Credo Nr. 4 Dezember 2023

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Das Magazin für Mitarbeitende der Katholischen Kirche im Kanton Zürich

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Die warme Stube ist das ganze Jahr offen Seite 4

Ausgezeichnete Pfarrei Seite 12

«Ich steh an deiner Krippe hier» Seite 16

«Kirche muss diakonisch sein» Interview mit Patrice de Mestral, Pionier der Polizeiseelsorge. Ab Seite 6

Dezember 2023

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Editorial

Einsätze zwischen den Welten

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Wunder an der Langstrasse 4 Aktuell

Barbara Winter-Werner, :`UVKHSYp[PU leitet das Ressort Ökumenische Seelsorge -V[V! 3PUKH 7VSSHYP

Die meisten Menschen haben in ihrem Alltag kaum Berührungspunkte mit Gefängnissen. Und doch gibt es diese Verbindungen, sei es, dass ein Familienangehöriger bei der Polizei oder der Justiz arbeitet, sei es, dass Unvorhergesehenes im Leben passiert, an das niemals jemand gedacht hat. Für die Menschen, die in den Gefängnissen ihre Strafe verbüssen, aber auch für ihr Umfeld, ihre Angehörigen, für die Mitarbeitenden von Blaulichtorganisationen wie Polizei, Feuerwehr und Sanität engagieren sich verschiedenste Seelsorgende und Institutionen der Kirchen: ökumenisch und interreligiös, mit dem Fokus, unvoreingenommen für Menschen in belastenden Situationen da zu sein. So zum Beispiel in der Polizeiseelsorge, in der Gefängnisseelsorge, bei «Extramural», einem neuen Angebot für Angehörige von Inhaftierten. Der reformierte Theologe und ehemalige Pfarrer Patrice de Mestral (90), der sich selbst als «Grenzgänger» versteht und für Zürich und weit darüber hinaus Pionier der Polizei- und Gefängnisseelsorge ist, erzählt im Interview, wie er stets versucht hat, zwischen den beiden Welten zu vermitteln und kirchliche Präsenz auch jenseits aller Konventionen und bürgerlicher Behaglichkeit zu entfalten. Ivana Mehr berichtet über ihre Tätigkeit bei «ExtraMural». Das ist diakonische Kirche, die nahe bei den Nöten der Menschen ist und für die wir uns auch in Zukunft einsetzen werden. Barbara Winter-Werner

Offen für alle 5 Aktuell

Raum für Begegnungen 6-9 Fokus

Seelsorge am Rand 10-11 Jahresrückblick

Das war 2023 12 Engagiert

Die EineMillion-Pfarrei 14 Perspektiven

Mauern überwinden 15 Seelen-Nahrung

Ein Käfer, der Mut macht 16 Ausläuten

Das Leuchten der Krippen Impressum credo credo erscheint vierteljährlich und NLO[ HU 4P[HYILP [LUKL Behördenmitglieder und Freiwillige der Katholischen Kirche im Kanton Zürich.

Herausgeberin und Redaktion Katholische Kirche im Kanton Zürich Kommunikationsstelle Hirschengraben 66 8001 Zürich

5á +LaLTILY www.zhkath.ch/credo credo@zhkath.ch (\ÅHNL! ˕ ,_WS

Druck und Papier :[HɈLS 4LKPLU (. Zürich )HSHUJL7\Y! OLYNLZ[LSS[ aus 100% Recyclingfasern und mit dem Umweltlabel «Blauer ,UNLS® aLY[PÄaPLY[

Layout +LUPZ :JO^HYa A YPJO .YHÄRRVUaLW[ 4HYH 4 YZL[ )HZLS

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Momentum

«Würden wir heutzutage Jesus überhaupt erkennen? Er erscheint ja meist an Orten, wo wir ihn am wenigsten erwarten. Mein Bild zeigt das Weihnachtswunder mitten in Zürich auf der Langstrasse.» Fiona Knecht

Die Designerin Fiona Knecht hat auch dieses Jahr wieder die Krippe der Katholischen Kirche auf dem Weihnachtsmarkt im Münsterhof gestaltet. -V[V! :HZRPH 9PJO[LY O[[WZ! ^^^ aORH[O JO kirche-aktuell/ 3d-krippe-muensterhof

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Aktuell

Zahlen & Fakten

360

Tage ist das Café Yucca pro Jahr geöffnet.

Da sein für Menschen in Not Solidara Zürich bietet sozial benachteiligten Menschen mit dem Café Yucca seit 50 Jahren an der Hähringstrasse mitten im Zürcher Niederdorf einen niederschwellig zugänglichen Begegnungsort. Das Café wird finanziell auch von der katholischen Kirche unterstützt.

18’980

warme Mahlzeiten wurden im letzten Jahr ausgegeben an Menschen in Not, pro Tag im Schnitt 53.

23’000

Gäste fanden 2022 den Weg ins Café Yucca.

4’330

Sozialberatungen und Gespräche führte das Team.

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Mitarbeitende und 2 Zivildienstleistende bilden das Team vom Café Yucca, gelegentlich ergänzt mit Praktikantinnen, Praktikanten und Aushilfen.

