Peter Beeli: ‹Wolfseisen›

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Peter Beeli

DAVOSER

WOLFSEISENTOTENREIGENRoman

Peter Beeli Wolfseisen

®

ISBN :978-3-7296-5097-8

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© 2022 ZytgloggeVerlag, Schwabe VerlagsgruppeAG, Basel Alle Rechtevorbehalten Lektorat :Thomas Gierl Korrektorat :AnnaKatharina Müller Umschlaggestaltung :Isabelle Breu Layout/Satz: 3w+p, Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck

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Autor undVerlag danken für denDruckkostenbeitrag

MIX

Roman

Davoser Totenreigen

Wolfseisen

Der

Inhalt Prolog Eine kühle Begegnung ... ....... .... ..... .... .. 9

Sturm kündigt sich an ... .... ..... .... ...... ..... ... .. 11 Die Fremde im Spiegel ............ ...... ........ ........ ... 17 Eine rätselhafte Wunde ............ ...... ............. ..... 23 Der Landammann bleibt weg ...... ... ....... .... ..... ... 30 Vonwärmeren Zeiten ..... ...... ........ ........ ........... 33 Der Einäugige erkennt die Dinge ... ....... .... ..... .... 38 Die Bestie schlägt zu ........ ............ ...... ......... ..... 43 Der angekündigte Abschied ...... ..... ... ....... .... ..... 48 Anker und Haken ........ .......... ...... ........ ........ ... 52 Der Wolf kommt zum Mahl ..... .... ..... .... ...... ..... . 58 Eine geht. Eine bleibt. ........ ........ ............ ...... .... 63 Tumult auf dem Totenacker ...... ..... ... ....... .... .... 66 Ein Riese kommt selten allein ... .... ..... .... ...... ..... . 72 Feuchtfröhlicher Totenreigen ...... ..... ... ....... .... ... 77

Sünde gebiert Sünde ..... ...... ........ ........ ............ . 82 Konzil und Exil ..... ...... ......... ............. .... ......... 85 Der Besuch auf der Burg ........ .... ............. .... ..... 91 Auftritt aus der Wand ...... ......... ............. .... ...... 101 Ein gutes Geschäft ........ ............ ...... ......... ....... 105 Unerfreuliche Heimkehr .......... ...... ........ ........ .. 115 Sprung ins kalte Wasser ........ ........ ............ ...... . 123 Unerwarteter Besuch .... .......... ...... ........ ........ ... 133 Die Carbonari ziehen ein ........ ........ ............ ...... 138 Hans Peters Aufbruch .... .......... ...... ........ ........ .. 145 Entfernte Hoffnung ........ ............ ...... ......... ..... 150 Ein Blitz sorgt für Ruhe ............ ...... ........ ........ . 159 Die Satteltasche ist zurück ..... ... ..... ... ....... .... ..... 166 Der verlorene Schatz ........ ............ ...... ......... ..... 176 Ein ungebetener Gast ........ ............. .... .......... ... 184 Nächtlicher Damenbesuch ..... ... ..... ... ....... .... ..... 192 Auge um Auge ...... ......... ............. .... .......... ...... 199

Noch eine Machtdemonstration ... ....... .... ..... .... .. 214 Fisch. Wurm. Fischer. ............ ...... ........ ........ .... 219 Ein Baum schlägt zurück ........ .... ............. .... ..... 227 Hunger und andere Waffen ... ..... ... ....... .... ..... ... 241 Neuigkeiten von Vater ............ ...... ........ ........ ... 266 Messer und Münzen .... .......... ...... ........ ........ .... 273 Der Streit artet aus ........ ............ ...... ......... ....... 283 Ein reinigendes Feuer ...... ......... ............. .... ...... 293 Epilog Eine abgemachte Sache .... ..... .... ..... .... .. 299 Nachwort ........ ............ ...... ......... .......... ...... ... 301

«Duscheinst dich auch ohne Sturm zu verirren. Was suchst du sonst auf dieser Seite?Dusolltest nicht hier sein. Treibst dich herum wie ein Landstreicher und Vagabund, der irgendwann seiner gerechten Strafe zugeführt und aufgeknüpft wird. Oder kümmerst du dich für einmal nicht um dich?Fürchtest du gar um mich?»

«Mehr bleibt uns nicht. Weil Ihr nicht für uns sorgt. Und macht trotzdem Pause?Bald zieht der erste Schneesturm des Winters auf. Ihr solltet Euch allmählich aufmachen, damit Ihr rechtzeitig ankommt, um wieder nichts für uns zu erreichen.»

«Und du glaubst, die Lösung gefunden zu haben?Deshalb suchst du mich hier auf?Selbst mein Pferd weiß sich besser zu helfen als du. Es hat mehr Kraft und vor allem mehr Kopf.»

«Weshalb versuchst du, dich von hinten anzuschleichen?Ich habe dich von Weitem gehört. Ich kenne deine Schritte. Und dann das Klirren in deinem Beutel. Die Eisen?Deine Jagd war nicht erfolgreich, wie ich sehe. Das wundert mich nicht. Das Tier nicht gefangen, und den Köder hat es wohl auch noch vom Haken gerissen. Oder hast du ihn selber gefressen? Lecker, so ein fauliges Stück Eingeweide, etwas Aas, nicht wahr?»

