Martin Hauzenberger: ‹Fritz Widmer›

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MARTIN HAUZENBERGER FRITZ WIDMER


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Martin Hauzenberger

FRITZ WIDMER Der Berner Troubadour aus dem Emmental



Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . .. . . . . .. . . .

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Jugend . . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . .. . . . .

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Gymnasium . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . .

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Studium . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . .. . . . . .. . . .

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Der Troubadour . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . .. . . . .

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Familie und Schule . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . .

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Mani Matters Erbe . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . . .. . . . . . . 119 Der Liedermacher-Boom . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . .. . 135 Der Schriftsteller . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . .. . . . . . 175 Die letzten Jahre . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . .. . . . . 199 Franz Hohlers Abschiedsrede . . . . .. . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . 225



Vorwort Eine Biografie über Fritz Widmer schreiben zu wollen, ist eigentlich eine Frechheit. Da gilt es, sich in ein reiches Leben einzulesen, einzuhören und einzufragen – voller gesungener, geschriebener, gesprochener Texte, verfasst von einem leidenschaftlichen und fleissigen Briefeschreiber, der mit vielen Menschen befreundet oder zumindest gut bekannt war, einem begeisterten Leser und Musikhörer, der aus seiner Belesenheit die wunderbarsten und wunderlichsten Gedankenverbindungen hervorzauberte. Fritz Widmer ist der einzige Berner Troubadour, der sich intensiv für die Mit-Liedermachenden aus anderen Regionen und Generationen interessierte. Da kommt viel Recherchematerial zusammen – eigentlich zu viel für ein einziges Buch. Ausserhalb des Bernbiets hat man Fritz zu wenig wahrgenommen – höchstens als besten Freund und Kollegen von Mani Matter, mit dem er sich immer wieder austauschte. Der hochgebildete Städter und der fast ebenso belesene und mit Liedern aus allen möglichen Kulturkreisen vertraute «Buregieu vom Land» verstanden sich bestens. Auf den langen Autofahrten zu und nach ihren gemeinsamen Auftritten hatten sie reichlich Zeit für Gespräche. ‹Der Berner Troubadour aus dem Emmental› also. Emmental? Widmers Emmentaler Liedermacherkollege Tinu Heiniger protestiert vehement: «Kirchberg liegt jenseits von Burgdorf, und ‹Burdlef› ist bekanntlich das Tor zum Emmental!» Nach dieser Definition läge Fritz Widmers Heimatdorf also ausserhalb. Nun gehört es allerdings laut der Berner Kantonsverwaltung zum Verwaltungskreis Emmental, der sich bis vor die Tore von Solothurn erstreckt, und die Höger am östlichen Dorfrand sind Emmentaler Höger. Zudem kann Kirchberg durch einen Ortsbesuch oder den Blick auf die Landkarte locker nachweisen, dass es an der Emme liegt – was dem

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Oberemmentaler Hauptort Langnau an der Ilfis beim besten Willen nicht gelingt. ‹Der Vermittler› hätte als Titel auch gut zu Fritz gepasst. Er war der Mann dazwischen, zwischen Emmental, Bern, Oberaargau und dem nahen Kanton Solothurn, und wusste manches zu verbinden. In Kirchberg galt er bald einmal als Stadtberner, in der Stadt als der Dichter vom Land. Er vermittelte uns als Übersetzer und Kenner fremder Lieder und Literatur viel Hörens- und Lesenswertes aus anderen Kulturkreisen. Und er vermittelte zwischen den oft uneinigen Berner Troubadours. Er vermittelte auch zwischen Dialekten. In der Emme-Aare-Ebene zwischen Burgdorf und Solothurn, Langenthal und Biel lassen sich keine deutlichen Sprachgrenzen ziehen – und Fritz spielte vergnügt mit diesen Unschärfen. In den Vorbemerkungen zu seiner Chansonssammlung ‹Ds fromme Ross› von 1974 schrieb er: «Mein Berndeutsch ist nicht das Stadtbernische, sondern die Mundart des unteren Emmentals, genauer der Gegend von Kirchberg, wo ich geboren wurde und die ersten zwanzig Jahre meines Lebens auf unserem Bauernhof verbrachte. So heisst eben ‹alles› – ‹aus›, ‹en andere› – ‹en angere›, ‹ja› – ‹jo›, und deshalb kommen Wörter vor wie ‹vüra›, ‹nöie schier›, ‹däich wou› und ‹dürhar›. […] Da ich nun schon einige Jahre in Bern wohne, habe ich einige der hiesigen Sprechgewohnheiten angenommen, darum heisst es manchmal ‹da› statt ‹do›, wobei ich zugeben muss, dass ich früher ab und zu gemogelt habe, damit der Reim wenigstens stimmte. Auf ‹aha› reimt sich ‹da›, auf ‹so› halt ‹do›.» Selbst ihren Wohnort Kirchberg nennen die einen Menschen ‹Chiuperg›, die anderen ‹Chüuperg›. Dies ist ein parteiisches, stark persönlich gefärbtes Buch. Ich habe Fritz Widmer gekannt, er war einer meiner besten Freunde und Kollegen in der in den 1970er- und 1980er-Jahren recht grossen

