Patrick Chamoiseau - Migranten

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Titel der Originalausgabe: Frères migrants © Editions du Seuil, 2017 Übersetzung © Beate Thill © 2017 Verlag Das Wunderhorn GmbH Rohrbacher Straße 18 D-69115 Heidelberg www.wunderhorn.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Druck: NINO Druck GmbH, Neustadt/Weinstraße ISBN: 978-3-88423-577-5


Patrick Chamoiseau

Migranten Aus dem Franzรถsischen von Beate Thill

Wunderhorn


Für Hind Meddeb, Jane Sautière, Laetitia Fernandez, Yasmina Ho-You-Fat Deslauriers

Und für René de Ceccatti


Das „Etwas“, das vor etwa zehn Jahren geschah, werde ich „das Verschwinden der Glühwürmchen“ nennen. Pier Paolo Pasolini 1975 kurz vor seinem Tod […] sie wissen nicht, dass ihr Begehren so weit trägt, in der großen Nacht, die sie einschließt. Antoine de Saint-Exupéry, Nicht an den Glühwürmchen verzweifeln. Aimé Césaire Wir müssen – abseits von Herrschaft und Ruhm, in der Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft – wie Glühwürmchen werden, das heißt eine Gemeinschaft des Begehrens bilden, die Lichter aussendet, die tanzt trotz allen Widrigkeiten, eine Gemeinschaft, die Gedanken mitzuteilen hat. Georges Didi-Huberman



Hind, eine junge Filmemacherin, sagt: „In Frankreich ist das Mittelmeer an jeder Straßenecke und der von den Baggern zerstörte Dschungel von Calais wächst in den Winkeln der Boulevards wieder nach!“ … Jane, eine junge Schriftstellerin, fügt leise hinzu: „Wenn ich in Paris heißen Kaffee und Brot mit Butter ausgebe, begegnen mir Augen, die keine Lider mehr haben. Mit Pupillen, gebleicht von den Nachtwachen und dem Salz in den Wüsten, wie Leuchttürme. Diese Körper aus dem Nirgendwo, die plötzlich auftauchen, schemenhaft zwischen Ufern und Stränden, in ihrem Schatten sehe ich endlos werdende Straßen, Gräber, angehäuft zwischen Inseln und Kontinenten, durch das Schicksal ihrer Herkunft finden sie sich durcheinander gemischt auf diesem Rettungsfloß mit Ballen und Koffern wieder … Jede dieser Gestalten scheint Ausdauer mitzubringen für alles, was kommen mag, sie haben es sich aufgepackt und tragen es ins Ungewisse.“ Jane seufzt: „Ihr Ziel bleibt, eine glühende Schrift, ohne Ankunft. Viele kleine Menschen – Kinder! – sind möglicherweise schon bei ihrer Geburt Staatenlose, Unberührbare, ewige Parias, nirgends zugehörig, verbannt in das Reich der Medusen und gesunkenen Boote.“ Hind verkündet weiter: „In Paris oder Ventimiglia und genauso seit fast fünfzehn Jahren in der Region von Calais, stranden Migranten am Rand aller Ränder, Minderjährige werden behandelt wie Massenvieh, selbst auf französischem Boden, in diesem Land der Menschenrechte, werden Razzien durchgeführt, wird die Hoffnung verfolgt! Zerstoben in alle Winde! …

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… sie werden von Polizeirevieren in Abschiebegefängnisse, von Abschiebegefängnissen nach Nirgendwo verschickt, ohne Beistand, ohne Zeugen, Anwälte, oft ohne Dolmetscher, ohne Wegzehrung, außer jener Angst, die ihnen entgegenschlägt, nicht nachlässt und alles gegen sie aufbietet! Besetztes Gelände wird geräumt, ohne einen Gedanken an die Kranken, die Frauen, die Kinder! Die, die Mitleid haben, werden vor Gericht gestellt, wegen eines ‚Solidaritätsdelikts‘1! Demonstrationen werden vor Ort erstickt, bevor man sie wagt! … Hier, ganz nahe (doch auch so fern), vertreibt man sie, bestraft sie mit Untersuchungshaft, häuft Steine auf und verbarrikadiert den letzten freien Platz für die Erschöpften; da unten, ganz fern (doch auch so nah) sind es die Küstenwachen, Mauer­wachen, Grenzwachen, – die Wächter über Leben und Tod – die darunter leiden, dass sie sie nicht mehr aufhalten können! … Der Zustrom hat biblisches Ausmaß, er schwillt an, ohne angefangen zu haben, beginnt neu, ohne abgeebbt zu sein … Manchmal schießen diese Wächter des Elends wild um sich, häufig foltern sie in ihrer Verzweiflung, und wenn sie dann an die Grenzen ihres eigenen Gewissens gelangen, weinen sie, ohne zu wissen warum!“ Hind ruft mit allem Groll ihrer Jugend: „Islamophobie, Unsicherheit, Identität, Immigration … Worte wie Monster! Unter der Hypnose der Medien zusammengetrieben zu einer schrei1 In Frankreich wurde der Flüchtlingsaktivist und Olivenbauer Cédric Herrou „wegen Beihilfe zur unrechtmäßigen Einreise“ am 8.8.2017 in zweiter Instanz zu vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, weil er Migranten über die französisch-italienische Grenze geholt und bei sich aufgenommen hat. Solche Fälle werden in Frankreich als „Solidaritätsdelikt“ bezeichnet. Anm. d. Ü. 8


