Schueni, der Knecht Daniel Grob
Daniel Grob
Schueni, der Knecht Roman
DANIEL GROB SCHUENI, DER KNECHT
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Daniel Grob
SCHUENI, DER KNECHT Roman
Nicht was einer erreicht im Leben, zählt, sondern was einer tut.
1 Das Dorf ist schon immer das Dorf gewesen. Dem Knecht hat man schon immer Schueni gesagt und die Ziege ist die Geiss. Schueni schiebt seinen verrenkten Körper näher an die Mauer: Jetzt stehen sie am Grab. Wieder eine der Alten weniger. Die Jungen auf dem Friedhof kommen von auswärts, man sieht ihre Autos vor der Kirche. Auch ein Soldat steht dort. Schueni grinst schief: Das ist ein Enkel, die Geiss wird ihn kennen! Aber ums Lachen ist ihm nicht: Nun ist also auch Sommers Lena nicht mehr. Eine Gute war das, wohl-wohl, die Bauersfrau auf dem Tanneck, hat immer Zeit gehabt für Schueni, einen Kaffee, einen Most, ein Vesperbrot. Und immer hat sie ihn bei seinem richtigen Namen genannt, «Johann», hat sie gesagt, «ein Gschaffiger bist», hat sie gesagt und ihm zurechtgeholfen. Aber die letzten Jahre ist sie im Pflegheim gewesen. Schueni hat das Pflegheim nicht gesehen, er ist nie aus dem Dorf fortgewesen ausser bei der Aushebung vor dreissig Jahren, da ist er mit den andern ins Städtli gefahren auf dem Brügiwagen. Wieder verzerren sich seine Lippen: Wie sie getrunken haben und gesungen! Und der Schueni wird General!, haben die andern gegrölt. Schuenis Grinsen erstirbt. Er ist nicht General geworden. Der Oberst hat seinen verdrehten Körper mit verkniffenen Lippen gemustert, dann ist sein Gesicht feuerrot geworden: «Abtreten!», hat er gebrüllt. Wie er zurück ins Dorf gekommen ist, weiss Schueni nicht mehr. Bloss wie der Vater gewütet hat und dreingeschlagen, das weiss Schueni noch und dass das Lied noch über Jahre gesungen wurde: Und der Schueni wird General! Das rote Gesicht
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des Obersten und das Warten draussen auf die Kameraden, die in die Wirtschaft wollten. Sommers Lena also! Über der Wegenalp hockt der Nebel, unbeweglicher grauer Herbstnebel, der alles feucht macht. Dann sind die Tannen schwarz und die Strasse zum Städtli verschwindet unterhalb des Friedhofs im bedrückenden Tunnel des Waldes. In der Fabrik haben sie die Lichter angezündet, aber das hohe Gebäude bleibt düster, die schmutziggelbe Verputzfarbe sieht verschmiert aus. Schueni schauderts: In die Fabrik wollten sie ihn auch schicken, als der Vater verunglückt war. Lag auf dem Kanapee, der Vater, und ächzte. Drei Tage nur hat es Schueni ausgehalten in den lärmigen Sälen, dann hat er sich verkrochen in den schwarzen Tannen, bis der Fabrikherr zum Vater ging, er hat ihn gesehen, wie er in das Tätschhüttli trat und nachher ins Pfarrhaus, und dort ist Schueni auch hingegangen, als es dämmerte. Schueni liebt die raue Friedhofsmauer. Die Feuchtigkeit malt dunkle Streifen drauf. Er kann sich gut vorstellen, dass man dahinter Ruhe findet. Die Erde wird auch zu seinem verdrehten Körper gut sein, die Tanneck-Lena wird es gut haben und auch der Soldat, der dort am Grab steht, der Enkel, auch wenn er in der Stadt sterben wird. Die Erde ist überall gut. Schueni verzieht die Lippen: Die Geiss! Der Enkel hat sie vertrieben, wenn Sommers Lena ungeduldig wurde. Die Geiss gehörte seinem, Schuenis Meister, aber sie liess sich von keinem Zaun aufhalten. Sie liebte die Mostbirnen auf dem Tanneck, bei Sommers Scheune, und sie schaute nur spöttisch, wenn die Kinder johlend herankamen, der Mischa voraus. «Schmeiss, Mischa!», riefen die anderen, denn er war es wohl gewesen, der auf die Idee kam, Birnen in die Jauchegrube zu tauchen und auf das weisse Fell der Geiss zu werfen. Mischa war es immer, der die Ideen hatte, aber diesmal schämte er sich vor Schueni. «Das war nicht richtig, Jo-
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hann», sagte er, «man soll ein Tier nicht quälen, es tut mir leid!» Auch Mischa sagte Johann zu Schueni und er hat sich entschuldigt bei ihm. Der Meister schickte Schueni, um nach der Geiss zu schauen, und plötzlich standen sie sich gegenüber, Schueni und die Kinder. Erschrocken, Mischa wirkte erschrocken, und Schueni konnte nicht verhindern, dass sich seine Lippen verzogen, sein Körper zuckte noch von der Anstrengung des Steigens, die andern Kinder verdrückten sich, nur Mischa blieb und er entschuldigte sich. Dann erschien Sommers Lena, die Grossmutter der Kinder, klein, gebückt und mit schlohweissem Haar: «Eh schau, der Johann.» Sie hat ihn immer bei seinem Namen genannt, die Tanneck-Lena, und Kaffee hat er bekommen, in der Stube sogar, nicht etwa nur in der Küche, nein, in der niedrigen guten Stube, und die Kinder haben gezeichnet auf dem Schiefertisch, mit Kreide gezeichnet, und haben sich an ihn gewöhnt: «Schau bloss, Johann, ist das nicht schön?» Johann, haben sie gesagt! Und den Spruch vom General haben sie auch nicht gekannt. Jetzt kommen die Tränen doch. «Macht nichts, Schueni», hat der Pfarrer gesagt, «weine du nur». Er wagte sich aus den dunklen Tannen, Schueni, zum Pfarrer, als es dämmerte und der Fabrikherr schon hinuntergegangen war zu dem hohen Gebäude mit den drei Reihen heller Fenster. «Er ist nicht schlecht, der Herr Wartmann, nur muss er eben auch schauen, dass das Geld kommt, nicht wahr, und da kann er nur flinke Hände gebrauchen», sagte der Pfarrer, «aber wir finden schon einen Meister für dich!» Das Gesicht wird feucht in diesem Nebel, der jetzt schon das Tageslicht erstickt. Und trotzdem sieht man noch den weissen Fleck, die Geiss, die gemächlich herantrottet. Nur als Fleck nimmt man sie wahr, man sieht nicht, dass sich das struppige Fell hart über die Knochen spannt, ihr Schädel sich