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und aktiven Liedermacherszene (mit immer viel zu wenig Liedermacherinnen). Und wir behielten einen guten, wenn auch nicht mehr ganz so intensiven Kontakt, als ich 1991 nach Zürich zog. Ich habe auch die anderen Leute ausgesucht, die zu Wort kommen – und muss mich bei vielen weiteren entschuldigen, die ich auch gerne befragt hätte, die aber einfach keinen Platz auf diesen Seiten mehr fanden. Oral History ist immer subjektiv. Als ich Fritz Widmers Freund und Mit-Troubadour Ruedi Krebs interviewte, schenkte er mir ein Buch: Egon Friedells ‹Kulturgeschichte der Neuzeit› – eines der intelligentesten und unterhaltendsten Geschichtsbücher überhaupt und schon seit Jahrzehnten eines meiner liebsten. Auf der ersten Seite von Ruedis Geschenk steht von Hand geschrieben: Fritz Widmer Fraubrunnen Aarehalde 17 3047 Bremgarten «Diese Friedell-Ausgabe von Fritz habe ich per Zufall im Antiquariat gefunden und für zwei Franken gekauft», erzählte mir Ruedi. «Dann hatte ich sie lange bei mir im Keller. Und letzte Woche hatte ich die Idee, ich könnte sie dir schenken.» Egon Friedell schreibt in diesem monumentalen Werk auch über die Unmöglichkeit, Geschichte objektiv und umfassend zu schreiben: «Denn es stellt sich leider heraus, dass der Mensch ein unheilbar urteilendes Wesen ist. Er ist nicht bloss genötigt, sich gewisser ‹allgemeiner› Massstäbe zu bedienen, die gleich schlechten Zollstöcken sich bei jeder Veränderung der öffentlichen Temperatur vergrössern oder verkleinern, sondern er fühlt ausserdem den Drang in sich, alle Tatsachen, die in seinen Gesichtskreis treten, zu interpre-

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tieren, zu beschönigen, zu verleumden, kurz, durch sein ganz individuelles Urteil zu fälschen und umzulügen. […] Tatsächlich gibt es auch bis zum heutigen Tage kein einziges Geschichtswerk, das in dem geforderten Sinne objektiv wäre. Sollte aber einmal ein Sterblicher die Kraft finden, etwas so Unparteiisches zu schreiben, so würde die Konstatierung dieser Tatsache immer noch grosse Schwierigkeiten machen: Denn dazu gehörte ein zweiter Sterblicher, der die Kraft fände, etwas so Langweiliges zu lesen.» In Fritz Widmers Friedell-Ausgabe ist der Satz unterstrichen. Und niemand kann mir das Gegenteil beweisen, wenn ich behaupte, Fritz habe da persönlich den Bleistift angesetzt. Auf zur subjektiven Widmer-Geschichte! Diese wäre nicht zu schreiben gewesen ohne das Schweizerische Cabaret-Archiv in Thun. Der emeritierte Stadtpräsident Hansueli von Allmen hat es vor Jahrzehnten eigenhändig aufgebaut und hält es seither mit seinen stillen Helferinnen am Laufen und auf dem Laufenden. Da auch der Nachlass von Fritz Widmer dort liegt, war der Gang nach Gwatt einmal mehr unerlässlich – und eine immer wieder grosse Freude dazu, denn Anita und Hansueli sind nicht nur effiziente Archivierende, sondern auch herzliche und grosszügige Gastgeber. Ein grosser Dank geht auch nach Bern zu Thomas Schmid von der Burgerbibliothek, der mir als einem der Ersten unkomplizierten Zugang zum neuerdings dort liegenden Archiv des Zytglogge Verlags gewährt hat. Angelia Schwaller vom Zytglogge Verlag danke ich herzlich für die Idee zu diesem Buch und die Projektbetreuung und Monika Künzi für das sorgfältige Lektorat. Und am meisten meiner Frau Gaby Labhart für ihre erwartungsvolle Geduld während der ausgedehnten und intensiven ‹Widmer only›-Zeiten.

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Merci viumau auch an alle auskunftswilligen Freundinnen und Freunde von Fritz Widmer, vor allem aber an seine Witwe Christina, seine Tรถchter Karin und Anna und an seine Schwester Kathrin Peluso-Widmer. Es war eine spannende Reise durch die Zeit.

Martin Hauzenberger

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Fritz Widmer mit seiner kleinen Schwester Kathrin auf dem Arm und seinem Bruder Walter.


Familie Widmer vor dem Bauernhof in Kirchberg: Dragoner Walter, Vater Hans senior, Fritz, Kathrin, Mutter Martha und Hans junior.


