3 minute read

Karin Jana Beck – Lied zur Zeit

Karin Jana Beck

Lied zur Zeit

Advertisement

Bei Schneegestöber im Quartier: Eine Frau mit Maske kommt mir entgegen, ich grüsse sie freundlich, sie schreit zurück: «Sie sind schuld daran, wenn ich sterbe!» … weil ich keine Maske trage … ich bin sprachlos. Im Zug unterwegs: Sonst beginne ich viele Gespräche mit Mitreisenden, dieses Jahr fast ein Ding der Unmöglichkeit, die Menschen sind in sich zurückgezogen. Meine Freundin, die visuell blind ist, erzählt mir, dass auch sie die Leute im Tram nicht mehr «lesen» könne, da sie kein persönliches Energiefeld mehr wahrnehme – es herrscht ängstlicher Rückzug, Erstarrung, menschliche Eiszeit.

Wo wei mer hi? Wo wollen wir hin? Qualität im Leben – Qualität im Sterben – endlich leben. Ich passe meine Patientenverfügung an: «Falls mein Immunsystem mit irgendeinem Grippe-Käfer nicht mehr klarkommt ohne Intensivmedizin, bin ich bereit, diese Welt zu verlassen (auch, wenn der Virus noch x-Mal gefährlicher ist als der derzeitige). Niemand soll sich schuldig fühlen, mich angesteckt zu haben. Es ist mein Weg. Nur weil ich nicht sterben will, soll nicht die ganze Welt in Not geraten: Kinder und Erwachsene verhungern und leiden psychisch, sozial und physisch durch Lockdowns, sind bedroht in ihrer Existenz.»

Nur weil ich nicht sterben will, soll nicht die ganze Welt in Not geraten.

Eine berührende zweite Mahnwache in Bern: Wir stehen ein für Meinungsvielfalt, offenen Diskurs und Verhältnismässigkeit.

Wir führen tiefe Gespräche mit Polizistinnen und Polizisten und bedanken uns gegenseitig für die Freundlichkeit, wir teilen singend die eigenen Gedanken, verschenken Rosen; eine Muster-Mahnwache. Nur ein einziger Mann zeigt sich zum Schluss hin nicht kooperativ

und wird in den Polizeitransporter weggezerrt, eine fünfminütige Episode... und am Abend in der Tagesschau? ... Einzig diese letzte Szene.

Ich bin wütend über solche verzerrten Darstellungen, traurig darüber, dass ich als fragender Mensch kein Gehör bekomme, ausgeblendet und sogar noch beleidigt werde.

Mein Vater (1915-1993), schon lange weit weg, taucht überraschenderweise plötzlich wieder auf: «Vertrau deiner Wahrnehmung, bleibe wachsam und schaue hinter die Bühne». Von ihm habe ich viel über Propaganda gelernt, danke.

Angst macht mir der grosse Druck, den ich wahrnehme – es herrscht Deutungs- und Meinungszwang mit einer einzigen, alternativlosen Lösung: Impfung. Ja, die Angst ist existenziell. Ich spüre ganz tief in mir, dass eine Impfung gegen meinen Willen nur über meine Leiche geht; mit dieser Klarheit schockiere ich einige meiner Liebsten, was mir Leid tut – es sind gefühlsintensive Zeiten. Eine grosse Glocke von Trauer und Angst scheint über der Welt zu schweben – als zwangs-arbeitslose Musikerin und Stimmfrau nehme ich die entgleisten Gefühle auf und versuche, ihnen mit Bewegung und Stimme ihre Urkraft zurückzugeben. Dabei entstehen neue Lieder, Geschenke, die das Herz nähren und erfreuen.

Als zwangs-arbeitslose Musikerin und Stimmfrau nehme ich die entgleisten Gefühle auf und versuche, ihnen mit Bewegung und Stimme ihre Urkraft zurückzugeben.

Narrenfreiheit in verrückten Zeiten: singend und mich selber mit der Ukulele begleitend durch den Wald spazieren und für die

Bäume spielen. Wenn ich mich auf einer Bank niederlasse, gesellen sich manchmal Spaziergänger dazu. Auf dem Heimweg, bei der für ihre lange Wartezeit berüchtigten Bahnbarriere, singe ich auf dem Trottoir ein Lied: Autoscheiben werden heruntergekurbelt, einige singen mit, viele hupen beim Wegfahren.

Begegnung mit einem Polen in der Bahnhofunterführung; ein tiefer Austausch. Wir ziehen die Masken aus, umarmen uns spontan. Wir weinen beide so lange wie Tränen fliessen. Wortlos verneigen wir uns beim Abschied. Später schreite ich allein durch die Unterführung; wieder steigt tiefe Trauer hoch, soll ich diese jetzt unterdrücken? Nein! Ich weine, hörbar, sichtbar – verletzlich, menschlich, stark! Gefühle fliessen lassen, ist ein Weg zum Frieden. Manche Leute weichen aus, andere scheinen mich nicht wahrzunehmen, doch eine Frau tritt auf mich zu, packt mich am Arm: «Ich habe zwei Kriege erlebt. Ich kenne deine Trauer, aber sei kein Opfer, sonst machst du es den Mächtigen viel zu einfach. Steh wieder gerade hin!»

Die Sehnsucht wächst nach einer Welt mit Menschlichkeit, Kontakt, Nähe, Demut und Verletzlichkeit, einem erdverbundenen Leben. Mein Beitrag: friedvollen Widerstand leisten, Lieder zur Zeit kreieren, gemeinsam singen und jeden Tag ein Fest feiern und die Visionen nähren.

Karin Jana Beck, Ausdruckstherapeutin M.A., prozessorientierte und gesundheitsfördernde Stimmarbeiterin, Singanleiterin, Volks- und Ritualmusikerin, Alltags- und Gemeinschaftskulturschaffende, Mitinitiatorin des Sing- und Friedensprojektes: www.stimmvolk.ch Homepage: www.tschatscho.ch. Youtube-Kanal: «Musik Duenda» Mit Lieder zur Zeit und Wochenliedern u.a. «Wo wei mer hi?», «S isch itz Zyt»

This article is from: