Beat Hüppin: ‹Gadastatt›

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Beat Hüppin   GADASTATT

Foto: Conny Gyr

Beat Hüppin Geb. 1976, wuchs als Sohn eines Schweizer Vaters und einer finnischen Mutter in Wangen SZ auf, wo er heute noch lebt. Er unterrichtet an der Kantons­ schule Ausserschwyz Latein und Deutsch. ‹Gadastatt› ist sein dritter Roman bei Zytglogge.

Jakob geht los, wobei er das Pferd an einem Strick neben sich herführt. So steigen sie gemeinsam hoch und höher durch die grasigen Hänge, in die Richtung des Einschnitts des Strassberger Fürggli. Das Hochtal mit seinen schwarzbraunen Holz­ häusern, Viehställen und Heubargen liegt bald weit unter ihnen. Jakob weiss, dass da und dort um diese Zeit schon gähnende Bauern in die Ställe hinausgehen, um nach dem Vieh zu sehen. Aber davon hört er keine Geräusche, nur seine und Fannys regelmässig stampfenden Tritte im stetig ansteigenden Alpgelände.

Beat Hüppin

GADASTATT

www.beathueppin.ch Bei Zytglogge erschienen: 2018 ‹Donetta, der Lichtmaler› 2016 ‹Talwasser›, 2. Auflage 2017

Das abgelegene, von Walsern besiedelte Hochtal Fondei in Graubünden ist um das Jahr 1880 noch eine kleine Welt für sich. In Orten wie Davos, Klosters oder Arosa macht sich der aufkommende Alpen­ tourismus schon bemerkbar. Im Fondei jedoch ist davon nichts zu spüren. Der Roman schildert das karge Leben des Bergbauern Jakob Mattli und seiner Familie sowie den aufkeimenden Zwist mit seinem jüngsten Bruder Christian. Dieser hadert zu­ nehmend mit der Perspektiven­ losigkeit im Dorf und findet beim bodenständigen Jakob kein Verständnis für sein Aufbegehren, sodass der Streit schliesslich eskaliert. Ein ausländischer Bergtourist, der sich in das Tal verirrt und von einer Lawine verschüt­ tet wird, bringt zusätzliche Dynamik in die aufgewühlte Familiensituation.

Roman

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Autor und Verlag danken für den Druckkostenbeitrag:

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2019 Zytglogge Verlag AG, Basel Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Thomas Gierl Coverbild: Fondei, Strassberg, Richtung Innerfondei, mit Seehorn (um 1955); Foto aus Familienalbum Engel-Zippert, Fotograf(in) unbekannt Layout/Satz: Zytglogge Verlag Druck: Finidr, Tschechische Republik ISBN: 978-3-7296-5027-5 www.zytglogge.ch

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PROLOG Wie ein Wirbelsturm ist er über die Parsennfurgga gelau­ fen, mit Riesenschritten durch die eindunkelnde Nacht in Richtung Grüensee und die breite Einsattelung des Duran­ napasses hinab. Immer wieder ist er im versumpften Boden steckengeblieben, wo die Kühe den Boden zertreten haben. Seine Nagelschuhe sind über und über mit Dreck bedeckt. Und nun bleibt er am schilfbewachsenen Ufer des Grüen­ sees stehen und atmet tief durch. Der Vollmond wirft sein fahles Licht auf das Wasser, das kaum bewegt ist. Nur eine leichte Abendbrise weht; die Wärme des zu Ende gegan­ genen Hochsommertags liegt immer noch in der Luft. Er betrachtet sein verzerrt schimmerndes Spiegelbild und überlegt fieberhaft. Beinahe verwundert bemerkt er in seiner Jackentasche eine Flasche, die fast vollständig geleert ist. Die letzten zwei Fingerbreit der klaren Flüssigkeit trinkt er in einem Zug und fährt sich mit der Hand über den feuchten Mund. Er spuckt aus und schüttelt seinen Kopf, dass seine schwar­ zen Locken nur so umherfliegen. Er schwankt leicht und stampft dann mit dem rechten Fuss auf, begehrt auf wie ein junger Hengst, der sich nicht die Zügel anlegen lässt. Nun muss er also in seine alte Heimat zurückkehren, wenn auch nur für diesen Abend? Ja, was will er dort eigent­ lich noch? Er gehört doch nicht mehr dorthin. Will er ihnen noch einmal zeigen, dass auch er ein ganzer Kerl ist? Seinem Bruder, dem Jakob? Der Evi, dem Engel mit den zart geröte­ ten Wangen und den lustig funkelnden Augen im ebenmäs­ sigen Gesicht? 5

