totemügerliesk erfundenes Idiom, das absichtlich so viele Kuriositäten enthält? Allerlei Forschende und Foto: Charles Ellena
sonstige Gwundernasen machen sich auf die Suche
Christian Schmutz Geb. 1970, ist Journalist, Schriftsteller, Dialektologe. Mundartredaktor bei Radio SRF und Redaktor bei den ‹Freiburger Nachrichten›. Erarbeitete das ‹Sensler deutsche Wörterbuch› (2000), die historischen Romane ‹Als die Nachtvögel kreisten› (2007) und ‹Bachab – Falli Hölli verschwindet› (2012). Co-Autor von ‹Spiegelbilder› (2014) mit Lebensgeschichten aus Freiburg. Zahlreiche Publikationen, Bühnenauftritte, Vorträge und Projekte rund ums Senslerdeutsche.
nach dem Phänomen. Sie erleben mancherlei Überraschung.
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sagenhafte Sprache wirklich? Ist es womöglich ein
Christian Schmutz
Wo verstecken sich die Sensler? Gibt es sie und ihre
Christian Schmutz
Gang ga ggùgge Senslerdeutsch endlich verstehen
«Wir kommen nicht darum herum, diese Sensler sinnlich wahrzunehmen! Erst wenn wir sie gesehen, gehört, gespürt und gerochen haben, wissen wir, dass es sie gibt.» Nach einer schlaflosen Nacht will er eine Entdeckungsreise in diesen exotischen Landstrich unternehmen. Das muss sein – allen erdenklichen Risiken zum Trotz! Er lässt sich gegen Maul- und Klauenseuche impfen, streicht Sonnencreme ein, trägt einen Helm am Arm, Thermowäsche und einen Hakenstecken mit eisernen Beschlägen. Im Rucksack befindet sich ein Airbag gegen Schnee- und Schlammlawinen. Sicher ist sicher. Er hat keine Ahnung, was ihn erwartet.
www.senslerhotline.ch Bei Zytglogge erschienen: 2017 ‹D Seisler hiis böös›, Mundartbuch und Hörspiel
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Inhalt TotemÇœgerliesk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Die Suche nach den Exoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Wie Senslerinnen und Sensler reden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Ihre Sprache begreifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Ein Leben im Konjunktiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Das zeichnet diese Region aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Jeder Kontakt birgt Missverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Beliebte Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Plagierer oder Neider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Relativ geschafft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
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Totemǜgerliesk Senslerdeutsch ist die Alltagssprache der Personen aus dem Sensebezirk, meist Sensler genannt. Der Sensebezirk ist der einzige vollständig deutschsprachige Bezirk des zweisprachigen Kantons Freiburg. Die Einheimischen fühlen sich manchmal eher der Deutsch-, manchmal eher der Westschweiz zugehörig. Manchmal sind sie Sowohl-Als-Aucher, manchmal Weder-Nocher. Es heisst, die Welschen lieben die Sensler – aber sie verstehen sie nicht. Man braucht sich offenbar nicht zu verstehen, um sich zu lieben. Schön. Diese Aussage zeigt: Die auffälligste Besonderheit der Sensler ist ihr höchstalemannischer Dialekt – und dieser fällt dieswie jenseits der Saane auf. Geschätzte 30 000 Personen sprechen diese Mundart. Dieses Senslerdeutsche scheint bei Nichtsenslern einen bestimmten Reflex auszulösen – Kopfschütteln kombiniert mit einem Lächeln: «Schön, dass es so etwas gibt, aber ernst zu nehmen brauchen wir es nicht.» Dies ist vergleichbar mit der Erforschung einer exotischen Kuriosität, etwa einer seltenen Tierart. Gibt es die Sensler und ihre sagenhafte Sprache wirklich? Eines lässt sich nach der eingehenden Beschäftigung mit Senslern und Senslerdeutsch sagen: Das hartnäckige Gerücht, dass die Sensler totemǜgerliesk erfundene Gestalten sind und Senslerdeutsch ein erfundenes Idiom, um die Sprecher anderer Sprachen und Dialekte zu beschäftigen und zu ärgern, das können Sie getrost kǜdere. Die Sensler gibts tatsächlich – grad gestern sei einer gesehen worden. Wahrscheinlich. Eventuell. Zumindest hat jemand hinter einem Gebüsch etwas wackeln sehen.
