Eric a Br端hl m ann-Jecklin Rosenkind
Die ehrwürdigen Klostermauern von Rathausen, drunten, am stillen Ufer der Reuss, muten so eigenartig an, denn sie bergen so manches Geheimnis der geschichtlichen Vergangenheit. Aus der Gedenkschrift zur Jubiläumsfeier ‹Fünfzig Jahre Erziehungsanstalt Rathausen 1883 – 1933›, Seite 11
Rosen kind Eric a Br端hlmann-Jecklin
Z y tglogge
Dieses Buch ist Anne Huber-Bühlmann, Alois Bühlmann und ihrer Mutter Anna Bühlmann-Bucher gewidmet.
Alle Rechte vorbehalten Copyright: Zytglogge Verlag, 2014 Lektorat: Bettina Kaelin, Hugo Ramseyer Korrektorat: Monika Künzi, Jakob Salzmann Umschlag: Eingangstor Rathausen Lithos: FdB, Für das Bild – Fred Braune, Bern Umschlag/Gestaltung/Satz: Franziska Muster Schenk, Zytglogge Verlag Druck: CPI Books GmbH, Ulm ISBN 978-3-7296-0878-8 Zytglogge Verlag, Schoren 7, CH-3653 Oberhofen am Thunersee info@zytglogge.ch, www.zytglogge.ch
Inhalt ✽✽✽
Präambel für Berta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Eine lange Fahrt mit der Eisenbahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 In der Armenanstalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Die Suppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Von Menznau nach Rathausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Die Mutter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Schwester Bonagratia und der kleine Paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Otto in Hohenrain . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Lisbeth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Ein neuer Direktor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Strafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Eine Sitzung der ‹Engern Kommission› . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Vinzenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Alltag in Rathausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Schwester Rosina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Anna in der Kapelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Besuch im Landesmuseum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Ein Schlüssel zum Schrank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Der Heimarzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Schwester Ursula und Theodor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Veränderungen im Mädchen-Schulzimmer und ein verschwundener Meerrohrstock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Schwester Regula und die Strafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Anna im Karzer – Annas Gelübde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Was ist passiert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Schwester Macaria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
Paul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Mandolinenklänge und Automotoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Noch ein Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Am Grab der Schwester . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Der Jahresbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Der Bürogehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Besuchssonntag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Anna in Fribourg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Eine Diebin im Haus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Irene hat einen Verdacht, und Anna beginnt eine Schneiderlehre . . . 149 Ein Gerücht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Rosa verlässt Rathausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Dölf wird aus der Reuss gerettet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Warum Rosa aufsässig und Friedrich angepasst ist . . . . . . . . . . . . . . . 161 Anschuldigungen und eine Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Der Brief des Bürogehilfen an den Generalvikar . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Das Freizeitgärtchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Leisibach und Friedrich im Spital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Zurück in Rathausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Lisbeth verlässt Hohenrain, und Emma kommt nach Neuchâtel . . . 194 Emmas Brief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Anna muss erneut ins Spital, und ein Umzug steht an . . . . . . . . . . . . . 202 Aber was wird aus Otto? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Anna bekommt eine Lehrtochter und lernt Gitarre spielen . . . . . . . . 206 Alois . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Hochzeit in Hergiswald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