«Woist es denn, Euer Ross?»

«Ich ängstige mich nicht um Euch, vielmehr um uns alle. Ich fürchte den nächsten Winter. Er wird für viele der letzte sein. Vorallem, wenn Ihr zurückkommt. Den Weg durch Schnee und Sturm mögt Ihr vielleicht finden, aber nicht aus unserer Not.»

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Prolog Eine kühle Begegnung

«Die Menschen?Kennen sie die Antwort auf die Macht Gottes, die Gewalt der Natur?»

«Gerade du, der zuerst und zuletzt an sich denkt?»

«Ihr habt recht:Ich denke auch jetzt an mich. Und Ihr irrt:Esgeht mir ebenso um die anderen. Vorallem weiß ich, dass Ihr ein Opfer für alle bringt, wenn Ihr den Weg endlich frei macht.»

«Esgibt eine Lösung, wenn wir bereit sind, Opfer zu bringen.»

«Mein Pferd kennt deine Schritte und dich besser als ich. Es hat dich gehört, sich davon gemacht, um deiner Unberechenbarkeit auszuweichen.»

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«Immerhin Euer Ross findet einen Weg. Wenn schon nicht auf uns Menschen, so solltet Ihr wenigstens auf das Tier hören.»

Das Mädchen ließ seine Handarbeit in den geflochtenen Korb gleiten. Im Aufstehen zupfte es die Kopfbedeckung zurecht, glättete den schweren Rock und glitt zwischen Wand und Tisch über die gezimmerte Holzbank in den Raum hin-

Das blonde Mädchen war beruhigt, beugte sich wieder über die Stickerei. Das letzte Sonnenlicht betonte die Schönheit seines Gesichts zusätzlich. Die blauen Augen standen wie die dichten Brauen eng zusammen. Die schmale, leicht zu groß geratene Nase verlieh seinem Ausdruck etwas Majestätisches und verriet viel über seinen Durchsetzungswillen. Um seinen Mund spielte ein Lächeln, die roten Lippen bildeten einen Kontrast zu seiner weißlichen Haut und zum Grau der schlichten, groben Werktagstracht.

«Dudarfst aufhören, Ursula. Hast für heute genug erledigt», unterbrach die Mutter wenig später die Stille.

Gedankenverloren arbeiteten die Frauen wortlos weiter.

«Nutze den Rest des Tages und konzentriere dich auf deine Arbeit», kam die Antwort aus der engen Nische hinter dem Ofen. Die weiche Stimme übertönte das regelmäßige, harte Klappern des Webstuhls. «Hab keine Angst. Vater kommt schon bald. Sein Heimweg ist lang und gefährlich.»

«Wann kommt Vater heim?Ersollte längst hier sein.» Die Tochter des Hauses blickte von ihrer Handarbeit auf. Die Sonne versank bereits hinter der hohen Bergkette.

Die Mutter dachte an Klein Martin, ihren Ehegatten. Ohne sie zu fragen, hatte man sie damals mit dem Unbekannten verheiratet. Sie hatte ihm fünf Kinder geschenkt und im Laufe der gemeinsamen Jahre gelernt, ihn vielleicht nicht zu lieben, aber zu achten.

Der Sturm kündigt sich an

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Vorhundertfünfzig Jahren hatte Ursulas Clan zu den ersten Siedlern des Tales gehört. Seit damals führte ihre Familie das Geschick der Gemeinde umsichtig und gerecht. Mit den schlechten Ernten, den kurzen Sommern und kalten Wintern der letzten Jahre waren die Zweifel und die Kritik an ihrer Vorherrschaft lauter geworden. Und Klein Martin, Ursulas Vater, hatte keinen Weg gefunden, die Ausfälle an Heu und

«Deine Brüder sind noch vor Einbruch der Nacht zurück. Sie müssen das letzte Gras für den Winter einbringen.»

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Sie verließ die enge, niedere Stube. Bei der Eingangstür duckte sie sich kurz, um sich den Kopf nicht anzuschlagen. Das Gewicht der Holzbalken, des Dachs und des Schnees hatte das Haus über viele Jahrzehnte zusammengepresst und abgedichtet, sodass es immer besser vor Kälte, Sturm und Wetter schützte.

In der Küche legte sie Holzscheite in die offene Feuerstelle. Ursula mochte die Ruhe des Raumes. Das Rühren des Breis verlangte keine Aufmerksamkeit. Sie nutzte die Gelegenheit, ihren Gedanken und Tagträumen nachzuhängen. Sie dachte an Johannes. Im Tal riefen ihn alle Klein Hans. Nicht wegen der Größe. Nur damit er nicht mit seinem Vater verwechselt wurde. Für die Messe vergangenen Sonntag hatte sich Klein Hans in die gleiche Reihe wie sie gesetzt. Vonder Männerseite her hatte er den Blickkontakt gesucht. Ihr zugelacht. Grimassen gezogen. Sie musste lachen. Die Mutter und, was sie jedoch nicht beeindruckte, der Pfarrer warfen ihr tadelnde Blicke zu. Klein Hans war anders als Jöri Ambüel, den Vater zu ihrem Mann, zum Vater ihrer gemeinsamen Kinder bestimmt hatte:Für sie stimmte die getroffene Wahl nicht.

ein. «Ich bereite das Nachtessen.» Ursula nahm die Kerze, die auf dem Tisch gebrannt hatte, «wann kommen Paul, Martin und Hans Peter?»

Sie hörte, wie die Haustür kraftvoll aufgestoßen wurde, um wenig später wieder in den Rahmen zu fallen.

«Duhast Angst vor der Nacht, dem Wolf, dem Winter, dass Vater nicht heimkehrt», stichelte Hans Peter.

Jöris Familie hingegen war spät in diese Gegend gezogen. Ambüel züchtete Vieh, verkaufte es nach Norditalien, hatte sich Vermögen und Ansehen, beträchtlichen Einfluss in- und außerhalb der Gemeinde erarbeitet. Sein Reichtum erlaubte es ihm, Vorräte anzulegen und abzugeben, Sympathien zu erwerben, Abhängigkeiten zu schaffen und die Kritik der Menschen an Klein Martin zu erhöhen. Dieser hatte erkannt, dass die Auseinandersetzung mit Ambüel für niemanden von Vorteil wäre. Als guter Taktiker hatte er darum entschieden, sich mit seinem Widersacher zu verbünden, seine einzige Tochter als Pfand und Sicherheit einzusetzen und sie mit Jöri zu verkuppeln.

Gras, Gemüse und Getreide, Milch und Fleisch auszugleichen. Sein gefährlicher Ausflug ins Nachbartal war ein weiterer verzweifelter Versuch, die Not in Davos zu lindern.

«Ist Vater nicht daheim?», hörte sie Paul fragen. In der Stimme des Jüngsten schwang die Sorge deutlich mit.

Nahende Stimmen rissen Ursula aus ihrer Arbeit, störten sie bei dem Versuch, der väterlichen Entscheidung etwas Gutes abzugewinnen. Vondraußen drangen laute Geräusche durch die dicken Wände. Das rasche Anschwellen des Lärmpegels zeigte, dass sich die Gruppe vor Einbruch der Dunkelheit in die Sicherheit des Hauses retten wollte.

«Dass du dich mit uns nach draußen wagst. Wir könnten dich vor Hunger schlachten, braten und fressen», legte Martin, der mittlere Bruder, eine fürchterliche Grimasse schneidend nach.

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«Sogibt es wenigstens für jeden von uns mehr zu essen», flüsterte Hans Peter. Er fischte seinen selbstgeschnitzten, zu groß geratenen Holzlöffel aus einer Tasche. Die drei Brüder setzten sich einer nach dem anderen an den Tisch.

Kaum hatte der Jüngste sein Amen gesagt und das Kreuz auf den dünnen Körper gezeichnet, stellte Ursula den Kessel lauter als beabsichtigt auf den Tisch.

«Seltsam, oben war kein Licht zu sehen», überlegte Martin.

«Esst», trat die Mutter an den Tisch. «Ein neuer mühsamer Tag liegt vor euch. Das Wetter dreht, und wer weiß, wann wir die Sonne wiedersehen.»

«Wieso gibt es wieder kein Fleisch?», streckte Martin seinen Holzbecher aus, den Ursula mit frischer Milch füllte.

«Ulrich sieht auf der Alp nach dem Rechten. Er bereitet das Haus und die Stallungen für den Winter vor. Er verbringt die Nacht droben.» Die Frau erhob sich ungelenk von ihrem Webstuhl, um Ursula zu helfen.

«Ist so viel drin?», fragte Martin erwartungsfroh.

«Paul, du sprichst das Gebet», hörten sie die Mutter aus der Küche.

«Vater ist bald zurück. Sein Aufenthalt hat länger gedauert. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Und Hans Peter soll dich nicht fortwährend hänseln.»

«Und der Älteste?», wechselte Martin das Thema.

«Das finde ich nicht lustig. Wo ist Vater?», wandte sich Paul an seine Mutter hinter dem Webstuhl, von wo sie den Disput aufmerksam verfolgte.

«Ein Brei mit wenig Roggen, noch weniger Rüben, dafür viel Wasser», antwortete der Mittlere für seine Schwester. Diese zog etwas Brot und Käse unter ihrem Rock hervor und zauberte damit ein Lächeln auf die Gesichter ihrer Brüder.

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«Lass jetzt endlich gut sein, Hans Peter», fuhr die Frau dem Sohn ungewohnt scharf ins Wort. «Sie haben uns immer gut behandelt. Unser Geld hat dieses Jahr nicht für den Zehnten gereicht. Sie waren mit dem Schwein, dem Käse, dem Tuch und dem Holz zufrieden. Sie haben gesehen, dass uns nicht mehr möglich war. Vater hat das gut gemacht»,

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Die Mutter war froh, dass sie immerhin einen der Söhne nicht überzeugen musste, für die kommende harte Zeit zu sparen. Sie schenkte ihrem Jüngsten ein Lächeln trotzdem war ihr die Sorge wegen des anstehenden Winters anzusehen.

«Die Tiere zu schlachten», startete die Frau den Versuch einer Entschuldigung, «das … »

Mutter und Tochter tauschten einen Blick aus;traurig, dass sie den Buben nichts anderes aufzutischen und ihnen nicht zu widersprechen vermochten.

«Selbst wenn du jetzt der älteste Mann im Hause bist, weißt du genau, was Vater gesagt hat … »

« … Wir wissen nicht, wie lange der Winter dauert, wie hart er sein wird und wie lange unsere Vorräte reichen», unterbrach Hans Peter seine Mutter vorlaut. «Die Jagd war viel zu kurz, das Wild ist im Gegensatz zu uns schon weitergezogen. Nur wir müssen im Tal bleiben. Auf dem Markt gibt es für Fremde nichts oder es ist viel zu teuer zu kaufen. Bleibt uns der Fisch aus dem See oder unser Vieh im Stall.»

«Und unser Schwein», ließ der Mittlere das Thema nicht auf sich beruhen, «haben die Herren vor wenigen Tagen geholt, um es selber zu schlachten und zu fressen. Schwein zu … »

« … wäre das Dümmste. Dann hätten wir bald keine Milch und keinen Käse mehr», ergänzte Paul mit dem Löffel im Kessel rührend. Er schaufelte sich den Brei in den Mund, schob Brot und Käse nach. Ohne den Blick vom Kupfertopf zu nehmen, schmatzte er:«Denkt mal nach, ihr Ochsen!»

«Esist doch nicht gerecht, gleich viel Käse zu fordern, wenn unsere Kühe viel weniger Milch gegeben haben … », tönte es hinter einem großen Löffel hervor.

«Vater ist nicht furchtsam. Er ist einfach zu stolz», beendete die Mutter die Unterhaltung. Sie nickte ihrer Tochter zu, den Tisch abzuräumen.

«Ich begreife nicht», begann der Mittlere. Wie seine Brüder hatte er nicht den Mut, der Mutter direkt in die Augen zu schauen. Er konzentrierte sich auf die Unebenheiten und Risse im dunklen Tisch. Als ob er diese bislang nie gesehen hätte. «Ich begreife nicht», wiederholte er sachte, um seinen gravierenden Konflikt zu betonen, «warum wir für alle im Tal den Zehnten für unsere Herren verantworten.»

«Ambüel», mischte sich Martin nun ein und merkte nicht, wie seine Schwester kurz errötete, «könnte den Zehnten für das ganze Tal bezahlen. Der ist reich. Der hat Geld.»

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huschte ein vages Lächeln über ihr schmales Gesicht, «erhat mit einem kleinen Teil unseres Zehnten ein kleines Ferkel gekauft und mit einem ausgewachsenen Schwein den Hauptteil unserer Abgaben geleistet.»

«Vater fürchtet sich mehr davor, Ambüel um Hilfe zu bitten, als diese gefährliche Reise nach Arosa zu unternehmen, um ihre Abgaben einzutreiben», schluckte Hans Peter mit einem weiteren Löffel Brei auch seinen Ärger hinunter.

«Das ist nun mal so im Freiheitsbrief festgehalten. Aus mehr Recht ergibt sich auch mehr Pflicht.»

«Wie siehst du denn aus?», begann Hans Peter.

Als Ursula vor sie trat und den irdenen Milchkrug auf die Holzplatte stellte, schenkte das Trio dem Mädchen nicht die geringste Beachtung. Kein Morgengruß. Kein Dank.

Ein für den Frühherbst ungewohnt kühler Tag erwartete die zwei Frauen und drei Knaben am darauffolgenden Morgen.

«Dubist beinahe so schwarz wie die Wände deiner rußigen Küche. Aber sicher dunkler als deine Kleidung», lachte Hans Peter.

Ursula überlegte kurz, wie sie reagieren sollte. In der kalten Zeit gehörte es zu den Hauptpflichten der Mädchen, zu Herd und Haus zu schauen. Und weil sie die einzige Tochter war, fiel diese Verantwortung ihr zu. Sie hatte die ganze Nacht beim Feuer verbracht und gut aufgepasst, dass die Flamme nicht erlosch. Oder, noch schlimmer, außer Kontrolle geriet und das Haus in Schutt und Asche legte. Unbequem hatte sie auf dem nackten Fußboden geschlafen. Als Einzige im Haus musste sie wenigstens nicht frieren. Das Feuer band sie vom Herbst bis zum Frühling ans Haus. Lediglich in der kurzen

Die Fremde im Spiegel

«Sieht nach Schnee aus», bemerkte Martin beim Blick durch ein schmales Fenster. Die Innenseite des Glases zeigte sich mit filigranen Eisblumen dekoriert.

Erst als Ursula sich heftig am Tisch stieß und die Milch zum Überschwappen brachte, blickten die Brüder auf.

Wenig später saßen die drei Burschen am Tisch, den Topf mit den aufgewärmten Resten vom Vorabend vor sich.

«Wie der Leibhaftige selbst», schlug Paul schnell das Kreuz. Die sonntägliche Predigt des Pfarrers hatte einen bleibenden Eindruck beim Jüngsten hinterlassen.

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Zeitspanne dazwischen durfte sie mit ihren Brüdern länger nach draußen, um im Freien herumzutollen oder auf den Feldern, Äckern und im kleinen Garten zu helfen. An kalten Tagen wie diesem war sie froh darüber, dass niemand auf den Gedanken kam, sie in die Kälte hinauszuschicken. «Während ihr im warmen Bett lagt, wollte ich Wasser holen. Der Brunnen ist über Nacht eingefroren. Nichts da, um sich das Gesicht zu waschen. Und wie ich aussehe, kann euch ja egal sein. Seid doch froh:Sogibts für euch keinen noch wässrigeren Brei, ich habe ihn mit Milch und Getreide gestreckt», bewies sie ihre Kochkünste und Schlagfertigkeit.

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«Mutter», warf Martin ungeduldig ein, «wir wissen, was zu tun ist. Bevor Vater aufgebrochen ist, hat er mir und Ulrich genau erklärt, wie wir das letzte Gras aufhängen, damit es trocknet. Wie wir die Ähren dreschen, dass nicht ein einziges Roggenkorn verloren geht. Und trotzdem werden wir diesen Winter wieder nicht genug zu essen haben … »

Als ob die Mutter auf ihren Einsatz gewartet hätte, betrat sie die Stube. «Heut dürft ihr die Schuhe anziehen», begrüßte sie die drei Burschen. «Esist frisch. Der Boden ist gefroren. Esst, dann holt ihr das Heu zum Trocknen ein. Seht zu, dass zuerst die Stadel in der Nähe aufgefüllt werden. Wer weiß, ob wir das Vieh diesen Winter zum Heu führen können. Falls es wieder so viel schneit.» Beunruhigt blickte sie aus dem Fensterchen zum Tinzenhorn.

Sachte hob die Mutter ihre Linke, um Tränen wegzuwischen. Im spiegelnden Fensterglas blickte ihr eine Fremde entgegen. Das lag nicht an den trüben, kleinen Scheiben. Der Hunger hatte ihr deutlich mehr zugesetzt als dem Rest ihrer Familie. Immer wieder hatte sie auf ihren Anteil verzichtet, damit ihre Kinder etwas mehr zu essen hatten. Dass es dennoch nicht reichte, die größte Not zu tilgen, hatte sie alt gemacht. Sie glich der eigenen Mutter, als diese mit wächsernem

Gesicht und völlig ausgemergelt auf dem Totenbett lag, um endlich von der lebenslangen Mühsal befreit zu werden. Sie hatte der Mutter die Augen zugedrückt mit dem Versprechen, Klein Martin, den Sohn des damaligen Landammanns, zu heiraten, um ein gutes Leben zu führen. Inzwischen machte sich ihr Mann Sorgen um sie. Seine Frau war nicht wiederzuerkennen:Die vor Lebenslust und Tatendrang leuchtend blauen Augen waren erloschen, hatten sich in den Schädel zurückgezogen. Als wollten sie nicht sehen, was um sie herum geschah. Die Haut spannte sich wie vergilbtes Pergament über ihr Gesicht. Die Backenknochen ragten hornartig über den eingesackten Wangen hervor. Die ehemals roten Lippen gingen jetzt direkt in die Haut über. Die dunkle Haube versteckte ihr schütteres Haar. Zuerst nur vereinzelt, entdeckte sie nun Abend für Abend mehr ausgefallene Strähnen im derben Kopftuch. Der Hunger ließ auch ihre Hülle platzen. In ihren Handflächen zeigte sich das bloße Fleisch. Ob Tiere oder Werkzeuge, Leder oder Wolle, ob Kinder oder Ehegatte:Jede Verrichtung, jede Berührung tat weh. Sie gab vor zu frieren, um ihre fingerfreien Handschuhe im Sommer zu erklären. Mehrere Zähne hatten sich aus dem Zahnfleisch gelöst. Sie redete wenig, sie schimpfte weniger, lachte nicht mehr. So konnte niemand die Lücken erkennen. Dass sie bis auf das Skelett abgemagert war, verdeckten die grauen Röcke, die sie in mehreren Schichten übereinander trug. Das verlieh ihr wenigstens etwas Volumen und erinnerte schwach an ihre einstige Robustheit. Denn als Frau des Landammanns hatte sie auch lange gute Zeiten erlebt. Bis das Wetter änderte. Jetzt litt sie darunter, dass hinter ihrem Rücken getratscht und getuschelt wurde. Dass der Platz in der Kirchenbank neben ihr frei blieb. Dass die Leute in ihre Häuser verschwanden, sobald sie sich näherte. Dass die Gemeinde

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Im niedrigen Stall schaute Ursula nach dem Vieh. Die Kühe, Schafe und Ziegen ahnten den nahen Wetterwechsel. Sie wussten, was das hieß:monatelang eingesperrt sein. Keine Bewegung. Wenig Futter. Auch heute durften sie nicht auf die Wiesen. Die Tiere im hohen Schnee zu suchen und nicht mehr zu finden, konnte sich die Familie nicht leisten. Zu viel Vieh hatten sie schon verloren. Und damit jedes Mal auch Milch, Butter, Käse und Dünger für die Felder. Das Fleisch der toten Tiere ließ sich nicht lange aufbewahren. Für Salz, das auf einem fernen Markt gekauft werden musste und mit Gold aufgewogen wurde, reichte das Geld nicht.

«Macht euch schnell auf. Es bleibt nicht viel Zeit. Und schaut, dass ihr vor dem Unwetter wieder daheim seid», lenkte sich die Mutter von ihrem Spiegelbild ab.

Sie kletterte in den oberen Teil des Holzgebäudes. Auch da viel zu viel Platz für Heu und Stroh. Wenigstens mussten nicht mehr so viele Tiere durch den Winter gebracht werden. Durch die kleine Öffnung ließ sie Futter in die Krippe fallen. Sie beobachtete die Tiere zu ihren Füßen. Was, fragte sie sich traurig, unterscheidet uns noch vom Vieh?Eingepfercht und hungernd über Monate und Monate.

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nicht mehr bei ihrem Mann, sondern bei Ambüel Unterstützung und Rat holte.

Das Scharren und Kratzen der Holzlöffel auf dem Topfboden hatte aufgehört.

Beim Abschied vor dem wuchtigen Holzhaus drückte Ursula den drei Brüdern etwas Käse, den sie aus dem Keller geholt hatte, und eine Schnitte Brot in die schmutzigen Hände. Sie sah ihnen lange nach. Wie sie friedlich in die Felder zogen. Sie war besorgt:ImGewölbe unter dem Haus gab es viel zu viel freien Platz für Vorräte.

Über ihre Handarbeit gebeugt sorgte sie sich um die Mutter. Diese löste sich allmählich auf. Verzichtete auf alles. Sie wollte kein Kind mehr verlieren. Ein Junge und ein Mädchen hatten die ersten Stunden nach der Geburt nicht überstanden. Nicht einmal fürs Taufen hatte die Zeit gereicht. Der Pfarrer konnte die Ungetauften weder im Kirchenbuch noch im Gottesacker aufnehmen. Blieb die Hoffnung, dass der kleine Wilhelm und die winzige Ruth doch noch ihre Plätze im Jenseits erhalten hatten. Schon im Diesseits hatten die zwei Kinder gekämpft. Nicht gegen den Tod, sondern für das Leben.

Wieder in der Stube hörte sie ihre Mutter beim Ofen weben. Ursula begab sich zu ihrem Platz in der Ecke. Hier war das Licht zwar schwächer. Dafür drückte der kühle Wind weniger durch die Ritzen.

Auf dem kleinen, quadratischen Plateau zwischen Haus und Stufen blieb sie stehen, schaute sich um. Das Pferd bewegte sich zum Brunnen. Als das Tier erkannte, dass das Wasser gefroren war, drehte es den Kopf fassungslos in ihre Richtung. Die beiden gingen langsam aufeinander zu, trafen sich auf halbem Weg. Sachte ergriff Ursula die Zügel. Strich dem Tier durch die Mähne. Tätschelte den Hals. Fühlte den regelmäßigen Puls. Streichelte sein verschwitztes Fell, auf dem sich die ersten Flocken in Tropfen verwandelten.

Hufschläge näherten sich. Rissen Ursula aus ihren Gedanken. «Vater!» Sie zog sich an der Tischkante entlang in die offene Stube. Sie hörte das Klappern des Webstuhls. «Vater!» Sie duckte sich in der Tür, trat in den dunklen Gang, lief zum Eingang, drehte das schwere Holzblatt auf. Bereit, die paar Steinstufen nach unten zu stürzen, um den sehnlichst Vermissten in Empfang zu nehmen. «Vater?»

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«Woist Vater?», hauchte Ursula dem Braunen ins Ohr. Das Tier schüttelte den Kopf und gab schnaubend zu erkennen, dass es getränkt, gefüttert und ins Trockene geführt werden wollte. Bereitwillig ließ es sich von ihr in den Stall bringen.

«Ich weiß nicht. Der Braune kam alleine zurück.»

«Die Satteltasche?», wiederholte Ursula.

Nach einem kurzen Abstecher in ihre Küche, um etwas Holz nachzulegen, kehrte Ursula in die Stube zurück. «Woist Va ter?», hörte sie die dünne Stimme hinter dem Ofen.

Eine rätselhafte Wunde

«Hast recht.» Die Tochter sah die bedrohlich nahe, schwarze Mauer, die sich zwischen den Talwänden zum Haus hin schob. Sie machte sich Sorgen. Um ihren Vater. Die Brüder. Die Mutter. Den bevorstehenden Winter würden sie nicht alle überleben.

«Nein», versuchte sie beruhigend zu klingen, wie sie es von der Mutter kannte. «Vater kommt später. Er hat den Braunen vorausgesandt, um besser durchs Unwetter zu kommen, das ihn offenbar schon eingeholt hatte.»

«Hast du dem Braunen die Satteltaschen abgenommen?»

«Vater hat ihn losgeschickt, damit das Tier im Gewitter nicht scheut und den Weg noch anstrengender macht. Er trifft bald ein, du wirst sehen.»

«Nein, warum meinst du?»

«Verstehst du denn nicht?Weshalb sollte Vater die schwere Tasche selbst durch Wind und Wetter tragen und gleichzeitig das Pferd allein losschicken, um schneller hier zu sein.»

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«Ist etwas passiert?»

«Und wo ist seine Satteltasche?» Hans Peter tauchte hinter seinem jüngeren Bruder im niedrigen Raum auf.

«Vater, wo bist du?» Paul trat voller Vorfreude in die Stube. Die Schwester wandte sich ihm langsam zu. Ihr Gesicht ließ sein Lachen gefrieren.

«Wieder Brei», maulte Martin, als die Schwester den Kessel auf den Tisch wuchtete. Während er den Löffel zückte, holte sie diesmal neben Käse und Brot auch eine Wurst aus ihrer Schürze hervor:«Das habt ihr euch verdient. Wer weiß, ob

Trotz der Entfernung zwischen Stube und Küche hörte Ursula die Diskussion der Brüder, die rasch zu einem Streit anwuchs. Die Ruhe, die plötzlich eintrat, hing wohl mit ihrer Mutter zusammen:Weniger ihre Autorität als ihre schwache Verfassung musste die Burschen bewegt haben, die Unterhaltung auf andere Themen zu lenken und leise zu disputieren. Das gab Ursula die Gelegenheit, ihren eigenen Gedanken nachzugehen. Die Satteltasche hatte sich nicht auf dem Rücken des Pferds befunden. Dass diese verloren gegangen sein könnte, schien ihr nicht möglich. Zu erfahren waren die Männer des Tals im Beladen und Bepacken, im Ein- und Ausspannen ihrer Last- und Reittiere. Vater hatte die Tasche zu sich genommen, um nicht auch noch das Letzte, was ihm an Wert geblieben war, durch missliche Umstände zu verlieren. Das Wetter hatte ihn um den größten Teil des ehemals großen Vermögens und schon beinahe um den Verstand, sicher aber um seinen Mut und seine Entschlusskraft gebracht. Gerade dieses Zaudern und Zögern ließ bei den Leuten immer stärkere Zweifel und lautere Kritik aufkommen, ob er der Richtige sei, um die Gemeinde durch die harten Zeiten in eine bessere Zukunft zu führen.

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Ursula hatte verstanden, wusste aber auch keine Antwort. «Geh’ in deine Küche», half ihr Martin, der als Letzter in den Raum getreten war, «wir haben Hunger. Und ihr», richtete er sich an seine Brüder, «lasst sie endlich in Ruhe. Vater wollte seine Tasche bei sich wissen.» Und zu sich murmelte er:«Nur Gott und er kennen die Gründe dafür.»

Sofort drehten sich die drei Köpfe zu den kleinen Fenstern. Nahrung, Worte und Lachen blieben ihnen im Hals stecken.

und wann es wieder eine Möglichkeit gibt. Ich muss zurück zum Feuer», entschuldigte sie sich und überließ den anderen das Essen. «Das Wetter drückt gewaltig. Wenn ich nicht aufpasse, weht es mir die brennende Glut aus dem Herd und zündet das Haus an. Es hat zu schneien begonnen.»

Kaum hatte Ursula den Topf zum offenen Herd zurückgetragen, brachte ein unerwarteter Windstoß, hervorgerufen durch die unvermittelt aufgerissene Tür, die Flammen ebenso wie die Familie in Aufruhr. «Vater!» Die Buben stürmten aus der Stube und das Mädchen aus der Küche zum Eingang. Im langen Flur, der das Erdgeschoss des Hauses in zwei Hälften mit der Küche und dem Zimmer für die Frauen auf der einen und der Stube mit Ofen auf der anderen Seite teilte, blieben die Kinder wie angewurzelt stehen. Vorihnen stand eine Figur, die kaum zu erkennen war. VonKopf bis Fuß in Kleider und Decken eingewickelt waren nur Ulrichs starr blickende Augen zu sehen. Der dunkle, dicke Stoff war vom Weiß des Schnees zugedeckt. Der Älteste der vier Brüder sah aus wie ein Schneemann mit zwei schwarzen Kohlestücken als Augen was die Jüngeren unter glücklicheren Umständen zum Lachen und Scherzen veranlasst hätte. So blieb ihnen allein ihr Entsetzen über die Erscheinung vor ihnen. Und ihre viel größere Enttäuschung, dass nicht der Vater, sondern der Erstgeborene eingetroffen war.

«Hast du Vater gesehen?», meldete sich eine dünne Stimme hinter den Knaben.

«Nein, Mutter. Ist er noch nicht zurückgekehrt?», antwortete die unheimliche Gestalt mit tiefer Stimme.

Langsam schmolz der Schnee zu Wasser, das rund um den jungen Mann einen nassen Kreis auf dem matten Steinboden

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bildete. Niemand traute sich, die Linie zu überschreiten, um dem Neuankömmling aus seinen schweren, nassen Kleidern zu helfen. Um ihn mit einem Handschlag, einer Umarmung endlich willkommen zu heißen.

Er folgte seiner Mutter in die mit einer Kerze dürftig beleuchtete Stube an den Tisch.

«Dann holt doch Schnee und schmelzt ihn über dem Feuer. Es gibt inzwischen wahrlich genug davon, ihr Simpel!»

«Der Wolf», beantwortete Ulrich die stumme Frage in den Augen der Mutter. Diese verlangte nach heißem Wasser, um die tiefe Wunde sauber auszuwaschen.