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Die Suche nach den Exoten Ein Genfer, ein Basler und ein Berner wetten, wer als Erster beweisen kann, dass es die Sensler gibt. Alle drei machen sich unabhängig voneinander auf die Suche und treffen sich eine Woche später wieder. Der Genfer sagt: «Ich habe vernommen, Freiburger und eben Sensler seien in Genf effiziente Arbeiter. Aber sie erledigen jede Arbeit so rasch, dass ich es nicht geschafft habe, einen zu sehen.» Der Basler hat von einem Sensler Zuzüger in Basel gehört. «Aber der hat sich so rasch und so stark den Baslern angepasst, dass er nach drei Tagen nicht mehr als Sensler zu erkennen war.» Der Berner hat nicht daheim gewartet. Er hat sich von Schwarzenburg aus durch den Sense-Urwald gekämpft und nach tagelanger Suche hinter einem Felsen hervor eine Gruppe gesehen. «Wirklich?», fragen der Genfer und der Basler erstaunt. «Zumindest einen hab ich gesehen», relativiert der Berner. Und erst nach einer längeren Pause führt er halblaut an: «Das war ein eingewanderter Berner, der seit drei Generationen im Senseland lebt.»
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Eine alte Schriftrolle Ein Genfer, ein Basler und ein Berner sind derart ratlos, ob es die Sensler tatsächlich gibt, dass sie die Wissenschaft zurate ziehen. Es heisst zwar, im Elfenbeinturm sei sie weit vom echten Leben entfernt. Aber die Universität Freiburg erforscht gezielt Land, Leute und Sprache der Region. Das trifft sich gut. Ein Professor der Universität hat sich sein Forscherleben lang mit der Thematik befasst. Er bietet ein interdisziplinäres und interaktives Seminar mit dem Titel ‹Land und Leute zwischen Ärgera und Sense› an. «Nennen wir sie mal Ärgerer», sagt der Professor in der ersten Sitzung. Sein Interesse, sich mit dieser Spezies zu beschäftigten, wurde bei der Lektüre eines alten Schriftstücks geweckt: Er stiess im Keller der Universität in einer dunklen Ecke auf eine Papierrolle in alter deutscher Schrift. Mühsam musste er Buchstabe für Buchstabe entziffern und erschliessen. Die Entdeckung fesselte ihn mit jeder Minute mehr. Das Ganze kam ihm vor wie ein Kreuzworträtsel – jeder gefundene Buchstabe öffnete neue Türen. Der unbekannte Autor beginnt mit: «Wärum sy d Ärgerer so speziell? Haben Sie die wahre Geschichte schon vernommen, dass die Ärgerer die einzigen Leute auf dieser Welt sind, die nicht von Adam und Eva abstammen? – Bekanntlich sind sie ziemliche Schnapsdrossle. Darum heisst es, Adam und Eva seien sicher keine Ärgerer gewesen, sonst hätten sie den Apfel nicht gegessen, sondern gebrannt. Schnaps gemacht. – Ja, und es waren sicher keine Chinesen, sonst hätten sie nicht den Apfel gegessen, sondern die Schlange. – Und es waren sicher keine Kannibalen, sonst würden wir heute von der Schlange abstammen. Oder vom Apfel.» Der Autor schreibt weiter, dieser Schnapsgschǜcht selbst nachgegangen zu sein – und Unglaubliches herausgefunden zu haben.