Jugend Das Dorf trägt seinen Namen völlig zu Recht. In Kirchberg BE steht die Kirche nicht nur im Dorf, sondern auch auf dem Berg. Und ist von weither zu sehen. In diesem Kirchberg wurde am 5. Februar 1938 Fritz Widmer geboren, der erste Sohn des Bauernehepaars Widmer-Wyss – ein knappes Jahr nach der Hochzeit. Das junge Paar lebte auf dem Hof, wo der Ehemann aufgewachsen war – die ersten beiden Jahre noch als Angestellte von dessen Vater. «Vati bekam 100 Franken im Monat und ich 300 Franken im Jahr, wir mussten die drei Zimmer noch als Lohn rechnen», schrieb Martha Widmer, als sie viele Jahre später den Aufforderungen ihrer Kinder, vor allem von Fritz, nachkam, etwas über ihr Leben aufzuschreiben. Die Aufgabe fiel ihr nicht leicht, wie sie in der Einleitung schrieb: «Will doch nun endlich probieren, ein wenig aus meinem Leben zu erzählen. Irgendwie wird es ja schon gehen, es braucht halt eine gewisse Anlaufzeit, die nötige Ruhe und Stille und eben auch den Willen dazu. Das Telefon nimmt einem halt die Mühe des Schreibens ab, möglichst selten wird ein Brief geschrieben, und damit verlernt man eben das Schreiben», begann sie ihren handschriftlichen Bericht. Der kleine Fritz wurde in eine Bauernfamilie mit viel Tradition hineingeboren. Der Urgrossvater väterlicherseits stammte aus Rüegsau im Emmental, hatte mit seiner Frau für einige Zeit einen Hof in Wynau im Oberaargau gepachtet, ab 1890 den ‹Steinerhof› in Kirchberg, den die beiden 1913 kaufen konnten. Sie hatten ein einziges Kind, Ernst, den Grossvater von Fritz, der eine Bauerntochter aus dem Nachbardorf Aefligen heiratete und mit ihr drei Töchter und sechs Söhne hatte. «Unser 1906 geborener Vater konnte seinem Vater dann den Hof abkaufen», erzählt Fritz Widmers Schwester Kathrin Peluso-Widmer.

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Die Mutter Fritz Widmers Vater Hans blieb also auf dem Hof seiner Eltern an der Ersigenstrasse, nahe dem Dorfzentrum von Kirchberg. Seine Frau Martha, geborene Wyss, Jahrgang 1913, mit der er am 17. März 1937 Hochzeit feierte, stammte aus dem Nachbardorf Bütikofen. Sie schilderte ihr Heimatdorf in den Aufzeichnungen für ihre Kinder als einen Ort, von dem sie als kleines Mädchen fand, «es könne nirgends schöner sein als dort, hauptsächlich im Herbst, wenn der Wald gefärbt war und die Rinderherden auf den Weiden waren und das Glockengeläut dieser Herden so tönte». Ihr Vater starb, als sie fünf war, an einem Hirntumor, und ihre Mutter musste den Hof mit den Angestellten weiterführen. Da lernten die Kinder früh mitzuarbeiten. Doch es blieb auch Zeit für Musse und Muse: «Als ich etwa in die 5. Klasse ging, durfte ich in die Klavierstunde, was mir riesig Freude machte. Und in der Sek.schule hats mir gut gefallen.» Nach der Schule wurde Martha mit ihrer Cousine für ein Jahr ins Welschland geschickt, wo sie in einem ‹Pensionnat de jeunes filles› in Vincy-sur-Rolle ein überaus strenges Regime zweier «alter Fräulein» erdulden musste. Aber «im Klavierspielen habe ich dort grosse Fortschritte gemacht, mussten wir doch jeden Tag eine Stunde üben». Auch nach der Haushaltungsschule in Langenthal und der Frauenschule in Burgdorf «durfte ich noch einmal in die Klavierstunde und musste dort am Vortragsfest ein Stück spielen, das ich heute mit Staunen anschaue und mich verwundere, dass ich überhaupt einmal so etwas spielen konnte». Dann kam der Abschied von der Mutter: «Ich blieb fast bis zu meinem 24. Geburtstag daheim, am 17. März 1937 feierten Vati und ich Hochzeit. Eigentlich hatte ich ein schlechtes Gewissen wegen Mueti.» Immerhin zog sie nur hinüber nach Kirchberg an die Ersigenstrasse – und aus Ersigen war ihre Mutter als Bauernmädchen Anna Hauert einst zu ihrem Mann nach Bütikofen gegangen.

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Ihre Kinder sind heute der Überzeugung, dass ihr Bruder Fritz sein musikalisches und sprachliches Talent vor allem von der Mutter geerbt habe. Kathrin Peluso-Widmer, Fritz’ Schwester, findet: «Unsere Mutter hätte ebenso gut Lehrerin werden können. Sie war eine begeisterte Leserin.» Und Klavier spielte Mutter Widmer weiterhin, allerdings nur an Sonntagen und zum Familienfest an Weihnachten. An den Werktagen hatte man «z wärche». Ihrer Schwiegertochter Christina Widmer-Hesse erzählte sie später einmal, sie habe als Kind manchmal davon geträumt, Klavierlehrerin zu werden. Der Krieg Etwas mehr als ein Jahr nach Fritz kam am 25. Mai 1939 der zweite Sohn, Hans, zur Welt. Einfach hatte es die Familie nicht. Während ihrer zweiten Schwangerschaft, schrieb die junge Mutter später in ihren Erinnerungen, «wurde mein Mueti wieder schwer krank, und da wir damals im Betrieb in Kirchberg die gefürchtete Maul- und Klauenseuche hatten und deswegen eingesperrt waren, brauchte es eine Bewilligung vom Tierarzt, dass ich zu ihr nach Bütikofen gehen konnte. Ich blieb lange mit Fritzli in Bütikofen, mein Mueti starb dann an einer Embolie.» Im Frühjahr 1939 durfte das junge Paar von Hans’ Eltern den Hof in Pacht übernehmen. Doch «am 1. September brach der Krieg aus, was man schon lange kommen sah, dieser verruckte Hitler gab ja nie Ruhe», schrieb Martha Widmer in ihren Aufzeichnungen. Der Ehemann musste in den Aktivdienst einrücken und fehlte auf dem Hof. Im Laufe der folgenden Jahre absolvierte er eine veritable Tour de Suisse mit vielen Stationen an der Grenze und in den Bergen: Handegg am Grimselpass, Allschwil, Grengiols, Binn, Genf, Blitzingen, Baden, Simplon, Gotthard. Zwischendurch durfte er manchmal kurz nach Hause, wo sein Vater wieder «meisterierte» und den Hof mit dem Melker und vielen Tagelöhnerinnen und -löhnern in Schuss hielt.