Ein schweres Schiffsungl체ck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Annelis Geburt und die Ankunft des kleinen Alois . . . . . . . . . . . . . . . 225 Lieder und das Tagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Anhang Nachwort von Prof. Dr. Markus Furrer, Historiker . . . . . . . . . . . . . . . Was aus Mutter Franziska und Annas Geschwister geworden ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wohnorte von Franziska Bucher-Vollmer in Luzern . . . . . . . . . . . . . . Zeittabelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dienstt채tiges Personal zwischen 1926 und 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lieder zum Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Präambel für Berta ✽✽✽
Ein schönes Mädchengesicht. Die offenen Haare anmutig auf die Schultern gelegt. Wer hat dich ein letztes Mal gekämmt, dir das weisse Kleid angezogen? Das Kleid, das in seiner reinen Farbe Freude vermitteln müsste. Trugst es bei der Erstkommunion. Es passt dir noch. Der weisse Kranz auf dem Kopf schmückt dein feines Gesicht. Bist umgeben von Blumen und Efeu. Von Immergrün. Und frühen Herbstblumen. Rosen am Fussende. Liegst auf dem Rosenbett. Die Hände auf einem Efeu zweig gefaltet. Augen und Mund geschlossen. Rosenkind, dreizehn Jahre, zwei Monate und achtundzwanzig Tage jung. Liegst auf deinem letzten Bett. Siehst schön aus. Aber da, wo du liegst, ist es kalt. Trotz des Altarbildes mit dem Heiland, wie er den armen Seelen sein Erlöserherz öffnet. Es ist kühl in der kleinen Kapelle, neben dem winzigen mit Eisenstangen eingezäunten Friedhof, auf dem ehrwürdige Schwestern und Priester begraben sind, nahe der hohen Mauer, die das Daheim deiner letzten drei Jahre einschliesst. Die Kapelle, in der du bist, bis sie dich ins Grab legen, das sie mit Lilien schmücken werden. Schlaf, Rosenkind. Heute ist der 2. September 1928, ein nebliger Sonntag. Das hat für dich keine Bedeutung mehr. Von dir bleibt ein Foto. Das erste, das von dir gemacht wurde. Zugleich das letzte. Das einzige. Das Rosenkindfoto. ✽✽✽
Eine lange Fahrt mit der Eisenbahn ✽✽✽
Am Bahnhof im sanktgallischen Gossau steht eine Frau inmitten einer Kinderschar, Passanten würden sie auf Mitte dreissig schätzen. Es ist Franziska, die an diesem Montag im kalten Winter 1924, zwei Tage vor Weihnachten, auf dem Bahnsteig wartet. Auf dem rechten Arm trägt sie ihren Jüngsten, Friedrich Wilhelm, noch keine drei Jahre alt. An der linken Hand hält sie den fünfjährigen Otto, den sie laut ermahnt: «Bleib jetzt ganz nah hier. Der Zug fährt gleich ein!» Die Älteste der sieben Kinder, Anna, hält die Hand der bald vierjährigen Emma fest. Die Zweitälteste, Berta, steht daneben. An ihrer Hand zerrt Lisbeth, schaut zur grossen Schwester hoch, zeigt zur Bahnhofsuhr und sagt: «Jetzt ist es schon halb eins.» – «Bleib stehen, Lisbeth.» – «Ich will näher zur Uhr, will sie anschauen. Ich kann ablesen, wie spät es ist.» Lisbeth, die in wenigen Monaten zur Schule kommen soll, hat kürzlich die Zeit begriffen. «Hör auf zu rupfen. Bleibst jetzt da, wie alle. Hast doch gehört, was Mama zum Otto sagte.» Trotz ihrer erst neuneinhalb Jahre ist Berta eine der beiden Grossen. Sie und Anna, die Stützen der Mutter. Nur Rosa steht allein, schaut seins-vergessen den Grüppchen zu, der Mutter mit den Brüdern, den zwei grossen Schwestern mit den zwei jüngeren Mädchen. Sie hat den achten Geburtstag hinter sich, ist nicht mehr klein, aber auch nicht gross genug, Verantwortung für eines der Kleinen zu übernehmen. Dafür sind die älteren Schwestern zuständig. Rosa muss nur sich selber schauen, und auf die zwei Taschen, in denen die Kleider versorgt sind, zwei Ersatzwindeln für den Kleinen, dann die Behördenpapiere, die Bibel und das Bild vom Vater. Den Rosenkranz hatte Mutter in die Manteltasche gesteckt. Der könnte ihr noch nützlich
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werden. «Kommt jetzt die Dampflok?», fragt Otto erwartungsvoll, und ohne die Antwort abzuwarten, zischt er in die Luft: «Tsch-pff, tsch-pff!» Da möchte man jetzt doch hinschauen, etwas mehr über die Frau und ihre Kinder erfahren. Was die mit den Gofen vorhaben mag? So kurz vor dem Christkindabend? Ist das nicht die des vor bald drei Jahren verstorbenen Buchers? Die Ausländerin, die Deutsche aus dem Norden? Die Kinder sprechen ‹mein i› normal Schweizerdeutsch. Aber das wäre ja noch schöner, wenn man hier aufwächst. Man steigt ja wohl in denselben Zug ein. Reist ein Stück weit gemeinsam, jedenfalls bis Uzwil, das gibt immerhin fast zwanzig Minuten, wo das eine und andere zu erfahren sein wird. Neuigkeiten, die weiter zu berichten wären. Man kann dann ja sehen, wie sich die Kinder benehmen. Dem Bucher Toni, so er noch leben würde, wäre es gewiss wichtig, gut erzogene Gofen zu haben. Dass der so jung sterben musste. Mit dreiunddreissig. Jetzt muss man bloss darauf bedacht sein, im Zug einen Platz zu erwischen, wo das Zuhören unauffällig gelingt. Die werden wohl wie unsereiner dritte Klasse fahren. Aber wohin denn eigentlich? An der Kirchstrasse in Gossau wohnt Witwe Frau Franziska Bucher, geb. Vollmer, von Entlebuch, Luzern. Die Witwe wird mit ihren Kindern von der Heimatgemeinde bezw. vom Heimatkanton regelmässig unterstützt, dagegen lehnt die heimatliche Armenbehörde die Übernahme von Arzt kosten ab, was für Gossau als Wohngemeinde von nachteiliger Bedeutung ist, da die Familie Bucher viel mit Krankheiten zu kämpfen hat. Es liegt daher für die Armenkasse eine immer wiederkehrende Belastung vor, weshalb die Frage der Heimschaffung der Familie
