Andreas Nentwich Christine Schnapp
Modern in alle
EWIGKEIT Eine Reise zu den schönsten modernen Kirchenbauten der Schweiz
Andreas Nentwich Christine Schnapp
Michael Leuenberger, Redaktionsleiter ‹Kunst + Architektur in der Schweiz›
Modern in alle EWIGKEIT
«So kurzweilig und begeisternd kann man heute über Kirchenbauten schreiben. Brillant!»
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ANDREAS NENTWICH, CHRISTINE SCHNAPP MODERN IN ALLE EWIGKEIT
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Inhalt EINLEITUNG I. Einladung, moderne Kirchen mit freundlichen Augen anzusehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 II. Eine kurze Ideengeschichte des Kirchenbaus in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
KIRCHEN Römisch-katholische Kirche St. Anton, Basel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Posaunenruf der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Wie ein Fotograf St. Anton sieht – Eindrücke von Roland Juker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Römisch-katholische Kirche Maria Krönung, Gossau ZH . . . . . . . 39 Die grosse Kunst des kleinen Ods . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Grosse Visionen, Vollendung im kleinen Od – der Architekt Fritz Metzger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Temple de Fontenay (Eglise evangélique-réformée), Les Cygnes . . . 51 Die kühle Rechnerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 La foi n'existe pas, non? Wie der Künstler Boris Billaud den Temple sieht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Römisch-katholische Kirche Maria Krönung, Zürich-Witikon . . . . 65 Das Zelt des Aufbruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Eine Spurensuche in Witikon – Gespräch mit dem Witiker Heinz Weyermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
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Evangelisch-reformierte Andreaskirche, Zürich . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Der schwebende Würfel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Wechselgesänge im Bauch des Monolithen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Römisch-katholische Kirche St. Pius, Meggen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Nach innen Schrein, nach aussen Laterne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 «Das, was man sieht, ist das, was da ist» – Kirchenbesichtigung mit Fanni Fetzer, Direktorin des Kunstmuseums Luzern . . . . . . 100 Reformierte Kirche Urtenen-Schönbühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Die wiedererfundene Dorfkirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 «Schwinget freudig Euch empor» – der Dichter Franz Dodel über Urtenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Römisch-katholische Klosterkirche, Ilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Sanfter Brutalismus mit schöner Aussicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 «Ich kann hier drin immer wieder staunen» – Gespräch mit der Dominikanerin Raphaela Gasser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Römisch-katholische Kirche Bruder Klaus, Emmenbrücke . . . . . . 131 Die sperrige Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Nahe bei den Menschen – der ehemalige Pfarrer Josef Meier und die pensionierte Pfarreisekretärin Pia Bachmann über ihre Beziehung zur Bruder-Klaus-Kirche . . . . . . . . . . . . . . . 136 Römisch-katholische Caplutta Sogn Benedetg, Sumvitg . . . . . . . . 143 Selig scheint sie in sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Hohe Torte, Gürteltier und schuppige Träne . . . . . . . . . . . . . . . . 150 Reformierte Steinkirche, Cazis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Vollendung im Aufbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Der Beton und sein Charakterbild – Fragen an den Architekturhistoriker Samuel Rutishauser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