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Blick in die warme Stube des Café Yucca in der Zürcher Altstadt. -V[V! a=N

Ob alt oder jung, ob mit kleinen oder grossen Sorgen, mit psychischen Beeinträchtigungen oder ohne Obdach: Hier finden die Menschen in Not Beratung, Kontakt und Unterstützung. Wer am Rande der Gesellschaft lebt, kann auf professionelle Hilfe zählen. Das Café Yucca ist offen für alle und vieles in einem: Ein Ort der Ruhe, aber auch der Begegnung, wo die Gäste miteinander ins Gespräch kommen und beim Spielen den Alltag für einige Momente vergessen können. Am Abend wird für die Gäste gekocht und ein günstiges Znacht serviert. Auf dem Herd steht immer ein grosser Topf Suppe, diese ist für die Gäste gratis. Die Sozialberaterinnen und -berater sind gut vernetzt, arbeiten mit anderen sozialen Institutionen zusammen und können dadurch auch Vermittlungsfunktionen wahrnehmen. Die Beratung im Café Yucca ist für alle kostenlos, ein Termin muss nicht reserviert werden.

Diesen Sommer feierte das Team mit seinen Gästen und lokaler Politprominenz das Jubiläum an einem fröhlichen Strassenfest. An Heiligabend ist zu, aber nur, weil das grosse Festessen für den ersten Weihnachtstag vorbereitet wird. An diesem Tag wird es richtig voll in dem kleinen Gastraum und es werden rund 200 Essen ausgegeben. Das Yucca ist ein Anlaufpunkt für viele, die in der Zürcher Gesellschaft oft gar nicht oder nur am Rande wahrgenommen werden. Mit das Wichtigste ist nicht nur die heisse Suppe oder der Internetzugang, sondern die Aufmerksamkeit, die dem einzelnen Menschen entgegengebracht wird. Das Café Yucca ist dankbar für jede Unterstützung. Im Winterhalbjahr sammelt es auch gebrauchte, nicht mehr benötigte Schlafsäcke, die den obdachlosen Menschen helfen, sich vor Nässe und Kälte zu schützen. https://www.solidara.ch/ schenken-sie-waerme/


Aktuell

Kirchgemeinde Männedorf

Personelles Wir begrüssen Als Religionspädagoginnen arbeiten Maria MachallVogel seit dem 1. November und Diya Moosariparambil seit dem 1. August in Bülach \UK .VZZH\ A/ Silke Winkler wirkt als Spitalseelsorgerin seit dem 1. Oktober im Triemli. Jaroslaw Jan Jakus arbeitet seit dem 1. September als mitarbeitender 7YPLZ[LY PU =VSRL[Z^PS \UK Manfred Kulla wirkt seit KLT (\N\Z[ HSZ +PHRVU in St. Martin Zürich.

Europa-Tour

Andrea Balzer-Brühlmann startete am 1. November HSZ 3LP[LYPU M Y KPL ALU[YHSLU Dienste im C66.

Christan Marti, feierte am 6R[VILY ZLPU 1HOYL Dienstjubiläum bei kabel.

Wir verabschieden Pedro Gil Ruiz Juan ]LYSpZZ[ UHJO 1HOYLU KPL Spanienseelsorge und :VÄH Machado Duarte Bruna die Portugiesenmission UHJO 1HOYLU Roger Volken-Schmid ]LYSpZZ[ UHJO 1HOYLU +PLUZ[ KPL .LMpUNUPZZLLSsorge und Antonio Sakota UHJO 1HOYLU KPL 2YVH[LUseelsoge. Magdalena Thiele hat am 31. Oktober die Kommunikationsabteilung verlassen. 5HJO 1HOYLU HSZ :WP[HS-

«Mona & Lisa» ist ein ökumenisches seelsorgerin wird Elisabeth Cohen pensioniert. und interaktives Format der reformier- Nazar Zatorsky betreut seit 1. November die grieten und katholischen Kirche Männe- JOPZJO RH[OVSPZJOLU .Sp\ Yazmin Homberger Herdorf für junge und jung gebliebene bigen im Kanton Zürich. nandez NLO[ UHJO 1HOFrauen, die Lust haben, sich zu treffen, ren bei der MC-Espanola und Denise Traxler nach sich interaktiv und locker einem The- Wir gratulieren 1HOYLU ILP KLY 4* KL ma zu nähern und den Abend mitein- Stefan Arnold, Spitalseel- la langue française in den ander zu verbringen. Frau darf einfach ZVYNLY MLPLY[L HT 6R[V- verdienten Ruhestand. kommen, mitmachen und geniessen. ILY ZLPU 1HOYL +PLUZ[ jubiläum. Die «Mona & Lisa-Abende» gibt es inzwischen seit 2014. Die Reihe 2023/ 2024 führt «quer durch Europa in ver«credo» braucht Ihre Mithilfe! schiedene Länder». Nach dem WelEine Bitte an die Kirchenpflegen und come und einem Einstieg ins Thema Pfarreiverantwortlichen: werden sich die Teilnehmenden in Wir verfügen leider nicht über alle postalischen verschiedene Ateliers mit Essen, MuAdressen der Mitarbeitenden in der Katholischen Kirche im Kanton Zürich, zu denen natürlich auch sik und Dekoration ins entsprechende Organisten, Chorleiterinnen, Katechetinnen, Land begeben. Die Abende bieten neHauswarte usw. gehören. ben dem Programm auch viel Raum Senden Sie uns doch bitte die Adressen Ihrer Mitarbeitenden, aber auch jener wichtigen Freiwilligen für Begegnungen und Gespräche. Fragen und Anmeldung via Barbara Ulsamer: b.ulsamer@kath-maennedorf-uetikon.ch

in der Pfarrei, die an «credo» interessiert sind. Kontaktadresse: credo@zhkath.ch

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90 Jahre und kein bisschen müde. Der Theologe, Pfarrer und Kirchenpionier Patrice de Mestral

