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OOH!–Trends & Innovationen Deutschland

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OOH!–Aspekte

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In einer Aussenwerbekampagne können klassische Flächen und digitale Screens unterschiedliche Rollen übernehmen. Die einen sorgen für den Reichweitenaufbau, die anderen für die gezielte Ansprache.

Steigende Energiepreise, höhere Kosten für den Lebensunterhalt, drohende Wirtschaftskrise: Das Leben hat sich für die meisten Menschen in den vergangenen Wochen deutlich verändert. Von der Aufbruchstimmung, die noch vor kurzem durch das Land wehte, ist nur ein laues Lüftchen geblieben.

Auch für die Marketingkommunikation bleibt diese Entwicklung nicht ohne Folgen. Schon die Corona-Krise hat der Werbebranche viel abverlangt. Manche Medien wie Out of Home kamen unbeschadet durch die Pandemie, andere wie das Kino wurden zum Stillstand gezwungen. Auch die Botschaften änderten sich. Eine bis dahin vielfach lebensfrohe und hedonistische Ansprache wurde durch eine sensible und achtsame Kommunikation ersetzt. Statt „Wir hauen auf den Putz“ hieß es eher „Wir halten zusammen“. Inzwischen hat sich das Rad weiter gedreht, die Pandemie gilt als überwunden. Jetzt aber macht die Auseinandersetzung um die Ukraine der Wirtschaft massiv zu schaffen, was erneut Implikationen für die Marketingbranche hat. Die ersten Werbebudgets werden eingedampft und die Botschaften ändern sich erneut. Sie lauten jetzt vor allem: Produkt, supergünstig, sofort kaufen! men Radiovermarkter, die jetzt nun auch die gezielte Ausspielung von Audio Ads in Podcasts und Webradios anbieten. Gut aufgestellt ist hier vor allem aber die Aussenwerbebranche, die ihr Portfolio an klassischen Großflächen, CLPs und Ganzsäulen mit einem wachsenden Angebot an digitalen Screens ergänzt. Was Kritiker also noch vor kurzem als den „Untergang eines Massenmediums“ bezeichneten (iBusiness, 25. Mai 2022), dürfte vielmehr ihre Stärke sein. OOH kann beides – Branding und Performance, One-to-Many und One-to-One. „Grundsätzlich können OOH und DOOH für einen Großteil von Kampagnen die gleiche Funktion haben, dies gilt sowohl für Brand Building als auch für Call-to-Action“, sagt Susanne Wallraff, Managing Director Commercial Partnerships & Investment EMEA bei Publicis Media. „Für klassische Aussenwerbung gilt aber, dass sich zu einem bestimmten Zeitpunkt eine möglichst hohe Brutto-Reichweite erzielen lässt, während DOOH die potenzielle Zielgruppe an den relevanten Standorten und Touchpoints dynamischer und flexibler erreicht.“

Digitalisierung als Chance für klassische Medien Anders ausgedrückt: Die performanceorientierte Werbung feiert ein Comeback. Denn wenn die Etats gekürzt werden, weil die Umsätze zurückgehen, wird das verbliebene Geld weniger in Markenaufbau und Imagepflege investiert. Jetzt geht es darum, die Conversions zu steigern. Oder zumindest die Gewichtung im Marketing zugunsten des Abverkaufs zu verlagern. Plötzlich taucht eine Debatte wieder auf, die unter dem Claim „Brand versus Performance“ schon viele Podiumsdiskussionen belebte. Brand Marketing bedeutet, den Markenwert langfristig zu erhöhen, Vertrauen in die Marke zu steigern, das Unternehmen in den Vordergrund zu rücken. Performance Marketing meint hingegen: Volle Kraft auf Produkte und Dienstleistungen, kurzfristige Erhöhung der Conversions und damit der Umsätze. Dass sich dazwischen eine Lücke auftut, die im Fachjargon „Brand Gap“ genannt wird, ist bekannt. Sie beschreibt die Kluft, die angesichts der aktuellen Situation wieder größer wird: die Diskrepanz zwischen der festen Überzeugung der Marketeers, wie wichtig langfristiges Brand Building ist, und der gelebten Marketingpraxis, dass es jetzt vor allem um kurzfristige Sales Activation geht. Anerkannte Marketing-Professoren wie Byron Sharp vertreten die Theorie, dass man hier die richtige Balance finden muss. Seine These lautet, verkürzt dargestellt: Wer immer nur auf Abverkauf zielt, fischt auch immer im selben Teich. Eine Marke kann aber nur wachsen, wenn sie sowohl auf Reichweite als auch auf gezielte Aktivierung setzt. Durch die Digitalisierung tut sich hier für einige traditionelle Medien eine neue Chance auf. Das klassische Fernsehen versucht seine breit gestreuten Spots durch eine Ansprache über Adressable TV zu ergänzen. Ähnliche Anstrengungen unterneh-

OOH ist für schnellen Reichweitenaufbau zuständig Es kommt also darauf an, innerhalb eines Mediaplans, passend zu den Zielen, die analogen und digitalen Kanäle in die gewünschte Balance zu bringen. Generell übernehme OOH in einem Mediaplan die Aufgabe des schnellen Reichweiten-Aufbaus, meint Anja Jeremias, Geschäftsführerin pilot Hamburg. Gerade großformatige und hochwertige Werbeträger wie CLB oder Riesenposter könnten bei Image-Kampagnen einen wertvollen Beitrag im Mediamix leisten. „One to many“: Klassische Aussenwerbung sorgt schnell für hohe Reichweiten.

Umsätze in der Aussenwerbung

2015–2022 (Januar–Oktober)

Bruttoaufwendungen in Mio. €

268,49 1.374,14 1.322,00 438,26

1.364,01 410,38

1.342,96 562,06

1.387,72 570,97

1.219,97 707,01

1.361,50 708,03

1.306,96

2015 2016

OOH Analog DOOH Quelle: Nielsen Media Research., Stand: 15.11.2022 2017 2018 2019 2020 2021 2022

„DOOH – insbesondere programmatisch auf bestimmte Zielgruppen ausgespielt – ermöglicht dagegen eine ‚One-to-selected-many‘-Kommunikation und erhöht so die Sichtbarkeit und gleichzeitig die Zahl der Zielgruppenkontakte.“ Abhängig von Strategie, Botschaft und Mediamix können OOH und DOOH unterschiedliche, sich ergänzende oder sogar völlig neue Aufgaben übernehmen, bestätigt Diana Sukopp, CCO von DDB Germany. Für den Einsatz digitaler Screens in der Aussenwerbung sprechen ihrer Ansicht nach die Vielseitigkeit, die hohe Flexibilität, Reaktionsmöglichkeit in Echtzeit, die kontextuelle oder zeitlich relevante Aussteuerung der Botschaften und die Emotionalisierung durch Bewegtbild. Die traditionelle Aussenwerbung aber werde auch weiterhin ihre Stärken ausspielen können. „Am Ende entscheidet die konkrete Zielsetzung und natürlich auch die Kreation einer Kampagne, wie die beiden Medien im Medienmix zusammenspielen“, sagt Sascha Klein, Head of Digital Maggi, Thomy & Garden Gourmet bei Nestlé. „OOH ist klug geschaltet ein Medium, das funktioniert, um einen Claim, ein Statement oder die Haltung der Marke zu transportieren. DOOH kombiniert diese Attribute mit der Flexibilität und den Targeting Möglichkeiten eines digitalen Werbeträgers. Dementsprechend sind die Aufgaben im Mediamix ähnlich verteilt, OOH punktet in Sachen Abdeckung, DOOH verbucht Vorteile in der gezielten Ausspielung.“

Digitale Flächen für den „Moment of Truth“ Es gibt zahllose Kampagnen, die deshalb beides einsetzen: OOH und digitale Screens. Auch beim OOH-Wettbewerb PlakaDiva wurden immer wieder Arbeiten ausgezeichnet, die innerhalb ihres Mediamix klassische Flächen und Digital Out of Home nutzen, darunter die mit Gold ausgezeichnete Kampagne für die nachhaltigen Mehrwegbecher von reCup. „Out of Home eignet sich besonders gut für den großen Marken-Auftritt“, sagt Katja Brandt, DACH CEO von Mindshare. „Das Medium vereint hohe Reichweiten mit einer Vielfalt von kreativen Möglichkeiten, Marken im öffentlichen Raum emotional und aufmerksamkeitsstark zu inszenieren.“ Digital Out of Home wiederum verbinde die Kraft des Massenmediums mit moderner Datenintelligenz und gezieltem Targeting. Auch Christof Baron, Managing Director der Digitalagentur Nayoki, verweist auf die ganz besonderen Fähigkeiten von Digital Out of Home. Und darauf, wie stark die Performance digitaler Screens sein kann, wenn sie richtig eingesetzt werden. DOOH könne Aufgaben erfüllen, die statische Stellen einfach nicht leisten können, beispielsweise wenn sie Zielgruppen erreichen, die unmittelbar vor einem Einkauf stehen, also kurz vor dem „Final Moment of Truth". Baron: „Gerade, wenn es um Güter des täglichen Bedarfs geht, werden viele Kaufentscheidungen erst sehr spät und impulsiv getroffen. Dies ist meiner Meinung nach die wahre Stärke von DOOH: relevante Reichweite in den relevanten Zielgruppen zu erzielen, dann, wenn sie unmittelbar eine Wirkung entfalten kann.“ Die Anbieter bemühen sich deshalb intensiv, mit ihren digitalen Flächen möglichst nah an die Stelle der Kaufentscheidung zu rücken. Tankstellen wie Shell oder TotalEnergies werden gerade mit digitalen Screens ausgerüstet und vermarktet. Gleichzeitig dringt damit die Aussenwerbung auch an Orte vor, „One to selected many“: DOOH erhöht gezielt Sichtbarkeit und Zielgruppenkontakte. an denen sie sonst nicht präsent war. Aktuelles

Imagepflege: So genannte „Forced Perspectives“ heben digitale OOH-Markeninszenierungen auf ein neues Level. (Foto: invidis)

Beispiel hierfür ist die Kooperation des Cleantech-Unternehmens Numbat mit dem DOOH-Vermarkter Goldbach. Numbats Schnellladesäulen werden zunehmend auf den Parkplätzen von Supermärkten errichtet und sind mit 75-Zoll-Screens ausgestattet, womit sich für Werbungtreibende ein weiterer interessanter Touchpoint auftut. Im nächsten Jahr sollen es 600 Systeme mit jeweils zwei Screens sein. „Digital OOH stellt durch die umfangreichen Möglichkeiten der Datennutzung und programmatischen Ausspielung einen Paradigmenwechsel der OOH-Werbung dar“, sagt Andrea Tauber-Koch, Media Management bei der Commerzbank. „Hinzu kommt die höhere Flexibilität, die Vereinfachung der Werbemittellieferung und eine höhere Werbewirkung durch die Möglichkeit eines bewegten Bildes.“

DOOH: weiter hohe Wachstumsraten Der Trend zur Digitalisierung der Aussenwerbung fasziniert nicht nur die Werbungtreibenden, die damit Reichweitenaufbau, Imagepflege, aber auch Performance-Ziele erreichen können. Er versetzt auch die Aussenwerbeunternehmen in Bewegung, die sich bislang auf die Vermarktung von klassischen Flächen konzentriert haben. Der Fachverband Aussenwerbung (FAW) hat deshalb kürzlich Wolfgang Pfanzelt engagiert, der als Manager Digital Out of Home die Mitglieder beim Thema DOOH beraten und unterstützen soll. Pfanzelt berichtet von einem großen Interesse und rechnet damit, dass bereits im nächsten Jahr der ein oder andere mittelständische Außenwerber den Markt mit neuen digitalen Stelen bereichern werde (siehe Interview auf der nächsten Seite). Die Nachfrage der Werbungtreibenden und Agenturen steigt also, das Angebot digitaler Netze ebenfalls. Entsprechend optimistisch fallen die Prognosen für die Aussenwerbebranche aus. In ihrem German Entertainment & Media Outlook rechnen die Berater von PwC damit, dass der Aussenwerbemarkt bis 2026 um durchschnittlich 4,2 Prozent wachsen wird. OOH werde dann in Deutschland einen Gesamtumsatz von 1,4 Milliarden Euro erwirtschaften, wovon rund 900 Millionen mit physische Aussenwerbung erzielt werden, rund 500 Millionen mit digitaler. Die großen Wachstumsraten für die Gattung werden dabei von DOOH erzielt. Das sei darauf zurückzuführen, dass die Kunden sich mehr Flexibilität und kürzere Planungszeiten erwarten, schreiben die Studienautoren. Daneben werde der generelle Trend zu digitalen Kanälen auch zu einer verstärkten Nachfrage bei DOOH führen. Die digitale Aussenwerbung wird also weiter an Fahrt aufnehmen. Abschreiben sollte man die klassische Aussenwerbung deswegen noch

DOOH erschließt neue Touchpoints für Werbungtreibende.

lange nicht. Denn erstens werden die Stellen für den Reichweitenaufbau und das Branding benötigt, weshalb OOH auch immer wieder als das letzte große Massenmedium bezeichnet wird. Und dann sind die Flächen ein Ruhepol in einer flimmernden Werbewelt. Diana Sukopp: „Im Zeitalter der Informationsüberflutung ist die Simplifizierung einer konstanten, statischen Botschaft ein wohltuendes, auffälliges Highlight, von dem Inhalte und Kundenloyalität profitieren können.“

Interview mit Wolfgang Pfanzelt, Projektleiter DOOH beim FAW

Sie arbeiten jetzt seit rund 100 Tagen beim Fachverband als Manager DOOH. Wie sieht Ihre erste Zwischenbilanz aus? Pfanzelt: Meine Aufgabe besteht darin, das Thema DOOH innerhalb des FAW den Mitgliedern näher zu bringen und bei Fragen als Sparringspartner zu fungieren. Das beinhaltet Schulungen, Präsentationen, die Vermittlung von Hintergrundwissen, und hier kommen wir sehr gut voran. Es geht darum, das Thema DOOH als Ganzes verstehen. Denn wir haben heute den IDOOH und den FAW. Im IDOOH sind vornehmlich Unternehmen vertreten, die generisch DOOH machen und sich vor allem auf Indoor OOH konzentrieren. Im FAW wiederum kommen die meisten Mitglieder aus dem klassischen analogen Aussenwerbebereich und die hatten mit dem digitalen Thema bislang wenig am Hut, wenn wir Ströer und Wall einmal ausklammern.

Sind denn Indoor und Outdoor DOOH zwei so unterschiedliche Themen? Pfanzelt: Das ist so. Das fängt mit der rechtlichen Situation an, die in vielerlei Hinsicht unterschiedlich ist, beispielsweise bei Genehmigungen. Das geht weiter bei den Investments – draußen ist es wesentlich teurer, eine Fläche zu installieren als drinnen. Und schließlich gibt es unterschiedliche Studienansätze. Das Outdoor-Thema wird in der ma Out of Home behandelt, das Indoor Thema findet sich in der Public Private Screens-Studie wieder. Auch das gehört zu meinen Aufgaben: diese beiden Ansätze zusammenzuführen. Ziel muss es also sein, das Thema DOOH ganzheitlich zu betrachten und entsprechend im FAW zu verankern.

Soll das idealerweise auch in einer gemeinsamen Währung enden, wie es manche Werbungtreibende fordern? Pfanzelt: Auf jeden Fall, allerdings sind wir davon noch ein gutes Stück entfernt. Aus verschiedenen Gründen. Die Herangehensweise der beiden Seiten ist unterschiedlich und die Ziele der jeweiligen Marktpartner sind es auch. Es ist also ein technisches Thema, weil man die beiden Studiendesigns zusammenführen muss. Und es geht darum, die Interessen aller Beteiligten zu berücksichtigen. Manche fahren mit den beiden unterschiedlichen Währungen bislang ganz gut. Diese Hürden sind nicht unüberwindbar, aber es kann durchaus noch einige Zeit dauern.

Was ist eigentlich an DOOH für die kleineren klassischen Aussenwerber so interessant? Geht es für sie darum, ihr Geschäft auszubauen? Haben sie Bedenken, eines Tages ohne digitale Webeträger abgehängt zu werden? Pfanzelt: Die aktuellen Marktzahlen zeigen, dass es einen starken Trend zur Digitalisierung gibt. Mit dem Einzug von Programmatic in DOOH fließen auch neue Gelder in das Medium. Das ist eine große Chance, die man nicht vorüberziehen lassen sollte. Man kann sich also neue Geschäftsfelder erschließen. Es geht aber auch darum, bei der Vergabe der Städte von Werbeverträgen nicht ausgeschlossen zu werden. Denn die Städte vergeben immer öfter zwei Lose: eines für analoge Flächen und eines für digitale. Wenn ich keine digitalen Flächen anbieten kann, kann ich mich an der Ausschreibung auch nicht beteiligen. Es ist also wichtig sich weiterzuentwickeln, um konkurrenzfähig zu bleiben.

Müssen manche Unternehmen da ganz von vorne anfangen? Pfanzelt: Es geht manchmal um ganz grundlegende Fragen wie: Was brauche ich überhaupt, um digital werden zu können? Es ist ja nicht mit einem Screen getan. Ich brauche ein Content Management System (CMS), in das ich die Screens einbinde. Ich brauche eine Player-Technologie, vielleicht auch einen Content-Partner, wenn ich nicht nur Werbung zeigen möchte. Es ist bestimmt auch sinnvoll, von Anfang an „programmatic ready“ zu sein und das Ganze idealerweise mit einer SSP zu verbinden. Aber klar ist: Am Ende des Tages sind wir beim FAW immer nur Vermittler, die Entscheidungen muss das jeweilige Unternehmen fällen.

Hat ein Aussenwerber auch bei der Vermarktung Nachteile, wenn er digital nicht anbieten kann? Pfanzelt: Bestimmt. Als Kunde und Agentur kann ich natürlich eine programmatisch buchbare Fläche wesentlich gezielter für bestimmte Zielgruppen einsetzen. Ich kann den Werbedruck einer klassischen OOH-Kampagne über digitale Screens gezielt erhöhen. Ich schaffe einerseits eine hohe Reichweite über das klassische Plakat, andererseits kann ich meine Zielgruppe über digitale Flächen noch einmal ganz dezidiert ansteuern. Wenn man es clever macht, harmonieren OOH und DOOH sehr gut miteinander.

Wann werden die kleineren Aussenwerber digital aufrüsten? Pfanzelt: Die Unternehmen, die gut gewirtschaftet haben, werden im nächsten Jahr deutlich und mit hohem Druck in die Digitalisierung investieren und schon bald digitale Netze programmatisch anbieten. Wir werden massive Anstrengungen in dieser Richtung erleben.

Aus Science Fiction wird Realität

Futuristisch anmutende Fluggeräte und Fahrzeuge sind weltweit in der Erprobung, um die Mobilität von Menschen und Gütern zu reformieren.

Wir reisen in Kapseln, nutzen und teilen autonome Fahrzeuge oder steigen in ein elektrisches Air Taxi – die Mobilität der Zukunft ist vielseitig, nachhaltig und hoch effizient.

Bis zum Jahr 2050 werden laut UN-Prognose weltweit zwei Drittel der Bevölkerung in Städten leben, in Europa werden es sogar weit über 80 Prozent sein. Die jetzt schon vielerorts existierenden Probleme durch die drangvolle Enge vieler Menschen und Fahrzeuge auf begrenztem Raum werden sich dramatisch verschärfen. Ebenfalls bis zum Jahr 2050 soll Europa der erste klimaneutrale Kontinent sein, so sieht es der „European Green Deal“ der EU vor. Um die unaufhaltsame Verstädterung mit diesem Ziel in Einklang zu bringen, sind klimagerechte Konzepte zur Mobilität der Zukunft dringend gefragt. Denn nichts prägt den öffentlichen Raum mehr als die permanenten Bewegungen von Menschen und Gütern von Ort zu Ort. Smarte Systeme, die Verkehrsströme nach ausgeklügelten Algorithmen lenken, sind ein wesentlicher Teil der Lösung. Ein ebenso wichtiger Teil sind völlig andere Formen von Mobilität als die, die wir heute kennen, sowohl in urbanen Bereichen als auch für die Überbrückung von Distanzen zwischen Mobilitätszentren. Sie sollen den Verkehr grundlegend reformieren, die Umwelt entlasten und die Lebensqualität in den Städten erhöhen. Dazu gibt es zahlreiche Studien, revolutionär anmutende Ideen – und erste vorzeigbare Erfolge.

Hyperloop: Mit bis zu 850 km/h durch Vakuum-Röhren Zum Beispiel an der Technischen Universität München (TUM). Am 30. September dieses Jahres fand am Standort Ottobrunn/Taufkirchen der Spatenstich für die 24 Meter lange Teststrecke ihres „Hyperloop“Forschungsprogramms statt. Es ist europaweit der erste reale Grundstein einer neuartigen Form des Reisens zu Land in atemberaubendem Tempo: In einer annähernd luftleeren Röhre aus ultrahochfestem Beton werden Passagiere in einer Kapsel mit Magnetschwebetechnik befördert. Durch die Kombination von Vakuum und berührungslosem Antriebssystem lassen sich Luft- und Reibungswiderstand extrem reduzieren, wodurch ebenso extreme Geschwindigkeiten möglich sind. Das Prinzip geht auf eine 2013 veröffentlichte Idee des Tesla- und SpaceX-Gründers Elon Musk zurück. Von 2015 bis 2019 schrieb er dazu den internationalen „SpaceX Hyperloop Pod“-Wettbewerb aus, den das Team der TUM in allen vier Jahren für sich entscheiden konnte. Der von den Studenten entwickelte Prototyp erzielte zuletzt bereits eine Geschwindigkeit von 482 km/h. Doch das auf der studentischen Initiative fußende TUM Hyperloop-Programm, 2020 gegründet, hat weitaus ehrgeizigere Ziele und will bis Ende des Jahrzehnts eine Referenzstrecke über mehrere Stufen hinweg bauen, in der Passagiere mit circa 850 km/h unterwegs sein werden. „Aus Science Fiction wird Realität“, versprach der bayerische Ministerpräsident Markus Söder anlässlich des offiziellen Starts für den Bau der Teströhre. „Der Hyperloop ist die Vision einer völlig neuen und emissionsfreien Art der Fortbewegung.“ Mit dem Spatenstich tritt das Vorhaben in eine entscheidende nächste Phase, vom Modellmaßstab zur Realgröße. 3,5 Millionen Euro investiert der Freistaat Bayern im Rahmen seiner Hightech Agenda in das Testsegment in Ottobrunn, bei dem die Machbarkeit dieser Form des hyperschnellen Personentransports erforscht werden soll. Fragen betreffen unter anderem die Abdichtung der Röhre unter echten Bedingungen, die Sicherheit der

Passagiere im Vakuum der Röhre wie auch die Steuerung von Röhre und Kapsel. „TUM Hyperloop hat sich zum Ziel gesetzt die Technologie zu entwickeln, um den nachhaltigen Hochgeschwindigkeitsverkehr Wirklichkeit werden zu lassen“, so Projektleiter Gabriele Semino.

Hochgeschwindigkeitstechnologie im Containertransport Nicht nur für Menschen, sondern auch für Waren bietet der Hyperloop interessante Optionen. 2018 hat sich ein Joint Venture formiert, um den Güterverkehr am Hamburger Hafen mit Hilfe der Hochgeschwindigkeitstechnologie neu zu strukturieren. Indem man dadurch den Umschlagplatz für die Container an einen geeigneten Ort außerhalb der Stadt verlagert, erfährt der Bereich rund um den Hafen eine erhebliche Entlastung, zugunsten von Umwelt und Bevölkerung. Für den Weg zwischen Schiffskai und Hinterland werden die Container in die Kapseln verladen und mit 600 km/h durch die Vakuumröhren geschickt – ohne schädliche Emissionen, mit einem deutlich geringeren Energiebedarf und erheblichen Effizienzsteigerungen. Circa 4.100 Container zusätzlich könnten so pro Tag über das Terminal abgefertigt werden. Die Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) und die US-amerikanische Hyperloop Transportation Technologies (HTT) haben diese Übertragung des Hyperloop-Prinzips auf Cargo gemeinsam vorangetrieben. Ursprünglich sollte dazu bis zum Jahr 2021 im Containerterminal Altenwerder eine 100 Meter lange Teststrecke samt Übergabestation entstehen. Im September 2021 wurde allerdings bekannt, dass es zumindest in Hamburg lediglich bei einem virtuellen Modell bleiben wird – möglicherweise, weil das Hafengelände für die Installation eines geeigneten Röhrensystems nicht die nötigen räumlichen Voraussetzungen bietet. Jetzt werden alternative Standorte für den Bau und Betrieb von Teststrecken geprüft, in Europa, Asien und den USA.

Virgin Hyperloop vermeldet weltweit erste Passagiertestfahrt Während die technische Machbarkeit der Hyperloop-Technologie heute schon außer Frage steht, ist die Entstehung eines flächendeckenden Röhren-Systems in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland grundsätzlich schwer vorstellbar. Darüber hinaus dürfte auch die kommerziell tragfähige Anwendung eine große Herausforderung darstellen. In Hamburg beispielsweise wurden die Kosten für den Bau der Vakuum-Röhre mit einem Richtwert von 20 Millionen Euro pro Kilometer beziffert. Wohl auch deshalb bleibt die Zahl der Unternehmen überschaubar, die sich hier engagieren. Zu ihnen gehört Virgin Hyperloop/Hyperloop One mit Sitz in Los Angeles, das 2014 gegründet wurde; 2017 beteiligte sich der Milliardär und Unternehmer Sir Richard Branson. In den folgenden Jahren hat Virgin Hyperloop beeindruckende Meilensteine gelegt, darunter rund 400 unbemannte Testfahrten in der zehn Kilometer langen Röhre in Las Vegas (Nevada) und im November 2020 die weltweit erste Passagiertestfahrt. Technologievorstand Josh Giegel und Sara Luchian, Leiterin Passagierkomfort, absolvierten die firmeneigene „DevLoop“-Strecke in der Kapsel mit einer Geschwindigkeit von rund 170 km/h. Bis 2025 solle das System zertifiziert werden, ein kommerzieller Betrieb bis 2030 möglich sein, teilte Virgin Hyperloop dazu mit und stellte zugleich Reisegeschwindigkeiten von bis zu 1.200 km/h in Aussicht. Besucher der Weltausstellung „Expo 2020“ in Dubai konnten sich zwischen Oktober 2021 und März 2022 schon mit dem „Look & Feel“ der innovativen Fortbewegungsart vertraut machen und in einer

dort ausgestellten aufgeschnittenen Passagier-Kapsel Platz nehmen. Vo seinen Plänen für den Personentransport hat sich Virgin Hyperloop allerdings kurz darauf verabschiedet. Im Februar 2022 machte das Unternehmen seinen Strategiewechsel bekannt, es wird sich künftig auf den Transport von Fracht konzentrieren.

Autonome geteilte Mobilität ist eine der größten Stellschrauben Der Hyperloop, so futuristisch die Technologie noch scheinen mag, ist eine Ausprägung jener autonomen geteilten Mobilität, die das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) grundsätzlich als wichtigen Faktor für den Wandel der „Mobilitätskultur“ identifiziert hat. Seine 2019 veröffentliche Studie „AFKOS: Autonomes Fahren im Kontext der Stadt von morgen“ weist auf, dass dies „eine der größten Stellschrauben dafür ist, drängende gesellschaftliche sowie ökologische Probleme zu lösen“, betont Studienautor und Mobilitätsforscher Claudius Schaufler. Autonome geteilte Mobilität gewährleiste mehr Nachhaltigkeit und Lebensqualität in Städten und eröffne „gänzlich neue Möglichkeiten der Flächennutzung“. Am Beispiel einer deutschen Mittel- und Großstadt hat die AFKOSStudie erforscht, wie durch neue Mobilitätsformen Flächen für Stellplätze eingespart werden und dennoch ausreichend oder sogar noch mehr Fortbewegungsmöglichkeiten als bisher vorhanden sind. Unter anderem durch so genannte Mobilitäts-Hubs, die an zentralen Sammelpunkten Umsteigemöglichkeiten zu Angeboten wie Car-, Bike- und Rollersharing anbieten. Dass die Bevölkerung autonomer (und geteilter) Mobilität gegenüber sehr aufgeschlossen ist, hat Fraunhofer IAO in Zusammenarbeit mit dem Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) in einer weiteren Studie ermittelt, ebenfalls im Jahr 2019. Insgesamt etwa 2.400 Studienteilnehmer aus Deutschland, China und den USA wurden für die Erhebung der Nutzerperspektive zu den als „Robocabs“ bezeichneten automatisierten Verkehrsträgern befragt und die Ergebnisse im Hinblick auf die Akzeptanz unterschiedlicher Umsetzungskonzepte ausgewertet. Dabei hat sich vor allem der hohe Stellenwert klimafreundlicher Mobilitätslösungen bestätigt. „Die gesellschaftliche Akzeptanz ist heute weitgehend davon bestimmt, ob die neue Technik den Kriterien der Nachhaltigkeit entspricht“, sagt ISOE-Mobilitätsforscher Konrad Götz. Neben Umweltaspekten sehen die Befragten vor allem eine Erweiterung des Mobilitätsangebots, das Wegfallen der Parkplatzsuche, die größere Flexibilität sowie die permanente Verfügbarkeit als überzeugende Argumente für die Nutzung von Robocabs. Götz: „Da die autonomen Fahrzeuge sich flexibel an den Bedarf anpassen und gleichzeitig durch die Mitnahmemöglichkeit für eine optimale Fahrzeugauslastung sorgen, erwarten Nutzerinnen und Nutzer, dass der Verkehr dadurch optimiert und effizienter gestaltet wird.“

Citroën, Accor, JCDecaux – autonome Mobilität für alle Diese Studienergebnisse bieten eine Steilvorlage für „The Urban Collëctif“, den Zusammenschluss von Citroën, Accor und JCDecaux zu einer „kreativen Partnerschaft“ für autonomes Fahren in der Stadt. Das im September 2021 vorgestellte Konzept basiert auf einem OpenSource-Modell mit dem Namen „Citroën Autonomous Mobility Vision“, das gemeinsam genutzt wird. Es besteht aus einer Flotte elektrischer Mobilitätsplattformen („Citroën Skate“), die miteinander vernetzt sind und nonstop durch die Städte fahren; diese Plattformen werden mit Aufbauten („Pods“) für verschiedene Dienste und Anwendungen kombiniert. Beim Urban Collëctif sind die Pods auf die Bedürfnisse der derzeit beteiligten Partner abgestimmt. Die Hotelgruppe Accor bietet ihren Gästen mit den beiden Pods „Sofitel En Voyage“ und „Pullman Power Fitness“ eine Ausweitung des Hotelerlebnisses außerhalb ihrer luxuriösen Häuser, wahlweise als komfortable Kabine inklusive Bar und Fach für den Gepäcktransport oder als fahrendes Fitness-Gerät, zum Beispiel für Pendelzeiten. OOH-Weltmarktführer JCDecaux hat sich mit dem „JCDecaux City Provider“ für ein Pod mit Sightseeing-Charakter und begrünter Dachfläche entschieden – ein innovativer urbaner Mobilitätsdienst auf Abruf.

Geteilte autonome Mobilität trifft Multifunktionalität: Das Urban Collëctif kombiniert eine fahrende Plattform mit individuellen Aufbauten.

Mit dem eVTOL „Volocity“ zum Start und Landeplatz „Voloport“: Volocopter entwickelt Fluggeräte und Konzepte für Urban Air Mobility.

Das Citroën Skate verfügt über die gesamte Intelligenz und Technologie, die für voll-autonomes und rein-elektrisches Fahren erforderlich sind: Batterien, Elektromotor sowie Radar- und Lidarsensoren. Bei Bedarf kann es sich über Induktion automatisch an eigenen Ladestationen aufladen. Für eine optimierte Mobilität ist die Plattform in allen Stadtzentren auf speziellen Fahrspuren unterwegs; dank rundum beweglicher Räder kann sie in jede Richtung fahren, sich auf der Stelle drehen wie auch in Zwischenräume und Lücken vordringen. In weniger als zehn Sekunden lässt sich die Plattform unter einem Pod positionieren und bewegt es je nach Bedarf. „Wir glauben, dass dieses Konzept den Rahmen für die urbane Mobilität neu definieren kann: geteilt, elektrisch und autonom. Mit der Lösung, die wir in Partnerschaft mit Accor und JCDecaux vorstellen, erfinden wir die autonome Mobilität für alle“, so Citroën-CEO Vincent Cobée. Durch den Open Source-Ansatz ist das Skate kompatibel mit allen Pods, die von potenziellen weiteren Partnern entwickelt werden. Damit sind eine Vielzahl verschiedenster Anwendungen denkbar, für öffentliche und private Dienstleistungen von Städten, Behörden und Unternehmen, für den Einsatz als Food Truck ebenso wie für die Lieferung von Medikamenten oder für bedarfsgerechte Verkehrsangebote von Kommunen.

Entlastung des Stadtverkehrs durch Vertical Mobility Auf der Suche nach Wegen zu einer klimafreundlichen Mobilität lohnt es sich, auch einmal die Blickrichtung zu wechseln, von horizontal zu vertikal. „Urban Air Mobility“ (UAM), die Verlagerung eines Teils des Verkehrs von den Straßen in die Luft, kann nach Ansicht von Forschern ebenfalls ein wichtiger Baustein sein, um Städte zu entlasten und zugleich das menschliche Bedürfnis nach Mobilität zu befriedigen. Aktuelle Projekte dazu spielen sich vor allem in Asien ab. So hat die Volkswagen Group China im Juli dieses Jahres den Prototyp ihrer ersten elektrischen Vertical Take Off and Landing (eVOTL)-Passagierdrohne präsentiert. Das Flugggerät mit dem Namen V.MO soll einmal im Regelbetrieb vier Personen plus Gepäck über eine Distanz von 200 Kilometern transportieren können. Die Initiative der VW Group China zur vertikalen Mobilität wurde 2020 ins Leben gerufen mit dem Ziel, einen neuen Schlüsselmarkt im vollständig elektrischen Individualverkehr zu erschließen. Die Volocopter GmbH mit Sitz in Bruchsal beschäftigt sich bereits seit 2007 mit dieser Idee. Das Luftfahrtunternehmen entwickelt eine Reihe von elektrischen Fluggeräten für den Personenverkehr wie auch Lastendrohnen für Fracht. Neben den Fahr- bzw. Flugzeugen selbst hat Volocopter ein Konzept für die gesamte Infrastruktur von Flugtaxidiensten entworfen, darunter Software für Betrieb und Buchungen sowie Start- und Landeplätze („Voloports“) als Mobilitätsknotenpunkte in den Städten. Eine besondere Partnerschaft verbindet Volocopter dabei mit Singapur, wo im Oktober 2019 der erste bemannte Flug eines eVOTL-Fluggeräts in Asien stattfand. Dabei wurde auch der erste Prototyp eines VoloPorts vorgestellt. Vom Standort Singapur aus treibt Volocopter die Entwicklung von kommerzieller Urban Air Mobility im asiatischpazifischen Raum voran: Neben dem regulären Betrieb von Air Taxis in Singapur selbst gibt es Vereinbarungen über Kooperationen mit Partnern unter anderem in Malaysia, Südkorea, Japan und China.

Karin Winter

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