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Neuapostolische Kirche, Zuchwil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Ein Wal im Gewoge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 «Stein, der lebendig wird» – Gespräch mit Ursula Stücheli und Beat Mathys, smarch-Architekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Römisch-katholische Marienkirche, Samstagern . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Das Lichtversteck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Die Orgel und ihre Kirche – Mario Pinggera, Pfarrer und Kirchenmusiker, zur Marienkirche als Klangraum . . . . . . . 199 Jenseits von Heiligsprechung und Verteufelung. Ein Fazit . . . . . . . 206 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
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I. Einladung, moderne Kirchen mit freundlichen Augen anzusehen
Für viele Menschen sind moderne Kirchen Tiefpunkte des Kirchenbaus. Sie denken an selbstquälerisch verdrehte Glockentürme und stellen sich bunkerhafte, unruhige und muffelnde Innenräume vor. Sie sehen gar nicht hin. Wir aber wollen, dass sie – Sie! – wieder hinsehen. Weil wir überzeugt sind, dass viele Kirchen, die in den letzten hundert Jahren gebaut wurden – ziemlich genau in dem Zeitraum, den man als architektonische Moderne bezeichnet – Höhepunkte des Kirchenbaus darstellen. Höhepunkte zum einen, weil sie eine Idee zwingend, also schlüssig, ehrlich, ohne luxurierenden Materialeinsatz und symbolische Überanstrengung umsetzen. Höhepunkte zum anderen, weil sie einem Nichtsichtbaren Raum geben, das sich jedem Menschen erschliesst, der sie betritt, nicht nur den Gläubigen, die in ihnen Gottesdienst feiern. Wir wollen Sie zu dreizehn modernen Kirchen in der Schweiz führen. Wir wollen Sie von jeder dieser Kirchen überzeugen, weil sie unseren schwierigen Bezug zur Transzendenz, aber vielleicht auch eine gesteigerte Sehnsucht nach ihr besser zum Ausdruck bringen als selbst die schönsten alten Kirchen mit ihrer viel eindeutigeren konfessionellen Prägung. Und wir wollen diese Kirchen anders erzählen als in kunsthistorischen Reiseführern üblich: nämlich so, dass ihre Atmosphäre, ihre Poesie oder ihre Strenge in unserer Sprache anschaulich werden. Wir wollen beim Herumgehen entwickeln, warum wir einen Raum oder ein Detail schön finden oder warum etwas unser Auge stört. Dabei soll immer wieder deutlich werden, dass vier Augen mehr sehen als zwei, und kein Augenpaar das Gleiche sieht: Dann, wenn wir miteinander oder mit Frauen und Männern in Dialog treten, die sich auf eine Besonderheit ihrer Kirche verstehen, das Baumaterial oder die Akustik, oder selbst da noch ihre Kirche lieben, wo wir ästhetisch zweifeln.
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Warum wir Letzteres gelegentlich tun, versuchen wir an einzelnen Stellen und auch – im Schlusskapitel – prinzipieller zu begründen. Wenn wir also unsere Begriffe vor Ihren Augen schärfen, zugleich feste Ansichten immer wieder dialogisch in Bewegung bringen, haben wir ein Ziel: Wir wünschen uns, dass dieser Führer Ihnen Lust macht, auch jene Kirchen, die hier nicht vorgestellt werden, mit eigenem Mut anzusehen, sich zu befragen, ob ihre Gestalt Sie anspricht oder nicht. Und warum das so ist. Es gibt viele, viel zu viele moderne Kirchen in der Schweiz, die viel zu viel auf einmal sein wollen, dabei ästhetisch wenig wagen und leider das anfangs angesprochene Klischee bestätigen. Aber es gibt weit mehr als dreizehn Kirchen, die man als schön und stimmig empfinden kann, wenn erst einmal die Augen für sie geöffnet sind. Was aber ist eine Kirche?