«Man muss lernen, sich einzumischen» Im August ist Patrice de Mestral 90 Jahre alt geworden. Er hat den Grundstein für die Polizei- und Gefängnisseelsorge im Kanton Zürich gelegt. Immer noch sprüht er im Interview vor Neugierde und innerem Feuer für seine Projekte und schöpft aus einem schier unendlichen Fundus an Zitaten und Erlebnissen. Interview: Sibylle Ratz / Simon Spengler. Fotos: Saskia Richter

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Wieso hast du dich dafür eingesetzt, dass die Kirche einen Zugang zur Polizei und dem Strafvollzug bekommt? Patrice de Mestral: Polizistinnen und Polizisten sind derart exponiert mit einer negativen Auswahl von Menschen mit unterschiedlichster Herkunft. Sie verhaften Leute, weil etwas passiert ist. In dem Beruf ist man gefährdet, zynisch und rassistisch zu werden. Wie hast du das angestellt? Das war nicht mal so schwer. Ich habe dem Ausbildungschef der Stadtpolizei gesagt: «Ich will mich mit den Aspiranten austauschen, mit ihnen darüber diskutieren, was sie machen, um nicht kaputtzugehen in diesem Beruf.» Er meinte dann: «Ok, wir werfen dich mal 30 Polizeiaspirantinnen und -aspiranten zum Frass vor». Wie lief das dann ab? Diese jungen Polizisten berichteten mir davon, dass sie jeweils am Wochenende mit ihren schweren Töffs wegfahren, erst am Montagmorgen nach Hause kommen und weiterarbeiten. Das ist aber lediglich Aggressionsabbau. «Von dem habt ihr noch nicht gelebt. Da seid ihr genauso gefährdet», habe ich ihnen gesagt. Dann habe ich mit ihnen über Menschenbilder geredet. Ich habe ihnen erzählt, was passiert mit den Menschen, die sie verhaftet haben. Das war ihnen so nicht bewusst.

Danach meinten sie: «Wow, das fährt ein.» Ich versuchte, ihnen Brücken zu bauen und Alternativen aufzuzeigen: Männergruppen, Leute in den Kirchgemeinden, mit denen man sich austauschen kann, Möglichkeiten, um einigermassen in den Ausgleich zu kommen. Wie konntest du Vertrauen aufbauen? Es war die Zeit vom Letten und dem Platzspitz mit der offenen Drogenszene. Ich bin jeden Monat eine Nacht von abends 22 Uhr bis morgens 6 Uhr auf Streife mitgefahren. Diese Nähe haben sie sehr geschätzt. Einmal waren die Zellen derart überfüllt, dass ich direkt zum Kommandanten der Kapo gegangen bin und ihn gefragt habe, ob er wisse, was los sei. Die Offiziere wollten ihn vor lauter Respekt schonen. Das geht aber nicht. Du plädierst also dafür, dass man sich einmischen soll? Viele haben den Mut nicht, sich einzumischen. Sie machen Dienst nach Vorschrift. Wenn du schlechte Zustände in einem Gefängnis hast, dann musst du aber reagieren.

Wieso hattest du den Mut, das zu tun? Ich habe eine spezielle Biografie. Ich war früher Minenwerfer-Offizier, dann Feldprediger. Da habe ich gelernt: «Wir sind eigentlich keine Hauptleute, Was macht denn den Beruf als Poli- wir sind nur einfache Soldaten, aber wir zist so schwer? tragen immer den Grad unseres GegenDie Trennung zwischen Beruf und übers.» Man muss lernen, angstfrei, auf Privatleben. Heimkommen mit all den Augenhöhe zu kommunizieren und das Emotionen, die aber doch irgendwie im Alltag zu leben. Die meisten Theorauskommen müssen. Das sind oft ganz loginnen und Theologen sind sich das schwierige Beziehungen. Es gibt viele nicht gewohnt. Scheidungen und Trennungen. Was ist so schwierig daran, Pfarrer, Wie konntest du die Aspiranten von Seelsorgender zu sein? dir überzeugen? Die reformierte Kirche hat eine Ich brachte ihnen Klostermusik mit schlechte Anerkennungskultur. «Du, gregorianischem Gesang mit. Ich habe ich finde das gut, was du versucht hast, sie gebeten, fünf Minuten ruhig zu sein. mach das», hört man kaum. Ich höre auch, dass viele in der katholischen Kirche einsam sind. Es ist anspruchsvoll als Priester. Du solltest predigen können, du sollst Seelsorger sein, du solltest mit jungen Menschen umgehen können, mit alten, mit Leuten, die gar nichts mit der Kirche zu tun haben.

«Ok, wir werfen dich mal 30 Polizeiaspirantinnen und -aspiranten zum Frass vor». Patrice de Mestral

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«Man muss lernen, angstfrei, auf Augenhöhe zu kommunizieren und das im Alltag zu leben». Patrice de Mestral