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Die Krankheit Die junge Mutter hatte es nicht nur wegen des Kriegs besonders schwer. Als Kleinkinder erkrankten Fritz und sein jüngerer Bruder Hans an Keuchhusten. «Die Nächte waren furchtbar», erinnerte sich die Mutter. «Wenn der eine etwas Ruhe hatte, so hustete der andere. Ich sehe noch jetzt die Kinder, wie sie jeweils ganz blau wurden im Gesicht vor Atemnot, und was sie gegessen oder getrunken hatten, kam ‹bogeswys› wieder retour, seis ins Bett, auf den Boden oder über mich.» Noch schlimmer erwischte es den dreijährigen Fritz, als er Scharlach bekam und mit rund einem Dutzend anderer Kinder in einem Absonderungsheim neben dem Spital in Quarantäne eingeschlossen wurde. Während der rund fünf bis sechs Wochen wurden sie nur von einer alten Diakonissin betreut, «und die war einfach überfordert», schrieb Mutter Widmer später: «Fritzli war der Jüngste, und als ich einmal zum Spital ging, um zu fragen, wie es den Kindern gehe, sagte sie mir, er ‹bysli› immer noch ins Bett. Zur Strafe dafür drehe sie den Kaltwasserhahn auf und halte die Kinder, die das machten, unter den kalten Wasserstrahl.» Diese Zeit hinterliess beim kleinen Fritz tiefe, fast traumatische Spuren. Später schrieb er (und erzählte es auch seiner Tochter Karin), damals habe er das Vertrauen in andere Menschen fast völlig verloren und gespürt, dass er sich nicht auf andere verlassen könne. Am 9. Oktober 1942 kam Walter, der dritte Widmer-Sohn, zur Welt. «Der arme Züttel war so ein richtiges Opfer des Krieges, obschon wir keinen Krieg hatten», schrieb die Mutter in ihren Erinnerungen. «Wegen Fritz habe ich auch einmal so einen Schrecken erlebt, als er vom Pflaumenbaum herunterfiel und am Gartenzaun einen wüsten Riss am Hinterkopf machte. Gottlob haben meine Söhne diese Sachen ganz verwachsen und sind grosse, starke Burschen geworden.»

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Die Fliegenden Festungen Den Krieg erlebte die Familie nur von ferne – bis auf zwei Ausnahmen: Fritz schrieb Jahrzehnte später als Grossvater einen Brief über seine Jugendzeit an seinen Enkel Cillian in Irland und berichtete ihm darin, er habe zweimal gesehen, wie Schweizer Jagdflugzeuge US-Bomber, sogenannte «Fliegende Festungen», beschossen hätten: «Eine wurde von sieben Schweizer Messerschmitt-Jägern beschossen, bis sie brennend abstürzte und die Crew sich mit den Fallschirmen retten musste. Wir beobachteten das an einem späten Nachmittag, während wir Kälber und ‹Guschti› hüteten (‹Guschti› nennt man im Bernbiet junge, weibliche Rinder, bevor sie das erste Mal kalben und so zur Kuh werden, Anm. MH). Wir schauten uns das an, als wäre es eine Flugschau. Und ein paar Wochen später musste eine andere Fliegende Festung notlanden – gleich neben einem Acker, in dem wir zwei Tage zuvor Kartoffeln ausgegraben hatten.» Der Krieg hinterliess auch indirekte Spuren, wie sich Fritz als Grossvater erinnerte: «Im Kindergarten gefiel es mir erst, als wir einmal im Wald Tannzapfen sammeln durften. Sonst gab es nichts auf dem Waldboden. Die Leute hatten alle Äste und Zweige für ihre Heizungen eingesammelt, weil es keine Kohle und kein Öl gab.» Im April 1945 kam Fritz Widmer in die Schule, und nach zwei Wochen erlebte er einen denkwürdigen Tag, den er Cillian so schilderte: «Am 8. Mai kam unsere Lehrerin Fräulein Pernet in die Klasse und sagte, letzte Nacht sei der Krieg zu Ende gegangen. Dies sei ein wunderbarer Tag. Draussen hörte man die Leute rufen und singen.» Einen grossen Unterschied zu den Kriegszeiten sah der kleine Fritz vorerst allerdings nicht: «Auf den Strassen hatte es immer noch viele Soldaten mit Pferden, manchmal waren sie auch noch in unserer Scheune, wie in den fünf Jahren zuvor. Und Zucker, Salz, Butter, Eier, Fleisch, Kaffee und Milch waren weiterhin rationiert. Erst langsam wurde der Friede auch im Landesinneren wirklich spürbar.»