Bevor wir eine kleine Übersicht über den Kirchenbau in der Moderne geben, müssen wir uns auf einen Begriff einigen. Der Begriff heisst: «Kirche», griechisch «kyriake», dem Herrn gehörig. Landläufig versteht man unter Kirche ein Gebäude, aber schon das gern als Synonym verwendete Wort «Gotteshaus» führt uns auf das Feld konfessioneller Differenzen. Für Protestanten, also Reformierte, in schwächerem Grad auch Lutheraner, ist eine Kirche – genau genommen – kein Gotteshaus. Nach protestantischem Verständnis ist Kirche das, was unter den Gläubigen entsteht, die durch die Taufe mit Christus, wie die Glieder eines Körpers mit dem Haupt, verbunden sind. Als geistgewirktes Haus aus lebendigen Steinen, nämlich Menschen, entspricht diese Vorstellung dem Selbstverständnis der frühen Christen, die keine Kirchen hatten, sondern sich in Privatwohnungen versammelten. Erst in der konstantinischen Epoche, also im 4. Jahrhundert, als das Christentum römische Staatsreligion wurde, erfuhren heidnische Kultbauten wie die Basiliken eine Umdeutung, wurden Kirchen gebaut wie die Grabeskirche in Jerusalem. Das basilikale Langhaus und die Rotunde, ein Zirkelschlag um das Heilige Grab und Modell für alle Zentralbauten, sind bis in die Moderne als Grundtypen des Kirchenbaus erkennbar. Damals entstand das, was wir 12
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heute unter einer Kirche verstehen, aber im strengen Sinn nur auf römischkatholische und orthodoxe Kultbauten zutrifft: Sie sind Gotteshäuser, deren Allerheiligstes die Hostie im Tabernakel ist. Anders als die Bundeslade des wandernden Gottesvolks der Juden, über der der Geist Gottes schwebt, muss das Allerheiligste nicht in Zelten mitgeführt werden: Die Hostie wird erst durch priesterlichen Vollzug – die Weihe – heilig. Das Allerheiligste lässt sich vervielfältigen und kann überall aufbewahrt werden, wo Menschen sesshaft sind. Mitten unter ihnen – in den Kirchen. Kirchen werden zu geweihten Orten. In ihnen ist, angefangen bei der Ausrichtung nach Osten, nach Jerusalem und zur aufgehenden Sonne, die mit Christus gleichgesetzt wird, kein Element ohne symbolischen Bezug: Taufbrunnen werden mit Rotunden umbaut – Baptisterien, die Taufe, Grab und Auferstehung symbolisch verbinden –, oder sie werden in den vorderen Bereich des Kirchenschiffs gestellt, wo der Weg der Gläubigen zum Allerheiligsten beginnt. Der Altarraum, dem das Allerheiligste einwohnt, wird zur Zone der Kleriker, und erst in der Eucharistie, dem Abendmahl, verwandelt sich die Gemeinde zum Leib Christi. Mit dem Heiligenkult des Mittelalters kommt die Verehrung von Reliquien auf: Wenn nicht kostbare Schreine oder eigene Behältnisse für sie angefertigt werden, nehmen Altäre sie auf. Plötzlich ist der Altar selbst, auch unabhängig vom Vollzug der Eucharistie, etwas Heiliges. Die Reformation hat mit der Sakralisierung des Raums gebrochen, ganz besonders in der Schweiz. In reformierten Kirchen der Schweiz gibt es keinen Altar, sondern nur einen Abendmahlstisch, der oft sehr als Provisorium betont ist und auf- und abgebaut werden kann. Was bedeutet das für unsere dreizehn Kirchen? Nicht viel, erstaunlicherweise. Katholische Kirchen sind noch immer geweiht und «heilig», wohingegen protestantische nur gewidmet oder eingeweiht werden und nicht als sakrale Räume gelten. Doch seit die Reformierte Kirche unter eklatantem Mitgliederschwund leidet, wird wieder stark diskutiert, ob Kirchengebäude nicht doch besondere, «durchbetete», Räume sind. Vielleicht kommt so ein verschütterter Traditionszweig wieder ein wenig zum Blühen. In der Grundschrift, auf die sich fast alle reformierten Eidgenossen einmal geeinigt haben, der 13
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Zweiten Helvetischen Konfession von 1566 sind die erstaunlichen Sätze zu lesen: «So wenig wir aber glauben, dass Gott wohne in Tempeln, von Händen gemacht, so gewiss wissen wir, dass die Räume, die Gotte und seiner Verehrung geweiht sind, um des Wortes Gottes und der heiligen Handlungen willen nicht gemein, sondern heilig sind, und dass diejenigen, die in denselben sich aufhalten, sich ehrerbietig und anständig verhalten müssen, da sie ja an einem heiligen Orte vor dem Angesichte Gottes und seiner heiligen Engel sich befinden.» Auf der katholischen Seite hat sich währenddessen ein leichter Schub in die Gegenrichtung vollzogen, der zwar nicht zu einer «Entheiligung», aber zu einem weniger hierarchischen Verständnis des Raums geführt hat: Die Liturgiebewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und das Zweite Vatikanische Konzil von 1964 haben das urchristliche Element gestärkt, Menschen auf Augenhöhe miteinander zum Gedächtnis Jesu Christi versammelt. Das Sakrale von heute bildet sich aus einer neuen Schnittmenge zwischen den Konfessionen. Sakralräume für morgen
Die Kirchen der Moderne – und jetzt meinen wir die Gebäude – haben sich einander angenähert, mit den erstaunlichsten Wechselwirkungen. Die katholischen haben die strenge Raumhierarchie abgestreift und sind bildloser geworden, aber gerade dieser innerkirchliche Ikonoklasmus lässt sie oft sakraler und erhabener wirken als die byzantinisch oder nazarenisch überdekorierten Bauten des 19. Jahrhunderts. Die neuen reformierten Kirchen hingegen, jedenfalls die besten unter ihnen, betonen ihre Sakralität, setzen auf Lichtwirkungen, nehmen die triumphierenden Kanzeln zurück und installieren Abendmahlstische, die wie Altäre aussehen. Die wenigsten reformierten Gläubigen, selbst wenn sie Wert auf Distanz zu gewissen katholischen Elementen legen, dürften die Glaubensstrenge aufbringen, ihre Kirchen als reine Zweckbauten zu betrachten – und das nicht nur, weil sie der Ort sind, an dem sich bedeutende lebensgeschichtliche Momente vollziehen oder symbolisch (sakramental) bekräftigt werden.
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Multifunktionale, wandelbare Räume, die in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts aufkamen und die Transzendenz so klein wie möglich schreiben, wecken keinen Stolz. Kirchen sind paradoxale Örtlichkeiten, in denen klar umrissene Funktionen und, so man sie an diesen Funktionen misst, überschüssiger Raum einander durchdringen. Rudolf Schwarz (1897–1961), der Vordenker des neuen (katholischen) Kirchenbaus in Deutschland, hat den Begriff «Leere» durch «Stille» ersetzt sehen wollen. Tatsächlich wirkt die Abwesenheit bildhafter Beredsamkeit, wie sie in glücklichen Momenten die Kirchen der Moderne auszeichnet, erhaben. Warum? Weil sie das, was sich unserer Fassungskraft entzieht, nicht mit Bildern durchkreuzt, die eine unglaubliche Botschaft verkindlichen oder verkitschen, weil sie diese Botschaft nicht ausbuchstabiert und verflacht. Die Kirchen, die wir Ihnen in diesem Buch vorstellen, sind auf die beschriebene Weise erhaben. Sie haben unseres Erachtens das Potenzial, weit über ihre Verortung und Nutzung hinaus, Menschen, die sich dem konfessionell verfassten Christentum nicht mehr zugehörig fühlen, in die Stille eines ganz Anderen zu nehmen. Ob sie in die Zukunft des postsäkularen, aber auch postkonfessionellen Zeitalters zu retten sind, muss offenbleiben. Festgehalten aber sei, dass sie, viel mehr als viele alte Gotteshäuser, Kirchen der Zukunft sein könnten: Kirchen für Suchende.
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Römisch-katholische Kirche St. Anton, Basel (in Gebrauch seit 1927, geweiht 1931)
St. Anton ist der vierte katholische Kirchenneubau im nachreformatorischen Basel. 1910 erwarb die katholische Gemeinde das Grundstück im St. Johann-Quartier im Westen der Stadt. Gustav Doppler, der 1912 die Heiliggeistkirche im neugotischen Stil errichtete, gewann den ersten Preis der Bauausschreibung, doch der Erste Weltkrieg durchkreuzte die Neubaupläne. 1924 wurde ein neuer Wettbewerb ausgeschrieben und die General versammlung der katholischen Gemeinde gab Karl Moser den Zuschlag. Der erste Spatenstich war am 25. Januar 1925, zwei Jahre später wurde die Kirche dem Gebrauch übergeben, aber erst am 13. September 1931, nach vollständiger Bezahlung der Bausumme, geweiht. Da das Material der ersten Sichtbetonkirche der Schweiz eine schlechte Konsistenz besass, was zu Rost- und Gesteinsschäden führte, wurden immer wieder aufwendige Aussensanierungen notwendig, zuletzt 1992. St. Anton ist seit 1995 im Schweizer Kulturgüterverzeichnis als Denkmal von nationaler Bedeutung geführt.
Adresse Römisch-katholische Pfarrei St. Anton Kannenfeldstrasse 35 4056 Basel 061 386 90 60
Anfahrt Ab Bahnhof Basel mit Bus 50, Richtung Basel EuroAirport, bis Burgfelderplatz oder mit Tram 1, Richtung Dreirosenbrücke, bis Burgfelderplatz
www.antoniuskirche.ch
Öffnungszeiten Täglich geöffnet von 8 bis 18 Uhr
St. Anton, Basel
Der Bau
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Der Architekt
Karl Moser, geboren am 10. August 1860 in Baden, gestorben am 28. Februar 1936 in Zürich, Student und später Professor an der ETH, zählt zu den bedeutendsten und produktivsten Architekten der Schweiz. Dass er in allen Neo-Stilen baute, schliesslich zu einer sachlichen Klassizität fand und zuletzt ein Avantgardist wurde, trug ihm im Nachhinein den Ruf eines Chamäleons ein. Zu seinen bekanntesten Bauten – zwischen 1888 und 1915 unterhielt er mit dem Deutschen Robert Curjel ein Büro – gehören die Villen Boveri (1897) und Langmatt (1900) in Baden, die Pauluskirchen in Basel (1901) und Bern (1905), St. Anton in Zürich (1908) das Kunsthaus Zürich (1910), der Badische Bahnhof Basel (1913), das Kollegiengebäude der Universität Zürich und die Grosse Kirche Zürich-Fluntern (1920). Nur fünf Jahre nach diesem neoklassizistischen Sakralbau entstand St. Anton in Basel.
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Karl Moser baute romanisch, gotisch, klassizistisch, in einer Art Jugendstil. Er baute – fast schon sachlich – das Kunsthaus in Zürich und den Badischen Bahnhof in Basel. Und dann, plötzlich, liess er St. Anton in Basel vom Himmel fallen. Für Andreas Nentwich ist diese erste moderne Kirche der Schweiz ein Juwel des Neuen Bauens. Was für ein Glück, dass die Basler Kannenfeldstrasse in rund einem Jahrzehnt zu einer Hauptverkehrsachse anwuchs, die auch für das Quartier neue Konzepte und Bebauungspläne notwendig machte! Was für ein Glück, dass nicht der preisgekrönte, aber ganz und gar rückwärtsgewandte Entwurf des Architekten Gustav Doppler von 1910 zur Ausführung kam! Was für ein Glück, dass der Eindruck des Ersten Weltkriegs eine neue Sachlichkeit in die Welt brachte! Was für ein Glück, dass der alte Karl Moser, den man 1924 anfragte, noch einmal jünger wurde, als er je gewesen war, alle Konventionen seines Lebens abstreifte und in Sichtweite seiner neuromanischen Pauluskirche von 1901 die erste moderne Kirche der Schweiz hinsetzte, ganz aus Sichtbeton, innen und aussen!
St. Anton, Basel
Posaunenruf der Moderne
Thema und Variation
Er spannte sie auf 60 Meter Länge ein zwischen hohe Häuserfronten und setzte zwei mächtig aufstrebende Eckpunkte. Am Ende den Turm – er ist so hoch, wie das Kirchenschiff lang ist – und am Anfang ein monumentales Portal. Portal, Schiff, Turm: drei grosse Rechtecke, ein jedes kraftvoll gegliedert durch Ausbuchtungen, Einzüge, weitere Rechteckformen. Fünf Fensterbahnen, 14 Meter hoch, fünf Meter breit, reichen von der Sockelzone bis zum Dach. Durch Betonsprossen in horizontal verlaufende Rechtecke gegliedert, die viele kleine Quadrate fassen, geben sie Muster vor, die sich hoch in den Lüften wiederholen: Quadrate springen als Treppenhausfenster den Turm hinauf, und wie aus einem der Kirchenfenster nach oben gespiegelt, erscheinen die quadratischen Schallöffnungen der Glockenstube. Das Geländer unter ihr wiederum nimmt die andere der 27
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