Hast du ein reformiertes Herz oder Kannst du nachvollziehen, dass so viele Menschen bei euch wie auch bei ein ökumenisches? Ein ökumenisches. Aber ich habe uns aus der Kirche austreten? «Säkularisierung ist die Frucht der Probleme mit dem katholischen Verständnis von Eucharistie, mit der Verkündigung der christlichen Freiheit» Wandlung. Noch mehr habe ich ein Pro- (nicht Säkularismus!). Der Spruch ist blem mit der Mariologie. Weil mir heu- von Friedrich Gogarten, einem deutte in der katholischen Kirche Maria viel schen Theologen. Es geht dabei um die wichtiger zu sein scheint als Jesus von Mündigkeit der Menschen. Die Menschen entscheiden selber über Nähe Nazareth. und Distanz zur Institution. In KirchenWas ist der Unterschied zwischen re- kreisen wollen sie immer wissen, ob ich gläubig bin oder nicht. Jesus hat nie daformiert und katholisch? Mein Freund, der Kapuziner und nach gefragt. Er hat sich einfach den Prof. Dietrich Wiederkehr, sagte mir: Menschen zugewandt. «Weisst du, theologisch sind wir uns im meisten einig. Aber ich könnte nie Wie kann Kirche auf die Austritte rereformierter Theologe sein. Weil der agieren? Sie wird vermutlich nicht darum Groove, die Kerzen, Maria, die Prozessionen, das würde mir fehlen.» Da sagte herumkommen, noch viel stärker diaich, ja, das ist Volksfrömmigkeit. Deine konisch zu werden. Da zitiere ich nochKirche lebt von dieser Volksfrömmig- mals Dorothee Sölle: «Eine Kirche, die keit, die für sie wichtiger ist als die Bot- nicht diakonisch ist, ist keine Kirche». Ich merke, in der diakonischen Präsenz, schaft Jesu. im Gefängnis, in der Psychiatrie, PoliWie kamst du überhaupt zur Theo- zei, in Spitälern, da passiert eine gelebte Zuwendung, das wird von allen voll aklogie? Während meines Ökonomiestudi- zeptiert. Das Gefäss der Predigt, wo eiums begann ich, mir Fragen zu stellen ner zu einem Text ein paar Lebensweisund wechselte zur Theologie. Nach mei- heiten bringt mit ein paar politischen ner Tätigkeit auf Boldern arbeitete ich Akzenten, das ist ganz schwierig. Also im Gefängnis - neun Jahre in der JVA müssen wir andere Formen finden. Bostadel - von morgens 10 bis abends 18 Uhr. Das waren acht Stunden in einer brutalen Welt. Da wäre «Brian» nur einer von vielen gewesen. Um das auszuhalten, musste ich lernen, spirituell verankert zu sein. War es jemals das Thema, aus der Kirche auszutreten? Nein, nie. Das habe ich auch an meiner kürzlichen Geburtstagsfeier gesagt, als drei Theologen jeweils 30 Jahre meines Lebens zusammenfassten. Ich haben ihnen verschiedene Zitate gegeben. Erwin Koller erhielt eines von Cyprian: «Niemand kann Gott zum Vater haben, der nicht die Kirche zur Mutter hat.» Hans Strub bekam eines von Dorothee Sölle: «Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist». Und Esther Straub konnte sich dann auslassen über Paul Tillich: «Die Grenze ist der fruchtbare Ort der Erkenntnis».

«Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist». Patrice de Mestral

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Kannst du ein Beispiel nennen? Kirchliches Leben findet heute hauptsächlich in territorial abgegrenzten Strukturen wie Kirchgemeinden und Pfarreien statt. In Zukunft, wenn es voraussichtlich die breite Volkskirche in dieser Form nicht mehr geben wird, brauchen wir viel mehr Beweglichkeit. Mir schweben mobile Teams vor, die unterwegs sind an immer neue Orte, wo sie gebraucht werden. Woher hast du deine Kraft und deinen Schutz genommen für deine Arbeit? Um die Welt auszuhalten, die so schrecklich und kaputt ist, habe ich mein eigenes Gefäss gefunden. Ich beginne den Tag mit Fürbitten des Gedenkens, mit meiner Familie, mit Menschen, die ich persönlich begleitet habe über Jahrzehnte. Es sind schwierige Menschen. Und wenn ich dann den inländischen Gefängniszirkus hinter mir habe, dann kommen all die Hotspots auf der Welt: Ukraine, Afghanistan, Israel und Gaza usw. Die benenne ich. Als Folge davon habe ich das Gefühl: «Was du trägst in deiner Fürbitte, trägt dich.» Später schreibe ich vielleicht eine E-Mail, eine Karte. Dann lese ich noch im Büchlein mit den Boldern-Texten und mache später das Frühstück für mich und meine Frau. Das gibt mir irrsinnigen Power. Ich erwähne es mehr, weil es für mich ein Weg gelebter Spiritualität ist. Hat sich da auch dein Menschenbild verändert in den vergangenen Jahrzehnten? Als ich in der Strafanstalt Bostadel tätig war, hatte ich keine Ahnung, was mich erwartet. Es ist ein verrücktes Biotop. Darin zu verkehren, das musste ich lernen. Da hat es zwei Grundsätze gegeben: Ein Täter ist mehr als nur seine Tat. Und: Man kann ihn nicht reduzieren auf seine Tat. Aber einen Täter verstehen heisst nicht, seine Tat billigen. Ich habe mich gefühlt wie ein Mensch in einer Geröllhalde, der die Felsbrocken aufhebt und darunter sucht, ob es eine Pflanze gibt, die noch leben möchte.