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Bucher ins Auge gefasst werden dürfte. Für diesen Gedanken sprechen auch die etwas zweifelhaften Erwerbsverhältnisse der Witwe Bucher & die darunter leidende geordnete Kinderer ziehung. Der Vorsitzende wird zunächst einmal Witwe Bucher zur Rede stellen.1
Ein Mann mittleren Alters nähert sich der Gruppe, den Hut über die Stirn gezogen. Man muss ja nicht gleich erkannt werden. Wichtig nur, dass dann etwas zu berichten ist am Stammtisch oder im Männerchor. – Die sind jetzt nach Luzern gezogen. Moll, für ganz. Doch, ich habe im Zug alles genau gehört. Er blickt verstohlen unter dem Hutrand hervor. Die Leute müssen nicht merken, dass ihn die Neugier in die Nähe der besonderen Gruppe treibt. – Das dort scheint die Älteste zu sein. Man könnte sie so zwischen elf und zwölf schätzen. Wunder nähme einen schon, wie die Frau diese Kinder durchbringt. Ungutes hat man bis jetzt nichts gehört. Man sieht sie ab und zu an einem Fest als Kellnerin. Noch eine Hübsche, moll. Und tüchtig, gewandt ist sie. Etwas reserviert, aber tüchtig. Das Armensekretariat schildert die Verhältnisse der Witwe Bucher, geb. Vollmer mit 7 Kinder in Gossau, bürgerlich von Ent lebuch, Ct. Luzern. Frau Bucher wurde bisher mit Fr. 135.– unter stützt. Leider lassen die Verhältnisse ausserordentlich zu wün schen übrig, in-dem die Frau jede Gelegenheit sucht, um als Kellnerin bei diesem oder jenem Feste tätig zu sein, die Kinder sind sich dabei selbst überlassen und fremder Wartung anver traut. Es ist dies ein Zustand, wie er in der Tat, vom Standpunkt 1
Aus dem Protokoll der Sitzung der Armenkommission Gossau vom 23. Juni 1924
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einer normalen Kindererziehung nicht länger geduldet werden darf. Es wird daher die heimatliche Armenbehörde auf diese Ver hältnisse aufmerksam gemacht. 2
«Das wird schon gehen», hatte der Armenpfleger gesagt, den die Mutter aufzusuchen gebeten worden war, den Brief aus Luzern und die Wohnungskündigung in den Händen. Die hatte ihr der Vermieter kürzlich persönlich vorbeigebracht, war extra zu ihr heim gekommen. Zum ersten Mal, seit die Familie in die Wohnung gezogen war. Damals, als Franziska und Toni aus dem württembergischen Plauen in die Schweiz ziehen mussten. Des bösen Weltkriegs wegen. Selbst als im Januar 1922 der Vater starb, hatte sich der Vermieter nicht blicken lassen, da er feststellen durfte, dass der Zins weiterhin regelmässig einbezahlt wurde. Aber nun war er gekommen, zur Mutter Courage und ihren sieben Kindern, und hatte das Kündigungsschreiben eigenhändig vorbeigebracht. Das Armensekretariat berichtet einlässlich über die Verhältnisse der Familie Bucher-Vollmer, von Entlebuch, Luzern, die übrigens schon wiederholt Gegenstand der Erörterung der Armenkom mission waren & die immer mehr den Gedanken der Heimschaf fung dieser Familie wachgerufen hatten. 3
«In drei Wochen?», hatte Franziska besorgt gefragt. «Aber die Kinder sind doch hier daheim, die Grossen gehen da zur Schule. Die Lehrer klagten bislang nie. Es würde ihnen alles fremd sein. Ihnen und mir …» – «Mit gutem Willen geht das», hatte der Fürsorger wenige Tage später erneut auf die Frau eingeredet. «Sie machen es so, wie im Brief aus Luzern beschrieben. Nicht zu viel mitnehmen. Sie müssen halt versuchen, das 2 3
Aus dem Protokoll der Sitzung der Armenkommission Gossau vom 18. September 1924 Aus dem Protokoll der Sitzung der Armenkommission Gossau vom 18. November 1924
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eine und andere zu verkaufen. Oder wegzuwerfen. Auch verschenken ist erlaubt. Dann packen Sie das Nötigste in ein, zwei Taschen und reisen mit den Kindern am 22. Dezember nach Luzern. Ja, also wir haben das nicht veranlasst, das müssen Sie mit denen aus Luzern besprechen. Vergessen Sie nicht, der Zug fährt um 12.39 Uhr ab. Nehmen Sie etwas Proviant mit, damit die Kinder nicht unruhig werden auf der langen Reise. Nein, da ist kein Bleiben. Wie gesagt, es ist die Heimatgemeinde, die Ihnen den Batzen bislang zuhielt, also will man Sie auch dort wissen.» Es hat denn auch die heimatliche Armenpflege die Heimnahme der Familie Bucher ins Auge gefasst & dem entsprechend die bis herige Barunterstützung weiterhin, nun abgelehnt. Damit sind die Voraussetzungen für die Heimschaffung geboten, da Familie Bucher ohne Unterstützung natürlich nicht auskom men konnte. Es wird daher dem Gemeinderat unter Berufung auf Art. 45 der Bundesverfassung die Einleitung des Heimschaffungsverfah rens beantragt. 4
«Wir können nichts dafür», versuchte der Armenpfleger zu besänftigen, «dass die Luzerner diesem Konkordat beigetreten sind. Das müssen Sie doch verstehen. Das Billett wird Ihnen ja bezahlt und rechtzeitig zugeschickt.» In mit Dialekt durchtränkten hochdeutschen Wörtern und Sätzen hatte der Fürsorger zu ihr gesprochen, als verstünde sie kein Schweizerdeutsch. Als würde sie nicht seit zehn Jahren hier zu Hause sein. Drei Wochen waren seither vergangen, drei Wochen Zeit, die Bündel zu schnüren. Sieben Bündel in zwei Taschen. «Ein paar Möbel können dann 4
Aus dem Protokoll der Sitzung der Armenkommission Gossau vom 18. November 1924
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noch nach Luzern gebracht werden. Seien Sie für die Kinder und sich selbst besorgt. Der Rest wird für Sie erledigt.» Auf dem Gossauer Bahnhof ist wenig los an diesem kalten Wintertag. Da und dort steht ein Passant, eine Frau mit einem Hündchen scheint etwas zu suchen und blickt umher. Das bescheidene Gebäude aus Holz hat seit einiger Zeit eine Bahnhofsuhr, die jetzt sechs nach halb eins anzeigt. Ein paar Fahrwillige warten, Kunden dritter Klasse. Ein Bahnhofswärter in einem Übergewand und dazugehöriger Kappe hält in der Hand eine Kelle. Als der kleine Otto ihn erblickt, erklärt er der Mutter begeistert: «Das will ich werden, wenn ich gross bin.» Von weitem ein Rumpeln. Die Mutter schaut mahnend auf die Kinder. «Bleibt zusammen!» Jetzt erblickt Otto den Zug, sieht, wie ruckartig Dampf aus dem Kamin der Lokomotive quillt, wie die Wagen über die Schwellen der Geleise tuckern und näherkommen. Vom quietschenden Geräusch der Bremsen hört er kaum etwas. Das stört den schwerhörigen Bub nicht. Er weiss nichts anderes und hat im Moment genug zu schauen. Nun hält der Zug, steht still. «Kommt!», ruft Mutter Franziska, während sie auf einen Waggoneingang zusteuert und nochmals ermahnt: «Bleibt beisammen!» Für die verschiedenen kurzen Beine stellt die hohe Einstiegsstufe eine Herausforderung dar. Anna und Berta unterstützen die kleinen Schwestern beim Einsteigen. Ihnen folgt Rosa, die sich vom Mann mit dem Hut in der Stirn helfen lässt, die Taschen hinauf zu hieven. Als Letzte steigt die Mutter ein. Schiebt Otto voran, stellt Friedrich im Waggon auf den Boden. Rasch ergattert Otto den Fensterplatz von einem der nebeneinanderliegenden Abteile. Ihm gegenüber entsteht ein kurzes Gezänk zwischen Lisbeth und Rosa. Wer darf ans Fenster? «Hört auf zu streiten! Ihr habt genug Zeit, abzuwechseln», sagt die Mutter, hebt Friedrich unter die Ärmchen greifend wieder auf und nimmt mit ihm
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den Platz neben Otto ein. Rosa gibt der jüngeren Schwester schmollend den Fenstersitzplatz frei, setzt sich neben sie, senkt trotzig den Kopf. Dann halt. Der Mann versorgt die Taschen auf dem hölzernen Gepäckträger, steuert wie zufällig dem letzten noch freien Fensterplatz des zweiten Abteils entgegen, wo Anna sich hinsetzt und Emma auf den Schoss nimmt. Mit ihr auf dem Schoss steht ihr ein Fensterplatz zu. «Kommst zu uns, Bertali?», fragt sie die unsicher herumblickende Schwester. Verlegen setzt sich Berta neben den Mann, der seinen Hut auf die Kofferablage gelegt hat und sie ermutigend anlächelt. «Wo geht denn die Reise hin?», fragt er das Kind, das wohl anständig genug sein sollte, ihm Antwort zu geben. Aber Emma zeigt zum Fenster hinaus auf den Bahnhofvorstand, der jetzt mit der Kelle winkt, und Lisbeth wirft einen letzten Blick auf die Bahnhofsuhr, die 12.39 anzeigt. Ein lautes Pfeifen, dann fährt der Zug los. «Tugg-tugg-tugg!», sagt Lisbeth zu Otto, hält den Zeigefinger auf den Mund und macht nochmals: «Tugg-tugg-tugg!» Nun hat jedes seinen Platz, und es kehrt kurz Ruhe ein, was der Mann am Fenster, sich Franziska zuwendend, zu nutzen weiss: «Soso, geht es auf eine grössere Reise?» Doch ehe die Mutter antworten kann, zeigt Otto zu einem unbewachten Bahnübergang, auf das rot umrandete weisse Schrägkreuz: «Schau! Schau!» – «Das ist ein Andreaskreuz», belehrt die Mutter den Bub, der das weder recht hört noch versteht und sich bereits wieder den vorbeifliegenden Dingen zugewandt hat. Erster Halt. Flawil. Mutter, Kinder und Mann bleiben sitzen. «Aha», geht es Anna durch den Kopf, «der muss auch weiter. Hoffentlich nicht bis Winterthur. Oder gar bis Zürich.» Der Zug fährt wieder an. Anna hält ihre Arme um die kleine Taille von Emma. Sie, Berta und Rosa wissen, dass dies keine Reise ist, welche die Mutter mit ihnen zum Vergnügen macht. Sie wissen auch, dass sie nicht mehr zurückkehren werden. Nie mehr. Nachdenklich schaut Anna auf
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Bäume, Häuser, Felder. Manchmal dringt eine blasse Sonne durch den graublauen Nebel, und trotz der dunstigen Sicht zeigt sich den Reisenden im Nebel und Raureif eine Zauberwelt mit verzuckerten Bäumen und Feldern, die aus einem Wattennebel aufscheint und wieder verschwindet. Ein Winterbild, das besonders Otto und Lisbeth verzückt. «Sieh, Mama! Schau!» Uzwil. Der Zug hält, der Mann erhebt sich. Trotz Unmut täuscht er Freundlichkeit vor. Schliesslich steht Weihnachten vor der Tür. Und wiewohl unergiebig, würde diese kurze Reise doch etwas hergeben für den Stammtisch. Er nimmt seinen Hut von der Kofferablage, setzt ihn auf, verabschiedet sich und geht. Zufrieden rutscht Berta auf den frei gewordenen Fensterplatz. In zwei Tagen ist Heiligabend. Plötzlich, unmittelbar, ja ohne erklärbaren Grund kommt Anna ein Bild auf: Sie erinnert sich ans Weihnachtsfest vor drei Jahren. Das letzte mit dem Vater. Eine Traurigkeit überkommt sie, wenn sie daran denkt, wie krank das Nierenleiden den Vater gemacht hatte. Wie er nicht mehr hatte aufstehen können. Die sechs Kinder und die hochschwangere Mutter an seinem Bett. Wie sie trotz allem sangen und beteten, wie die Mutter die Weihnachtsgeschichte erzählte. Die jetzt, zwei Jahre später, die Mutter und ihre sieben Kinder, die Familie ohne Vater in gleicher Weise trifft. Gut siebzig Jahre später wird Anna in ihren Aufzeichnungen festhalten:
1924 kam eine Abstimmung, dass alle Familien, die eine Unterstützung haben, in der Heimatsgemeinde wohnen müssen. 5 5
Tagebuch von Anna Bühlmann-Bucher, 1988
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Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. 6 Im Brief mit den Bahnbilletts dritter Klasse, Gossau-Luzern einfach, stand: dass Franziska mit den sieben Kindern in die Heimatgemeinde müsse. Zum Bürgerort des verstorbenen Vaters. Weil sie von dort Unterstützung erhalte. Sie wisse ja, dass seit ein paar Jahren dieses Konkordat zwischen den Kantonen vereinbart sei, Wohnortsprinzip nenne man das, und Luzern gehöre halt auch dazu. Da gebe es jetzt kein Wenn und Aber. Sie habe zu reisen.
Und diese Schätzung war die allererste und geschah zurzeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Jeden Monat einhundertfünfunddreissig Franken von der Gemeinde Entlebuch. Zwölf Mal im Jahr. «Nein!», hatte sich Mutter auf der Kanzlei bei den Behörden zu wehren versucht. «Es ist nur elf Mal ein Betrag gekommen.» Erfolglos. Jahrzehnte später wird Anna notieren:
Meine Mutter ging auf die Kanzlei. Leider hatte dort das Jahr nur elf Monate. Man hatte ihr gezeigt, dass sie zwölfmal unterschrieben hatte. Es war nichts zu machen. Nach einigen Jahren kam dann aus, dass einer auf der Kanzlei unterschlagen hatte. Es waren sehr viele solche Armengelder, die er eingesteckt hatte. Auch jetzt war nichts zu machen. Am 22. Dezember erwarte man sie auf dem Bahnhof in Luzern, steht im Brief. Um 17.52 Uhr, so der Zug pünktlich ankomme, werde Herr Regierungsrat Wey persönlich sie dort 6
Bibel, Luther-Übersetzung, Lukas 2
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a bholen. Und sie solle nicht vergessen, in Zürich und Zug umzusteigen. Beim ersten Umsteigen müsse sie halt etwa eineinhalb Stunden warten, aber sie könne ja mit den Kindern ein wenig herumspazieren in dieser schönen Stadt. Das Landesmuseum neben dem Bahnhof böte sich regelrecht an und sei für die Kleinen sicher ein Erlebnis. Im Bahnhof der Ortschaft Zug seien es dafür bloss noch gut zwanzig Minuten, die sie warten müsse, bis sie weiterfahren könnten. Das sei zumutbar. Und wenn sie nicht weiterwisse, müsse sie halt den Kondukteur oder einen Bähnler fragen.
Und jedermann ging, dass er sich schätzen liesse, ein jeder in seine Stadt. Das Billett ist bereit für den Kondukteur. In Mutter Courages Manteltasche. Jetzt blickt sie sorgenvoll auf ihre sieben Kinder, froh, dass die Kleinen die Bahnfahrt als Abenteuer betrachten. Dankbar, dass die drei Grossen so vernünftig reagiert hatten, als sie ihnen erklären musste, dass sie wegzögen. Sie und die Kinder. Die Älteste, Anna, selber erst elfeinhalb Jahre alt, der Jüngste, Friedrich, mit seinen noch nicht einmal drei Jahren noch so klein. Alle müssten sie zur Heimatgemeinde, so steht es im Brief. Alle, die unterstützt würden. Entlebuch brauche Kontrolle über die Armengelder, die sie verteile.
Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heisst Bethlehem. Bethlehem, weil er aus dem Hause und dem Geschlecht Davids war, damit er sich schätzen liesse mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Damals, vor drei Jahren, hatten sie noch gehofft. Als die Mutter in der Hoffnung, schwanger war.
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Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Sie hatten gehofft, der Vater möge es noch erleben. Könne sein jüngstes Kind in Empfang nehmen. Zu Otto den zweiten Knaben. Was sie natürlich noch nicht gewusst hatten. Es wäre auch schön gewesen, wenn ein Mädchen bei den Schwestern das halbe Dutzend gefüllt hätte.
Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. Noch hatten sie Raum. Damals. Noch war der Vater bei ihnen. Bleich und schwach, aber da. Noch waren die Kinder keine Halbwaisen, die Mutter keine Witwe. Noch waren sie eine ganze Familie, die zusammengehörte. An Weihnachten vor drei Jahren. Aber nun würde ein neuer Wind wehen. Sie wissen nicht, was sie erwartet, wo sie übernachten werden. Vor dem Zugfenster sieht Anna eine Herde weiden. Dann wieder Bäume, Wiesen, Häuser. Je mehr sie sich dem Ziel Luzern nähern, je mehr Hügel sichtbar werden, im Hintergrund gar Bergkuppen, umso mehr öffnen sich im Nebel kleine Fenster und geben eine Sicht auf Waldränder, auf Fichten und Tannen frei, die ein versilbertes Weihnachtsbild herzaubern. Alles verzuckert.
Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Als Weihnachten vorüber war und das neue Jahr begonnen hatte, war der Priester gekommen. Er gab dem Vater die Krankensalbung. Die Kinder hatten ehrfurchtsvoll vor der Tür gewartet. Anna mit der kleinen
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Emma auf dem Arm. «Psst!», hatte sie zu den Schwestern und zu Otto gesagt, «seid still.» Das hatte besonders dem Bertali Angst gemacht. Aber auch Otto hatte zur grossen Schwester hinaufgeblickt. Weder konnte er, der kränklich zur Welt gekommen und seit einer Hirnhautentzündung als Kleinkind schwerhörig war, etwas vernehmen noch verstehen, was vor sich ging im Zimmer, in dem die Mutter und der Priester mit der farbigen Stola auf den Schultern beim Vater waren.
Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch grosse Freude, die allem Volk widerfahren wird. Aber sie konnten gar nicht anders, als sich fürchten, denn es war nur ein leises Gemurmel hörbar. Ein Ave-Maria vermutlich und ein Vaterunser. Und dann war der Priester wieder gegangen. Ihnen war kein Kind geboren in jener Nacht. Die Mutter trug das Ungeborene noch im dicken Bauch. Aber keine drei Wochen später war kein Vater mehr da. Fort, für immer in der Welt danach, wie die Mutter mit Tränen in den Augen erklärte. Auch Anna weinte ständig. Es war für die Geschwister unerträglich. Kein Vater mehr da, aber wo denn dann? Wer wusste das schon. Keine Handorgel und kein Guten Abend, gut Nacht, überhaupt kein Singen mehr, kein mit Rosen bedacht, wie die Mutter vormals mit ihnen gesungen hatte, kein mit Näglein besteckt, schlüpf unter die Deck, wenn sie die Kinder zu Bett brachte, kein Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt mehr. Zwei Wochen später war wieder eine Fremde zu Besuch, die Frau, die die Mutter Hebamme nannte. Dann kam der kleine Friedrich. Wie herzig, die Fingerchen. Und das Mündchen. Staunend waren sie um die Wiege herumgestanden, und für einen Moment hatte das Brüderchen die Traurigkeit wegen des Vaters etwas verscheucht.
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Denn euch ist heute der Bub geboren. Ein Kind ohne Vater. Nie einen Vater gehabt. Nie gesehen. Nie von ihm getragen, nie von ihm angelacht worden und nie ihn anlachen können.
Das Kind in Windeln gewickelt. Jetzt hiess es für Anna, der Mutter noch mehr zu helfen: Windeln waschen, die Kleinen hüten. Nie würde sie vergessen, wie der Vater an Weihnachten zu ihr gesagt hatte: «Hilf der Mutter, Anna. Du bist unsere Grosse. Hilf ihr. Sie braucht dich.» Das Vermächtnis an seine Erstgeborene. Die damals bald Neunjährige hatte es ihm versprochen, ihm die Hand darauf gegeben, unter Tränen. «Ja Vater.» In diesem Moment hatte sie verstanden, dass er sterben würde. Als die Mutter den Kindern die Weihnachtsgeschichte erzählt hatte, waren darin fröhliche Hirten vorgekommen, auch Engel, die sangen und Gott in der Höhe ehrten und lobten, den Menschen auf Erden Frieden wünschten – denen seines Wohlgefallens. Wie gerne hätte die Mutter die Kinder getröstet, als der Vater gegangen war. Aber sie war doch selber so traurig, und nur ihr Versprechen und die Kinder gaben ihr die Kraft, zu tun, was getan werden musste. Denn wie Anna hatte auch sie Worte ihres Mannes im Innern behalten: «Wirst den Kindern gut schauen. Ich weiss es und werde Gott um Hilfe für euch alle bitten, wenn ich bei ihm bin.» Auch ihre Hand hatte er in seine genommen und sie Mut machend angeblickt. «Anna ist ein gutes Kind. Vernünftig und lieb mit den Kleinen. Wirst in ihr eine Hilfe haben. Und dem Jüngsten, erzähl ihm von mir, sobald es das versteht, dass ich es lieb habe wie euch alle, dort, wo ich sein werde.»