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Die drei Widmer-SÜhne Fritz alias Gide oder Gidi (hinten), Hans alias Häis (rechts) und Walter alias Wadi (vorne).


Die Familie und der Bauernhof Am 16. März 1947 kam nach den drei Söhnen Tochter Kathrin als «Nachzüglerli» zur Welt. Fritz schrieb später, sie habe es als Jüngste oft schwer gehabt, doch Kathrin sieht es im Rückblick nicht so schlimm: «Wir hatten eigentlich eine schöne Kindheit. Man hat mir erzählt, dass sich bei meiner Geburt das ganze Dorf gefreut habe, dass Widmers jetzt noch ein Mädchen bekommen hätten. Für mich war Fritz ein Vorbild und mein Lieblingsbruder. Wir standen einander am nächsten, er hat mich gut verstanden. Er war für ‹die chlyni Schwoscht› ein Beschützer. Er hatte auch nie Streit mit seinen Brüdern, das war ihm zu blöd, er mochte nicht ‹stürme›.» Widmers waren eine angesehene Familie. «Es war ein grosser Bauernhof», erzählt Kathrin Peluso. «Wir hatten rund zwanzig Kühe und zwei bis drei Pferde. Meine Brüder Hans und Walter waren später im Militär Dragoner und hatten einen sogenannten ‹Eidgenossen›, ein Armeepferd, zu Hause.» «Wir hatten später auch Traktoren», berichtet Kathrin Peluso weiter. «Aber als ich klein war, wurde noch viel mit den Pferden gearbeitet. Auch Schweine und Hühner hatten wir natürlich, und mein Grossvater hielt einige Schafe.» Neben dem Bauernehepaar arbeiteten auf dem Hof der Melker, der die Kühe betreute und schon für Grossvater Widmer gearbeitet hatte, der Karrer, der für die Pferde und Fahrzeuge verantwortlich war, ein bis zwei Knechte, zwei Mägde – heute spricht man von Mitarbeitenden – und die Frau des Melkers, die am Samstag als Putzfrau und bei der grossen Wäsche als Waschfrau im Einsatz war. Der Dichter als Bauer Fritz erinnerte sich im Brief an seinen Enkel, dass er schon früh auf dem Hof mithelfen musste: «Zuerst waren das kleine Aufgaben. Wir Buben wurden als Boten eingesetzt: Weil viele Leute noch kein Telefon hatten, wurden wir ausgeschickt, um Leute zu fragen, ob sie

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bei uns mithelfen könnten, wenn besondere Aufgaben zu erledigen waren, vor allem während des Heuets, der Getreide- und Kartoffelernte oder an Waschtagen. Da brauchte es jeweils zehn bis zwanzig Leute, um die Arbeit zu erledigen, die heute eine einzige Maschine in derselben Zeit erledigt.» Eine weitere Aufgabe der Buben war das Viehhüten. «Ich glaube, ich war nicht älter als sechs Jahre, als ich zum ersten Mal die Guschti und Kälber zu hüten hatte. Nachts waren sie im Stall, tagsüber auf einer Weide ohne Zaun, also mussten wir auf sie aufpassen.» Er erinnerte sich auch, dass er dem Melker zur Hand ging. «Später durfte ich selber melken – ausschliesslich von Hand und nicht mit einer Maschine.» Fritz hatte auch die Aufgabe, die Milch in die Käserei zu bringen. «Dafür hatten wir einen leichten vierrädrigen Wagen, der von einem starken Hund gezogen wurde und auf dem meistens drei 40Liter-Kannen transportiert wurden. Ich liebte diese Fahrten, weil auf dem Heimweg die Strasse leicht abwärts lief und der Hund so schnell rannte, wie er konnte – einmal so schnell, bis in einer Kurve die Milchkannen davonflogen, zum Glück war das auf dem Heimweg, die Kannen waren bereits geleert.» Die beiden Brüder von Fritz erinnern sich ein wenig anders an dessen Mithilfe auf dem Hof. «Er zog sich manchmal einfach zurück und vertiefte sich in Bücher», sagt Bruder Hans, genannt Häis, der später den elterlichen Betrieb übernahm. «Auf dem Hof half er nicht so viel mit. Nur wenn er musste oder aufgefordert wurde, kam er in den Stall. Und im Sommer war er immer barfuss, auch wenn Kuhdreck im Stallgang lag. Heute ist der Boden in den Ställen ja rau, damit die Kühe nicht ausrutschen. Aber früher liess man die Kühe nicht so oft ins Freie, wie man das heute muss, und da waren die Stallgänge viel glatter. Dann hat er jeweils draussen Anlauf genommen und ist barfuss durch den Stall ‹ziberlet›.» Daran erinnert sich auch der jüngere Bruder Walter, genannt Wadi, noch sehr gut.

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Ein leidenschaftlicher Bauer sei Fritz nicht gerade gewesen, meint Hans. «Aber das war auch gut so. Als er dann ab der siebten Klasse ins Gymnasium ging, hatte er noch weniger Zeit für den Hof, vor allem unter der Woche. Da hatte Mutter das Gefühl, er müsse jetzt lernen. Sonst erinnere ich mich nicht, dass er etwa beim Puppen half.» Schwester Kathrin und Bruder Walter dagegen wissen noch gut, dass Fritz bei der Ernte und beim «Puppen» dabei war: eine Garbe in der Mitte, die anderen daran angelehnt und dann zugedeckt. «Das war immer ein echtes Miteinander», sagt Kathrin Peluso, «und es brauchte dafür viele Leute. Da war er immer mit dabei. Er war ja auch sehr kräftig. Gidi (wie Fritz genannt wurde, Anm. MH) stapfte und rannte jeweils barfuss auf dem Stoppelfeld herum. Er war ein Jufli, er rannte immer.» Seine Schwester hatte das Gefühl, er helfe gerne auf dem Hof mit. «Seine Frau Christina hat mir jetzt zwar berichtet, er habe das nicht wirklich gemocht. Aber offenbar hatte er das Gefühl, das würde von ihm erwartet. Er war beim Heuen dabei, und ich erinnere mich, wie jeweils der Melker voller Stolz sagte: ‹Wie der Gidi immer mithilft, das ist wirklich gut.›» Und Bruder Walter weiss von Fritz’ liebster Beschäftigung auf dem Hof zu berichten: «Im Garten half er gerne mit, vor allem beim Jäten und Unkrautausreissen. Da müsse er nicht viel dabei denken, sagte er, da könne er so richtig abschalten.» Schwester Kathrin hat noch eine besondere Episode auf Lager: «Einmal sagte Fritz, er wolle ausreiten. Er war nun wirklich nicht der geborene Reiter, aber jemand half ihm, das Pferd zu satteln. Das Pferd spürte aber bald, dass er kein geübter Reiter war, und entschloss sich, nach etwa hundert Metern umzukehren und wieder nach Hause zu gehen. Fritz konnte es nicht dazu bewegen, ihm zu gehorchen, er schaffte es noch knapp, sich vor dem Stall mit einem Sprung aus dem Sattel zu retten, und das Pferd marschierte ruhig an seinen Platz.» Wer Fritz Widmers Ballade vom frommen Ross kennt, das sich nur mit dem Befehl «Gott sei Dank» in Bewegung

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setzen und nur mit «Amen» wieder stoppen lässt, kann sich vorstellen, woher die Inspiration kam. Die Namen Fritz, Hans, Walter, Katharina – die Widmer-Kinder erhielten keine ungewöhnlichen Namen. Fritz und Hans hiessen zwei Onkel von Mutter Widmer, Walter ihr jüngerer Bruder. Was die Familie und das Umfeld aus den Vornamen machten, war schon kreativer. Das Berndeutsch ist unter den Schweizer Dialekten ja der weitaus aktivste in der Verformung von Vornamen. Da bleibt kaum ein Name verschont. Am beliebtesten ist bei den Knabennamen die Endung «u». Da wimmelt es von Märku, Chrigu, Rüedu, Tinu, Köbu, Dänu, Sämu, Wilu, Wäutu, Resu, Fridu, Seppu, Ürsu. Auch die Endung «e» taucht immer wieder auf: bei Wale, Hene, Röfe, Jüre, Küre, Pesche; Fritz wird zu Gide, Marcel zu Cele. Gelegentlich kommt auch das «i» zum Zug wie bei Housi oder Aschi. Kein Wunder, sind heute Namen wie Sven, Lars, Liam oder Kevin Trumpf, die den Transformierungen eher Widerstand leisten. Das Schluss-e blüht auch den Mädchennamen: Mone, Brige, Chrige, Ännele, Lise, These, Käthle, Renata wird zu Nätle, Silvia zu Sile. Das Besondere daran ist, dass es nicht immer um eine Kurzform geht. So erhalten Einsilber eine zweite Silbe: Ernst wird zu Aschi, Hans zu Housi, Fritz zu Gide, Urs zu Ürsu, Jürg zu Jüre, Kurt zu Küre, Rolf zu Röfe. Auch bei Widmers in Kirchberg wurden die Namen umgebaut. Fritz wurde in seiner Familie zum Gidi und bei vielen Kollegen zum Gide (seine Mutter allerdings blieb meist bei Fritz, wie die Geschwister berichten), Hans zum Häis (so ausgesprochen, als spreche eine Zürcherin von hohen Temperaturen), Walter hiess Wali oder Wadi und Katharina bei ihrer Mutter Käthy, sonst anfangs Kätheli und später Käthele.

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Fritz nutzte solche Varianten in seinen Liedern später weidlich aus: Namen, die sowohl ein- als auch zweisilbig eingesetzt werden können, sind zur Einhaltung des Versmasses ausserordentlich praktisch. Seinen eigenen Namen machte er in zweien seiner vertonten Witze nicht zum Gide, sondern zum Fridu. Und in beiden Liedern, sowohl in ‹Dä vo de Fische› wie in ‹Dä vo de zwene Hornusser› ist der Fridu jeweils der Schlauere oder der Stärkere als der Housi. Die Schule «Ich mochte die Schule. Sie war so anders als das, was ich zu Hause tun musste, eine schöne Abwechslung von der Arbeit auf dem Bauernhof», erinnerte sich Fritz Widmer im Brief an seinen Enkel Cillian. Und sie fiel ihm leicht, er war nach allgemeiner Auskunft ein sehr guter Schüler. Nach Fräulein Pernet in der ersten und zweiten Klasse kam er in der dritten und vierten zu Herrn Ryser. Fritz’ Schwester Kathrin sagt heute, Fritz habe ihr einmal erzählt, dieser Ryser habe ihn einfach nicht gemocht, weil er ein zu guter Schüler gewesen sei. Als Zehnjähriger war er zum ersten Mal – abgesehen von der Scharlach-Quarantäne – weg von zu Hause, in einem Lager in der Lenk (oder an der Lenk, da gibt es im Bernbiet verschiedene Meinungen) im Simmental. Im Brief an Enkel Cillian schrieb er, die Knaben seien damals in die Berge geschickt worden, um sie von der im Mittelland grassierenden Tuberkulose fernzuhalten: «Ich war ehrgeizig und beschloss, nie zuzugeben, dass ich müde sei oder mir etwas wehtue. So durfte ich mit den Grösseren auf jene Wanderungen und Bergtouren, die den Kleineren verwehrt blieben.» In diesem Lager lernte er auch jassen, «was ich für ein wertvolles, spannendes und nützliches Spiel halte. Und ich ass auch zum ersten Mal Fleisch. Früher hatte ich nur Würste gegessen, aber noch nie richtiges Fleisch.» Auch in der Sekundarschule hatte Fritz keine Mühe. «Ich hatte ein gutes Gedächtnis, interessierte mich für viele Dinge und las