Hast du da die Hoffnung nie aufgegeben? Das, was ich damals geglaubt habe, dass jeder das Recht hat, mit seiner schrecklichen Tat abzuschliessen und neu anzufangen, da komme ich langsam ins Rutschen mit meinem Menschenbild und hinterfrage mich. Ich hatte geglaubt, wir Menschen sind zwischen 50 und 70 Prozent gut und vielleicht 30 Prozent nicht so gut. Was ich aktuell erlebe, was in der Welt abgeht, das bringt mein Urvertrauen ins Gute des Menschen ins Wanken. Und ich frage mich ab und zu, ob wir Menschen letztlich zivilisierte Bestien sind mit fünf Zentimetern Zivilisationshumus. Wie gehst du damit um? Es gibt das Zitat von Goethe: «Es gibt keine Tat, die nicht jeder von uns unter besonderen Umständen zu begehen im Stande wäre.» Das habe ich immer wieder in Vorträgen über Strafvollzug gesagt. Redet nicht immer über diese. Schaut euch selber an. Ihr seid verschont geblieben, ihr habt ein solides Umfeld, aber ihr seid genauso gefährdet. Was würdest du kommenden Generationen mit auf den Weg geben? Solange die Kinder, die jungen Menschen noch neugierig sind, staunen und dankbar sein können, kann gar nicht viel fehl gehen in ihrem Leben. Wenn da Neugier ist, kann Vertrauen entstehen.

«Um die Welt auszuhalten, die so schrecklich und kaputt ist, habe ich mein eigenes Gefäss gefunden». Patrice de Mestral

Patrice de Mestral ist 1933 geboren. Er studierte kRVUVTPL \UK KHUU ;OLVSVNPL ^VSS[L \YZWY UNSPJO HILY UPL 7MHYYLY ^LYKLU 3HUNL ALP[ ^HY LY im evangelischen Tagungszentrum Boldern in Männedorf Studienleiter und liess sich doch noch ordinieren. Danach stellte er als freischaffender reformierter Theologe viele Projekte auf die Beine. Unter anderem ist er der Pionier für KPL 7VSPaLPZLLSZVYNL ,Y ^VSS[L PTTLY ZLOLU ^HZ am Rande der Kirche passiert und sorgte sich um 7VSPaPZ[LU :[YHɈpSSPNL (Z`SZ\JOLUKL \UK a\Y JRNLZJOHɈ[L Q\UNL (SIHULY <UK UL\L 0KLLU OH[ LY noch viele.

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1HOYLZY JRISPJR

Das Kirchen-Jahr im Rückblick Viel Licht, aber auch dunkle Schatten bescherte uns das ablaufende Jahr. Die Bilder belegen: Unsere Zürcher Kirche bleibt in Bewegung.

März

Februar Unsere Kirche ist möglichst nachhaltig unterwegs. Im Februar werden erste E-Bikes ausgeliefert. Der Hauswart vom C66, Fausto Moschetta, nimmt das Velo öfters in Gebrauch. -V[V! :HZRPH 9PJO[LY

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2023

Beim Friedensgebet über Religionsgrenzen hinweg beten orthodoxe, reformierte und katholische Geistliche zusammen für eine friedlichere Welt.

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Januar

Im März feiert die Weggemeinschaft vom Haus der Stille in Rheinau ihr 20-Jahr-Jubliäum. Dieser idyllische Ort hat eine grosse Anziehung, nicht nur auf Menschen aus der Umgebung.

Juni

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Mai Der Klostermarkt in der grossen Halle des Hauptbahnhofs Zürich zieht zahlreiche Besucherinnen und Besucher an. -V[V! :HZRPH 9PJO[LY

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2023

Beim ökumenischen Kreuzweg wird ein Holzkreuz durch die Strassen Zürichs getragen.

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April

«Wieso kann Kirche nicht immer so eindrücklich sein?», so eine Besucherin der Langen Nacht der Kirchen, an der sich dutzende Kirchen im Kanton auf ungewohnte Weise präsentieren.


Juli September

Ende August trifft sich der Synodalrat in neuer Zusammensetzung zu einer ersten Arbeitssitzung unter der Leitung des neuen Synodalratspräsidenten Raphael Meyer. -V[V! 3PUKH 7VSSHYP

Nach dem 12. September ist vieles anders. An der Paulus Akademie diskutieren Betroffene mit dem Bischof über die Konsequenzen der Vorstudie zum Missbrauch in der Kirche.

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August

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Die Kirche beschert dem Zürifäscht einen Garten Eden und stillt das Bedürfnis nach einer Ruheinsel mitten im Getöse des grössten Volksfestes der Schweiz.

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Oktober Dezember

Jugendliche tragen das Kreuz ins Grossmünster. Die Nacht der Lichter im November ist eine Oase für die Stadt und führt hinaus aus der Hektik in Ruhe und Stille. -V[V! :HIPUL ANYHNNLU

Zum Weltaidstag organisiert die HIV-Aidsseelsorge in Zürich einmal mehr einen Gedenktag. Das Zusammenstehen hilft gegen die Vereinsamung. -V[V! :HZRPH 9PJO[LY

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November

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2023

Die Gewinnerin des Filmpreises der Zürcher Kirchen, Jacky Burtsche, arbeitet in ihrem Film «Las Toreras» ihre schwierige Familiengeschichte auf.

