Steffen Popp Panzere diesen Ă„quator, Mond. Zur Poesie CĂŠsar Vallejos
Zwiesprachen Eine Reihe der Stiftung Lyrik Kabinett Herausgegeben von Holger Pils und Ursula Haeusgen
Wunderhorn
Diese Rede wurde am 18. Mai 2015 im Lyrik Kabinett, M端nchen, gehalten.
X XI X Es summt die Langeweile, versenkt unter dem ungeschaffenen Augenblick und dem Rohr. Eine Parallele verläuft zur undankbaren vom Glück gebrochenen Linie. Mich verwundert jede Festigkeit neben diesem Wasser, das sich entfernt, das Stahl lacht, Rohr. Neugestärkter Faden, Faden, zweinamiger Faden, wo wirst du reißen, Knoten des Krieges ? Panzere diesen Äquator, Mond. X XI X Zumba el tedio enfrascado bajo el momento improducido y caña. Pasa una paralela a ingrata línea quebrada de felicidad. Me extraña cada firmeza, junto a esa agua que se aleja, que ríe acero, caña. Hilo retemplado, hilo, hilo binómico ¿ por donde romperás, nudo de guerra ? Acoraza este ecuador, Luna.
Anstelle eines Titels steht über dem obigen Gedicht die Nummer XXIX — sie bezeichnet seinen Ort in Trilce1, dem legendären zweiten Gedichtband des peruanischen Dichters César Vallejo, der 1922 in Lima erschienen ist. César Vallejo lebte von 1892 bis 1923 in Peru, dann bis zu seinem frühen Tod 1938 vor allem in Paris und einige Zeit in Spanien. Er gilt als der bis heute bedeutendste und auch international einflussreichste Dichter seines Landes ; zumindest für die Lyrik kann man sagen, dass eine eigenständige peruanische Literatur mit ihm eigentlich erst begonnen hat. Obwohl eine vollständige, zweisprachige Ausgabe seiner Dichtungen in deutscher Übersetzung vorliegt,2 ist er in Deutschland nur wenig, gemessen an seinem Werk bei weitem zu wenig bekannt. Entsprechend bin ich — oder ist mir — César Vallejo relativ spät begeg-
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Steffen Popp
net und, wie häufig auf diesem Gebiet, für das es keine Generalkarten gibt, zunächst im Werk eines anderen Dichters. Beim Übersetzen des Gedichtbandes The Lichtenberg Figures ( Die Lichtenbergfiguren ) des USAmerikaners Ben Lerner stieß ich 2009 auf seinen Namen, in einem Text, der das groteske Wetteifern dreier Personae um die Besonderheit ihrer Tode imaginiert, wobei sie sich unter anderem an verschiedenen Werken Vallejos messen. Mein Tod war erster Zweiter bei den Kansas State Wrestling Champion
ships 1996 ( 157 lbs ).
Mein Tod schrieb Sämtliche nachgelassene Gedichte von César Vallejo. Mein Tod war der erste Tod in meiner Familie, der das College abschloss. Mein Tod machte seinen Abschluss an der University of California, Berkeley. Dein Tod war Kansas State Wrestling Champion 1996 ( 157 Ibs ). Dein Tod schrieb César Vallejos Trilce. Dein Tod war der dritte Tod in deiner Familie, der eine Jahrgangs-Eröffnungsansprache an der University of California, Berkeley, hielt. Ihr Tod kümmert sich nicht um deines Todes Ruhm oder Physis. Ihr Tod schrieb Wolfram, César Vallejos sozial-realistisches Experiment. Ihr Tod fährt gern mit ihren Händen durch das, was meinem Tod an Haar
geblieben ist.