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Wollte der unbekannte Autor seine Leser in die Irre leiten? Der Professor decodierte trotzdem weiter, weil die Hoffnung zu gross war, die genau richtige Entdeckung gemacht zu haben. Es stand weiter auf der Papierrolle: «Die ersten Menschen auf der Welt waren nicht Adam und Eva, sondern Odem und Ave. Diese zwei lebten in jenem Gebiet zwischen Ärgera und Sense. Die Schlange wollte Ave und Odem mit dem Apfel verführen, aber die beiden sagten: ‹Aba, ki Zytt! Neei, zeersch no epis wärche, bevors a Znüüni-Pousa git!› Sie legten den Apfel auf einen Stein und arbeiteten weiter. Es gab in ihrem neuen Garten viel zu tun. Die Frucht aber brachte sie auf eine Idee. Sie könnten stattdessen aus erlaubten Äpfeln as Schnäpsli brennen. Sie bauten sich einen Ofen mit Dampfkessel und Hafen sowie Destillieranlage und begannen mit Brennen – zum Glück hatte kurz zuvor ein Blitz eingeschlagen und ihnen zu Feuer verholfen. Nach einigen Wochen wollte der Herrgott mal nachschauen, was diese beiden Urmenschen so trieben. Als er um die Hecke kam, strahlten die beiden. Er käme genau zum richtigen Zeitpunkt für die Degustation ihres ersten Apfelschnapses. Es gebe ein Apérööli, selbst gemachte Brätzele hätten sie dafür auch schon parat. Das geplante Apérööli wuchs zu einem ausgewachsenen Apéro. Es zog sich in den Nachmittag, in den Abend und bis in alle Nacht hinein und endete damit, dass der Herrgott den Weg zurück in den Himmel fast nicht mehr fand. Als er sich am nächsten Tag gegen Mittag mit schrecklichen Kopfschmerzen an seinen Schreibtisch setzte, seinen Laptop aufklappte und mit zerknautschtem Gesicht die Schläfe festhielt, gab er sich einen Ruck. Er überlegte: ‹Das war ein rauschendes Apéro. Odem und Ave sind sehr herzlich, gastfreundlich und angenehm. Aber dass zwei so Trinkfeste die Urahnen der ganzen Menschheit sein könnten – das wäre nicht gut.›
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Den halben Nachmittag hatte Gott gebraucht, um diese Erkenntnis zu formulieren. Das war genug an Denkarbeit für heute. Er legte sich wieder schlafen und beamte sich am nächsten Tag ins Quellgebiet von Euphrat und Tigris, schuf dort Adam und Eva und die beiden erlagen den Verführungen der Schlange. Odem und Ave waren mit denen nicht verwandt und lebten in ihrem Ärgereländli weiter. Ihre Nachfahren trafen erst Jahrtausende später auf Nachfahren von Adam und Eva. Von denen konnten sie einiges lernen. Aber die Ave-und-Odem-Kinder waren ihnen auch in einigen Dingen voraus – so bei der ApéroKultur. Darum sind sie auch heute noch ein kleines eigen artiges Volk mit einem eigenen Dialekt.» Der Professor jubilierte: «Geschafft!» Das Anti-Freiburg-Kreuz In der ersten Stunde des Seminars ‹Land und Leute zwischen Ärgera und Sense› begeistert der Professor die Studierenden mit der ‹Odem und Ave›-Geschichte und weiteren Vermutungen zu den Ärgerern. Ganz gwundrig geworden wollen sich die Studierenden nun auf die Suche nach den Exoten machen. Das Rätselfieber packt jede und jeden. Sie wollen die Ersten sein, welche diese Ärgerer entdecken! Reicht die ‹Odem und Ave›-Geschichte wirklich als Beweis für die Existenz dieser Spezies aus? Wohl höchstens als Indiz. Es braucht mehr solcher Elemente für ein schlüssiges Bild. Für einen Solothurner Studenten ist klar: Falls es die Ärgerer gibt, muss man sie geografisch verorten können. Ihr Stammesgebiet liegt irgendwo zwischen Freiburg und Bern. Er hat herausgefunden, dass diese Region im Spätmittelalter umstritten war. Freiburg (mit Habsburg verbündet) und Bern (meist mit