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Engagiert

«Die Auszeichnung zur MilleniumsMillion-Pfarrei ist für Uster Motivation zum Weitermachen» Text: Marcel Peterhans

Der Ustemer Pfarrer Branko Umek (rechts) nimmt die Urkunde der Fastenaktion von Phil Eicher entgegen. -V[V! ,SPZHIL[O -LSKOH\Z

«Unsere Pfarrei Uster-St.Andreas, unterstützt Fastenaktion bereits seit Jahrzehnten mit viel Engagement sowie solidarischen BeiMarcel Peterhans, trägen und wertSeelsorger in der Pfarrei vollen Mitteln. Uster und verantwortlich für das Projekt FastenSeit dem 1. Januar aktion in der Pfarrei. 2000 bis heute haben die Mitwirkenden und Mitglieder unserer Pfarrei St. Andreas mehr als eine Million Franken für die Projekte und Programme von Fastenaktion (ehemals Fastenopfer) gesammelt. Ende November überreichte Fastenaktion der Pfarrei in einem Patroziniums-Gottesdienst als Dankeschön für ihren Einsatz eine Auszeichnung als Millenniums-Million-Pfarrei. Gleichzeitig feierten wir den Tag der Völker, zu dem wir auch die bei uns beheimateten Missionen eingeladen haben. Als Verantwortlicher für die Katechese in der Pfarrei ist es mir wichtig, die Fastenaktion auch in den Unterricht

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einzubauen. An einem Familiengottesdienst wird das jeweilige Jahresprojekt, das wir konkret unterstützen möchten, vorgestellt. Dazu basteln die Schülerinnen und Schüler der Mittelstufe etwas thematisch Passendes und verkaufen diese Dinge dann auch im Anschluss an die Messe. Das gesammelte Geld geht dann auch vollständig in das Projekt. Die aus der katholischen Pfarrei Uster gespendeten Beträge ermöglichen Fastenaktion in den armen Ländern des globalen Südens eine langfristig angelegte, wirksame Arbeit. Viele tausend Familien konnten dadurch nachhaltig ihre Ernährung und ihre Lebensgrundlagen verbessern. Das Echo auf diese Aktionen ist sehr gut und unser Engagement wird sehr geschätzt. Wir liefern den Menschen Hintergrundinformationen, so dass sie wissen, wohin ihr gespendetes Geld geht, sie sehen, wofür es konkret gebraucht wird. Die Auszeichnung zur Milleniums-Million-Pfarrei motiviert uns zum Weitermachen und ist eine Bestätigung für unsere Arbeit.»

Die Stiftung Fastenaktion setzt sich seit über sechzig Jahren für genügend Nahrung im globalen Süden ein. Dafür benötigt sie die Unterstützung der Menschen in der Schweiz und in den Pfarreien. Fastenaktion ist während der Fastenzeit mit der sogenannten Ökumenischen Kampagne in vielen Pfarreien präsent. Freiwillige und Pfarreimitwirkende unterstützen die Kampagne und sammeln wertvolle Mittel für diese Menschen. Im Gegenzug hilft Fastenaktion den Pfarreien bei der Gestaltung der Fastenzeit: Sie stellt Erfahrungsberichte aus dem Süden zur Verfügung, erarbeitet Bildungsmaterialien für den Religionsunterricht und liefert auch spirituelle Inspiration. Früher hiess die Fastenaktion «Fastenopfer». Sie wurde auf Initiative von Jungwacht/Blauring von den Schweizer Bischöfen gegründet. www.fastenaktion.ch


Unsere Kirche

Buchtipp Die Bibel NYHÄZJO KHY gestellt Willeke Brouwer erzählt und zeichnet 50 spannende Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament; mit Humor, aber nie ohne Respekt - und mit vielen historischen Fakten, die es ermöglichen, tief in die biblische Zeit einzutauchen. Die Bibel ist hier als moderne Graphic Novel mit Geschichten, Fakten und wunderschöne Zeichnungen dargestellt. Brouwer ist eine niederländische Illustratorin, Cartoonistin und Autorin. Willeke Brouwer. Die Bibel. Graphic Novel. Verlag Herder. ISBN 978-3-451-71655-3

Ausflugstipp Da Vinci in Basel Das weltbekannte Gemälde von Leonardo Da Vinci «Das letzte Abendmahl» kann ab 20. Januar in Basel in einer 360 Grad Darstellung neu erlebt werden. Jeder Pinselstrich und jede geometrische Komposition ist so sichtbar. Welche Geheimnisse und Mysterien lodern rund um das Gemälde und was ist an ihnen dran? Die immersive Ausstellung führt die Besucher auf eine bildstarke, emotionale, spannende und informative Reise. Weitere Informationen: letzteabendmahl.de/basel

Stefan Weiss an einem Spieleabend und bei der Messe ­:70,3 ,ZZLU® -V[VZ! a]N

Mein Hobby Im «Flow» beim Spielen Donnerstag, 05.10.2023, 10 Uhr, Essen in Deutschland: Die Türen der Grugahalle öffnen sich. Auf der «SPIEL Essen», der grössten Brettspielmesse der Welt, werden meine Frau und ich wieder Neuheiten ausprobieren, einige kaufen und uns mit anderen Begeisterten austauschen. Schon als Kind faszinierten mich Brettspiele. Damals waren «Kapitän und Pirat» oder «Öl für uns alle» ein begehrter Zeitvertreib. Später lernte ich Skat und Doppelkopf. Zum wahren Hobby wurde es, als ich zu Beginn meiner Studienzeit im Universitätsviertel einen Spieleladen entdeckte, dessen Fundus Grundlage von zahlreichen Spielewochenenden in der Studenten-WG war. Heute spielen wir in der Familie und im Freundeskreis mit grosser Vorliebe kooperative und immersive Spiele, die uns tief in andere Welten ziehen. Im Vordergrund steht für uns das gemeinsame Erleben, Lachen und Tüfteln. Unser Nachwuchs spielt seit Kindertagen mit. Sie malen Spielefiguren kunstvoll an oder stecken ihren Freundeskreis mit D&D-Stories (Dungeons and Dragons/Verliese und Drachen, also Rollenspiele mit einem Spielleiter) an, in denen man fantastische Momente erlebt. Ich habe bereits mit Luke Skywalker den Todesstern zerstört (episch!) und im passenden Moment «Den Einen Ring» im Schicksalsberg versenkt. Das passte! Selbst im Kollegenkreis in Zürich bei einem Unternehmen, das Halbleiterlaser herstellt, wird ab und zu nach Feierabend gespielt, wenn ich nicht als Mitglied der Kirchenpflege wieder in einer Sitzung weile. Mögen die Meeple (my people, Begriff aus dem Spiel «Carcasonne») dabei gut geführt, die Karten schlau eingesetzt werden und die Würfel erfolgreich rollen. Stefan Weiss PZ[ 2PYJOLUWÅLNLWYpZPKLU[ PU 3HUNUH\ HT (SIPZ und begeisterter Spieler.