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«Komm zum Ofen!», befahl die Mutter trotz kraftloser Stimme mit unerwartetem Nachdruck.

Ulrich zwängte sich durch seine Geschwister, die sich an die Wände drückten, um für den Ältesten Spalier zu stehen. Auf der Höhe von Ursula angekommen, streifte er die Decke ab, die als oberste Schutzschicht gedient hatte. «Bring das zum Trocknen zu deinem Herd!», bellte er, ohne der Schwester in die Augen zu blicken. «Und pass gut auf, dass der Überwurf nicht Feuer fängt!»

«Was ist das?», behutsam griff sie Ulrichs Linke und drehte diese zum fahlen, nervös flackernden Licht. «Nichts», winkte der Älteste mit dem anderen Arm ab. «Nichts?» Sie blickte auf den aufgeschlitzten, vollständig durchtränkten Stoff und den muskulösen Unterarm. Die klaffend breite Wunde schien einen Teil seines Arms der Länge nach zu spalten und gab den Blick auf den Knochen und das Fleisch, auf Adern und Haut frei. Die jüngeren Brüder wichen vor Ekel zurück.

«Der Wolf?» Die Frage schwebte wie ein böses Menetekel im Raum.

«Der Brunnen ist eingefroren», war Martins Stimme aus der Dunkelheit zu hören.

«Ja. Der Wolf.»

Sie richtete sich auf, ging in die Küche, gab dem Ältesten etwas Zeit für eine Antwort. Als sie mit dem Kessel, einem Leinentuch und ihren Heilkräutern zurückkam, hatte er eine Erklärung gefunden:«Ich hatte die Wolfsangel zwischen die Äste gehängt. Ich wollte den Haken an der Kette befestigen, als der Wolf mich angriff. Der Köder und sein gieriger Hunger haben ihn wohl angelockt. Ich schnelle herum, versuche, ihn mit dem Wolfshaken in meiner Hand zu erschlagen und habe meinen Arm getroffen.»

«Warum ist dann die Unterseite nicht auch verletzt?» Die Mutter drehte seinen Arm noch einmal um, um sich zu versichern, dass sie sich nicht getäuscht hatte.

«Den linken Arm?»

«Wie meinst du das?»

Er dachte nach. «Wobleibt denn das warme Wasser?», versuchte er abzulenken.

«Duisst mit deiner Linken, du schnitzt mit links, du führst die Tiere und Waffen mit der Linken. Wie willst du dir mit der linken Hand den linken Arm verletzen?» Die Brüder rückten gespannt näher, um alles verstehen zu können.

«Ich halte mit der Rechten das Wolfseisen. Die grobe Arbeit. Ich versuche, mit der Linken die Kette in das Loch am Widerhaken einzuhängen. Die feine Arbeit. Dass ich mir in den eigenen Arm schlage, wäre mir mit der Linken nie passiert. Hätte ich mit der stärkeren Hand zugehauen, wäre nicht der Arm, sondern der Wolf kaputt.»

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«Wann ist es passiert?» Die Mutter tupfte die Verletzung behutsam und sorgfältig sauber. Trotzdem zuckte Ulrich bei jeder Berührung zusammen. Sie riss einen schmalen Streifen graues Tuch und verband die Wunde. Sie verteilte die Kräuter auf dem Stoff und umwickelte die verletzte Stelle noch

Peter Beeli Geb. 1965, Kantonsschule im Aargau, Studium an der Universität Zürich. Stationen bei einer Designzeitschrift, Investor Relations, Corporate Communications. Inhaber einer Branding-Manufaktur. Der verheiratete Vater von drei Kindern schreibt, arbeitet und lebt am Hallwilersee.

Foto:Francesca Giovanelli

«Habt ihrʼs vernommen?», stürmte Martin am Tag darauf in die Stube, in der alle zum Mittagessen versammelt hockten. «Sie halten Luschiniol gefangen. Er wollte letzte Nacht über den Wolfgang fliehen», rang er nach Luft. «Dort oben haben ihn die beiden Riesen aber schon erwartet.»

9 783729 650978

Davos, im Winter 1430: Ein Pferd kehrt allein nach Hause zurück. Vergebens wartet die Familie auf den Vater, den Landammann. Wie die Schneemassen, die das Dorf von der Aussenwelt abschneiden, wächst der Hunger. Der Tod rafft die Talbewohner dahin, die Särge stapeln sich vor der Friedhofsmauer.Mitdemspät einsetzenden Frühling kommt der Vogt in Begleitung seiner Kriegs- und Folterknechte ins Tal, um Blutgericht zu halten. Seine Untersuchung fördert Entsetzliches zutage. Doch das Sterben geht weiter. Und dann kommt der nächste Winter. ISBN 978-3-7296-5097- 8

An den folgenden Tagen kam die Sonne langsam hinter den Wolken hervor, um sich schlussendlich ganz durchzusetzen. Die Menschen im Tal sahen das als göttliches Zeichen. Aber schon bald setzte der Regen erneut ein. In den kurzen Unterbrüchen konnte man das Flehen und die Schreie des Pfarrers und das Gelächter seiner Peiniger hören. Nachdem der Lärm seinen Höhepunkt erreicht hatte, legte sich eine gespenstische Stille über das Tal.

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