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Savoyen) haben zwischen 1298 und 1448 vier grössere militärische Konflikte gegeneinander erlebt. Einer davon war für die Freiburger und mit ihnen für die Ärgerer prägend: Bei der Schlacht von Laupen im Jahr 1339 kämpften die papsttreuen Berner gegen die kaisertreuen Freiburger. Der Solothurner lässt sich diesen Passus auf der Zunge vergehen: «die papsttreuen Berner gegen die kaisertreuen Freiburger». Er findet eine interessante, mundartliche Aufstellung der Schlachtteilnehmer: Bäärn het Ùnderst ǜtzig ǜberchoo vo au dene Innerschwizer Eidgenosse vo 1291. Frybùrg ù d Bùrgùnder hii Ùnderst ǜtzig bechoo vo Basler, Nüebùrger, Losanner, Walisser ù Savoyer. Bäärn def ǜǜr vo Mùùrte ù Solothurn, Payerne ù Burgdorf. Frybùrg vo Kybùùrger, Elsässer ù im Erzbischof vo Öschtryych. Bäärn vo Thun ù de Oberländer vo Haslitaau, Wyssebùrg ù Blankebùrg. Frybùrg o vo Arbäärger, Bäupper ù Nydauer. Auso ifach f ǜrchterlich kompliziert! Auf beiden Seiten dieser Schlacht standen die unterschiedlichsten Typen mit den unterschiedlichsten Uniformen. Wer ist mit mir, wer gegen mich? Wem soll ich den Grind abhacken – dann dessen Ohren als Aschenbecher brauchen – den Schädel als Bowlingkugel – und die Zähne als Bieröffner? Und mit wem verabrede ich mich für nach der Schlacht in der Buvette zur feuchtfröhlichen dritten Halbzeit? Plötzlich hatte ein Berner Anführer namens Marcus LuethiLöienberger senior eine Idee: Für den Erfolg braucht es Organisation und klare Strukturen. Vor der entscheidenden Schlacht von Laupen nähten sich darum die Berner und ihre Verbündeten ein weisses Kreuz aus Leinen auf ihre Uniformen – als gemeinsames Erkennungszeichen.
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So eine Markierung hat grundsätzlich Vor- und Nachteile. Man weiss zwar, wem man nicht den Grind abhacken – dann dessen Ohren als Aschenbecher brauchen soll – den Schädel als Bowlingkugel – und die Zähne als Bieröffner. Aber: Ein weisses Kreuz auf der Brust ist etwa gleich eindeutig wie eine Zielscheibe auf der Stirn. Man muss wissen, dass offenbar knapp 7000 Berner und Verbündete gegen rund 12 000 Freiburger und Verbündete gekämpft haben. Die Taktik mit einer klaren Markierung – wie eben dem gemeinsamen weissen Kreuz – macht vor allem für den Mächtigen Sinn: Der braucht klare Unternehmensstrukturen mit Organisation und Überwachung. In einem kleinen Verbund macht jeder alles, und alles wird irgendwie gut. Also eigentlich müsste ein Aussenseiter und personell Unterlegener auf Chaos setzen, um eine Chance zu haben. Je mehr von den Übermächtigen verwirrt sind und den eigenen Kollegen den Grind abhacken – dann dessen Ohren als Aschen becher brauchen – den Schädel als Bowlingkugel – und die Zähne als Bieröffner –, desto grösser die Chance auf den Schlacht erfolg. Aber eben: Bei den Bernern hat die Markierungstaktik funktioniert und sie haben gewonnen, obwohl sie in der Unterzahl waren. Der Solothurner Student ist einer, der schnell denken und eins und eins zusammenzählen kann. Er findet fünf Punkte, die Freiburger, Ärgerer und die interessierte Schweiz von der Schlacht bei Laupen lernen können: 1. Manchmal sorgten sogar die langweilige Berner Verwaltung, Ordnung und Struktur bei den Welschen für Überraschungsmomente. 2. Sportwetten auf Aussenseiter waren schon immer beliebt. Der Papst hatte auf die richtigen Sieger gewettet und ein paar Kapellen, Ländereien und Sommerresidenzen abge-
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