Kirchensteuer wirkt
Seite 4
Von Mensch zu Mensch
Seite 11 Medaille wandert nach Greifensee
Seite 12
Kirchensteuer wirkt
Seite 4
Von Mensch zu Mensch
Seite 11 Medaille wandert nach Greifensee
Seite 12
Zürichs Gassenkirche im Fokus. Reportage und Hintergründe. Ab Seite 6
Der Winter ist angebrochen und das Leben auf der Strasse wird härter. Für viele unter uns eine Realität.
Susanne Brauer, Bereichsleiterin Soziales und Bildung
Foto: Archiv
Durch Schicksalsschläge, Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Sucht kann sie jedem oder jeder zuteilwerden. Sich denen zuzuwenden, die schutz- und obdachlos sind, gehört zum diakonischen Kernauftrag der Kirche. Ihr geht es aber nicht nur darum, warmes Essen oder Decken zu verteilen, Menschen in ihren schwierigen Lebenslagen zu beraten oder an andere Sozial- und Gesundheitsstellen weiterzuverweisen, wie es andere Hilfswerke tun. Kirche will auch als eine «Kirche auf der Gasse» wirken.
So hat das Sozialwerk Pfarrer Sieber zusammen mit der Reformierten Landeskirche und der Katholischen Kirche im Kanton Zürich das Pilotprojekt «Gassenkirche» lanciert. Hier begegnen Seelsorgende Personen, deren Lebensmittelpunkt die Strasse bildet, und zwar auf Augenhöhe: Sie bieten ein offenes Ohr und Gespräche, in denen sich der Mensch dem Menschen als Mensch zuwendet. Auch eine Andacht, ein Gedenkanlass für einen Verstorbenen oder ein Gebet können aufgegriffen und gemeinsam gestaltet werden. Das geschieht in sehr unkonventionellen, von den Obdachlosen selbstbestimmten und originellen Formen. Ob sich auf die Dauer aus diesen spirituellen und seelsorgerischen Haltepunkten auch eine Gemeinde auf der Strasse bildet, oder ob eine Gemeinschaft sich «nur» in den Momenten zum Beispiel einer Andacht einstellt, wird sich in den nächsten Jahren zeigen.
Susanne Brauer
4 Aktuell Wohin fliesst das Geld?
5 Aktuell Pausen im Alltag
6-11 Fokus Kirche auf der Gasse
12 Engagiert Für Freiheit in der Kirche
14 Perspektiven Angehörige nicht vergessen
15 Seelen-Nahrung Aufmerksamkeit im Alltag
16 Ausläuten Sehnsüchte ernst nehmen
Impressum credo credo erscheint vierteljährlich und geht an Mitarbeitende, Behördenmitglieder und Freiwillige der Katholischen Kirche im Kanton Zürich.
N˚4, Dezember 2024 www.zhkath.ch/credo credo@zhkath.ch Auflage: 3ʼ200 Expl.
Layout Denis Schwarz, Zürich
Grafikkonzept Mara Mürset, Basel
Herausgeberin und Redaktion
Katholische Kirche im Kanton Zürich Kommunikationsstelle Hirschengraben 66 8001 Zürich
Druck und Papier Staffel Medien AG, Zürich
BalancePur: hergestellt aus 100% Recyclingfasern und mit dem Umweltlabel «Blauer Engel» zertifiziert
«Was sind gute Geschenke und für wen machen Geschenke am meisten Sinn?»
Diese Frage stellt die Installation der Designerin Fiona K. auf dem Weihnachtsmarkt Münsterhof in Zürich.
«Ein Berg Geschenke steht im Stand der katholischen Kirche beim Münsterhof. Anders als üblich ist die Verpackung. Alle Geschenke und sogar der Weihnachtsbaum sind in Rettungsdecken gehüllt – ein Material, das Leben retten kann. Ist Weihnachten noch zu retten? Was ist der Wert des Schenkens?»
Fiona K. zu ihrer Installation, die sie im Auftrag der Katholischen Kirche im Kanton Zürich realisiert hat.
Foto: Aniela Schafroth
Zahlen & Fakten
71
Prozent der Befragten schätzen das soziale Engagement der Kirche als positiv ein
53,2
Millionen Franken flossen 2023 in soziale Projekte und Dienstleistungen der Katholischen Kirche im Kanton Zürich und somit an Hilfsbedürftige
19
Dienst- und Fachstellen kümmern sich um verschiedene Hilfsangebote in allen Lebenslagen
800
B egleitungen und mehr hat die Palliative-Care für Schwerkranke und ihre Angehörigen 2024 übernommen
Im Auftrag der Katholischen Kirche des Kantons Zürich führte das Institut Sotomo eine Umfrage zur Reputation der katholischen Kirche durch. Die Ergebnisse werden Anfang 2025 publiziert. Dem Trend zu Kirchenaustritten will die Kampagne «Kirchensteuer wirkt» entgegenhalten, in dem sie die guten Gründe aufzeigt, wieso ein Verbleib in der Kirche sinnvoll ist und hilft, Gutes zu tun.
Text: Sibylle Ratz
Welches Engagement der katholischen Kirche wird besonders geschätzt und wie steht die Bevölkerung zum Kirchenaustritt? Diesen und weiteren Fragen geht eine Umfrage der Forschungsstelle Sotomo auf den Grund. Erste Umfrageergebnisse zeigen: 18 Prozent der Katholiken haben sich schon einmal überlegt, aus der Kirche auszutreten. Bei den Reformierten sind es 12 Prozent. Wenn zum Jahreswechsel die Steuerrechnungen in die Haushalte kommen, steigen erfahrungsgemäss die Austrittszahlen deutlich an. Deshalb startet die Kirche ihre Kampagne bereits im Dezember.
Die katholische Kirche bemüht sich um jedes einzelne Mitglied und handelt, noch bevor die Umfrage publiziert wird. Denn die Umfrage zeigt auch, dass die Menschen das Engagement der Kirche schätzen - besonders im sozialen Bereich. So geben 71 Prozent der Befragten an, dass sie das soziale Engagement der Kirche als eher positiv oder positiv einschätzen. 90 Prozent der Befragten erwarten sogar, dass sich die Kirche sozial engagiert.
Als besonders wichtig schätzen die Befragten die Angebote der Dargebotenen Hand, der Seelsorge sowie der Caritas und auch von Jungwacht-Blauring oder der Pfadi ein.
Simon Spengler, Leiter Kommunikation der Katholischen Kirche im Kanton Zürich, ordnet ein: «Die Kirche macht viel, das sehen die Menschen, aber wir haben einen massiven Aufholbedarf. Die Glaubwürdigkeit leidet unter der Last von Vertuschung und Verbrechen vergangener Jahre und einem Reformstau bezüglich der Gleichstellung der Frauen.» Er ergänzt: «Die Kirchensteuer wirkt, denn unser Engagement für die Menschen bleibt hoch.»
Weitere Informationen: kirchensteuer-wirkt.ch
Gegen Ende des Jahres machen sich viele Menschen Gedanken darüber, was sie sich für das neue Jahr vornehmen. Gesünder essen, sich mehr bewegen, mal wieder ein Buch lesen.
Aber warum nicht ein spirituelles Abenteuer wagen und sich zu Exerzitien im Alltag anmelden?
Exerzitien im Alltag sind ein Angebot zur spirituellen Vertiefung. Ohne sich dafür an einen besonderen Ort zurückzuziehen, wie es bei klassischen Exerzitien der Fall ist. Man bleibt im Alltag und nimmt sich jeden Tag bewusst Zeit für Gebet und Meditation. Der Alltag mit seinen Sonnen- und Schattenseiten, mit Hektik und Langeweile, mit Freud und Leid wird so ausdrücklich in das geistliche Leben einbezogen.
Exerzitien wollen geplant sein, damit man sich die Zeit für sich und Gott nicht im Alltag erkämpfen muss, deshalb hier schon ein paar Termine für das nächste Jahr und die Neujahrsvorsätze.
Im Kanton Zürich werden in vielen Pfarreien Exerzitien im Alltag angeboten:
Stadtkloster Zürich: 7. Januar bis 4. Februar
Bruder Klaus, Zürich: 3. bis 31. März
Peter und Paul & St. Ulrich, Winterthur: während der Fastenzeit
André Böhning, seit 1. Oktober neuer Spitalseelsorger und Teamleiter am Kantonsspital Winterthur;
Martin Burkart, seit 1. Oktober als Pfarradministrator in der Pfarrei St. Andreas in Uster;
Dolores Waser Balmer, seit 1. November zweite Präventionsbeauftragte für das Bistum Chur;
Renata Zuppiger Andreato, seit 1. November neue Seelsorge-Mitarbeiterin am PUK Zürich, Standort Rheinau und Wohnheim Tilia, Rheinau;
Carlo Busolo, seit 1. November Seelsorger der MCLI Uster;
Miguel Pedro Nunes Serra, seit 1. November Seelsorger der portugiesischsprachigen Mission Zürich;
Bernarda Brunovic startete am 1. November ihr Praxisjahr als Spitalseelsorgerin am Standort Triemli/Wald.
Jürg Stuker als Pfarradministrator in Liebfrauen Zürich und Martin Scheibli als Pfarradministrator in Wetzikon per 1. November;
Heinz Meier wurde am 1. Dezember Pfarradministrator in Hinwil.
Adriano Mancuso, Sakristan der MCLI Don Bosco, feiert sein 20. Dienstjubiläum.
Laura Sutter, Sekretärin im Generalvikariat, tritt Ende Dezember in den Ruhestand.
Pfarr-Resginat Hans Schwegler CO verstarb am 11. November und wurde am 29. November auf dem Friedhof in Opfikon beigesetzt. Hans Schwegler war neben seiner Arbeit in der Pfarrei, der Mitbegründer des Oratoriums Philipp Neri in Opfikon und engagierte sich stark in der Erwachsenenbildung.
Josef Bruhin SJ, geboren 1934, verstarb am 18. Oktober. Der Jesuit wirkte seit 1966 als Seelsorger in Zürich, vor allem in der Studentenseelsorge, als Publizist der Zeitschrift Orientierung und als engagierter Ökumeniker.
«credo» braucht Ihre Mithilfe!
Senden Sie uns bitte die Adressen Ihrer Mitarbeitenden, aber auch jener wichtigen Freiwilligen in der Pfarrei, die an «credo» interessiert sind. Kontaktadresse: credo@zhkath.ch
Menschen auf der Gasse, Angehörige, Freunde und Seelsorgende gedenken kürzlich verstorbenen Menschen, die am Rande der Gesellschaft lebten.
Credo N˚4
Auf Zürichs Gassen trifft man die unterschiedlichsten Gestalten. Unter sie mischen sich die Seelsorgenden des Sozialwerks Pfarrer Sieber, der Franziskanischen Gassenarbeit und Netz 4.
Und auch Gott ist gegenwärtig: Viele schöpfen Kraft aus dem Glauben, auch wenn ihnen niemand eine einfache Antwort auf ihre Probleme geben kann, weiss Seelsorger Roger Volken.
Text: Magdalena Thiele, Fotos: Aniela Schafroth
Am Nachmittag war der erste Schnee des Winters von Zürichs Himmel gefallen. Abends lag die Stadt schliesslich in ein opulentes weisses Kleid gehüllt. Die Zeit schien fast angehalten, so langsam wie sich der übliche Donnerstagabend-RushhourVerkehr jetzt durch die Strassen bewegte.
Auch in der Bäckeranlage waren nur noch wenige Menschen anzutreffen. Da waren ein paar Jugendliche, die angesichts der Schneeflocken zu kleinen Jungs wurden und sich mit Schnee bewarfen. Und dann waren dort noch drei Männer auf der Bank an der Stauffacherstrasse, die es sich mit zwei Sonnenschirmen, einem Einweg-Grill und alkoholischen Getränken so gemütlich gemacht hatten, wie es unter den gegebenen Umständen eben möglich war.
«Den Song hat Eric Clapton für seinen verstorbenen Sohn geschrieben», stellte einer der Anwesenden fest, nachdem die Gitarre wieder verstummt war. Er war augenscheinlich einer der Menschen, die selbst kein einfaches Dasein fristen und deswegen Gäste beim Sozialwerk waren. Und genau um diese Menschen ging es an diesem Abend: Angeleitet vom Seelsorgeteam des Sozialwerks wurde all derer gedacht, die einmal bei ihnen Unterstützung gesucht hatten und in den vergangenen zwei Jahren verstorben waren.
Would you know my name?
In etwa 200 Metern Entfernung, nahe den öffentlichen Toiletten, hatten sich auf Einladung des Sozialwerks Pfarrer Sieber, der Franziskanischen Gassenarbeit und Netz4 etwa zwanzig Personen versammelt. Auch sie trotzten der Kälte mit Hilfe zweier brennender Holzklötze. Und wäre dieses Bild allein nicht schon Stadt-Romantik genug, stimmte die Seelsorgerin mit einer Pfarrer-Sieber-Jacke auf ihrer Gitarre – sie hatte dafür die wärmenden Handschuhe ausgezogen – das Lied «Tears in Heaven» an.
Would you know my name
If I saw you in heaven?
Would it be the same
If I saw you in heaven?
«Would you know my name?»
Eric Clapton
«Mein Sohn ist einer von ihnen»
Der Eric-Clapton-Kenner war einer der wenigen von ihnen, die es zur heutigen Feier geschafft hatten. Vor allem waren Angehörige und Freunde gekommen. Sie alle kannten eine der Personen, deren Namen – bzw. der Name, unter denen sie in der Gasse bekannt waren - jetzt auf einer der rund 50 auf einer kleinen Balustrade aufgereihten Kerzen zu lesen waren, die mit ihrem Schein den dicken Schnee in ein wohliges Beige tauchten. Jeder Name wurde von einem der Anwesenden laut vorgelesen.
«Mein Sohn ist einer von ihnen», kam eine Frau nach Abschluss der kleinen Gedenkfeier auf das Seelsorgerteam zu, «Danke, dass sie für ihn und für uns da waren.» Viel mehr konnte sie nicht sagen, über das Schicksal ihres verstorbenen Kindes könne sie noch nicht reden. Noch zu tief sitze der Schmerz.
Roger Volken
Das Schönste an seiner Arbeit sei das Vertrauen, das ihm von den Menschen auf der Gasse entgegengebracht werde, stellte im Anschluss beim gemeinsamen Aufwärmen im Gassenlokal «Zueflucht Pace» um die Ecke in der Magnusstrasse Seelsorger Roger Volken fest: «Es ist schliesslich keine Selbstverständlichkeit, sich einem fremden Menschen anzuvertrauen und vielleicht sogar dessen Hilfe in Anspruch zu nehmen – gerade, wenn derjenige sich als religiös, bzw. spirituell outet.»
Manchmal erlebe er deshalb auch Ablehnung, berichtet der 62-jährige. Davon abhalten, auf die Menschen zuzugehen, könne ihn das aber nicht. Volken ist katholischer Seelsorger aus Überzeugung, aber noch «ein Frischling auf der Gasse», wie er selbst sagt.
Gott spielt eine Rolle auf der Gasse
Seit rund einem Jahr arbeitet er für das Sozialwerk Pfarrer Sieber. Erst relativ spät hatte er beruflich umgesattelt, Mitte 40 das Theologiestudium begonnen. Den Theologiestudenten-Look mit dem markanten Ohrring, der in die Jahre gekommenen braunen Umhängetasche und den wuscheligen
grauen Haaren, die unter der gestreiften Wollmütze hervorschauen, hat er sich bis heute ein wenig erhalten. Nach gut sieben Jahren als Seelsorger in einer Klinik im Aargau und in mehreren Gefängnissen im Kanton Zürich habe es ihn auf die Strasse gezogen, schmunzelt Roger Volken, gefragt, warum er nochmal den Arbeitsplatz gewechselt habe. «Mein Alltag im Rahmen der Klinik und in den Gefängnissen war strukturierter und planbarer als das, was ich jetzt mache», stellt der Seelsorger fest. Hier auf der Gasse hat das Thema Abhängigkeit einen zentralen Stellenwert.
Dennoch spiele der Glaube an Gott auf den Strassen Zürichs eine grosse Rolle, weiss Roger Volken. «Es geht primär ums Zuhören, es geht darum, den Schmerz mit den Menschen auszuhalten, es geht um Lösungsansätze und Hoffnung, denn ganz viele dieser Menschen wurden seelisch verletzt. Viele schöpfen Kraft aus dem Glauben an Gott, auch wenn ihnen niemand eine einfache Antwort auf ihre Probleme geben kann.» Sie wissen zu schätzen, dass wir bei ihnen sind, um gemeinsam ihren Schmerz auszuhalten.
«Es ist verdammt kalt draussen»
Abhängigkeit war auch das, was das Leben von Vince in Schieflage gebracht hatte. Heute ist er clean, «schon seit elf Jahren», sagt er stolz und holt sich einen anerkennenden Blick von dem neben ihm sitzenden Roger Volken ab.
«Pfarrer Sieber persönlich hat mich damals angesprochen», erinnert sich der heute 59jährige sichtbar stolz. Obdachlos war er nie, die Drogen waren sein Problem. «Angefangen hat es mit einem unerwarteten Joint, den mir jemand in der S-Bahn Richtung Zürich angeboten hatte. Und dann sass ich schon auf dem Platzspitz.»
Pfarrer Ernst Sieber habe ihm damals einen kleinen Job angeboten, mithelfen bei einem Projekt. «Ich habe erst geantwortet, aber Sie sehen doch, welches Problem ich habe. Ich weiss nicht, ob ich der Richtige für Sie bin», erzählt Vince – die Worte sprudeln aus ihm heraus, als wäre es gestern gewesen.
«Pfarrer Sieber antwortete mir, er sehe, dass ich ein gutes Herz habe und er sei sicher, dass ich es schaffen werde.» Und Vince hat es geschafft. Heute kommt er trotzdem noch ins Pace, hilft mit, gibt Workshops und ist für andere da.
Wenn er berichtet, wirkt Vince ruhig, mit sich im Reinen. Nur die Tatsache, dass derweil Roger Volken eine sportliche Zigarettenpause vor der Tür von höchstens zwei Minuten absolviert hat, bringt ihn kurz aus der Ruhe und lässt seinen Gesprächsfaden für einen Moment abreissen. «Es ist verdammt kalt draussen», rechtfertigt sich Volken angesicht des erstaunten Blickes seines Sitznachbarn, als er sich wieder an den Tisch setzt.
Es geht um Prävention und Verständnis
Aus anderen Gründen wäre auch keine Eile geboten. Das Pace - das Lokal, in dem sie den heutigen Abend verbringen - wird noch bis in die frühen Morgenstunden geöffnet sein, verspricht Seelsorger Beno Kehl. Er ist für die heutige Nachtschicht verantwortlich.
Über dem Lokal betreibt der Verein Franziskanische Gassenarbeit das Haus Zueflucht. Dort finden momentan ein paar wenige Menschen Obdach, die aus verschiedenen Gründen derzeit auf Hilfe angewiesen sind. «Wir würden gerne noch mehr Menschen aufnehmen, aber uns fehlen die Räumlichkeiten. Wir sind für jeden Hinweis diesbezüglich dankbar», erklärt Beno Kehl. Zweimal im Monat empfängt sein Team Gruppen und Schulklassen. «Wenn Betroffene,
Suchtkranke oder Obdachlose, selbst ihre Geschichte erzählen, berührt das jeden, der hierherkommt.» Es geht um Prävention und um Verständnis für Menschen, die neben den vielen Luxuskarossen und den prall gefüllten Schaufenstern im Zürcher Strassenbild grundsätzlich weniger auffallen.
Durch die Gassenarbeit bleiben und blieben sie nicht unerkannt, zumindest die, deren Namen jetzt auf einer Kerze in der Bäckeranlage aufleuchten. Im Park war es inzwischen ganz still geworden. Der unermüdliche Schneefall hat schon die ersten Spuren von Besuchern wieder verschwinden lassen und die Lichter mit einem weissen Häubchen bedeckt. Nur die drei Männer auf der Parkbank harren immer noch tapfer neben ihrem Grill unter dem Sonnenschirm aus.
Sozialwerk Pfarrer Sieber Das Sozialwerk gibt es seit 1988. Es unterstützt im Geiste von Pfarrer Ernst Sieber (1927-2018) Menschen in Not mit materieller, medizinischer, sozialer und seelsorgerlicher Hilfe. Die aufeinander abgestimmten Aktivitäten reichen von niederschwelligen Angeboten bis zu spezialisierten Programmen, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen sollen. Neustes Projekt ist die «Gassenkirche», die auch von der katholischen und reformierten Kirche mitgetragen wird und mit jeweils 66’666 Franken im Jahr je Partner unterstützt wird.
Franziskanische Gassenarbeit Ein Verein in Zürich, der sich auf die Unterstützung von Menschen in prekären Lebenslagen konzentriert. 1993 vom ehemaligen Franziskaner Beno Kehl (mit-)gegründet, liegt der Schwerpunkt der Arbeit auf der Hilfe für Obdachlose, Suchtkranke, Menschen mit psychischen Problemen und Menschen in Armut. Der Verein betreibt das Haus Zueflucht im Zürcher Kreis 5, das Gassenlokal Zueflucht Pace im Kreis 4 und eine Wohngruppe in Zürich-Leimbach und beherbergt aktuell 38 Menschen. Im November hat Katholisch Stadt Zürich einen
Betrag von 200’000 Franken an die Franziskanische Gassenarbeit genehmigt. Bereits davor hat der Verband der Pfarrkirchenstiftungen der Stadt Zürich für das Haus Zueflucht einen Betrag von 100’000 Franken gesprochen.