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Vielleicht will er nur wie ein Gewitter über sie alle her­ einbrechen. Heute, das weiss er genau, findet wieder das Fest statt, der Bergsunntig. Heute kommt das ganze Tal zusam­ men, sie haben es lustig, es wird getanzt, gelacht. Bei diesem Tanz ist er seinerzeit Evi nahegekommen. Aber heute, heute hat an seiner Stelle vielleicht ein anderer die Gelegenheit zum Tanz mit ihr. Sein Gesicht verzerrt sich zu einer Grimasse. Er schleudert die leere Flasche in hohem Bogen ins Was­ ser des Grüensees und sieht zu, wie sie sich gluckernd mit Wasser füllt und zum Grund hinabsinkt.

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1 Kaum ein Wort wird gesprochen, während Jakob zusammen mit Otto Zippert auf dem Heimweg von der Kirche am Platz* ist. Die meisten Fondeier sind schon beizeiten nach Hause gegangen, doch er hat nach dem Gottesdienst noch ein Geschäft zu erledigen gehabt, einen Viehhandel. Erst danach hat er sein Sunntighääss im Speicher unten am Platz deponiert und den Weg bergan ins Hochtal genommen. Dieser Weg, den die Fondeier den Sommerweg nennen, weil er nur in der schneefreien Zeit begangen werden darf, ist steil und steinig. Wenn Schnee liegt, ist er lebensgefähr­ lich. Harmlos und ungefährlich ist er aber zu keiner Jah­ reszeit. Tief unten in der Schlucht, eingezwängt zwischen den ungeheuren Felsen, schäumt, tobt und lärmt der Fondeierbach, auch bei guten Wetterverhältnissen wie jetzt. Ruhig schreiten die beiden Männer auf ihrem Pfad weiter ins Tal hinein. Sie wissen, ein Abrutschen in einem ungünstigen Moment kann das Leben kosten. Sie denken nicht daran. Sie sind den Weg schon so oft gegangen, dass ihre Beine und Füsse die Konzentration auf jeden einzel­ nen Schritt ganz von selbst leisten, ohne dass der Geist sie dazu anhalten muss. Jakob denkt über die gehörte Predigt des Pfarrers nach, irgendetwas über das vierte Gebot. Nicht, dass dieses Gebot Jakob Schwierigkeiten bereiten würde. Auf seinen verstor­ benen Vater lässt er nichts kommen, und überhaupt, die Älteren lagen mit ihren Ratschlägen so oft richtig. Die Er­ fahrung im Umgang mit Vieh, Wetter und allem anderen *

Die kursiv gesetzten Ausdrücke werden im Glossar erklärt.

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kann nun einmal nur im Verlauf von Jahrzehnten erworben werden. Aber es gibt immer wieder Junge, die meinen, klüger zu sein … Während Jakobs Füsse einen Schritt um den anderen machen und sein Oberkörper sich leicht im Takt der Schritte wiegt, immer bergauf, taleinwärts, wechseln seine Gedanken die Richtung, wie wenn ein Wildbach auf einen grossen Felsblock stösst, der ihn zur Seite zwingt. Das Kalb, das er soeben verkauft hat, kommt ihm in den Sinn. Der kleine Josias hat natürlich geweint, als Jakob bestimmte, das Kalb müsse verkauft werden. Ein hübsches Kalb war es wohl, aber es half nichts. Auch Jakobs Viehstall bietet keinen Platz für mehr als zwölf Stück Grossvieh. Auch er muss Mensch und Vieh das ganze Jahr hindurch ernähren können. Auch er braucht Geld, und der Verkauf eines Kalbs an den Metzger am Platz bringt ihm welches ein. Der Metzger bezahlt nicht viel, aber er zahlt bar. Sein Gedankenstrom ändert abermals die Richtung, und er spricht seinen Weggefährten unvermittelt an: «Unsere Stute, die Fanny, ist wieder rössig. Weisst du, Otto, ich hätte schon gerne wieder einmal ein Fohlen zum Aufziehen. Die Fanny wird auch nicht jünger. Aber im Fondei gibt es schon lange keinen Zuchthengst mehr.» «Ich wüsste einen. Ich habe gehört, in Jenaz drüben gebe es jetzt einen rassigen, beim Flury.» «In Jenaz? Das ist aber eine strenge Tagesreise.» «Jänu, wenn es dir ernst ist mit dem Fohlen, dann wird dir nichts anderes übrig bleiben. Der Hengst kommt nicht zur Fanny, da kannst du lange warten.» Jakob überlegt. Wie soll er die Sache mit Fanny bewerk­ stelligen? Er schätzt, dass der Zeitpunkt günstig ist, aber 8

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kann er der Stute eine solch strenge Reise durch die Fideriser Heuberge hinab nach Jenaz zumuten, wenn sie dort gedeckt werden soll? Womöglich gleichentags wieder zurück? «Was ist das überhaupt für ein Flury?», fragt er nach. «Ich weiss auch nicht genau. Du musst dich in Jenaz eben durchfragen, man wird es dir schon sagen.» Schon nähern sich die beiden Männer Gretanegga und wischen sich den Schweiss von der Stirn. Sie kommen an einem sorgfältig aufgeschichteten Bretterstapel vorbei, der ihnen anzeigt, dass sie sich wieder den bewohnten Ge­ bieten des Fondeis nähern. Es ist dasselbe Holz, aus dem auch ihre sonnenverbrannten Häuser gebaut sind, ihre Heubargen, ihre Heuschlitten, ihre Möbel und Werkzeuge. Es ist das Holz, das sie mit Pferden und Meni bevorzugt im Winter aus dem Arannawald herüberholen, von jenseits des Durannapasses, wo sie von alters her Holzbezugsrechte besitzen. Ein Stück oberhalb von Gretanegga trennen sich ihre Wege. Jakob schreitet alleine weiter taleinwärts, vorbei am Strassberg, der grössten Ansammlung von Häusern im Fondei, bis er endlich bei seinem Zuhause in der Gadastatt ankommt, dem Zuhause, das er von seinem Vater übernom­ men hat. Dem Zuhause, in dem er zusammen mit seinen Geschwistern aufgewachsen ist. Mit seinem jüngsten Bruder, Christian, den er in seinen Armen in den Schlaf gewiegt hat, für den er Spielsachen aus Holzresten und Tannzapfen ge­ macht hat, den er gestützt hat, als dieser gehen lernte. Er war ganz vernarrt in den Kleinen. Christian war damals aber auch zu niedlich mit seinem dunklen Lockenkopf, den Kul­ leraugen und dem Stupsnäschen mitten im Gesicht. Und selbst später, als der Kleine schon nicht mehr so klein und possierlich war, waren der Älteste und der Jüngste 9

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unzertrennlich. Christian half beim Besorgen des Viehs, sie rangelten und rauften gemeinsam im Stroh, an seinem ältesten Bruder konnte Christian seine Kräfte messen, und Jakob liess es geduldig und grossmütig zu. Der Nachmittag ist schon vorgerückt, und Jakob erkennt, dass Verena Fanny schon in ihren Stall gebracht hat. Genau genommen ist es nur ein bescheidener Anbau am eigent­ lichen Viehstall, und ausser der Stute findet nichts anderes Platz darin. Er will nach dem Tier sehen, um die Anzeichen für ihre Rössigkeit noch einmal zu überprüfen, und öffnet die niedrige Tür zum Verschlag. Da steht das Tier angebun­ den im kleinen, düsteren Stall und frisst sein gewohntes Heu. Fanny wiehert aufgeregt, lässt es sich aber gefallen, dass er ihr den Hals tätschelt. Jakob hat kaum noch Zweifel, sie ist ohne ersichtlichen Grund deutlich aufgeregter als sonst. Sie steht sonst auch nicht so breitbeinig da. Wenn der Ent­ schluss, nach Jenaz zu reisen, vorher erst halb gefällt war, so reift er in diesem Augenblick endgültig. Wenn nicht jetzt, wann dann? «Brave Fanny», sagt Jakob und tätschelt sie nochmals am kräftigen braunen Hals, «du hast morgen einen weiten Weg vor dir. Gleich in der Früh ziehen wir zwei miteinander los. Wollen wir mal sehen, was Verena und die Kinder zu unseren Plänen sagen.» Als ob die Stute seine Worte verstanden hätte, hebt sie den Vorderhuf, wie um loszumarschieren. Jakob wirft ihr eine Extraportion Heu hin. Die Energie wird sie auf dem ihr bevorstehenden Marsch noch brauchen. «Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes», murmelt Jakob. Erst dann schliesst er die Tür zum Verschlag und begibt sich zum Wohnhaus. 10

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Als er in den Flur tritt, hört er schon von weitem fröh­ liche Kinderstimmen. In der Tat spielen Josias und seine jüngere Schwester Anna in der kleinen Stube, in die kaum etwas vom Spätnachmittagslicht dringt, mit den Beinachüe, von denen sie schon eine hübsche kleine Herde beieinanderhaben. Daneben schläft trotz des nicht gerade leisen Spiels der älteren Geschwister Michael, der erst et­ was über halbjährig ist. Jakob hat den Stubenwagen aus einigen Planken Lärchenholz geschreinert, kurz bevor Josias zur Welt gekommen ist. Nach Josias hat auch Anna darin gelegen und nun Michael. Verena rüstet schon das Abendessen. Gerade schlägt sie Eier auf und verrührt sie mit Mehl zu einem Teig. Auf dem Tisch wartet frisches Grün aus dem kleinen Krautgarten, der neben dem Haus liegt: die ersten Spinatblätter dieses Frühjahrs. «Und, wie ist es mit dem Kalb gegangen?», fragt sie ihren Mann, während sie den Teig glatt schlägt. Ihre Hände sind derb, ihr schmales Gesicht ist von Falten durch­ zogen, und beides lässt sie älter aussehen, als sie in Wirk­ lichkeit ist. «So wie immer. Ich habe kein Vermögen herausgeholt, aber mit dem Geld kommen wir doch wieder eine ganze Weile durch.» In der Stube nebenan hört der kleine Josias, dass vom Kälbchen gesprochen wird. Gleich kommt er herbeige­ laufen: «Vater, du hast es also wirklich verkauft?» «Natürlich habe ich es verkauft. Hast du gemeint, ich führe es umsonst den ganzen weiten Weg an den Platz hin­ unter? Aber ich habe für dich eine andere Überraschung, die dich für das verlorene Kälbchen mehr als entschädigen wird. Mutter, hör auch gleich mit: Die Fanny soll wieder 11

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einmal ein Fohlen bekommen, damit wir es nachziehen können.» Begeistert springt Josias auf: «Ein Fohlen, wie schön! Wann soll es denn zur Welt kommen?» «Nun, so schnell geht es dann doch nicht», muss Jakob seinem kleinen Sohn beibringen. «Selbst im besten Fall dauert es noch beinahe ein Jahr. Die Fanny muss ja zuerst einmal trächtig werden. Es ist nicht gewiss, dass es gleich klappt.» «Ein Jahr», fragt Josias, «ist das lange? Wie oft muss ich da noch schlafen?» «Und wovon soll sie trächtig werden?», fragt Verena misstrauisch, und die Falten auf ihrer Stirn scheinen sich zu vertiefen. «Etwa von unserer guten Bergluft?» «Otto Zippert hat gesagt, in Jenaz gebe es jetzt einen guten Zuchthengst. Da habe ich mir gedacht, am besten gehe ich gleich morgen früh los. Wenn die Fanny nun einmal rössig ist.» «So weit? Da bist du doch den ganzen Tag unterwegs.» «Und wenn schon, dann bin ich eben den ganzen Tag un­ terwegs. Wird mir nichts anderes übrigbleiben, wenn ich nun einmal ein Fohlen nachziehen möchte. Da kann ich nicht bis zum nächsten Schaltjahr warten, bis es im Fondei vielleicht wieder einmal einen brauchbaren Zuchthengst gibt.» Der kleine Josias beginnt zu betteln: «Darf ich mit­ kommen, Vater? Ich möchte auch dabei sein.» «Das geht nicht, mein Lieber. Beim besten Willen nicht, es ist zu weit. Selbst für mich ist es ein strenger Marsch.» «Aber Vater, letztes Mal bin ich mit dir auch zum Götti auf Blackten mitgegangen und habe mich kein einziges Mal beklagt.» 12

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«Bis nach Jenaz ist es noch viel, sehr viel weiter als bis zum Götti auf Blackten. Es geht nicht, glaub mir. Du bleibst für diesmal besser bei der Mutter und bei deinen Geschwistern.» Josias blickt ganz traurig, und Jakob denkt plötzlich an den Erlös vom verkauften Kalb, den er immer noch in seiner Tasche hat: «Du brauchst nicht traurig zu sein, ich bringe dir von Jenaz etwas mit, dir und den Geschwis­ tern.» Verena runzelt immer noch die Stirn, während sie vom Teig Streifen abtrennt und im siedenden Wasser gart, sagt aber nichts. Dennoch ist Jakob nicht verborgen geblieben, was seine Frau denkt. «Etwas Kleines kann man sich jetzt schon einmal gönnen», beruhigt er sie. «Wir konnten das Kalb ja gut verkaufen. Und du brauchst doch wohl auch das eine oder andere für die Haushaltung.» Jakob erinnert sich: Genau so war Christian damals, er wollte überall sein, wo der älteste Bruder war, und er, Jakob, konnte nicht widerstehen, wenn der Jüngste bettelte mit seinem Lockenkopf und dem unschuldigen Blick. Zu kei­ nem seiner anderen Geschwister hat Jakob eine so innige Beziehung aufgebaut wie zu seinem jüngsten Bruder. Sein Bruder Joos ist bereits unter dem Boden, und die übrigen sind alle bald ihrer Wege gezogen, haben sich in alle Winde zerstreut. Ins Fondei ist keiner von ihnen je zurückgekehrt. Nur Christian hat sich darum bemüht, dableiben zu können, in der Nähe der Gadastatt, in der Nähe der Familie. Auf den Hof selbst, das wusste er, hatte er keine Ansprüche zu er­ heben, als der Vater gestorben war. Und doch war es sein Wunsch zu bleiben. In der Sennerei Blackten leistet er als 13

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Hilfssenn gute Arbeit, man kann ihn brauchen. Jakob weiss es, das ganze Fondei weiss es. Dampfend steht die mit den Spinatblättern ergänzte Mehlspeise auf dem Tisch, und Jakob segnet das Abend­ essen der Familie, als jemand anklopft. Jakob seufzt, erhebt sich aber sofort vom Tisch. Vor der Tür steht ein mageres, sonnenverbranntes Mädchen mit dünnen, langen Zöpfen. «Gret, was gibt’s denn?», fragt er erstaunt und mustert die Vierzehnjährige. «Mutter hat gesagt, ich soll fragen, ob du ihr nicht etwas mitbringen kannst von Jenaz. Einen Sack Polentamehl müsste sie haben, wenn’s geht.» Jakob wundert sich nicht, wie Ardüsers das so rasch mit­ gekriegt haben. So läuft das eben bei ihnen in der Nachbar­ schaft, jedes Mal. «Ich will es versuchen. Aber wenn es nicht geht, dann geht es nicht.» Später schlafen Josias und Anna ruhig in ihren Betten aus Riedgras. Dafür ist der kleine Michael aufgewacht und möchte zu seinem Recht kommen. Erst als auch er sich wie­ der beruhigt hat, legt Verena für die anstrengende Reise ihres Mannes Brot und Käse bereit und schneidet mit dem Messer etwas vom Rauchspeck ab, der von der Hausschlach­ tung im letzten Herbst stammt. «Also, bringst mir dann noch Mehl und Griess mit», trägt sie ihm auf. «Und gedörrte Früchte, Äpfel, Birnen und Zwetschgen, wenn es geht. Wenn du noch Platz im Gepäck hast, würde ein Sack Zucker auch nicht schaden.» «Wird schon gehen», nickt Jakob. «Und wann ich wieder zurückkomme, danach fragst du gar nicht?»

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«Ach du, dass ich frühestens morgen Abend mit dir rechnen kann, ist mir doch auch so klar.» Und schliesslich gehen die beiden Eheleute zu Bett und wünschen sich eine gute Nacht mit den gewohnten Wor­ ten: «Guot Nacht gäb dr Gott.»

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