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Perspektiven

«Angehörige von Gefängnisinsassen sind ‹mitgefangen›»

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Bei uns haben die Angehörigen sichtbar sind, dass wir da sind für ein un«Gefängnisinsassen machen sich in der Regel sehr grosse Sorgen um ihre einen Ort, wo sie oft erstmals überhaupt verbindliches Gespräch, für einen Kafi. Im Angehörigen. Sie selbst haben beim Ge- darüber reden können. Das ist auch sehr Weiteren steht auch ein Entlastungsdienst fängniseintritt sofort eine feste Struktur, schambehaftet. Sie weinen, sie müssen für eine Überbrückungszeit zur Diskussiein Dach über dem Kopf. Im Gefängnis sich klar werden, was als Nächstes pas- on, um Angehörige zu begleiten. Es gibt gibt es verschiedene Dienste, die sie in sieren muss. Ich kann zuhören, psycho- noch viel zu tun.» Anspruch nehmen können. Ihre Angehö- soziale Unterstützung bieten und die verrigen aber stehen meist von einem Tag auf schiedenen Themen sortieren. Ich helfe den anderen ganz alleine mit ihren Ängs- beim Kontakt mit Ämtern oder triagiere ten und Sorgen da. Wenn sie nicht unmit- an andere Stellen in meinem Netzwerk, telbar bei der Verhaftung dabei gewesen wie etwa die Caritas, Tandem vom Kasind, fragen sie sich erst einmal, was über- tholischen Frauenbund für Überbrühaupt passiert ist. Sie wissen unter Um- ckungshilfen, die Sozialberatungsstellen ständen nicht einmal, wo ihr Mann ist, der Kirchgemeinden, kabel für Lernende Ivana Mehr leitet wieso er nicht nach Hause kommt. Das oder die DFA, die kirchliche Fachstelle bei seit April die neue, Arbeitslosigkeit. kann durchaus ein paar Tage dauern. ökumenisch getragene Es ist insgesamt eine Zielgruppe, 95 Prozent der Inhaftierten sind Fachstelle «ExtraMural», die Männer. Die meisten haben Partnerinnen, die völlig unter dem öffentlichen Radar sich um Angehörige von oft mit gemeinsamen Kindern. Da wird es läuft, die keine Stimme hat. Diese MenGefängnisinsassen kümmert. schnell existenzbedrohend, wenn – wie in schen möchten am liebsten auch unsichtvielen Fällen - der Mann das Hauptein- bar bleiben. Unser Ziel ist deshalb unter Paulus Akademie kommen generiert hat. Die Angehörigen anderem die Sensibilisierung für dieses Film und Gespräch am fragen sich, wie sie die Miete zahlen kön- Thema. Freitag, 22. März, 18.30 Uhr Zusammen mit einem Freiwillinen. Was heisst das für die Kinder? Was «Mitgefangen», über Angehörige sage ich ihnen? Wie? Dazu müssen sie genteam möchten wir Projekte realisievon Strafgefangenen selbst den Schock verdauen, wenn sich ren. Eine erste Idee ist es, ein Infomobil www.extramural.ch das Ereignis nicht schon früher angekün- zu organisieren, das vor den Gefängnissen platziert werden kann. So, dass wir digt hat.

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Seelen-Nahrung

Der Tanz der Käfer Von Edith Weisshar-Aeschlimann

Edith WeissharAeschlimann ist diplomierte Theologin und Seelsorgerin in den Bundesasylzentren Embrach und Dübendorf. Sie liefert neu KPL ;L_[L M Y KPL «Seelen-Nahrung».

