwingt noch ein wenig nach
Andre Rudolph
sie waren kaum an bord, da brachten sie das boot schon ins wanken, jene beiden helläugigen oos; in der gleichmäßigkeit ihres pendelns (hin) über die übrigen buchstaben mussten sie wie vergrößerungs gläser erscheinen, wir sahn: knochen & zähne, knochen & zähne, in diesem pendeln, das uns erfasste. wir waren ein b und ein t; unterwegs sammelten wir eine halb ertrunkene heiter keit ein und ein w
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Ferdinand Schmatz
echo 1, platte stets das auge zeichnet immer nur sich selbst an blick, der zieht, was blieb im trieb, und schiebt nach vor was hinten stobt zugleich, sich löst wie bindet ohne an zu greifen trägt – was schwebt (und noch nicht bebt) auf riss – es naht, und hebt sich ohne schweiss – ist es die stadt auf ihre weise glatt das andere: spagat aus holz, papier als haut, scharnier das licht – für das, was ton (als tun getönt), für das, was graph (als zeichen ungerad), leimt sie im auge nichts als ein an sicht (es lebt ja wie gesagt im span – seis frau seis mann) bricht aus so scheu, was rund ist kopfend im gesicht verzicht – der laut, des mundes hand 14
greift sich im auge, wendet sich zum blatt – ein wink, ein schub – in vieler wege zug bahnt an, was fachen wird die glut auf schwielen (reis der brut) es schwankt im flug, der ruht da zwischen – aber türmen sie, zuunterst, jeden grund (der trägt auch uns, wir wanken – aus gestellt ins auggedröhn ungewohnt ins ohrgesehn zu atmen – etwas flach – ins selbst, hochstossend halt ins bildgetön)
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Henning Ziebritzki
Provinzbild Plötzlich ragen Stämme quer auf dem Weg. Ein Schatten flattert aus der Dämmerung, groß und mit rötlicheer Kehle, doch zu undeutlich, um ihm einen Namen zu geben, der alles erfaßt. Er zieht Bilder hervor, eine Frau, die im Koma liegt, dann einen Amokläufer mit automatischen Waffen auf einer Art Lichtung, im Gewimmel einer Passage. Eine Münze, die sich dreht und dreht, ohne zu fallen! In die Abendluft mischt sich ein kühler Schauer, die Schleuse zu einem anderen Niveau der Strömung, die leicht durch den schwarzen Fichtenwald geht und etwas Nahes, das pocht wie eine Wunde – als ob im Berg ein Boot gegen die Felswände des Stollens schlägt und Ruder zersplittern.
Volker Sielaff
Rollfeld Nimm einmal an: die Leere in ihrem höchsten Zustand, also nicht etwa als Quitte (oder Zitrone), bloß ausgepresst, sondern ein durchaus dynamisches, gleichwohl unbesetztes Feld, wie auf chinesischen Rollbildern – ein Rollfeld, für Luft, nicht Aeroplane, die sich austeilt nach oben, unten, eines Tages werden wir etwas anzufangen wissen mit unseren unausgefüllten Stunden, den kleinen Toden und Zigarettenpausen.
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