enden Horde, sie mahlen heftig wie Zahnräder, bei allen Themen, fast ohne Ausnahme, bis sie Menschen zermalmen im vollen Licht der Städte und Girlanden der Boulevards! … Wir müssen handeln, das ist unsere Sache!“ Jane, mit erstaunter Geste: „Ich habe ihre Augen gesehen, es sind Glühwürmchen …

Ja, in dieser Nacht, auf diesem Rettungsfloß, unter diesem eisigen Horizont, in den kalten Hütten der Lager und Straßencamps, ständig abgerissen, ständig neu entstehend, in Europa, aber auch in Asien, Afrika, auf den Inseln der Karibik und im übrigen Amerika, was ihr da sagt, meine Lieben, ruft weltweit mit den Winden, Salzfunken, Himmelsfunken, eine Konferenz der Dichter und großen Geister zusammen, wie es sie noch nie gegeben hat …

Was heißt also handeln oder sich einmischen über das Dringliche hinaus, ohne das Dringliche beiseite zu lassen oder das Wesentliche zu verfehlen, und ohne zu bedenken, dass an der Grundlage dieses Dramas unsichtbare Kräfte wirken? Doch wie könnte man sie übersehen? Der Neoliberalismus, der zu triumphieren scheint; seine Finanzen, ausgeliefert an fatale Hysterien; die Politik, die sich offenbar aufgegeben hat, 9


Demokratien, die undurchschaubar werden; der Staat, der sich selbst schwächt, indem er das Ruder ganz den Wirtschaftsleuten überlässt und sich dem Willen unzähliger, profitorientierter Firmen beugt, die diffus im Gewebe der Welt agieren. Jedes Programm, jeder Bildschirm, jeder Fund in der Nano- oder Biowissenschaft, jede Masche des Geistes und jede einzelne Verbindung ist diesem Dogma unterworfen! … Wir sehen, wozu diese weltweite Verfinsterung führt: zu Ausschluss, Ablehnung, Gewalt, Dummheit, Hass und Abscheulichkeiten, die überall brodeln, die sich in den Schleifen der Algorithmen und sozialen Netzwerke verstärken, die auch in der instinktgeleiteten Meute der Medien explodieren, die so fasziniert ist von diesen Netzwerken, dass sie ihnen nacheifert. Es ist ein Verfall, der Verlust einer Ethik, und mit der Ethik schwindet die Schönheit. Pasolini2 hatte recht, als er sich sorgte angesichts der politischen Nacht, die in Italien zu triumphieren schien. Eine ähnliche Nacht hat uns umfangen, ohne Warnzeichen, unmerklich, unsichtbar, bis sie plötzlich eine böse Farbe annahm in der blonden Tolle dessen, der die mächtigste Nation der Menschheit führt … 2 In seinem Artikel aus dem Jahr 1975 im Corriere della Sera beschreibt Pasolini, wie Anfang der 1960er Jahre durch Industrialisierung und Umweltbelastung in Italien alle Glühwürmchen ausgestorben sind. Bei seiner „literarisch-poetischen Betrachtung“ nimmt Pasolini dies als Bild für den tiefgreifenden Wandel von einer vormodernen Agrar- zu einer industrialisierten und konsumistischen Gesellschaft, worin er eine „anthropologische Mutation“ sieht. Seine Analyse zeigt viele Parallelen zu der heutigen Situation unter dem Neoliberalismus auf der Welt. Hier das Zitat, auf das sich Chamoiseau in seiner „Erklärung der Dichter“ unter anderen bezieht: „Was mich betrifft, so will ich ganz klar sagen: ich gäbe – selbst wenn ich ein Multinationaler wäre – den ganzen Montedison-Konzern für ein Glühwürmchen her.“; Pier Paolo Pasolini, Freibeuterschriften. Berlin (Wagenbach) 1978, S. 71 u. 72. Anm. d. Ü. 10


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