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OOH!–In Kürze

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Experten – die neuen Sittenwächter

Die OOH!-Gastautorin Claudia Wirz ist freie Journalistin und Kolumnistin der „NZZ“; sie wohnt im schweizerischen Zug.

Wer Werbeverbote verlangt, zum Beispiel für Tabak oder Zucker, hält die Bevölkerung für leichtgläubig und beeinflussbar, um nicht zu sagen: für dumm. Dieses antiaufklärerische Denkmuster stammt aus alten Zeiten, nur der Stein des Anstoßes wurde ausgetauscht.

Im ausgehenden 18. Jahrhundert musste die Obrigkeit im Land der Dichter und Denker feststellen, dass sich eine neue, gefährliche Seuche verbreitet hatte. Es war weder Virus noch Bakterium, sondern eine epidemische Verhaltensstörung: Die Lesesucht hatte das Volk ergriffen, und die damals aufkommenden öffentlichen Leihbüchereien galten als ihre Brutstätten. Die Autoritäten waren alarmiert. Sie sahen das enthemmte Lesen als eine Bedrohung nicht nur für Sitte und Moral, sondern auch für ihren eigenen gesellschaftlichen Status. Wollte sich das Volk lesenderweise von ihnen emanzipieren und sich die Freiheit nehmen, selbständig zu denken und sein Wissen aus neuen Quellen zu beziehen? Das zügellose Lesen in der breiten Bevölkerung galt den Autoritäten jedenfalls als mehrfach gemeingefährlich. Bald war es schiere Zeitvergeudung, die den einfachen Mann von der Arbeit und die brave Ehefrau von der Sorge um Familie und Kirche abhalten ließ. Bald wurde der Lesesucht aber auch umstürzlerisches Potenzial unterstellt. Wer liest, was er will, entzieht sich der Kontrolle der Autoritäten und kommt womöglich auf Ideen, die der Obrigkeit gar nicht passen. Die lesende Frau war eine besondere Gefahr. Denn Frauen galten als leichtgläubig und beeinflussbar. Das schöngeistige Fach könnte am Ende gar die Moral der Leserin gänzlich verderben. Und überhaupt entzog sich die Frau durch die Leserei der männlichen Aufsicht. Eine unerhörte Aufmüpfigkeit!

Politische Eliten fühlen sich dazu berufen, das Volk auf den Tugendpfad zu führen Aber auch die Männer galten als gefährdet. Nicht nur, dass sie durchs Lesen faul wurden; mit empfindsamer Literatur könnten sie sich womöglich „Leib und Seele verzärteln“, mahnten die Autoritäten. Die Lage war also ernst. Man musste diese Sucht mit Verboten und rigiden Regeln bekämpfen. Der „Werther“ sollte das prominenteste Opfer dieses Kulturkampfes zwischen den alten Eliten und dem aufstrebenden Bildungsbürgertum werden. Das ist lange her, und dass der „Werther“ heute nicht mehr so eifrig gelesen wird wie auch schon, hat andere Gründe. Doch bis heute überlebt hat das politische Motiv von der gemeingefährlichen – um nicht zu sagen: staatsschädigenden – Verhaltensepidemie. Bis heute erhalten haben sich auch das antiaufklärerische Menschenbild und der Machtdünkel der politischen Eliten, die sich dazu berufen fühlen, das Volk wie ein kleines Kind an der Hand zu nehmen und auf den Tugendpfad zu führen. Allein der Stein des Anstoßes ist ausgetauscht worden. Heute ist nicht mehr das Buch das große Übel der Massen; es sind der Tabak, der Zucker, das

Fleisch, das Fett, das Salz oder der Wein, vor denen es die Gesellschaft zu schützen gilt. Übergewicht gilt offiziell als „Volkskrankheit“, als Epidemie, die es selbstverständlich von staatlicher Stelle zu bekämpfen gilt. Gekämpft wird mit steuerfinanzierten Studien, die zuverlässig die vom Auftraggeber gewünschten Ergebnisse liefern, und mit denen man dann Programme und Regulierungen etwa zur Zuckerreduktion oder gar Werbeverbote legitimieren und ein schnell wachsendes Heer von gutbezahlten Experten mit der Umsetzung und Überwachung betrauen kann. Die Experten sind die Sittenwächter der Moderne.

