HELGA LAUTEN DIE MACHT DER SPRACHE
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DIE MACHT DER SPRACHE
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Helga Lauten
Die Macht der Sprache Vom Lesen im Buch der Grammatik
Editio n Wege Edition 3
DIE MACHT DER SPRACHE
© 2012, alcorde Verlag, Essen Layout: Wolfgang F. Stammler, Essen Gesetzt aus der Palatino 9,5/13pt Papier: 90 g/qm Munken cream 1,5 fach Einband: Wolfgang F. Stammler unter Verwendung eines Gemäldes von Gabriele Schulten, Essen Gesamtherstellung: Griebsch & Rochol, Hamm ISBN 978-3-939973-30-0
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INHALT
VORWORT
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I.
SPRACHE IM ZENTRUM ALLER BILDUNG
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II.
MENSCHWERDUNG DURCH SPRACHE
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1. Von der Menschen bildenden Kraft der Sprache
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2. Ouvertüre des Menschseins
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3. Das Ergreifen des Wortes im Gespräch
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III. AUSBILDUNG DES SPRACHBEWUSSTSEINS
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1. Ein Gefühl für die Grammatik der Sprache
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2. Ein Gefühl für die Schönheit der Sprache
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3. Ein Gefühl für die Macht der Sprache
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VOM SPRECHEN ZUM DENKEN
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1. Das dialektische Element – Grammatische Kategorien als Grundlage des Denkens
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IV.
2. Die Kategorienlehre des Aristoteles als Fundament der grammatischen Kategorien 3. Von der inneren Qualität der Kategorien
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4. Die Grammatik des Satzes und die grammatischen Kategorien im Unterricht 128 V.
VOM LESEN IM BUCH DER GRAMMATIK
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ANHANG
Anmerkungen Register
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DIE MACHT DER SPRACHE
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VORWORT
Sprache ist originäre Wesensäußerung des Menschen. Sie steht daher im Zentrum aller Bildung, selber bildbar und bildend in einem. Es ist das Anliegen dieses Buches, sprachliche Bildungsgesetze in den Anfängen der natürlichen Entwicklung des Menschen aufzusuchen und ihre spirituelle Substanz in der Sprachpädagogik fruchtbar zu machen. Dabei dient der Entwicklungsweg, den das Kind in den ersten Lebensjahren von der Bewegung in die Aufrechte über das Sprechenlernen zu ersten Ansätzen des Denkens geht, zur Orientierung für die Ausbildung des später heranreifenden Sprach- und Denkbewusstseins. In einer Zeit, in der die Zahl der sog. Postanalphabeten stetig zunimmt und in der die mündliche Sprache durch die veränderten soziokulturellen Bedingungen und den wachsenden Konsum elektronischer Medien von der Gefahr des Verstummens bedroht ist, mag es wie Vermessenheit anmuten, von einer Macht der Sprache zu reden; doch geht es hier um eine Macht, die unabhängig von jeglichem äußeren Herrschafts- oder Geltungsanspruch, unabhängig auch von jedem persönlichen Machtstreben ihre Wirksamkeit entfaltet. Es geht um die geistige Qualität des Sprechens selbst, die – in welcher Sprache auch immer – zwar naturgegeben in uns veranlagt ist, jedoch allein durch „ewig sich wiederholende Arbeit des Geistes“ (vgl. Anm. 2) ausgebildet werden kann. Diesen Prozess als einen Stufenweg zu schildern, der auf dem Boden der Waldorfpädagogik vom Sprachbewusstsein zum Bewusstsein im Denken führen will, ist das Ziel dieser Schrift. Als Bezugsfeld des sich Schritt um Schritt erhellenden Sprachbewusstseins erweist sich auf allen Lernstufen die Grammatik, deren innere Substanz immer neu ergründet werden will. 7
DIE MACHT DER SPRACHE
Die in der Waldorfpädagogik praktizierte „menschliche Systematik“ (vgl. Anm. 10) gewinnt ihre methodisch-didaktischen Prinzipien einzig durch die Orientierung an der jeweiligen Entwicklungssituation des Kindes und hat ihre Wurzeln in der Menschenkunde, welche aus der Geisteswissenschaft Rudolf Steiners hervorgegangen ist. Der Leser wird daher die Werke Rudolf Steiners häufig zitiert und erläutert finden, doch wendet sich die vorliegende Schrift voraussetzungslos an jeden Leser, dem die Förderung und Pflege der Sprache und des Denkens im Hinblick auf die heranwachsende Generation ein wesentliches Bedürfnis im Leben ist. Im Besonderen ist das Buch natürlich als Anregung für die Hand des Waldorflehrers gedacht. All denen, die das Entstehen des Buches mit Rat und Tat begleitet haben, sei an dieser Stelle mein herzlicher Dank für die mannigfaltigen Mühen gesagt, die sie dafür aufgewandt haben. Insbesondere gilt mein Dank Erika Dühnfort, die mich noch kurz vor ihrem Tod zur Ausarbeitung meines Ideenkonzeptes ermutigte, Regine Felger, deren sorgfältige Durcharbeitung und Korrektur des Textes eine große Hilfe war, Elisabeth Oberholz, die meinen Umgang mit Text und Schrift des Griechischen sicherte, Gabriele Schulten, die mit einfühlsamem Verständnis das Gemälde für den Einband gestaltete, und schließlich Wolfgang Stammler, der nach geduldigem Warten auf die Fertigstellung des Manuskriptes die Herausgabe des Buches in so förderlicher Zusammenarbeit ermöglichte.