In einer Sommernacht dem Paartanz von Glühwürmchen zu begegnen fasziniert mich. Die Männchen fliegen zu den flügellosen Weibchen. Auf dem Boden lebend strahlen diese um ihre Bewerber. Kurz danach legen die Weibchen ihre Eier ab. Und vorbei ist die lichtvolle Zeit; für Männchen und Weibchen! Das Leben des Paares geht weiter in den abgelegten Eiern. Im feuchten Boden entwickeln sich aus diesen Larven – erst gut drei Jahre später wieder – tanzend und leuchtend Glühwürmchen! Die effiziente Energieumwandlung für den Hochzeitstanz ist besser als bei jedem Leuchtkörper in unseren Stuben. Mich treibt aber eher die Erkenntnis um, wie wichtig die Dunkelheit ist, um das Leben weiterzugeben. (Lichtverschmutzung ist einer der Gründe, dass wir kaum noch Glühwürmchen zu sehen kriegen). Ich arbeite an Orten, wo Dunkelheit vorherrscht. Viele Menschen sehnen Nacht für Nacht den Morgen herbei. Den erleben sie dann oft, trotz Sonne, in Grautönen. Die letzten Fetzen der Albträume wollen nicht weichen, schwer wiegt die Ungewissheit wie es weitergeht. Es sind Orte, wo kaum jemand freiwillig ist. Oder doch? Eine spezielle Sorte Glühwürmchen? Tanzende Lichtfunken begegnen mir auch jetzt. Oft unerwartet. Ausser jahreszeitbedingter Kälte und Wind haben sie viel gemeinsam mit dem Erlebnis in der Sommernacht. Ein freundlicher Blick, eine Geste, ein Wort: Und schon leuchten mir Augen entgegen; ein Neugeborenes, mir in die Arme gelegt, als Stellvertreterin aller fehlenden Familienangehörigen. Ein Lied, anknüpfend an gute Zeiten. Ein spontaner Besuch in der Kirche mit innigsten Gebeten. Diese Lichtfunken haben es in sich! Ist doch das Leben in seiner Fülle da, wenn auch nur für einen Moment! Und dieses Leben will, ja, es drängt sich auf, weitergetragen zu werden. Allen Beteiligten ist klar: Eine lange Phase des Larven-Daseins gehört dazu. Und jetzt komme ich ins Staunen. Käfer mag ich eigentlich nicht, vor vielen fürchtet es mich. Dass auch Glühwürmchen Käfer sind, wusste ich lange nicht. Und nun ist es ausgerechnet ein Käfer, der mir Mut macht in meiner Arbeitswelt. So überraschende Wendungen wünsche ich uns allen!

+LaLTILY


Ausläuten

Das Leuchten der Krippen Text und Bild: Mario Pinggera

In diesen Tagen sind unsere Kirchen wieder weihnachtlich zurecht gemacht. Für alle Beteiligten ist dies eine intensive Zeit der Vorbereitung, für die Liturgen, die Musizierenden und ganz besonders die SakristanInnen, zeichnen sie doch oft für den Kirchenraum massgeblich verantwortlich. Unverzichtbar gehört eine Krippe dazu! In der Tat sind Krippen Anziehungspunkt zahlreicher Menschen. Vor Jahren weilte ich in der Weihnachtszeit im Tessin, in den Kirchen dort scheinen die Krippen von besonderer Bedeutung zu sein. So zum Beispiel in der grossen Kirche von Mendrisio. Allein die üppigen Ausmasse, aber ebenso die Präsentation sind eindrücklich. Nicht nur für Kinder ein tief ergreifendes Schauspiel, das das Staunen unwillkürlich animiert! 1. Ich steh an deiner Krippe hier, O Jesu, du mein Leben. Ich komme, bring und schenke dir, was du mir hast gegeben. Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut, nimm alles hin und lass dir’s wohlgefallen. Ich bin davon überzeugt, dass auch die betrachtende Person in diesem Weihnachtslied von tiefem Staunen erfüllt ist. Paul Gerhardt (16071676) hat den Text verfasst, der 15 Strophen umfasst, deren vier sich in unserem Kirchengesangbuch unter der symbolhaften Nummer 333 befinden. Die Melodie stammt von Johann Sebastian Bach (1685-1750) und es ist damit der einzige Gesang des grossen Komponisten in unserem Gesangbuch.

2. Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren und hast mich dir zu Eigen gar, eh ich dich kannt, erkoren. Eh ich durch deine Hand gemacht, da hast du schon bei dir bedacht, wie du mein wolltest werden. Die staunend anbetende Person vor der Krippe berichtet von einer innigen Beziehung mit dem Jesuskind, eine Beziehung, die es schon gab, als der Mensch noch nicht geboren war. Und noch mehr: Jesus erwählt uns Menschen schon seit Urzeiten. Gottes Plan ist, Beziehung zu uns aufzubauen. Gott, der nichts anderes ist, als die Liebe selbst, will den Menschen um jeden Preis auf der Seite der Liebenden wissen. 3. Ich lag in tiefster Todesnacht, du warest meine Sonne, die Sonne, die mir zugebracht Licht, Leben, Freud und Wonne. O Sonne, die das werte Licht des Glaubens in mir zugericht’, wie schön sind deine Strahlen! Ein ungewöhnlicher Text für ein Weihnachtslied, weswegen es so selten, oder nur unter Vermeidung dieser Strophe zum Einsatz kommt. Der betrachtende Mensch vor der Krippe blickt auf seine eigene Sterbestunde zurück. Ganz ehrlich: Welcher Tod

ist schon «einfach»? Gar keiner! Was für eine Perspektive, dass im Betrachten und Staunen der Krippe auch die Stunde des Todes durch die Sonne, den leuchtenden Christus, ihre bedrohliche Fratze verliert! 4. Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen; und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich anbetend stehen. O dass mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen! Egal, welche Krippe wir in der jetzigen Zeit betrachten, ob in der näheren Umgebung oder in der Ferne: Mögen wir das Staunen des betrachtenden Menschens im Lied genauso erfahren, mögen wir eine Zeit lang anbetend stehen bleiben, um dann aber weiterzugehen und dieses Licht der Krippe in eine vielfach verdunkelte Welt tragen. Genau das ist unser Auftrag und unsere Berufung.

Mario Pinggera ist unser neuer Autor der Rubrik «Ausläuten» und wird sich (kirchen-)musikalischen Themen widmen. ,Y PZ[ 7MHYYLY PU 9PJO[LYZ^PS hat Theologie und Kirchenmusik studiert und ist Dozent für Kirchenmusik an der Theologischen Hochschule in Chur.


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