Im Wohlfahrtsstaat ist der Umgang mit dem eigenen Körper keine Privatsache Zu diesem illustren Kreis moderner Moralapostel gehören selbstverständlich auch die Funktionäre von WHO und OECD. Sie beobachten, vermessen, empfehlen und erteilen Zensuren an die Bevölkerungen einzelner Länder. Mit ihrem demokratisch kaum legitimierten Aktionismus scheuen sie sich auch nicht davor, in die Souveränität der einzelnen Staaten einzugreifen. Und viele Staaten lassen sich das gefallen. Anders als früher geht es den politischen Eliten heute nicht nur um die Rettung von Sitte und Moral, sondern auch und vor allem um „das System“. Sich ein Bäuchlein anzueignen oder eine Zigarre zu schmauchen, ist im Zeitalter des vermeintlich solidarischen Wohlfahrts- und Umverteilungsstaats keine Privatsache mehr. Im Wohlfahrtsstaat ist der Umgang mit dem eigenen Körper eine Staatsangelegenheit, die alle betrifft und deshalb der Aufsicht der Experten unterstellt werden muss. Der Körper ist quasi nur vom Staat geborgt. Diese Denkweise spiegelt sich exemplarisch in der Widerspruchslösung bei der Organspende. Mit Hingabe rechnen uns die zahlreichen involvierten Behörden, Organisationen und Institute vor, wie sehr die Dicken, die Raucher, die Weinliebhaber oder die Fleischesser den Staat, seine sozialen Institutionen und natürlich auch das Klima schädigen. Die zuliefernde Industrie, die all diese zwar legalen, aber „bösen“ Produkte zur Verfügung stellt, wird dabei zu einer Art Klassenfeind umgedeutet, der vom Staat an die Kandare genommen werden muss. Für staatliche Untätigkeit gebe es jetzt keine Entschuldigung mehr, schreibt die OECD und verspricht: „Davon wird auch die Wirtschaft profitieren.“ Wer vom gepflegten Behördenbüro heraus solche Ratschläge erteilt, offenbart ein zutiefst etatistisches Denken. Mit dieser „Anmaßung von Wissen“ im Hayekschen Sinn ist man aber weder befugt noch qualifiziert, darüber zu urteilen, was für die Wirtschaft gut ist. Wer so denkt, hat vielmehr den Glauben an die Marktwirtschaft, an die Selbstregulierung der Märkte und vor allem an die Vernunft des Einzelnen längst aufgegeben, sofern dieser Glaube denn überhaupt jemals vorhanden war.

Werbeverbote sind ein Fanal für die Entwicklung der Demokratie Das Beispiel zeigt, wie tief verankert die Staatsgläubigkeit mittlerweile ist, und zwar mitnichten nur im linken Lager. Das Motiv des Klassenkampfs zieht weite Kreise, nicht zuletzt in der akademischen Blase. Letztlich geht es dabei wie anno dazumal darum, Macht und Status der politischen und bürokratischen Eliten zu sichern und weiter auszubauen. Mit den Effekten des Umverteilungsstaats lässt sich so gut wie jeder staatliche Dirigismus legitimieren. Jede einzelne entsprechende Regulierung ist jedoch eine Absage an das vernünftige Individuum, für dessen Emanzipation unsere Vorfahren einst so hart gekämpft haben. Man mag Werbeverbote für eine Randnotiz halten; aber in ihrem Wesen sind sie antiaufklärerisch und bevormundend und in dieser Eigenschaft ein Fanal für die Entwicklung der Demokratie. Derlei Verbote und Regulierungen mögen den gesellschaftlichen Status der neuen Obrigkeiten stärken; für die Freiheit des Einzelnen hingegen sind sie eine – leider weitherum unterschätzte – Bedrohung.

Claudia Wirz

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