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scharf abzeichnet unter der abgeschabten Haut. Hat der Soldat die Geiss gesehen, schaut er nicht hin? Sie beten jetzt dort am Grab. «Johann» hat Lena zu ihm gesagt, und Schuenis Gesicht ist nass. Sie hat ihm einen Kittel gegeben und gefragt, wie es dem Vater geht. «Er klagt», sagte Schueni und Sommers Lena nickte: «Ja, wenn die Mutter noch wär!» Aber die Erde ist gut und auch der Vater klagt nicht mehr. Schritte nähern sich über den Kies und Schueni drückt sich an die Mauer. Aber der Soldat sieht ihn: «Johann!», ruft er leise und er drückt die gstabige Hand, fest drückt er sie und schaut Schueni so an, dass er etwas spürt, das ihm ganz ungewohnt ist. Im Tanneck hat er es auch gespürt, etwas wie Wärme, ein Gefühl, dass man da hingehört, und Schueni denkt, dass er das nun nie mehr spüren wird. Sommers Lena ist endgültig gegangen. Denn obwohl sie weg war, im Pflegheim war die letzten Jahre, war’s doch auf dem Tanneck, als gäbe es sie noch, hat man sie noch gespürt, auch wenn nur der Alte dort ist, auf dem Kanapee ächzt, der Tanneck-Bauer und Walter, der Älteste, der in frommen Heftchen liest. Aber jetzt muss der Enkel, muss Mischa sich beeilen, die andern verschwinden schon in der Kirche. Schueni packt die Schaufel. Der Kies knirscht auch unter seinen Sohlen. Der Sarg ist aus hellem Holz. Den Grossvater, den Alten, haben sie gestützt, gebeugt ist er in der Kirche verschwunden, Gottlieb, hat die letzten Jahre in der Stube gelegen und geächzt, wie seiner, Schuenis Vater, und Walter hat den Hof besorgt, der älteste Sohn, schlecht und recht hat er ihn besorgt, Walter, über den sie auch gesungen haben an der Aushebung: Sommers Walti nimmt än Alti!, und er hat eben keine Frau. «’s hat’s keine ausgehalten beim Vater», sagt er, aber er ruft nicht Johann, wenn er beim Messmeramt einen Gehilfen braucht, er sagt Schueni, wie die andern.
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Es liegen ordentlich Blumen auf dem Sarg und vier Kränze hat sie erhalten, Sommers Lena. Die Geiss meckert. Aus der Nähe sieht man, wie die Knochen das Fell spannen. «Se-se», sagt Schueni, «willst still sein jetzt!» Lena konnte bloss den Kopf schütteln: «So ein Starrkopf! Jagt sie bloss weg, Kinder, dass sie mir nicht in den Garten kommt.» Aber dem Johann hat sie Kaffee eingeschenkt und er durfte im Garten die Alpenblumen berühren. «Du hast gute Hände, Johann», hat sie gesagt und er hat seine knorrigen Hände erstaunt betrachtet. «Blumen – dummes Zeug», hat der Tanneck-Bauer drinnen auf dem Kanapee gebrummt, «würdest auch besser zum Gemüse schauen». Und Mischa ist bei Schueni geblieben und fragte, ob er ihm nicht helfen könne mit der Geiss, damit man ihr nicht weh tun müsse. Und Schueni zeigte ihm, wie man sie vertreiben kann. «Manchmal, wenn man es richtig macht, dann versteht sie, was man will», sagte er, «sie kann fast wie ein Mensch denken». Und Mischa lachte nicht. Drinnen spielen sie Orgel, singen. Schueni schaufelt. Die Erde ist gut. Er muss fertig sein, wenn sie herauskommen. Der frühere Pfarrer wollte ihn nicht dabeihaben, wenn die Angehörigen am Grab stehen. Es gehört sich nicht, sagte er und musterte den schiefen Körper so wie damals der Oberst. Und der neue Pfarrer ist noch nicht lange da. Aber als Totengräber brauchten sie ihn doch, das hat der Meister durchgesetzt. Der Meister meinte es nicht schlecht mit Schueni. «So Johann», sagte er am ersten Tag, «du und ich, wir werden es schon zusammen aushalten». Und Schueni hat sich gefreut. Aber auch der Meister sagte nachher Schueni zu ihm. Die Erde ist gut, schwere Erde, sie riecht nach Nebel jetzt, nach sterbendem Laub, feucht riecht sie, aber man denkt auch an den Kachelofen in der Stube, an das Licht, wenn man als Kind nach Hause kommt. Alles ist in der Erde, die
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guten Erinnerungen, die Geborgenheit. Schueni schichtet den Hügel, ordnet die Gebinde, die Kränze, und jetzt läuten schon die Glocken, der Meister läutet heute. «Wir müssen uns zusammentun», hat er gesagt, «wir sind nur noch wenige». Die Geiss mahlt spöttisch, ihr Bärtchen hüpft. Kommt Mischa? Der Soldat ist ernst: «Ist das nicht die Geiss, Johann, immer noch die gleiche Geiss, weisst du noch?» Schueni stellt die Schaufel an den Zaun. Er sieht schon den schwarzen Flattermantel des Pfarrers und die Geiss steht hier am Zaun und geifert mit gelben Zähnen nach den Blumengebinden. «Se-se!», Schueni stolpert, zwingt seine schiefen Glieder über den Zaun und packt den fettigen Strick. Wie angewachsen steht das Tier da. Schueni lockt leise, «sese, bist eine Gute, wohl-wohl», flüstert er, droht, stemmt und pufft. Die Geiss hebt ihr Totenkopfgesicht und meckert. Der Pfarrer macht ein verbissenes Gesicht, die Angehörigen brummeln. Nebel kriecht aus den schwarzen Tannen, der weisse Fleck bleibt starr, spöttisch erhoben das Bärtchen. «Mischa», fleht Schueni leise und der Soldat bückt sich, in alter Erinnerung, macht eine schlenkernde Bewegung gegen den weissen Fleck, der sich plötzlich umwendet, den schiefen Körper wegstösst und davontrabt.