Helga Lauten Essen, im Dezember 2011
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I . SPRACHE IM ZENTRUM ALLER BILDUNG
Wer wahrhaft spricht, 1 ist des ewigen Lebens voll.
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in hoher Anspruch liegt in diesen Worten des Dichters Novalis, und sie weisen auf ein erhabenes Ziel, das durch die unausgesetzte innere Kraftanstrengung „wahrhaften Sprechens“ erreicht werden will. „Wahrhaftes Sprechen“ ist Ausdruck unverbrüchlichen Verbundenseins mit dem Wahren, denn „wahr-haft“ heißt nichts anderes als „am Wahren haftend“; und solches Sprechen kann nur aus „ewig sich wiederholender Ar2 beit des Geistes“ (Wilhelm von Humboldt) hervorgehen, wenn es einen bleibenden geistigen Wert – Novalis nennt ihn „ewiges Leben“ – zeitigen soll. In diesem Sinne ist Sprechen nicht eine selbstverständliche Beigabe unseres Menschseins, sondern eine hohe Begabung, mit der wir ins Leben treten und deren Ausbildung unsere vornehmste Aufgabe und Verpflichtung sein muss. Wie weit wir heute oft hinter diesem Anspruch zurückbleiben und wie viel belangloses Gerede zuweilen unseren Alltag beherrscht, muss hier nicht näher ausgeführt werden. Denn es soll von der zentralen Bedeutung und Wirkensmacht die Rede sein, welche die Sprache in der Entwicklung und Bildung des Menschen, ja für das Menschsein überhaupt hat. Lässt sich dies doch schon an der Tatsache ablesen, dass sie uns befähigt, vieles von dem, was wir in der Welt wahrnehmen, erleben und denken, in Worten nachzuschaffen. Sie ermöglicht uns auch, uns mit unseren Mitmenschen zu verständigen. Ja, wir können Menschen durch liebevolle Worte innerlich aufrichten oder sie durch beleidigende Worte verletzen. Taten, welche Welt und Menschen verändern, können wir durch unsere Worte bewirken. Alexander Solschenizyn schildert zum Beispiel in seinem Werk „August 1914“3 die folgende Begebenheit, die sich zu Beginn des Ersten Weltkrieges abspielt: Ein kleiner Trupp russischer Reiter 9
DIE MACHT DER SPRACHE
trifft, angeführt von seinem Oberst, plötzlich in unmittelbarer Nähe der Front auf ein Auto, in dem eine ebenfalls kleine Gruppe deutscher Soldaten und deren General sitzen. Auf einer Anhöhe des sonst menschenleeren Geländes stehen sich nun in einer Entfernung von kaum zehn Schritten die Feinde gegenüber: Zunächst durchfuhr es sie alle kalt. […] Um Haaresbreite waren sie alle davon entfernt, dass es von alleine zu schießen und zu hauen begann, was ihrer aller Ende gewesen wäre. Doch die Kosaken warteten auf ein Kommando. Die Deutschen erst recht. […] Nachdem sie ohne Schuss den Augenblick der angewärmten Stille […] überdauert hatten, standen sie alle jetzt oberhalb des Todes. Der General […] zuckte mit dem Kopf […], indem er fröhlich vorwurfsvoll sagte: „Herr Oberst, ich hätte Sie gefangen nehmen sollen.“ Worotynzew […] erwiderte […] noch fröhlicher: „Nein, Exzellenz, das bin ich, der Sie gefangen nehmen soll!“ […] Der General machte den […] Einwand: „Sie sind ja auf unserem Boden.“ Doch Worotynzew konterte […]: „Diese Gegend ist in unserer Hand […] Herr General, entfernen Sie sich lieber.“ […] „Bitte Ihren Namen, Oberst.“ […] „Oberst Worotynzew.“ […] „Und ich bin General von François.“ „Pardon, Exzellenz, tut mir leid, aber ich muss mich beeilen!“ […] Noch ein Blick in die Generalsaugen […] „Leben Sie wohl, Exzellenz!“ […] Der General schwenkte […] drei Finger wie ein Flügelchen: „Adieu, adieu!“
Ein Leben rettender Wortwechsel!