Ihr Tod würde gern eine Familie gründen.3
Um mir die Referenz dieses rätselhaften Textes zu erschließen, begann ich mich mit César Vallejo zu befassen, und schon bei der ersten Lektüre wurde mir klar, auf eine Leerstelle in meiner Rezeption spanischsprachiger Dichtung gestoßen zu sein, deren Vorhandensein noch um einiges rätselhafter schien. Lorca, Neruda, Aleixandre hatte ich gelesen, Rafael Alberti, Octavio Paz und andere mehr, nicht aber César Vallejo.4 Was war so besonders, so eigen an diesen Gedichten, dass ich nicht einen Moment daran zweifelte, hier einen außergewöhnlichen Autor vor mir zu haben, der den zuvor genannten in nichts nachstand, sie in mancher Hinsicht sogar in den Schatten stellte ? Cees Nooteboom beschreibt in der Einleitung zu seinen Übertragungen Vallejos in der niederländischen Literaturzeitschrift Avenue seine Verbindung mit und seinen Zugang zu dessen Dichtung :
Zur Poesie César Vallejos
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»Wenn ich mich diesen Gedichten aussetze — denn einfach ›lesen‹ kann man sie nicht —, habe ich immer das Gefühl, daß in ihren Worten etwas sehr Altes langsam zertrümmert und zerrieben wird. Die Gedichte selbst sind Leiden. Roland Barthes kommt der Sache am nächsten, wenn er neben dem ›Lesbaren‹ und dem ›Schreibbaren‹ als weitere Kategorie das ›Empfangbare‹ nennt — nicht in diesem Zusammenhang, aber das Gesagte gilt sicher für Vallejos Lyrik. Gemeint ist etwas, das sich als ein Ganzes — bei Vallejo heißt das : einschließlich der anarchischen Syntax, der eigenwilligen Grammatik und der Anspielungen auf Bibel und Aberglauben — dem Leser einbrennt, wie ein glühendes Brenneisen oder Siegel. So lesbar, angenehm und auch für Europäer leicht zugänglich die Lyrik Nerudas ist, so eigensinnig, unzugänglich und fremd ist die Poesie Vallejos.«5 Eine genaue Kenntnis der politischen und ideengeschichtlichen Konstellationen, die Vallejos Schreiben beeinflusst haben, ist nicht nötig, um die Wirkung seiner Poesie zu erleben ; wie in jeder relevanten Dichtung stehen, sprechen seine Gedichte für sich, und auch meine erste Begegnung mit ihnen verlief ohne jegliches Wissen über die entsprechenden Hintergründe ausgesprochen glücklich. Für eine historische Einordnung und die Dechiffrierung zahlreicher Bilder und Wendungen ist jedoch zumindest das Folgende relevant : Vallejos Herkunft mütterlicherseits aus dem Volk der Quechua und seine damit verbun dene Verwurzelung im Natur- und Geschichtsraum Perus, väterlicherseits aus Nachkommen der spanischen Eroberer, dank derer er die Unterdrückung und Ausbeutung der indigenen Bevölkerung weitgehend als Beobachter erlebt. Die im Studium erworbene exzellente Kenntnis der spanischen Dichtung und die Bezüge zur Umgangssprache der Andenprovinz seiner Herkunft. Der Katholizismus südamerikanischer Prägung, mit dem Vallejo aufwächst, und die kommunistische Vorstellung einer materiell und ideell gerechten Gesellschaft, die er im Kontakt mit linksorientierten Schriftstellern und Intellektuellen und später auf seinen Reisen in die Sowjetunion entwickelt. Ein Beispiel dafür, wie die Kenntnis dieser biografischen Aspekte die Lektüre weiter aufschließt, ist Vallejos erster Gedichtband Los heraldos negros ( Die schwarzen Boten ), der sich thematisch u. a. mit der Ausbeutung peruanischer Arbeiter auseinandersetzt — schon das im Titel aufgerufene Motiv der apokalyptischen Reiter, die hier gleichermaßen unheilverkündend und dunkelhäutig auftreten, macht die Parteinahme des Autors für die indigene Arbeiterschicht kenntlich. Mit dem sozialkritischen Roman Tungsten ( Wolfram ) und der Unterstützung der Republikaner im Spanischen