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2 Man fährt aus den dunklen Tannen unvermittelt ins Helle: Gleich am Waldrand steht in der Senke die Fabrik, gelb verschmierte, fleckige Mauern, von Holzschöpfen umgeben, zwei schmucklose Kosthäuser daneben, in denen heute die ausländischen Arbeiter wohnen, nicht mehr die Fabriklerinnen, die Mädchen aus dem Dorf. Die gehen jetzt gebückt den Hecken nach, sammeln Beeren und die Früchte der Heckenrose, die Hagebutten. Ihre Haare sind weiss geworden in den Fabriksälen und sie sind oft bei Sommers Lena zu Gast gewesen, haben ihr Beeren gebracht und einen Tee getrunken, einen Kaffee. Eine letzte Steigung nach der Fabrik: Die Kirche bewacht die Talmulde, die graue Mauer des Friedhofes als Festung, und man taucht auf neben der Kirche in der Häuserreihe des Dorfes. Heute glühen die Wälder auf dem Hügelkranz in der Sonne, in den Holzschindeln des Rössli hockt die Wärme, duftet über den Platz, auf den das kleine gelbe Postauto ausrollt, wo die Teerstrasse zerfällt in steile Kieswege, die in die Wiesen eingesunken sind, Hohlwege, von Gelb und Rot überglüht. Die Geiss hat auf das Postauto gewartet, das weisse Fell wirkt schmutzig jetzt in der Sonne, unverändert grinst ihr Schädel, kauen die Kiefer im Garten des Rössli. Sie achtet nicht auf die schiefe Gestalt, die heranhastet, am fettigen Strick zerrt, reisst. Unverwandt spöttisch schaut sie auf das gelbe Auto, aus dem ein Junger steigt, einer in Jeans und gestricktem Pullover, mit einem Rucksack. Die schiefen Lippen Schuenis verzerren sich: «Mischa!», flüstert er. Der Soldat! Aber heute ist er nicht Soldat, Schueni weiss Bescheid, sie haben es ihm vorgesagt: Rekrutenschule siebzehn Wochen,
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Wiederholungskurse achtmal drei Wochen, Ergänzungskurse – General Schueni weiss Bescheid. Wie alt ist Mischa? Schueni wiegt den Kopf, das Rechnen behagt ihm nicht, er mustert den Jungen: Vielleicht vierundzwanzig? Er, Schueni, ist jetzt vierundfünfzig, wie viel älter ist das? Und wann hat er Mischa zum ersten Mal gesehen? Er war vierzig damals, das weiss er. Der Meister hat einen Kuchen aufgestellt und Schueni hat einige Kuchenstücke ins Tanneck hinauf mitgenommen. «Johann bringt Kuchen!», haben die Kinder geschrien, und Sommers Lena ist hinaus auf’s Brüggli gekommen, so sagt man hier dem Windfang vor der Haustüre, ist auf’s Brüggli gekommen und hat die Hände zusammengeschlagen: «Eh schau, der Johann bringt Kuchen!» Die Geiss fährt plötzlich herum, meckert und stösst die schiefe Gestalt, stösst Schueni in die Selleriestauden und satzt davon. Hat Mischa es mitbekommen? Er steht auf dem Plätzli beim Brunnen und schaut gegen das Tanneck hinauf, lässt kühles Wasser über die Hand plätschern. «Mischa?» Hat er geträumt? Er dreht sich um, der Enkel: «Eh schau, der Johann! Wohl-wohl, du kennst mich noch, das ist gut!» Schueni stolpert aus dem Garten, der Enkel drückt ihm die Hand, fest und sicher drückt er die Hand. «Kommst mit zum Friedhof, Johann?» Zusammen gehen sie das Strässchen hinunter der Kirche zu. «So ist die Luft hier im Herbst», sagt Mischa, «gläsern und scheinbar ohne Bewegung. Nur die Pappel, die Geschichtenerzählerin, wird wohl wispern, droben auf dem Tanneck, was meinst? Kommst nachher noch mit ins Tanneck hinauf, kommst mit?» Und Schueni freut sich und geht mit Mischa die kleine Strasse hinunter, vor dem Pfarrhaus vorbei. «Weine du nur, Johann», sagte der Pfarrer. Er war ein Guter, auch wenn er ihn nicht am Grab stehen liess mit den Angehörigen, aber er kümmerte sich um Schueni, als der Fa-
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brikherr gesagt hat, dass es nicht geht mit ihm in den lärmigen Sälen. Er hat den Meister für ihn gefunden und Schueni hat’s dann nicht schlecht gehabt. «So klar wie Kristalle», sagt Mischa, «schmeichelnd, laubglänzend und feuchtglitzernd. Worte muss man erfinden für den Herbst hier im Dorf». Schueni staunt. So hat er auch schon gedacht, nur die Worte findet er nicht. Aber der Enkel hat recht, Worte erfindet auch Schueni dafür, die keiner kennt, Worte für die Tage, wenn man unter den Kirschbäumen das Laub aus den Trittlöchern der Weide strählte mit dem holzzinkigen Rechen. Zu grossen Haufen zog man es zusammen und band es in grobe Tücher, schleppte sie zur kleinen Weidscheune und dort balancierend die Leiter