Netz 4 ist das sozialdiakonische Werk der Evangelisch-methodistischen Kirche im Zürcher Stadtkreis 4. Mitglieder der EMK Zürich 4 haben 1991 auf freiwilliger Basis begonnen, sich in ihrer Nachbarschaft zu engagieren. Seit 2005 ist daraus ein Verein entstanden.
Das Sozialwerk Pfarrer Sieber ist eine Institution, die in Zürich nicht mehr wegzudenken ist. Im Sinne des verstorbenen Gründers Pfarrer Ernst Sieber setzen sich heute über 190 Mitarbeitende und doppelt so viele Freiwillige ein für Randständige, Ungesehene, Hilfsbedürftige. Seit rund drei Jahren ist Friederike Rass Gesamtleiterin des Sozialwerks. Im Gespräch erzählt sie über die Gassenkirche, die von der Katholischen und der Reformierten Kirche im Kanton Zürich mitfinanziert wird.
Was braucht es, um bei den Sozialwerken Pfarrer Sieber zu arbeiten?
Friederike Rass: Ein grosses Herz, einen Blick für den Nächsten, einen Gerechtigkeits- und Gemeinschaftssinn. Wir haben mit Menschen zu tun, die nicht gesehen werden, mit ganz unterschiedlichen Charakteren. Wir leben und arbeiten nach dem Motto: «So, wie du bist, bist du angenommen». Wir bestärken das Positive, wir möchten mit Zuversicht anstecken.
An wen richtet sich die Gassenkirche?
An Menschen auf der Gasse, für die Einsamkeit, Scham und Hoffnungslosigkeit prägende Themen sind. Wir tun etwas über die körperliche Fürsorge hinaus.
Wir möchten den Menschen in seiner Würde ansprechen, in einem Kontext, der anders ist, als «du bist hilfsbedürftig». Es geht um eine elementare christliche Haltung, um eine «Geh-hin-Kirche». Es besteht ein enormer Bedarf an echten Begegnungen. Die Botschaft ist: «Du bist mehr als nur ein Nothilfe-Fall»
Wir sind auch da für die Bruchstellen im Leben. Die Menschen haben auf der Gasse zum Beispiel oft einen eigenen Rufnamen. Wenn jemand stirbt und niemand geht darauf ein, dann ist das verstörend. Bekannte und Freunde sind lange im Ungewissen.
Wir gestalten in jedem Fall einen Abschied im Sinne der Verstorbenen für die trauernde Gassengemeinschaft.
Text und Foto: Sibylle Ratz
Friederike Rass (39) ist Gesamtleiterin des Sozialwerks Pfarrer Sieber und hat an der theologischen Fakultät Zürich über die Frage nach Wahrheit in der Gegenwart doktoriert.
Wir verfassen deshalb auch persönliche Todesanzeigen mit den in der Szene bekannten Namen und veröffentlichen diese an Stellen, die für die Menschen auf der Gasse zugänglich sind.
Wozu braucht es auf der Gasse noch ein kirchliches Angebot?
Weil die Menschen eben nicht nur Nothilfe brauchen, sondern auch seelisch leiden. Sie werden nicht gesehen, sie werden nicht gehört. Es geht um ein unbedingtes Angenommensein, dass jeder wichtig genug ist, geliebt zu werden. Das ist die universelle Botschaft des Christentums. Das Bedürfnis nach spiritueller Unterstützung ist ungebrochen.
Wird bei der Gassenkirche auch missioniert?
Nein, absolut nicht. Wir sind für alle Menschen da, ob christlich, anders- oder gar nicht gläubig. Wir bieten niederschwellig Seelsorge an in dem Sinn, dass wir zuhören, für die Menschen auf Augenhöhe da sind und sie mit ihren Sorgen und Gedanken ernst nehmen.
Missionierung hat eine sehr missbräuchliche Tradition in der christlichen Geschichte. Das ist wider die christliche Botschaft. Es soll kein Tauschhandel sein. Wir sprechen Menschen als Menschen an. Dabei ist irrelevant, ob sie sich als gläubig verstehen oder nicht.
Was wünschen Sie sich für die Gassenkirche?
Dass wir die Zeit haben, die Leute nachhaltig zu erreichen und Beziehungen aufzubauen. Kürzlich hatten wir im Marriott das Weihnachtsessen, das läuft super. Jetzt zum dritten Mal haben wir auch ein Coiffeurangebot. Das lief erst in diesem Jahr richtig gut. Es braucht Mund-zu-Mund-Propaganda und Zeit, dass die Menschen sich trauen, neue Angebote anzunehmen.
Wie wird die Gassenkirche finanziert?
Die katholische und die reformierte Kirche sind Partner und unterstützen das Projekt grosszügig. Diese Partnerschaft ist mir sehr wichtig. Es geht auch darum, eine gemeinschaftliche Seelsorge zu pflegen. Die Seelsorgenden in der Gassenkirche freuen sich über gute Beziehungen mit den Kirchgemeinden. In einer guten Gemeinschaft verträgt es auch ein, zwei schräge Vögel.
«Jeder Mensch wird geliebt»
Friederike Rass
Was sind die grössten Sorgen der Menschen?
Einsamkeit und Ausgrenzungserfahrungen. Sie müssen viel ertragen. Wichtig ist, dass auch sie in einer Gemeinschaft aufgehoben sind. Dass sie wissen, sie müssen da nicht alleine durch. Es geht darum, dass sie den Mut aufbringen, sich wieder auf Begegnungen einzulassen, auch auf die Gefahr hin, wieder verletzt zu werden.