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I . SPRACHE IM ZENTRUM ALLER BILDUNG
Doch können durch Worte nicht nur Veränderungen zum Guten bewirkt werden, sondern auch zu Niedergang und Zerstörung. Dies geschah zum Beispiel, als US-Präsident Harry S. Truman am 24. Juli 1945 folgenden Befehl an General Carl Spaatz – zu jener Zeit Kommandeur der Amerikanischen Strategischen Luftwaffe im Pazifik – erteilte: Die Sondergruppe 509 der 20. Luftflotte wird ihre erste Spezialbombe [die Atombombe], sowie das Wetter nach dem 3. August 1945 Bombardierung bei guter Sicht gestattet, auf eines der [folgenden] Ziele abwerfen: Hiroshima, Kokura, Niigata oder Nagasaki. […] Weitere Anweisungen folgen. […] Der Befehl ergeht an Sie auf Anweisung und mit Zustimmung des Kriegsministers 4 und des Generalstabchefs der amerikanischen Streitkräfte.
Damit wurden Wirkungen in Gang gesetzt, die außerordentliche Zerstörung und unsägliches Leid über die Menschheit brachten: Tausende von Menschen verloren ihr Leben, Abertausende ihr Land und ihre Heimat, und unsere ganze Erde erlitt durch die Bombenexplosionen Schädigungen, deren Folgen heute noch nicht absehbar sind. Unermessliche Wirkenskraft ist dem Menschen mit der Sprache gegeben, kann er doch, indem er die Welt sagt, diese nicht nur wahrnehmbar machen, sondern sie auch gestalten. „Sagen“ heißt ja auch ursprünglich „zeigen“, „erscheinen lassen“, „hervorbringen“. Der zentrale Stellenwert, welcher der Sprachkompetenz im Bereich des menschlichen Bildungsgutes zukommt, ist nun seit der PISA-Studie 2000 auch hinlänglich ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gerückt: Die Beherrschung der Muttersprache in Wort und Schrift und der reflektierte Umgang mit Sprache gehören […] zum Kernbestand kultureller und sprachlicher Literalität. […] Neben den basalen Lesefähigkeiten gehören dazu […] kognitive
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DIE MACHT DER SPRACHE
Grundfähigkeiten, Sprach-, Welt- und inhaltliches Vorwissen, strategische Kompetenz und vor allem auch motivationale Faktoren wie Werteorientierungen und Interessen, die dazu beitragen, dass in gegebenen Situationen die zur Verfügung 5 stehenden Ressourcen auch verwendet werden.
In Anbetracht der gegenwärtigen Bildungssituation, welche durch PISA 2000 erstmalig im Ländervergleich erfasst und bewertet wurde, ist es freilich an der Zeit, das Augenmerk intensiver denn je auf die grundlegende Bedeutung der menschlichen Sprache, ihrer Pflege und Förderung zu richten. Dass in Deutschland eine angemessene Sprachbeherrschung inzwischen in ihrer zentralen Bedeutung ernst genommen wird, ja, dass man in ihr die fundamentale Schlüsselqualifikation 6 überhaupt sieht , geht zum Beispiel aus der Tatsache hervor, dass Nordrhein-Westfalen als erstes Bundesland per Gesetz – in Analogie zu den im Jahre 2004 erstmalig in den Klassen 9 der Sekundarstufe I durchgeführten Lernstandserhebungen – im Herbst 2006 eine verbindliche Sprachstandserhebung für alle vierjährigen Kinder angeordnet hat; sie ist im Jahre 2007 erstmalig durchgeführt worden; und das mit der Intention, etwa feststellbare Entwicklungsrückstände rechtzeitig und dem individuellen Bedarf entsprechend systematisch durch gezielte Sprachfördermaßnahmen aufzuheben. Bei diesen Maßnahmen handelt es sich erst einmal darum, sicherzustellen, dass in Zukunft für alle Kinder in unserem Lande ein verlässliches sprachliches Grundpotenzial als Ausgangsbasis aller weiteren Bildung gewährleistet sein soll. Dies mag in begrenztem Rahmen zumindest als Chance, wenn auch nicht als Garantie für angestrebte Lern- und Bildungserfolge angesehen werden. Geht es doch zunächst nur um die Bewertung der deutschsprachigen Kompetenz, nicht aber grundsätzlich um die Feststellung von altersgemäß angemessenen muttersprachlichen Fähigkeiten (besonders auch nicht bei Kindern mit Migrationshintergrund). Eine solche Sprachstandserhebung wäre allerdings ausschlaggebend für die qualitative Einschätzung eines 12
I . SPRACHE IM ZENTRUM ALLER BILDUNG
individuellen Sprachpotenzials, das ja als eigentlich entscheidende Basis für die gesamte kognitive Entwicklung des Menschen gelten muss. Darüber hinaus bleibt jedoch die Frage, ob die Festlegung von Bildungsstandards im Hinblick auf die individuelle Qualität menschlicher Sprachkompetenz wirklich zu adäquaten und gerechten Wertungen führen kann. Entsprechende Standards, die ja längst in die Kernlehrpläne der Schulen zur Sicherung von sog. Kernkompetenzen Eingang gefunden haben, werden zu Recht ständig überprüft und weiterentwickelt. Dies ist zum Beispiel die Aufgabe des 2006 gegründeten „Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen“ (IQB). Bemerkenswert ist immerhin die Tatsache, dass übereinstimmend auf der Ebene der Kultusministerkonferenz, der Instanz also, welche die geltenden Bildungsstandards beschließt, Sprachkompetenz als verbindliches Fundament jeglicher Bil7 dung vorausgesetzt wird. Neu ist dieser Ansatz eines Bildungskonzeptes zwar nicht, doch war er offensichtlich lange nicht mehr beachtet worden. Der mittelalterliche Bildungskanon der Sieben Freien Künste hatte ihn noch. Hier waren die Sprachkünste von Grammatik, der Kunst des richtigen Sprechens, Rhetorik, der Kunst des schönen Sprechens, und Dialektik, der Kunst der Argumentation, im Grundstudium, dem Trivium (Dreiweg) als unabdingbares Bildungsfundament verankert. Erst das weiterführende Studium der im Quadrivium (Vierweg) zusammengefassten Künste enthielt das Wissensspektrum der damaligen Zeit im engeren Sinne: Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. Dieser Bildungskanon war nicht allein auf Wissensvermittlung angelegt, sondern auf lebendiges Können, und er diente – wie bereits Honorius Augustinensis (1090 – ca. Mitte 12. Jh.) darstellt – „dem Streben der Seele“ nach der Weisheit, der „Heimat des inneren Menschen“8 oder – nach Alanus ab Insulis, dem großen Lehrer der Schule von Chartres – der „himmlischen Erschaffung 9 des Neuen Menschen“. In heutiger Terminologie: Das Studium 13
DIE MACHT DER SPRACHE
der Sieben Freien Künste wurde vor allem als ein innerer Weg verstanden, der den Menschen zu geistiger Höherentwicklung führen sollte. Was in diesem Sinne das Trivium der drei Sprachkünste betrifft, so beschreibt Alanus den Dienst, welchen die Grammatik zu leisten hat, mit den Worten „[Sie] decket die Tafel dem Geiste“9a. Sie stellt also sprachliche Ordnungen bereit, rückt sie ins Bewusstsein des Menschen. Rhetorik, die „Malkunst der 9b Worte“ , bringt ihrerseits neue Ordnungen in Form einer künstlerischen Gestaltung hervor, über die der Mensch einen tieferen, in seinem Gefühl verankerten Zugang zur Sprache finden kann. Von der Kunst der Dialektik schließlich sagt Alanus, dass sie „als Weg und Pforte und Schlüssel […] uns das Geheimnis der 9c Weisheit weiset, öffnet, erschließet“ , wenn sich der Mensch diese Kunst zu eigen macht und damit dem eigenen Denken ein Ziel steckt. An ein solches Bildungsverständnis knüpfte Rudolf Steiner mit dem Lehrplan für den Sprachunterricht der Waldorfschule an. Dieser Lehrplan ist ganz an einer „menschlichen Systematik“10 orientiert, an einer Didaktik also, die – in radikalem Gegensatz zur wissenschaftlichen Systematik – nicht nur die Denkkräfte beansprucht, sondern den ganzen Menschen. Eine entsprechende Didaktik muss infolgedessen an den Entwicklungsstufen des heranwachsenden Menschen abgelesen werden, um dessen geistige, seelische und physische Kompetenzen in ihrer gegenseitigen Bedingtheit altersstufengerecht herausfordern und weiterbilden zu können. So müssen wir wissen, dass, wenn wir mit dem Seelisch-Geistigen an das Kind herantreten, wir seinen ganzen Leib behandeln. Wir sind ja gerade diejenigen, die mit ärztlicher Klugheit pflegen das Körperlich-Leibliche des Kindes, wenn wir dieses oder jenes im Satzbau, in der Behandlung der Farben, in der Behandlung des Tones, in der Behandlung dieses oder jenes Gegenstandes tun. Wir üben ja Einfluss aus auf das ganze Physi-