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viel.» Tatsächlich kam eines Tages Herr Wälchli, der Schulvorsteher der Sekundarschule, der auch Fritz’ Lieblingslehrer war und Geschichte und Geografie unterrichtete, zu Widmers nach Hause und erklärte ihnen, sie müssten ihren Sohn unbedingt ans Gymnasium in Burgdorf schicken, er sei ein so guter Schüler. Das war für die Eltern eine Überraschung, denn Bauernkinder gingen damals eher selten ans Gymnasium. Dort waren die Kinder des Lehrers und des Pfarrers. Oder die Kinder der Familie Stefan gleich gegenüber. Deren Vater war Ingenieur, also ebenfalls ein «Gschtudierter». Familie Stefan Die Stefans waren Flüchtlinge, die 1945 aus der Tschechoslowakei nach Kirchberg gekommen waren. Der Vater stammte aus Mährisch-Ostrau (Ostrava) und war seit 1918 ‹Deutscher tschechischer Nation›, die Mutter kam aus dem Bernbiet und war durch ihre Heirat in die Mühlen der Weltpolitik geraten, als das Deutsche Reich Böhmen und Mähren faktisch annektierte. Sie hatte ihren späteren Mann in einer ‹Studentenkolonie› im Oberhalbstein GR kennengelernt und war ihm in die Tschechoslowakei gefolgt. Während des Krieges arbeitete Vater Stefan als Ingenieur in Berlin-Charlottenburg. Bei Kriegsende bekam die Mutter mit ihren beiden minderjährigen Buben beim Versuch, via Prag in die Schweiz zu reisen, als Deutsche die wütende Rache der zuvor von den Nationalsozialisten terrorisierten Tschechen zu spüren (mehrere Monate Arbeitslager). Auf abenteuerliche Weise und dank der tatkräftigen Hilfe ihres Vaters, der mit Vehemenz und Erfolg bei der Schweizer Fremdenpolizei intervenierte, konnte die Mutter mit den Kindern Ende August 1945 per Rotkreuztransport in die Schweiz einreisen. Auch der Vater schaffte mit viel Glück die Reise an die Schweizer Grenze und kam dank der ‹Familienzusammenführung› durch den Schweizer Major Hausammann im November 1945 in die Schweiz. Sein Schwiegervater Hermann Stuber war Arzt in Kirchberg an der

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Ersigenstrasse, und so wohnte die Familie gleich über die Strasse vom Widmer-Hof. Hans-Jürg Stefan, mit Jahrgang 1936 der älteste Sohn, erinnert sich, dass seine Schwester Vera (als Kind ‹Vreneli› genannt, später als Verena bekannt), 1947 im Salemspital in Bern zur Welt gekommen, ein typisches Nachkriegskind war: «Sie wurde vom ‹Opa Stuber› verwöhnt. Zuerst hatte es ein Geraune gegeben: Unsere beiden Tanten, die Schwestern meiner Mutter, fragten, ob das jetzt noch sein müsse, sie seien doch Flüchtlinge und jetzt noch ein Kind …» «Die jüngste Tochter der Stefans, das Vreneli, war so alt wie ich, und wir waren gut befreundet», erinnert sich Kathrin Peluso-Widmer an ihre Nachbarin. «Ihre beiden Brüder gingen wie mein Bruder Fritz ans Gymnasium. Die Familie zog 1958 nach Wabern, und Vreneli ging 1968 nach Deutschland.» Und in Deutschland wurde Vreneli über Nacht sehr berühmt. Verena Stefans Buch ‹Häutungen› schlug 1975 in der politischen Diskussion ein wie eine Bombe: Der radikale, offenherzig erzählte autobiografische Bericht einer jungen Frau auf dem Weg aus ihren unbefriedigenden Männerbeziehungen zur überzeugten lesbischen Feministin wurde zum Bestseller und sowohl mit begeistertem Lob als auch mit haufenweise giftiger Kritik überschüttet. Ihr ältester Bruder Hans-Jürg, der später Theologie und Musikwissenschaft studierte und als Leiter im ‹Institut für Kirchenmusik Zürich› und Beauftragter für das neue Reformierte Gesangbuch (RG 1998) international bekannt wurde, erinnert sich, dass ‹Häutungen› «für unsere Familie ein unheimlicher Einschnitt war. Für unsere Mutter war es sehr schwierig, mit all dem Gerede in Wabern.» Auch der jüngere Bruder Ueli – Jahrgang 1938 wie Fritz Widmer –, pensionierter Pfarrer und Psychologe (Traumanalytiker), erinnert sich: «Vor allem unser Vater litt darunter. Mir machte das nichts aus, Vera und ich hatten immer eine gute Beziehung.» Das Buch des Vrenelis von vis-à-vis interessierte 1975 auch Mutter Widmer: «Unser Mueti hat Verenas ‹Häutungen› gelesen»,