Mitte November erhielten Hella und Gregor Sodies zusammen mit ihrer Pfarrei Johannes XXIII. in Greifensee die HerbertHaag-Wandermedaille.
Sie wurden von den vorherigen Preisträgerinnen Brigitta Biberstein und Veronika Jehle ausgewählt, die Auszeichnung ein Stück auf den Weg mitzunehmen.
Die Herbert-Haag-Wandermedaille für Freiheit in der Kirche wurde von einer ehemaligen Preisträgerin des Herbert-Haag-Preises initiiert. Während die Herbert-Haag-Stiftung ihren Preis fast jährlich vergibt, folgt die Wandermedaille einem ganz anderen Rhythmus.
Beim klassischen Preis steht die Auszeichnung von Verdiensten im Mittelpunkt. Die Wandermedaille hingegen ist eine Ermutigung: Ermutigung, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, auch wenn er lang und beschwerlich ist. Die Wandermedaille wird von und an Menschen verliehen, die ebenfalls auf diesem Weg sind und damit ihre Solidarität zeigen.
Der Preis will auch Trost für erlittene Verletzungen sein. Der Einsatz für Freiheit in der Kirche hatte und hat allzu oft einen hohen Preis. Die Wandermedaille vereint
die Würde der Verleihung und die Bürde der Verpflichtung.
Wie die Wanderung begann
Martha Brun (1940-2015), ehemalige Menzinger-Schwester und spätere Pfarreileiterin der aargauischen Pfarrei Leuggern-Kleindöttingen, erhielt 1991 zusammen mit vier weiteren Personen den Herbert-HaagPreis für ihre loyale Opposition im Bistum Chur. Kurz vor ihrem Tod beschloss sie, ihren Preis weiterzugeben und vertraute ihre Medaille der befreundeten Theologin Bernadette Tischhauser an, die sie nach einiger Zeit an die Seelsorgerin Brigitta Biberstein weitergab.
Die beiden ersten Preisträgerinnen entwickelten daraus die Idee der Wandermedaille, die über Veronika Jehle in diesem Jahr ihren Weg zu Hella und Gregor Sodies in Greifensee fand. Mit Ausnahme der Stifterin der Medaille, Marta Brun, leben und wirken alle Preisträgerinnen in Zürich. Auf die Frage, warum gerade Zürich, antwortet Veronika Jehle: «Das hat sich so ergeben. Im Kanton Zürich sind viele innovative Menschen aktiv, die sich vernetzen und dranbleiben an einer menschenfreundlichen Kirche.»
Lesen Sie dazu auch das Interview mit Veronika Jehle auf unserer Website.
Die Wandermedaille geht zurück auf den berühmten Theologen Herbert Haag. Er war Priester der Diözese Basel und Professor für Altes Testament zunächst in Luzern, später Tübingen. Der enge Freund von Hans Küng geriet ob seiner kritischen theologischen Positionen ebenfalls in Clinch mit dem römischen Lehramt, namentlich Haags Studien zur Erbsünde, Teufel oder Priesteramt. 1985 wurde die Herbert-Haag-Stiftung «Für Freiheit in der Kirche» gegründet, die jährlich den «Herbert-Haag-Preis» verleiht.
Event-Tipp 1
Hochzeitsmesse
Beabsichtigt jemand in Ihrem Umfeld zu heiraten? Dann empfehlen wir einen Besuch an der Hochzeitsmesse am Samstag, 11. oder Sonntag, 12. Januar in der Messe Zürich. Alle Fragen und Bedürfnisse rund ums Heiraten können konzentriert an einem Ort geklärt werden. Auch was es heisst, kirchlich zu heiraten: am gemeinsamen Stand der Katholischen und Reformierten Kirche des Kantons Zürich an der Josy – Swiss Wedding World Zürich.
Mehr Infos unter: www.josy-swissweddingworld.ch/
Event-Tipp 2
Unter dem Motto
«Blühende Zukunft» können Sie an der Giardina vom 12. bis 16. März in den Frühling starten. Die Messe findet ebenfalls in den Räumen der Messe Zürich statt. Erstmals mit dabei sind die reformierte und die katholische Kirche mit einem Stand. Entdecken Sie dort das Engagement der Kirchen in Gemeinschafts- und Klostergärten und für einen nachhaltigen Umgang mit der Schöpfung.
Mehr Infos unter: www. giardina.ch
Amelia Dorai findet neue Energie beim Ikonen schreiben in der Liebfrauenkirche. Unten eine ihrer ersten Ikonen. Fotos: zvg
Als Kind wollte meine Mutter, dass ich den klassischen indischen Tanz «Bharathanatiyum» lerne, was ich nicht besonders mochte. Als Teenager lernte ich Veenai, ein klassisches südindisches Instrument, das ich sehr mag.
Hier in der Schweiz habe ich mit 30 Jahren zusammen mit meinen Kindern schwimmen gelernt, das hat mir Spass gemacht. Etwas Neues zu lernen kennt keine Altersgrenze.