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Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Nie würde die Mutter seinen Blick vergessen. Auch Anna nicht, die keinesfalls das Versprechen verraten würde, das sie dem Vater gegeben hatte. Sie würde der Mutter helfen, wo sie konnte, und zu den Geschwistern schauen, zusammen mit Berta, die im Frühling zur Schule kam. Rosa würde auch schon bald sechs, im Mai, und mit der etwas schwächlichen Lisbeth würde man im Frühling den Kindergartenbesuch ausprobieren. Der zweieinhalbjährige Otto, der einen seit seinem schweren Fieber nicht mehr hörte, wenn man ihn rief, und die erst einjährige Emma, diese drei Kleinen würden wohl noch am meisten Betreuung benötigen. Da würde sich Anna als die Grosse beweisen. Aber das alles war ja schon beinahe drei Jahre her, und jetzt sind sie auf der Reise in die Heimatgemeinde des Vaters, die sie zunächst nach Luzern führen soll, später nach Entlebuch oder Wolhusen, was wusste man schon, auf alle Fälle in ein Dorf, das der Mutter und den Kindern fremd sein wird. Beim Umsteigen in Zürich würde sie den Kindern einen Apfel und ein Stück Brot geben. So das lange Warten verkürzen. Ein paar Schritte mit ihnen gehen. Gegen den Durst würde sicher irgendwo ein Brunnen zu finden sein und für sonstige Bedürfnisse ein Bahnhof-Abort. Endlich, endlich kommen sie am Zielbahnhof an, nehmen das kleine Gepäck, Kinderhände fügen sich ineinander, so steigen sie aus und sehen die zwei Männer, die auf sie zukommen. Herr Wey. Der Herr Regierungsrat kümmert sich um sie. Ein zweiter Herr neben ihm. Franziska weiss weder seinen Namen noch kennt sie seine Funktion. Aber beide gut gekleidet. Sie würden ihnen jetzt wohl den weiteren Weg zeigen. Den Weg in die versprochene Wohnung. Franziska blickt auf die Taschen, die Rosa auf den Boden gestellt hatte.
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«Guten Abend», sagt der Herr Wey und: «Kommt Kinder!» Dann nimmt er die Taschen, schaut freundlich, ja liebevoll auf die Schar. «Kommen Sie, Frau Bucher.» – «Aber wohin?» – «Ja, haben Sie denn meinen zweiten Brief nicht mehr bekommen?» – «Noch ein Brief?» Franziska weiss nichts davon. «Nein», antwortet sie. Was würde jetzt mit ihnen geschehen? Der kleine Friedrich, der schon im Zug auf ihrem Schoss eingeschlafen war, liegt schwer auf ihrem Arm, den Kopf auf ihrer Schulter. Die Kinder schauen verunsichert. Verwirrt und zugleich erwartungsvoll. Franziska sieht in Herrn Weys Augen, dass er es gut meint. Sie fasst Vertrauen. Hinter dem Bahnhof steht ein grosses Auto, ein Vehikel, wie Otto es noch nie gesehen hat. Trotz der von der langen Reise aufgekommenen Müdigkeit blickt er begeistert. Franziska und die Kinder werden auf die hinteren Sitze gepfercht, und der Mann, welcher Herrn Wey begleitet, nimmt neben diesem am Steuer Platz. «Nach Menznau gehts. Dort werden Sie und die Kinder vorerst bleiben können. Ja, leider», fährt Herr Wey fort, «haben wir noch keine Wohnung gefunden. Deshalb bringen wir euch fürs Erste nach Menznau. Die dortige Armenanstalt beherbergt auch Leute aus Entlebuch, und nicht nur alte Leute.» Das Gesicht den Kindern zugewandt, tröstet er: «Es gibt noch mehr Kinder dort. Ihr werdet nicht die einzigen sein.» Halbwegs entschuldigend spricht er wieder zur Mutter, den Blick durch die Windschutzscheibe hinaus auf die Strasse gerichtet, welche durch die Dörfchen Littau, Malters und Wolhusen führt, dann nochmals über Land, auf der Strasse, welche umgeben ist von Weidland und Hügeln, auf denen gruppenweise Bäume auszumachen sind. «Sehen Sie, Frau Bucher, in einem Fall wie Ihrem ist die Armenanstalt halt immer die erste Station. Seien Sie froh, dass Sie zunächst auch da bleiben können. Das ist nicht selbstverständlich. Und Sie können die Schwestern in ihrer Arbeit tatkräftig unterstützen.»
… denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.
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Vorstand meldet, dass Familie Bucher-Vollmer, von Entlebuch, Luzern unterm 23. Dez. 1924 nach Luzern 체bersiedelt sei. Frau Bucher hat nach erstem hartn채ckigem Str채uben sich endlich mit der Heimschaffung abgefunden. 7
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Aus dem Protokoll der Sitzung der Armenkommission Gossau vom 30. Dezember 1924
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In der Armenanstalt ✽✽✽
Im Dörfchen Menznau mit der eigenen Armenanstalt erhalten in erster Linie betagte Bürgerinnen und Bürger der Gemeinden Asyl. Es werden aber auch Kinder aufgenommen, die kein Zuhause mehr haben. Die Tür öffnet sich also auch für andere, wenn eine Not das vorübergehend erfordert, und so beherbergen die barmherzigen Schwestern seit zwei Tagen auch Franziska und ihre Kinder. «Bis wir den richtigen Platz für euch gefunden haben», hatte Herr Wey zu den Kindern gesagt, bevor er sich an jenem Abend verabschiedete. «Was für einen Platz?», hatte Franziska zu fragen gewagt. Sie würde doch, wie versprochen, mit ihrer Schar in eine Wohnung ziehen können. Es müsste nichts Besonderes sein. Eine kleine Bleibe würde genügen, geeignet für die Kinder, so dass die Kleinen spielen könnten, und wo für die Grösseren zum Aufgabenmachen und zum Schlafen für alle genügend Platz vorhanden wäre. Bescheiden dürfte sie sein, denn wie in Gossau würde sie, die Mutter, Arbeit suchen und finden, würde putzen, flicken, vielleicht sogar in einer Fabrik arbeiten. Oder Heimarbeit besorgen. So ihre Kinder zusammenhalten. Sie zu anständigen und gut katholischen Bürgern erziehen. Das ist sie dem Vater ihrer sieben schuldig. Fast drei Jahre hatte sie es in Gossau so gehalten, weshalb also sollte das hier nicht auch möglich sein? Sie würde sich an die neue Gegend gewöhnen, die ihrem Mann vertraut gewesen war. Für ihn und die Kinder wollte sie das alles tun. Sobald sie ihre eigenen vier Wände bekomme. Für den Moment schickt sich Franziska in ihr Schicksal und spürt sogar eine Dankbarkeit, Heiligabend und Weihnachten in dieser zwar engen Armenanstalt, aber doch im Kreise einer zusammengewürfelten Grossfamilie feiern zu können. ✽✽✽ 27
Am Tag nach ihrer Ankunft war der Herr Direktor, der ausserhalb der Anstalt wohnt, gekommen und hatte ihnen alles gezeigt. Im Haupthaus, in dem die erwachsenen Heimbewohner untergebracht sind, wird gemeinsam gegessen. An einem Tisch sitzen die Kinder, die Erwachsenen am andern, eng beieinander, denn der Raum, der zugleich Stube ist, gibt wenig Platz. Hinter dem Haus steht eine kleine Scheune mit einem Speicher, ein Schweinestall verströmt unangenehme Gerüche, die vor allem für Franziska gewöhnungsbedürftig sind. Dann steht da noch das Holzhaus, in dem auch gewaschen wird. Und gedörrt, was die Landwirtschaft hergibt. Hier umgibt einen ein feiner Dörr geruch. Otto hat schon kurz nach der Ankunft alles genau angeschaut, das schmale Bächlein hinter dem Haus, das den steilen Hang herunterplätschert, spärlich in diesem kalten Winter, und dann hatte der Meisterknecht Johann, sonst eher ein Grober, wie die grösseren Buben sagen, dem kleinen Bub, der den Ausflug noch immer als Abenteuer betrachtet, den Bauernbetrieb gezeigt. Franziska hatte sich neben der Betreuung der Kinder überall nützlich gemacht und den Schwestern wo nötig bei der Pflege der alten und gebrechlichen Bewohner geholfen. Anna, Berta und Rosa waren in die Küchenarbeit eingeführt worden. Mutter und Kinder zusammen unter einem Dach, da stört es sie nicht, dass mit angepackt werden muss. Arbeiten sind sie sich gewohnt. Franziska versucht, dem neuen Jahr zuversichtlich entgegenzublicken. ✽✽✽
Bereits ist ein Vierteljahr vergangen, seit der Herr Regierungsrat Franziska und die Kinder nach Menznau brachte. Inzwischen hatte die Mutter vergeblich auf die versprochene Wohnung gewartet und schliesslich für sich ein Zimmer in Luzern gesucht und gefunden. Obwohl sie sich auf die eigenen vier Wände freute, war ihr der Abschied von den Kin-
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dern schwergefallen. Wie gern möchte sie alle wieder zu sich nehmen. In der Enge dieser Armenanstalt haben sie kaum Platz, Aufgaben zu machen. Die drei grossen Mädchen besuchen die Schule im Dorf. Die kommen zurecht, aber die Kleinen, die sie noch so dringend brauchen … Vor allem Friedrich, aber auch Emma, Lisbeth und Otto. Sie hatten sich an ihrem Schürzenzipfel festgehalten. «Ich komme wieder, Kinder. Einmal werden wir eine Wohnung haben, die gross genug ist für uns alle. Aber jetzt müsst ihr noch da bleiben, und ich muss nach Luzern, um zu arbeiten.» Ja, arbeiten. Vor allem putzen. Ihr Fleiss und ihre Gründlichkeit werden von Meistersleuten überall geschätzt. Wenn Franziska frei hat, besucht sie die Kinder in der Armenanstalt. Oft ist dies nicht, denn die Regeln erlauben nicht zu viele Besuche, und ohnehin überkommt sie abends meist eine grosse Müdigkeit. Auch eine Traurigkeit. Wie hatte das alles so seinen Lauf nehmen können mit ihr und den Kindern, seit die Aufforderung von Gossau gekommen war, sich auf den Weg in die Heimat des verstorbenen Mannes zu begeben. Was war von der Hoffnung von damals übrig geblieben? Einzig das Vertrauen in Herrn Wey ist ungebrochen. Irgendwann würde alles gut, würde sie die Kinder wieder um sich haben, die Aufgaben gemeinsam mit Anna und Berta bewältigen, den Otto trösten, wenn er in seiner Welt wieder einmal nichts versteht, Lisbeth führen, die so fröhlich und unbedarft durch ihre Tage geht und so wenig begreift, was man ihr beibringen will, und Friedrich über den Kopf streicheln. Ihn abends zudecken. Er ist doch noch so klein. So schutzbedürftig.
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