hinauf. Schueni war oft und oft dabei. Lachte nicht der Grossvater, der Alte, wenn die Kinder aus der Stadt Angst hatten auf der Leiter? Links und rechts der Abgrund der Tenne, tief für einen zehnjährigen Jungen, das Laubtuch hängt fest, man wankt zur Seite, schwindlig wird man da, lässt das Tuch zu früh los, und erst beim dritten oder vierten Aufstieg kommt man bis ganz nach oben, auf die Bretterbühne droben, und wirft es endlich auf den Haufen. Im Herbst hat der Himmel ein wehmütiges Blau, das Seufzen der Grossmutter ist darin, Sommers Lena: «Eh ja, bald kommt der Schnee!», aber auch die Freude über den sprudelnden Apfelsaft im schwarzen Loch unten an der Presse, Most, sagt man dem Saft im Dorf. Äpfel auspressen und die kleinen Birnen, die man der Geiss nachgeworfen hat, in Jauche getüncht. Walter zeigt, wie man die Kurbel dreht an der Mühle, welche die Äpfel zerreisst und die Birnen. Dann lässt er sie machen, die Kinder, mit Schueni zusammen lässt er sie machen, schaut nur ab und zu vorbei und hilft ihnen zurecht, Walter, der selbst nicht zurechtkommt mit dem Leben, der bleibt, ohne bleiben zu wollen, und die Kinder verstehen sei-
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ne Seufzer nicht, abends, beim Grasen am steilen Bord: «Eh ja, ja, wohl-wohl!» Der Grabhügel dampft: Die Erde ist gut! Schueni bleibt an der Ecke beim Holunderbusch stehen. Wie Mischa über den Friedhof geht, so geht sonst er, Schueni, sagen die Leute: Unsicher, tapsig wie ein Traumwandler, Schueni ist ein Nachtwandler, General Schueni, so hat es geheissen. Der Meister hat das Gerede abgestellt: «Unsinn, der Schueni ist ein anstelliger Bursch!» Anstellig, Schueni mustert seine knorrigen Hände. Wohl wahr, für alles kann man ihn anstellen. Auch diesen Holunder hier wird er pflücken, überreif sind die Beeren schon, niemand kann sie gebrauchen. Er hat sie immer der Tanneck-Lena gebracht, dann hat sie gelacht und zu den Kindern gesagt: «Schaut, der Johann will Holderzsune!» So nennen sie im Dorf den heissen Brei aus Holunderbeeren. Jetzt wird er sie dem Walter bringen, der macht die Holderzsune fast so gut wie Lena. Er besorgt jetzt die Hausarbeit. «Siehst du, Schueni», sagt der Meister, «so kommt’s. Wir sind halt immer weniger!» Walter hat nie gesagt, warum er zurückgekommen ist, nach wenigen Jahren schon aus dem Unterland, ihm, Schueni, hat er’s nie gesagt und in den Wirtshäusern ist Walter nicht anzutreffen. Und eine Frau hat er nicht gefunden, aber jetzt macht er dem Alten die Hausarbeit und es geht noch immer rau zu und her, manchmal, Schueni verschwindet dann oder geht gar nicht erst hin. «’s hat’s keine ausgehalten mit dem Vater», sagt Walter, aber wer weiss – und seine Brüder lächeln über ihn, Schueni kennt das, wie sie lächeln, die alles haben, über die man im Rössli nur leise redet, bewundernd leise: Jakob hat einen Laden jetzt im Städtli, den musst du sehen, alles glänzend, alles sauber, und Alfred, der ist der Direktor einer Sparkasse dort in der grossen Stadt im Unterland. Und beide haben sie natürlich eine Frau, solche Leute
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finden eben eine Frau! Schueni weiss, wie es ist, wenn andere einen auslachen. Und der Schueni wird General!, haben sie gesungen und die Brüder verziehen die Lippen, wenn der Walter sagt, dass keine Frau ’s ausgehalten hat beim Vater. Mischa steht bei dem Grabhügel, steht an das Geländer gelehnt und trinkt den weichen Atem des Waldes drüben, der Weiden, den Duft der feuchten Senken und der dürren, felsigen Abhänge. In der Wiese unter der grauen Mauer rupft die Geiss an den spärlichen Halmen. Ihr gelblicher Bart nickt bei jeder Bewegung. «Johann!», ruft Mischa halblaut und Schueni kommt ans Geländer. Ja, die Geiss! Mischa lächelt. «Sese», sagt Schueni, «bist eine Gute!» Sie stehen und schauen. Das kann Mischa, Schueni hat’s immer wieder gedacht, hat gestaunt, dass es einen gibt, den man versteht, auch wenn nichts geredet wird. Man hört nichts weiter als die Glocken des Viehs von den Hängen, das Kreischen einer Säge, das Surren von Motoren. Mischa dreht sich um: Über der hellgelben Fläche der Esche beim Friedhofsbrunnen sieht man auf dem ersten Wiesengrat über dem Dorf das Haus: Tanneck. Dunkle Waldsäume dahinter, den Falten der Hügel nachgezogen, Schatten an den stotzigen Abhängen, die sich vom Haus her hinaufziehen bis zum Grenzzaun: Dort hört die Welt auf. Dazwischen die Grashalden, Heuwiesen, Sumpfland, mit kinderhohem Farn bewachsen, das man mäht im Herbst, braun trocknen lässt und in die Weidscheune bringt, wo es mit dem Laub zusammen als Stroh dient im Stall, wenn das Vieh im Winter ein paar Wochen drüben steht. Hier, vom Friedhof aus gesehen, hört die Welt wirklich auf droben, beim Grenzzaun. Die Pappel hinter dem Haus ragt darüber weg, die emsige Geschichtenerzählerin am Morgen, wenn man in der Kammer erwachte und durch die blasigen Scheiben ihr Blattwerk erblickte, das immer in Bewegung