Ein Traum von mir war schon immer die Malerei, und jetzt lerne ich samstags in einer Kirche Ikonen zu malen. Diese Freizeitbeschäftigung ist entspannend und macht mir viel Freude. Ich freue mich auf meinen samstäglichen Malkurs, und als berufstätige Frau, die immer damit beschäftigt ist, Arbeit und Haushalt unter einen Hut zu bringen, gibt mir dieses Hobby Zeit, mich in Ruhe hinzusetzen und etwas zu tun, was ich schon immer tun wollte. Diese Tätigkeit gibt mir neue Energie für die kommende Woche, und wenn ich erschöpft bin, weiss ich immer, dass der Samstag nicht mehr weit ist. Es ist nie zu spät, an unseren Kindheitsträumen zu arbeiten und sie zu verwirklichen!
Vielen Dank, Katholische Kirche in Zürich, für all die tollen Programme.
Amelia Dorai ist Sekretärin bei der Englischen Mission www.englishmission.ch
Text: Sibylle Ratz
Seit der Gründung der Fachstelle ExtraMural im April 2023 zeigt sich immer mehr, wie gross der Bedarf an einer Anlaufstelle für Angehörige von Gefängnisinsassen ist. Bereits diesen Sommer kam ein neues Projekt dazu, das «Familienmobil». Es war für mehrere Monate vor der Justizvollzugsanstalt JVA Pöschwies in Zürich-Regensdorf stationiert.
Offen für Gespräche sein: Das war das Ziel des «Familienmobils», organisiert von Ivana Mehr, Fachstellenleiterin von ExtraMural, in Zusammenarbeit mit dem «team72» und mit rund zehn Freiwilligen. Jeweils samstags und mittwochs waren sie rund vier Monate jeweils vor dem Eingang der JVA mit einem Wohnwagen präsent. Bei Getränk und Kuchen ergaben sich Gesprächsmöglichkeiten mit den Angehörigen, meist nach ihrem Besuch im Gefängnis. «Zunächst wurden wir schon skeptisch beobachtet. Nach ein paar Mal haben sich die ersten getraut, dann doch bei uns vorbeizuschauen. Es ergaben sich aber auch Mehrfachkontakte»,
berichtet Ivana Mehr. Die Menschen hätten es sehr geschätzt, über die meist auch belastenden Besuche von Familienangehörigen und Freunden kurz zu sprechen und Akzeptanz zu finden. Oft fehlt die Möglichkeit im engeren Umfeld, sich in einem offenen Gespräch ohne Vorurteile auszutauschen, sei es aus Scham, weil niemand davon wissen soll, oder weil sich das engste Umfeld abgewendet hat.
Mehr Standorte für das «Familienmobil»
Die Bewilligung für das «Familienmobil» kam sehr rasch zustande. Nach den positiven Erfahrungen möchten Ivana Mehr und ihre Kollegin von «team72» aber im nächsten Jahr den Radius erweitern und insbesondere vor den Untersuchungsgefängnissen präsent sein. Dieses Projektvorhaben benötigt weitere finanzielle Mittel und auch den Segen der Justizdirektion. Vom Nutzen und der Nachfrage ist Mehr überzeugt: «Wir konnten gute Erfahrungen ma-
chen in Regensdorf. Tatsache aber ist, dass vor allem Angehörige von frisch Inhaftierten dringend Information und Unterstützung benötigen. Diejenigen in den Vollzugsgefängnissen wissen meist schon, wie die Abläufe sind und wo es Hilfsangebote gibt. Das ist bei den Angehörigen von Inhaftierten in den Untersuchungsgefängnissen nicht der Fall und die Ungewissheit und Unwissenheit viel höher. Hier möchten wir ansetzen.»
Die Fachstelle «Extramural» wird ökumenisch von der katholischen und der reformierten Kirche gemeinsam getragen. Beim «Familienmobil» ist auch das «team 72» mit dabei. Ein Entscheid über die Weiterführung des Projektes wird im ersten Halbjahr 2025 erwartet.
Weitere Informationen unter:
Ewww.extramural.ch www.team72.ch
Edith WeissharAeschlimann ist Seelsorgerin in den Bundesasylzentren (BAZ) Embrach und Dübendorf.
Von Edith Weisshar-Aeschlimann
Andere beschenken macht mir Freude und ich erhalte auch gerne mal was. Am liebsten überraschend. Da ist die kugelrunde Frau, nur ihr Gesicht sichtbar. Ihre paar Wörter Englisch reichen kaum für ein Gespräch. Etwas zögernd setze ich mich zu ihr. Sofort macht sie mir klar, dass ich herzlich willkommen sei. Dank meinem Kreuz scheint die Fremde zu wissen, wer ich bin. Sie redet drauflos – Google ist für genaues Verstehen keine Hilfe. Es dauert nicht lange und die Frau drückt mich an ihren weichen Körper, hält mich lange und gibt mir zu verstehen: «Du erinnerst mich an meine Mama», indem sie auf meine grauen Haare zeigt. Sie strahlt übers ganze Gesicht, verabschiedet sich mit einem dicken Kuss, jetzt ihr Jüngstes suchend.
Der nächste Tag beginnt zäh. Nass, kühl und dementsprechend die Stimmung im BAZ. Im Zimmer X gehe es einer Frau schlecht, wird mir gesagt. Mein Besuch ist denkbar ungünstig. Die eine Frau zieht gerade aus. Die Zurückgebliebene sitzt wie ein Haufen Elend auf ihrem Bett. Nein, sie wolle mit mir nicht reden, meint die Frau. Sowieso habe meine Kollegin ihr etwas versprochen und nicht gehalten; ich sei ihr fremd. Es scheint nicht mein Tag zu sein.
Später nimmt ein junger Mann mein Angebot für ein Rummikub-Spiel an. Das befreit uns beide von trüben Gedanken. Kaum unter der Tür winkt mir jemand strahlend zu – Frau B. aus dem Zimmer X, ich erkenne sie kaum wieder. Neben ihr Ari. Dank seiner Sprachbegabung spricht er unter anderem auch Türkisch, was Frau B. sichtlich guttut. Ich gehe auf die beiden zu. In seinem gebrochenen Deutsch meint Ari, er wolle mich am Freitag unbedingt wiedersehen und reden. Das tue ihm gut. Und auch Frau B. fragt, ob ich am Freitag bei ihr vorbeikomme. So mache ich es, mit einem UNO dabei. Spielen braucht wenig Worte – für eine Weile ist die Welt für uns Spielerinnen in Ordnung. Manchmal will es die Situation, dass ich den Spielgefährten das Rummikub oder UNO gleich schenke: ohne Geschenkpapier und farbigen Bändel. Ein Gang in die Spielwarenabteilung ist wohl nötig, trotz Weihnachtsrummel!
Text und Foto: Mario Pinggera
Die Weihnachtszeit ist eine Zeit der Sensibilität und der Emotionen, manchmal aber auch der Oberflächlichkeit. In Richterswil haben wir zwei Pflegeheime, die schon aufgrund einer wichtigen Etikette Aufschluss über ihre Philosophie oder besser ihr Verständnis zum Thema Weihnachten geben.
Als Seelsorgende sind wir neben anderen Gästen und Institutionen zu den entsprechenden Feierlichkeiten eingeladen, die im Advent stattfinden. Während das eine Pflegeheim traditionell zur «Weihnachtsfeier» einlädt, lädt das andere zur «Jahresabschlussfeier» ein. Das mag zunächst nicht weiter auffällig sein, dennoch offenbart sich mit dieser Terminologie eine Grundhaltung, was das Verhältnis zur religiösen Kultur unseres Landes betrifft.
Weihnachten feiern
Den «Jahresabschluss» verorten aufmerksam Lesende doch eher bei einem Unternehmen, wenn es zum Beispiel um die Bilanzen geht. In der Tat sind derartige Tendenzen, Religiöses einfach zu streichen, schon seit Jahren gang und gäbe. Aufmerken liess in diesem Zusammenhang vor mehr als zehn Jahren das Vorhaben der Zürcher Regierungsrätin Regine Aeppli, Weihnachtslieder in den Schulen zu verbieten. Beide Phänomene, sowohl die
«Jahresabschlussfeier», als auch das angedachte Verbot von Weihnachtsliedern sind nur zwei Beispiele von vielen mit ähnlicher Tendenz, die zu beobachten sind.
Was dahinter steckt, ist indes sowohl tragisch als auch bedenklich: Wie steht es mit unserer Selbstidentität? Wir sind ein reiches Land, das mitunter sehr auf politische Korrektheit (was auch immer das ist) achtet, dass zum Beispiel im sogenannten Gendern ganz vorne dabei sein will (wobei Gendern per se einen problematischen Eingriff in das Kulturgut Sprache darstellt). Ich bin überzeugt, dass die mangelnde Selbstidentität in Bezug auf die religiöse Kultur weder ein Beitrag zur interkulturellen Verständigung noch zur geistigen Gesundheit einer Gesellschaft ist.
Und wir tun gut daran, uns weder «Jahresabschlussfeiern» statt «Weihnachtsfeiern» vorschreiben, noch das Singen von Weihnachtsliedern verbieten zu lassen. Ausserdem weckt dies Erinnerungen an Zeiten, wo sowohl Weihnachtslieder, wenn nicht verboten, so doch umgeschrieben wurden, als auch Religion und Kirche massiv eingeschränkt und unterdrückt wurden.
Stille Nacht
Denken wir nur an Hans Baumanns Lied «Hohe Nacht der klaren Sterne»
Diese Skulptur von Peter Travaglini steht bei der Katholischen Kirche in Horgen. Sie liess Mario Pinggera nach einem Konzert innehalten. Das lasse verschiedene Gedanken zu: Legt jemand den Arm um sie? Eine Krone aus Schnee?
Foto: Mario Pinggera
von 1939. Die Weihnachtsgeschichte nach Lukas wurde völlig ausgeblendet. Stattdessen huldigte das Lied der Wintersonnenwende. Gedacht war es als Ersatz für «Stille Nacht». Natürlich funktionierte dieses dumme Vorhaben nicht, zumindest, was die Eliminierung von «Stille Nacht» angeht. Schon allein deshalb ist «Stille Nacht» von unschätzbarem Wert. Nicht nur, weil es in seiner Schlichtheit gut gemacht ist, sondern auch und gerade deshalb, weil dieses einfache Wiegenlied einer der schlimmsten Diktaturen der Menschheitsgeschichte zu trotzen vermochte.
Es ist an der Zeit, gerade jetzt, in Zeiten diverser Kriege und Unsicherheiten, das Bewusstsein für kulturelle Werte – und damit auch religiöse – zu weiten, um damit einer Gesellschaft den Halt zurückzugeben, der bisweilen vermisst und an Orten gesucht wird, die mitnichten in der Lage sind, menschliche Hoffnungen und Sehnsüchte auch nur ansatzweise zu stillen. Übrigens ist das Thema dieses «Credo», die Thematisierung der Gassenkirche nichts anderes: Hier werden Hoffnungen und Sehnsüchte ernst genommen, hier zeigt sich christliche Identität von der innersten Seite.
Hier werden Lächeln und dankbare Blicke in den Gesichtern der Menschen sichtbar, die ganz am Rande der Gesellschaft stehen.