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Sideboards im Trend Notizen zur spannenden Metamorphose eines überaus praktisch gearteten Möbel-Fossils.

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MÖBEL & DESIGN

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Elling Buffet, Gerrit T. Rietveld by Cassina

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SIDEBOARDS SIND HEUTE SCHWER IM TREND. DAS WAREN SIE AUCH GESTERN UND VORVORGESTERN SOWIESO. ABER IST ES DAS GLEICHE WIE EINE ANRICHTE, EIN BUFFET ODER GAR EINE KOMMODE? NOTIZEN ZUR SPANNENDEN METAMORPHOSE EINES ÜBERAUS PRAKTISCH GEARTETEN MÖBEL-FOSSILS.

Alexa hieß früher einmal James. Oder Jean, sogar Schani. Aber in einem ähnelten sie Alexa aufs Haar. Da war das Problem mit den großen Ohren. Rund um die Uhr von der Dienerschaft belauscht zu werden, dieses Luxusproblem inspirierte den Briten Thomas Sheraton bereits 1803 zu einer besonderen Erfindung. Denn es war die Geburtsstunde des Sideboards, eines damals neu aufgetauchten, neoklassizistischen Möbels, das weniger Parkplatz für Silberteller und ähnliche Prestigeobjekte sein wollte, sondern lieber mit Funktionalität punktete. Lords und Ladies, die sich schon beim Frühstück von aufgestellten LakaienLauschern umzingelt sahen, zeigten sich von Thomas Sheratons Self Service Sideboard begeistert – die neue Anrichte für Speisen und Getränke wurde ein Design-Renner der Saison.

URALTMÖBEL MIT ZUKUNFT. Kulturhistoriker, die sich mit der Geschichte dieses Möbels auseinandersetzen, können noch viel mehr in der Art servieren. Denn das Sideboard hat im Laufe der Jahrhunderte mehr gesehen als seltenes Porzellan. Da gab es jene Phase, in der es Sideboard im dekadenten Frankreich wie Spargel in die Höhe schoss, und sich als dressoir wie die offizielle Hutmode verhielt: Je höher sich die Reihen aufgestellter Teller übereinander türmten, desto glänzender der gesellschaftliche Rang. Auf wechselnde Funktionen verweisen nicht zuletzt die unterschiedlichen Namen dieses Möbels: Sideboard, Anrichte,

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Pandora Pergamena by Gallotti&Radice

Aero B by Living Divani

Credenza oder gar Buffet? Mal stand die Repräsentation im Vordergrund: Das Zeigen des wertvollsten Geschirrs. Dann durfte ein wenig Fingerfood abgestellt werden, und bei der vorübergehend aufgetauchten Subspezies des Brandy Boards, ein exklusiver kleiner Drink. Die heute altmodisch klingende Anrichte war selbstverständlich zum Anrichten von Speisen da –wurde früher doch meist in der Küche gegessen. Und Sideboard? Das erinnert an die Zeit der auf Böcke aufgelegten, beweglichen Tischplatten – neben denen ein separates längliches Regalbrett an der Wand alles bereithielt. Genau: Das Regalbrett ist das Sideboard, und damit der dienende kleine Bruder der viel prächtigeren Tafel. Einen üppigeren Vetter gibt es übrigens auch –das Buffet. Dieses stand stets mit dem Rücken zur Wand und hatte immer mit der Präsentation von Speisen zu tun. Waren diese so frisch, dass man ihnen trauen konnte, etwa weil sie der norditalienische „maestro credenziere“ vor den Augen der gespannten Gäste probeweise verkostete, wurde das Möbel zur Credenza.

ESSEN NICHT VERGESSEN. Man sieht: Essen und Wohnen, das war im Laufe der Metamorphose des Sideboards eine Einheit. Und vielleicht ist es ja auch der wichtigste Grund für das aktuelle Comeback dieses Möbels, das heute in so schöner Vielfalt auftaucht. Offene Grundrisse und die fließenden Grenzen zeitgemäßer Wohnküchen sind die perfekte Basis dafür. Der Wunsch nach Möbel mit Mehrfachfunktionen, die zugleich viele Möglichkeiten für schnelle Veränderungen erlauben, und die nicht zuletzt in ihrer Funktion als freistehender Raumtrenner in den Mittelpunkt rücken, ist allzu evident. Das gilt schon gar in den besonderen Monaten, die dem Thema Wohnkultur seit

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PANDORA UP SMALL by Gabriele e Giuliano Cappelletti

Covid zusätzliche Flexibilität abverlangen. Ein hochaktuelles Uraltmöbel wie das archaische Sideboard ist dafür wie geschaffen. Teller und Ladedock sind dann gleich schnell zur Hand. Schubläden halten Essgeräte bereit, die nicht jeden Tag zum Einsatz kommen – und die zugleich typisch für ein repräsentatives Möbel wie das elegante Sideboard sind. Für Luxus und ästhetischen Mehrwert steht dieses Möbel ohnehin ein: Die Ablagefläche bietet ausreichend Platz, um besondere Stücke ins beste Licht zu rücken. Pure Zweckmäßigkeit und Alltagsroutine fühlen sich anders an. Denn das Sideboard streicht auf exquisite Weise das Besondere heraus.

TIEFER GELEGTE ELEGANZ. Seine niedrige Höhe hat dieser Möbeltypus bis heute ebenfalls beibehalten. Der aktuelle Höhenflug soll daran nichts ändern – das praktische Möbel fällt maximal so hoch wie ein Tisch aus, und gerne noch wesentlich niedriger, mit Untergrenzen, die allerdings sechzig Zentimeter nicht unterschreiten sollten. Fast möchte man sagen: Je niedriger, desto stärker tritt auch der repräsentative Charakter des Sideboards in den Vordergrund. Ein Bild oder ein Spiegel haben dahinter in jedem Fall Platz und verfestigen so den Platz im Ensemble moderner Wohnkultur. Blickt man auf aktuelle Sideboards, so wirken bestimmte Entwicklungen in der Geschichte dieses Möbels zugleich erstaunlich überflüssig. Denn es gab Zeiten, als das Sideboard in eine White Collar und in eine Blue Collar Variante separiert wurde: Da verschwand das eine als nützlich-hemdsärmeliger „Welsh dresser“ in Richtung Küche, wo es sich zum Küchenunterschrank weiterentwickelte. Während das „feinere“ und wohl auch elegantere Teil als reines Schaustück im Salon verblieb. Was wir mit Sideboard alias Anrichte in Zukunft anrichten werden, steht in den Sternen. Aber von einem kann man mit großer Gewissheit ausgehen: Es bleibt fix am Posten, wie eh und je.

5th Avenue by Gallotti&Radice

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