Unser Jahr unter Corona – ein Blick in 32 Tagebücher

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Karin Jana Beck

Lied zur Zeit Bei Schneegestöber im Quartier: Eine Frau mit Maske kommt mir entgegen, ich grüsse sie freundlich, sie schreit zurück: «Sie sind schuld daran, wenn ich sterbe!» … weil ich keine Maske trage … ich bin sprachlos. Im Zug unterwegs: Sonst beginne ich viele Gespräche mit Mitreisenden, dieses Jahr fast ein Ding der Unmöglichkeit, die Menschen sind in sich zurückgezogen. Meine Freundin, die visuell blind ist, erzählt mir, dass auch sie die Leute im Tram nicht mehr «lesen» könne, da sie kein persönliches Energiefeld mehr wahrnehme – es herrscht ängstlicher Rückzug, Erstarrung, menschliche Eiszeit.

Nur weil ich nicht sterben will, soll nicht die ganze Welt in Not geraten. Wo wei mer hi? Wo wollen wir hin? Qualität im Leben – Qualität im Sterben – endlich leben. Ich passe meine Patientenverfügung an: «Falls mein Immunsystem mit irgendeinem Grippe-Käfer nicht mehr klarkommt ohne Intensivmedizin, bin ich bereit, diese Welt zu verlassen (auch, wenn der Virus noch x-Mal gefährlicher ist als der derzeitige). Niemand soll sich schuldig fühlen, mich angesteckt zu haben. Es ist mein Weg. Nur weil ich nicht sterben will, soll nicht die ganze Welt in Not geraten: Kinder und Erwachsene verhungern und leiden psychisch, sozial und physisch durch Lockdowns, sind bedroht in ihrer Existenz.» Eine berührende zweite Mahnwache in Bern: Wir stehen ein für Meinungsvielfalt, offenen Diskurs und Verhältnismässigkeit. Wir führen tiefe Gespräche mit Polizistinnen und Polizisten und bedanken uns gegenseitig für die Freundlichkeit, wir teilen singend die eigenen Gedanken, verschenken Rosen; eine Muster-Mahnwache. Nur ein einziger Mann zeigt sich zum Schluss hin nicht kooperativ 15


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