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erzählt Kathrin Peluso, «und fand es ganz furchtbar. Ich durfte es jedenfalls nicht lesen. Wahrscheinlich hat sie es gleich weggeworfen.» Den Kontakt zu Verena fand Kathrin erst mehr als dreissig Jahre später wieder, als ihr Bruder Fritz in Bern zu einer Lesung von Verena Stefan ging und ihr Kathrins Adresse gab. «Sie meldete sich prompt bei mir und kam mich hier in Kirchberg besuchen. Sie war begeistert, wieder an der Emme spazieren zu können.» Verena alias Vera mailte auch an Fritz noch kurz vor seinem Tod – auf Berndeutsch: «Mir chennenis ja chuum, du hesch zu mine grosse brüetsche ghört. Jtz hätti gärn echli meh bsungeri bärndütschi wörtli parat, settigi, wie du se i dine lieder bruchsch.» Verena Stefan starb 2017 in Montreal (Kanada) an Krebs. Der Hof heute Das Haus, das einst der Widmer-Hof war, steht noch. Fritz’ Bruder Häis übernahm den Hof 1972 von seinen Eltern. 1984 konnte er einen Hof im Nachbardorf Bütikofen kaufen und verkaufte dafür einen Teil des eingezonten Baulandes in Kirchberg. Die beiden Betriebe wurden von Bütikofen aus bewirtschaftet. Im Haus in Kirchberg befinden sich jetzt das Restaurant Platanenhof, eine Physiotherapie-Praxis und mehrere Eigentumswohnungen.

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Martin Hauzenberger

Martin Hauzenberger in der Stockholmer Altstadt Gamla Stan beim Denkmal für Evert Taube, den Doyen der schwedischen Liedermacher im 20. Jahrhundert. (Foto: Esther Della Pietra)

Geboren 1947 in Tann-Rüti ZH, Schulen in Zürich und Bern, studierte Geschichte und Geographie an der Universität Basel. Seit 1971 war er als Journalist und Redaktor bei verschiedenen Zeitungen (u. a. Zytglogge-Zytig, TAT, Schweizer Illustrierte, Berner Zeitung, Cash, Beobachter, Tages-Anzeiger, Zeitlupe) und dem Schweizer Fernsehen (u. a. DRS aktuell, Tagesschau, Quer) tätig. Seit 1972 tritt er als Liedermacher und Hackbrettspieler auf. Er gehörte zur Gruppe Berner Chansonniers, die in den 1970er-Jahren ungezählte Auftritte in den damals zahlreichen Schweizer Kleintheatern gaben. 1983 war er auf einer Chinareise mit einer Gruppe von Schweizer Künstlern dabei, zusammen mit u. a. Polo Hofer, Franz Hohler, Dimitri und Kaspar Fischer. Er lebt in Zollikon ZH und ist mittlerweile pensioniert. Er ist Co-Autor des Standardwerks ‹Grosse Schweizer Kleinkunst› (2010) und Autor der Biografie ‹Franz Hohler – der realistische Fantast› (2015). Bei Zytglogge erschienen: ‹Früecher – hütt – gäng›, EAN 7611698043090

www.martinhauzenberger.ch


Sein Liedermacherkollege Martin Hauzenberger hat viele Stimmen von Fritz Widmers Weggefährtinnen und Weggefährten gesammelt. Entstanden ist eine spannende Biografie über einen hörens- und lesenswerten Dichter und Denker, die auch bislang unbekannte Seiten in seinem Leben beleuchtet. Mit Stimmen von Fritz Widmers Witwe Christina, seinen Geschwistern, seinen beiden Töchtern Karin und Anna, Joy Matter, Lukas Hartmann, Franz Hohler, Ernst Burren, Bänz Friedli, Guy Krneta, Tinu Heiniger, Christian Schmid, Hansueli von Allmen, Lisa Catena, Oli Kehrli, Ben Vatter und weiteren. I S B N 978-3-7296-5048-0 S B978-3-7296-5048-0 N 978-3-7296-5048-0 I S BIN

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FRITZ WIDMER Martin Hauzenberger

Fritz Widmer war der engste Kollege und Vertraute von Mani Matter im Sextett der legendären Berner Troubadours. Fast fünfzig Jahre lang schrieb und sang er Lieder von grosser Eigenart und Vielfalt in seinem saftigen Berndeutsch. Als Mundart-Schriftsteller, Zeitungs- und Radiokolumnist fand er ab den 1980er-Jahren ebenfalls offene Ohren, Augen und Herzen. Bis zu seinem frühen Tod 2010 schrieb und sang er unermüdlich und ermutigte und unterstützte jüngere Künstlerinnen und Künstler.

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