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war, wisperte, lispelte, tuschelte, geheimnisvoll und verschwörerisch, von Urzeiten erzählte und von gestern und das Morgen versprach, Abenteuer und jede Alltagsarbeit ins Märchenhafte verwandelte. Oben hört die Welt auf, die Pappel guckt über den Rand, von hier aus gesehen, hinüber blickt sie, wer weiss, welche Wunder man dort sieht. Die Geiss ist verschwunden, aber der Himmel bleibt blau. «Kommst, Schueni?» Mischa stösst sich vom Zaun ab und geht den Kiesweg weiter hinunter, geht den kleinen Bogen der Mauer entlang. Schueni zögert beim Holunder, presst die Stirne an die Rinde, schön rau schmerzt das. Hinten unter den Birken sind die Kindergräber. Lenas Enkelkind liegt da, das erste Kind von Sophie, ihrer Tochter. Auf dem Tanneck ist Sophie die Zweitälteste gewesen und hat viel arbeiten müssen von klein auf. Aber sie wäre trotzdem gern geblieben, als Bauersfrau auf dem Tanneck, Sommers Sophie, die Mutter von Mischa, auch als sie heiratete, als sie Schreiners Koni heiratete, der schon die landwirtschaftliche Schule besuchte. Aber ihr Vater, der Bauer auf dem Tanneck, wollte nichts davon wissen. Als Knecht, sagte er, als Knecht könne der neue Mann von Sophie vielleicht bleiben, aber nur als Knecht. Schueni hat nicht alles verstanden, damals, aber der Meister hat den Kopf geschüttelt, am Abend, als er aus dem Rössli gekommen ist. «Denk nur, Schueni», hat der Meister gesagt, «hat Schreiners Koni als Schwiegersohn und gibt ihm den Hof nicht!» Schreiners Koni ist erst einige Jahre vorher ins Dorf gezogen, weil der Vater, der Schreiner Bühler, die Sägerei kaufte. Die Söhne haben ihm geholfen und immer auch in der Sägerei gearbeitet, auch als Koni schon die landwirtschaftliche Schule besuchte, im Unterland. Aber immer kam er ins Dorf zurück und er heiratete Sommers Sophie, die Zweitälteste auf dem Tanneck, und er wäre gerne Bauer geworden, Bauer auf dem Tanneck.
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Aber der Alte, Gottlieb, wollte nicht, seine Stimme wird jammernd, wenn er zu Schueni sagt: «Ich konnte es nicht, ich konnte es ihm nicht geben!» Der Meister hat aus dem Küchenfenster geschaut und gebrummt, dass der Alte keinen Verstand habe, dass er’s wohl noch bereuen könnte, später. Dort also, bei den Birken, liegt Sophies Kind. Schueni seufzt: Die Erde ist gut! Aber das Kind! Schueni hat es manchmal auf dem Knie gehabt. «Das ist der Johann», hat Koni gesagt, Schreiners Koni hat auch Johann zu ihm gesagt, er auch, obwohl er schon Zöllner war, damals, weil er nicht Bauer sein durfte, hat er die Zollschule gemacht, dort im Unterland. Schueni seufzt. Die Sophie hat nie über ihn Spottverse gedichtet und ihre Kinder haben Johann gesagt zu ihm. Und wenn Schreiners Koni den Hof übernommen hätte, wär’s weitergegangen wie bei Lena, denn Sophie war auch eine Gute, hat Johann gesagt zu ihm. Und Mischa, der ihr Sohn war, hätte dann dort gewohnt, und vielleicht würde er sogar später auch das Tanneck übernehmen, und Schueni hätte es gut im Alter. «Nicht was wäre, musst du bedenken», hat Lena zu Schueni gesagt, als er ihr davon gestottert hat, «das, was ist, zählt, denk nur daran, was ist, und mach das Beste daraus!» Ja, sie hat viel gewusst, die Tanneck-Bäuerin, und immer eine Antwort hat sie gehabt für ihn. Aber jetzt steht er dort, Sophies Sohn, Mischa, steht am Kindergrab. Schueni drückt die Stirne hart in die Rinde: Für Walter wird er den Holunder gerne pflücken, wie er ihn für Sophie gerne gepflückt hätte. Vielleicht nimmt Mischa etwas mit, wenn er zurückgeht, zurück zur Mutter, zu Sophie. Schuenis Handflächen werden feucht: Und die Geiss! «Pass auf die Geiss auf!», sagte der Meister gleich am ersten Morgen zu ihm. Schueni stolpert der schattigen Mauer nach zur Kirche zurück.
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Mischa steht unter der Birke und auf dem Wiesengrat über dem Dorf das Haus, die graue Schindelfront. Wer auf der Bank bei der Kirche sitzt, der sieht auch das Haus über den Grat ragen. Wenn man dort sitzt, sieht es aus, als guckte auch das Haus über den Rand der Welt hinaus. Täuschung, alles Täuschung. Schueni ist dabei gewesen, wenn Koni den Kindern davon erzählt hat. Mit dem Vater sind die Kinder endlich über den Grenzzaun gestiegen, im Winter, Schneewehen haben den Draht zugedeckt, man gleitet über die Grenze, etwas zögernd über scheinbar endlose Flächen, hartgefroren, auf denen kleine Windwirbel treiben, ohne Unterlass Figuren zeichnen, die Hügel modellieren. Und Schueni ist auf seinen Pfaden auch hinaufgestiegen und er ist fast gleichzeitig oben gewesen. «Schau, der Johann ist auch da!», haben die Kinder gesagt und gestaunt. Und Schreiners Koni, der Vater der Kinder, nickte: «Ja, Johann kennt eben hier jeden Baum, jeden Pfad. Fast als ob du selbst das Dorf wärst, Johann», hat er gelacht. Die Welt hinter der Grenze ist zuerst nur schwarz-weiss, aber weiter voraus kommen die Farben in den Waldstreifen, die aus den Schluchten aufsteigen, die Moose, die trockenen Beeren, Vogelfedern und dürre Gräser an sonnigen, schneefreien Abhängen. Hügel an Hügel nehmen die Skier, Weidscheunen, Häuser, und Schreiners Koni nennt Namen, weiss Geschichten, Erinnerungen. Da hat er die Balken für eine Weidscheune auf den Schultern hingetragen, dort mit der Waldsäge Bretter gesägt. Erinnerungen häufen sich und immer ist voraus noch ein Grat, hinter dem die Welt endet, über den ein Baum guckt. Und Schueni ist dabei, auf seinen eigenen Wegen dabei, und nur die Abfahrt auf den Skiern geht dann schneller, da muss Schueni sich sputen, aber er hat sich ein Brett geschnappt, hat sich flach auf das breite Brett
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gelegt und ist den gefrorenen Schneeflächen nach den Skifahrern hinterhergeglitten, dass sie nur gestaunt haben. Die Glocke schlägt die Stunde: zwei Uhr. Mischa schreckt auf. Er will doch noch ins Tanneck hinauf, obwohl es nicht dasselbe ist wie zu jener Zeit, als die Grossmutter, als Lena noch dort war. Der Grossvater wird auf dem Kanapee dösen, schnarchen oder vor dem Fernseher hocken und Walter liest in einem Traktätchen oder im Kirchenanzeiger, schreibt irgendeinem Herrn Pfarrer, und es wird Russenzopf geben aus der Cellophanhülle und Pulverkaffee. Keinen Most aus der Presse, kein dunkles, rundes Brot und Käse aus dem Dorf. Niemand mehr mahlt Kaffeebohnen in der Handmühle, die in der Küche an die Wand geschraubt ist. Das Wasser wird nicht mehr auf dem Holzfeuer warm gemacht, in der blanken Pfanne, deren russige Aussenseite in den Feuerlöchern hängt. Und das Zwischentenn vom Haus zur Scheune hinüber wird vollgestopft sein, verstaubt, verdreckt, irgendwo darunter die Mostpresse, die Milchgeräte. Der Pächter wird eine Melkmaschine installiert haben, Kühlbehälter, und regelmässig fährt der chromglänzende Tankwagen vor, surren die Pumpen. Niemand stapft mehr mit der grossen Milchbränte am Rücken dem Dorf zu. Die Kinder drängelten sich hinter der Scheibe des Küchenfensters. Im Zuber auf dem Hocker vor dem Küchentisch dampfte das Abwaschwasser. «Jetzt – jetzt – er ist ums Eck – jetzt verschwindet er in der Gass!» – «Was meinst, Johann, wann sieht man ihn wieder?» Und Schueni hat geschaut, wenn alles gut geht, taucht der Mann mit der Bränte unten in der Senke, grad vor dem Haus des Meisters, wieder auf. «Bald», sagte Schueni, «schaut nur, bald sieht man ihn!» Der Hohlweg ist tückisch, Bollensteine schwemmt der Regen frei, der Milchträger setzt die schweren Schuhe möglichst auf die Grasmotten dazwischen, prüft federnd die Standfes-
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tigkeit und macht erst dann den nächsten Schritt. Vom Grossvater sieht man nur die Rauchwölkchen hinter dem grossen Rückengefäss auftauchen, von Walter sieht man die Hutkuppe schwanken zwischen den Spitzen der Haselbüsche, die von der Egg zur Hohlgasse die Grenze des Tanneck-Heimet zeichnen. Im Winter muss man den Weg erst freischaufeln und in der vereisten Trittspur schwanken die Träger von Schneewand zu Schneewand wie taumelnde Nachtwandler. Als Kind wurde Sophie geschickt mit der schweren Milchbränte, in den Holzschuhen, und der Vater hat gelacht, wenn sie fiel, die Last sie vorwärtsstiess, schlitternd die holprige Spur hinab – bloss nicht kippen, nicht kippen, dann gibt’s kein Geld für Brot. «Vater, bitte Geld für Brot!» Mischa wendet sich dem Rössli zu, will dort am Südhang im Hohlweg hoch, gegen die Wegenalp zu. «Kommst mit, Schueni? Kommst mit auf die alten Wege?» Aber Schueni schüttelt den Kopf, die Geiss, er muss zur Geiss schauen! Mischa nickt, geht den Pfad gegen die Wegenalp hinauf. Er wird noch nicht ins Tanneck gehen wollen, wo nichts mehr ist, nur der Grossvater, der vor dem Fernseher hockt, Walter, der in den frommen Traktätchen liest. Er wird unter den Hügeln entlang hinübergehen wollen, unter der Flue hindurch beim Skilift vorbei und durch die dunkle Tannenhalde zum Büel und von dort durch Brennwalders Weide, durch die Sumpfsenke hinüber zum Tanneck, ja, so hat er’s wohl im Kopf, Mischa geht zielstrebig, Schueni staunt, wie schnell der Junge geht. Damals, damals wurde immer getrödelt und Schueni hat mahnen müssen: «Kommt, kommt, wenn wir vor der Nacht wieder zurück sein wollen, müssen wir stramm vorwärtsgehen!» Lena, die Grossmutter, hat Vertrauen gehabt, liess die Kinder immer mitgehen, wenn Schueni anbot, dass man dieses oder jenes anschauen könnte, die kleine Höhle
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unter der Henne, den grossen Ameisenbau drüben beim Büel, auf die Henne hinauf und ins Tal hinunterstaunen! Schueni schaut sich um, die Geiss strebt schon gegen den Hof des Meisters hinunter. Er sieht die kleine Gestalt drüben, sieht Mischa zu den Ferienhäusern hinaufsteigen. Man überblickt von dort die ganze Mulde, die Hausreihe des Dorfes, wie ein Fragezeichen zum Rössli hin gebogen, verdickt durch das Schulhaus, die Reihen der Tätschhüttli mit seinem, Schuenis, Vaterhaus, dem Kramladen, der ehemaligen Käserei. Und unten, zum Städtli hin, an der Strasse der Punkt des Fragezeichens: Die Kirche, der Friedhof. Der Hohlweg hebt sich hinaus in die Wiesen. Schueni bleibt beim Hof des Meisters kurz stehen und späht hinüber zum Büel. In den Häusern auf der grünen Terrasse regt sich nichts mehr, die Grillplätze sind zusammengeräumt, die Wiesenflächen dort kurz wie Rasen gemäht: Ferienhäuser eben. Und aus dem Wald schwingt sich eine neue Teerstrasse heran, Mischa wird ihr folgen, der alte Weg hat sich verloren, nur Schueni kennt noch den verschwundenen Wiesenpfad, der in die Krüppeltannen hineinführt und dann direkt den Hang hinauf. Er kennt jeden Baum, alle sind gute Freunde und geben ihm Zeichen, zeigen ihm, wie das Wetter wird und ob Regen kommen wird oder Kälte. Mischa zögert, die kleine Gestalt steht einen Moment still, dann geht er die Teerstrasse hinauf, die sich in umständlichen Schlaufen den Hang hochschraubt. Schueni steigt dem Tanneck zu, die Geiss ist schon fast bei den Haselbüschen angelangt, die das Heimet gegen den Hohlweg, die Gass, hin abgrenzen. Schueni schaut wieder hinüber, es lässt ihm keine Ruhe. Ist Mischa schon dort, wo die neue Teerstrasse kurz im Wald gegen die Wegenalp hin verschwindet? Der Hang liegt noch in der Sonne, es wird warm sein, obwohl’s doch schon später Herbst ist, aber die Sonne heizt den stotzigen Hang trotzdem
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noch auf. Hier, auf der Tanneckseite, ist schon alles im Schatten; drei Uhr vorbei! Lange hat er gebraucht, Mischa. Das graue Schindeldach der Alpwirtschaft, die Wegenalp, guckt knapp über die Wiesenkante ob dem Wald. Vor der Wirtschaft muss man quer hinüber der Flue zu, aber Schueni sieht, wie der Enkel den Pfad zur oberen Alp hin einschlägt. Er möchte rufen, schreien, aber man wird ihn nicht hören dort drüben, zu weit weg ist der Enkel! Vor Aufregung winkt und hampelt Schueni auf dem Wiesenhang, der zum Tanneck hinaufführt, herum. Die Geiss ist auch stehen geblieben, knapp weiter oben, als ahnte sie, was los ist. Wenn Mischa jetzt nicht quer hinübergeht, wird es wohl fast bis ins Einnachten dauern, bis er den Weg zurück noch findet. Endlich, knapp unter dem Waldrand, bleibt der Enkel stehen. Etwas muss in seiner Erinnerung aufgeblitzt sein, vielleicht sieht er von dort oben den Pfad, der den Brombeerbüschen entlang zur Flue hin führt. Schueni schwitzt jetzt doch auch, aber dann, dann geht der Enkel schräg abwärts und er wird jetzt wohl den richtigen Weg gefunden haben. Danach ist’s einfach, nur schön auf dem Weglein bleiben und bald wird er von der Egg her durch Brennwalders Weide gegen das Tanneck hin auftauchen. Schueni dreht sich dem Hang zu, dem Wiesengrat, auf dem zuoberst das Tanneck hockt. «Se-se», lockt er. Noch vor dem Haus will er die Geiss sicher gefasst haben. Obwohl Lena nicht mehr da ist und es den Alten und Walter nicht kümmert, was ums Haus herum passiert, für den Garten schaut nur Schueni noch ab und zu. Aber auf dem Tanneck läuft die Geiss nicht frei herum, das will Schueni so, weil’s immer so gewesen ist. Aber die Geiss muss den Verstand verloren haben! Schueni keucht. Er schafft es nicht, ihren Strick zu fassen! Sie strebt
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dem Birnbaum zu, kein Mischa, der Birnen in Jauche taucht. Die Geiss zerdrückt eine Birne mit ihrem gelben Gebiss, Saft spritzt über das schmutzige Weiss, die Geiss grinst, reckt den Kopf hoch und wendet sich gegen Schueni, bleckt die Zähne. Zum ersten Mal zögert er, deutlich sieht man die Augen funkeln, bösartig funkeln, dünkt es Schueni. Das versteht er nicht, zum ersten Mal versteht er die Geiss nicht. Nie, dünkt es ihn, nie hat sie so geschaut. Was ist nur in sie gefahren? Seine schiefen Glieder beginnen zu zucken, die Lippen verziehen sich. «Se-se», flüstert er, «was tust nur! Lass sein, se-se, lass die Birnen, Lenas Birnen!» Die Geiss hebt den Kopf, steht starr, hält mitten im Kauen inne, Saft tropft ihr noch aus dem Mund. Starr steht sie und wie zum Stoss bereit. Von der Weidscheune her hört man Motorengeknatter und schon kurvt ein Ladewagen um das Grasbord herum, scheinbar direkt auf den Miststock und die Geiss zu. Im letzten Augenblick stellen sich die Vorderräder quer und in einem Wirbel von Bollensteinen fegt der breitachsige Wagen scharf gegen das offene Scheunentor zu. «Drecksvieh!» Der Fahrer springt mit einem Satz von seinem federnden Sitz und hebt einen Bollenstein gegen die Geiss. Da entdeckt er Schueni und lässt den Arm sinken. «Was glotzt du so? Pack schon dein Vieh und hau ab!», herrscht er Schueni an und wendet sich ohne weitere Worte wieder dem Fahrzeug zu. Ganz neu ist es, wie das noch glänzt, die roten Blechteile wie poliert, das Steuer, die Schalthebel und selbst die Stollenpneus, die an den überbreiten Achsen neben dem Heuladeraufbau weit herausragen, selbst die Pneus sind noch kaum schmutzig. Schweissbächlein bilden sich auf Schuenis rundem Schädel, rinnen durch die dünnen Haare, und immer verzerrter werden seine Glieder, die Lippen zucken. Röhrend fährt der Wagen jetzt ins Tenn. «Chumm, se-se-se!», lockt Schueni und schiebt sich näher an das Tier heran, fixiert den fettigen
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Strick. Spöttisch erhoben schaut der Totenkopfschädel dem Fahrzeug nach, langsam mahlen die Kiefer, der Saft spritzt. Der Schweiss brennt Schueni in den Augen. Der Motor erstirbt. Was macht der andere? Schueni kennt ihn kaum, es ist einer von den Jungen, die ihm noch vor fünf, sechs Jahren vom Schulhausplatz her Spottverse nachgeschrien haben: Schueni, Schueni, ein Aug’ hin, ein Aug’ her, pummelig wie ein Teddybär, ist langsam wie ’ne Schneck’, fällt er in den Dreck! Was kann er dafür, dass er ein wenig schielt? Loosli heisst der hier, wohnt mehr dem Städtli zu und man sieht ihn sonst nicht im Dorf. Und jetzt fuhrwerkt er also auf dem Tanneck herum. Die Geiss dreht den Kopf und mustert Schueni, ihre Augen sind dunkle Löcher. «Se-se, Alti!», sagt Schueni beruhigend und fasst endlich den Strick. Sofort fährt die Geiss mit einem Ruck herum, schlägt mit dem einen Hinterhuf gegen Schuenis Knie, und wie eine heisse Flamme fährt der Schmerz gegen das Herz, aber die Hände lassen den Strick nicht los und das Tier rast auf das Haus zu, am Brunnen vorbei, Schueni stolpert halb, halb wird er geschleppt, und der heisse Schmerz fährt wieder und wieder durch den Körper. Wie von Sinnen stürmt die Geiss weiter, auf den Wiesenweg zwischen Haus und Garten, und von der Scheune her hört Schueni Gelächter, der Jungbauer wird dort stehen: Schueni, Schueni, ein Aug’ hin, ein Aug’ her, pummelig wie ein Teddybär, ist langsam wie ’ne Schneck’, fällt er in den Dreck! Die Hände lassen den Strick fahren und die Geiss jagt in wilden Sätzen davon. Auch Walter lacht hinter dem Fenster, aber das Lachen vergeht ihm schnell, als Schueni liegen bleibt, und er geht jetzt doch vors Haus. Das Gras ist schön kühl und plötzlich hat Johann Grossenbacher, genannt Schueni, keine Kraft mehr, schlafen möchte er, lange und endgültig, ohne diesen
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schiefen Körper, den brüllenden Schmerz im Bein. Die Erde ist gut! Schueni spürt es an der Stirn. Und Lena ist weg, Sommers Lena, die wohl ein Mittel gewusst hätte für sein Bein und auch gelächelt hätte, aber so, dass einem ganz warm wurde in den Gedanken, so wie es Schueni damals gespürt hat, wenn ihn s Hanni anschaute, Bräker Jakobs Hanni, und er hat ihr Blumen gebracht, alles gelbe Blumen, und er hat nicht begriffen, warum sich ihre Augen mit Tränen füllten und sie davonrannte. Die Blumen verdorrten und s Hanni ging ins Städtli hinunter, hat wohl dort einen andern gefunden, einen gerade gewachsenen, schlanken Burschen wahrscheinlich, den sie geheiratet hat, Schueni weiss es nicht, hat s Hanni nie mehr gesehen. Die finden eine Frau, die gerade gewachsenen, auch die gedrungenen und die mit dem gemeinen Blick finden eine, auch Loosli, der nur hinter ihm hergelacht hat. Die Erde ist gut!
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© Eveline Schmid, typo.s
Daniel Grob Geboren 1956 in Basel, lebt heute in Biel. Unterrichtet Erzählendes und Kreatives Schreiben und begleitet Schreibgruppen. Für seine eigenen Werke wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet, u. a. 2005 mit dem Kulturpreis der Stadt Langenthal. Seit über 30 Jahren macht er ausserdem mit Erwachsenen und Kindern Theater und tritt selbst auf. «Schueni, der Knecht» ist sein erster Roman bei Zytglogge.
Ein Dorf in den Schweizer Voralpen. Johann, genannt Schueni, ist ein Aussenseiter. Er ist krumm gewachsen und seine Gedanken sind verdreht. Er wird verspottet und schikaniert. Nur mit dem Bauern, seiner Geiss und Lena, der Tanneck-Bäuerin, versteht er sich. Doch Lena stirbt, die Zeiten ändern sich und Schueni muss auf eigenen Beinen stehen.
Daniel Grob
Schueni, der Knecht Roman
Daniel Grob
Das Dorf ist der Spiegel der Welt und darin leben Menschen, die ihren Werten treu bleiben und Antworten auf die grossen Fragen des Lebens finden. So wie Schueni, der Knecht.
Schueni, der Knecht
In seinem alles andere als idyllischen Heimatroman zeichnet Daniel Grob ein realistisches Bild eines Bergdorfes zwischen bröckelnder Tradition und ungewissem Aufbruch.
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Zytglogge_Cover_Schueni.indd 2-4,6-7
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