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I . SPRACHE IM ZENTRUM ALLER BILDUNG
sche; denn im Physischen ist der Geist, und wir wirken auf diesen Geist, nicht nur auf den Geist, der bloß unmittelbar im 11 Gehirn seinen Sitz hat. Und da ist es gut, sich etwas zu erinnern an Zeiten, in denen man […] so unterrichtet hat […], dass nicht an den Kopf appelliert wird, sondern an den ganzen Menschen. Man braucht sich nur an jene mittelalterliche Trainierung erinnern: Grammatik, Rhetorik, Dialektik, wo es nicht darauf ankam, das oder jenes beizubringen, sondern das Kind dazu zu bringen, dass es sich ausdrücken kann in einem Satz, der grammatikalisch richtig ist. Man hat da nicht Grammatik gelehrt, sondern dem Kinde die Möglichkeit geboten, so bildhaft zu denken, dass seine Sätze bildhaften Charakter haben. Dann […] Rhetorik: das Kind sollte sich gewöhnen, die Schönheit des Wortes in seiner Gestaltung zu empfinden; Dialektik: das Kind sollte sich gewöhnen, den Gedanken in sich freizukriegen.12
Es finden sich also im Bildungskonzept der Waldorfschule die drei Sprachkünste des mittelalterlichen Triviums wieder – jetzt gleichsam als Stufenleiter, über die der junge Mensch an der Sprache und mit der Sprache zum Selbstbewusstsein und zur Verantwortung für sein Sprechen aufsteigen soll. In unseren Betrachtungen soll das Augenmerk im Wesentlichen auf den Dreischritt Grammatik, Rhetorik und Dialektik gelenkt und gezeigt werden, dass das wachsende Verständnis von grammatischen Strukturen einen Weg zu folgerichtigem, umsichtigem und lebendigem Denken eröffnen kann. Dass das Denken sich heute im Reifealter des jungen Menschen nicht ohne weiteres von selbst ereignet, ja dass die Fähigkeit, folgerichtig zu argumentieren und sich entsprechend differenziert und angemessen auszudrücken, eher abzunehmen scheint, ist allenthalben zu beobachten. Ein zunehmender Unwille zu eigener Denkanstrengung geht bei den Jugendlichen oft damit einher und im Zusammenhang damit eine gewisse Neigung zur Unverbindlichkeit im Umgang mit Gedanken und Worten. 15
DIE MACHT DER SPRACHE
Haben sich doch undurchdachte und daher unverbindliche und nichtssagende Floskeln längst auch in der Alltagssprache erwachsener Menschen etabliert. Auf Schritt und Tritt begegnen wir beziehungslosen Aussagen wie einem zur Überbrückung eines peinlichen Schweigens dahergeredeten „Tja, so ist das“ oder statt einer Antwort auf eine unangenehme oder schwer zu beantwortende Frage „Das ist eine gute Frage“. „Was sein muss, muss sein“ hört man zuweilen im Tone der Beruhigung; oder am späten Abend eines anstrengenden Arbeitstages, „Schönen Abend noch“. Alles sinnlose, hohle Worte, die ohne innere Beteiligung und ohne Interesse am Menschen hingesagt sind. Umso mehr muss es denen, die in der Verantwortung für eine zukunftstragende Erziehung junger Menschen stehen, oberstes Anliegen sein, die geistige Quellkraft der Sprache als Zentrum aller Bildung zu würdigen und zu pflegen.
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II . MENSCHWERDUNG DURCH SPRACHE
1. Von der Menschen bildenden Kraft der Sprache
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in Blick auf die Anfänge des kindlichen Daseins zeigt, dass Sprache den Menschen lange schon – von außen – bildet, ehe sie als individuelle Fähigkeit des Heranwachsenden in Erscheinung tritt; dies zeigt sich schon an der bekannten Tatsache, dass das werdende Menschenkind bereits im Embryonalstadium Sprache „hören“, ja diese sogar nach Stimmen unterscheiden und besonders die Stimme der Mutter wahrnehmen kann. Das Kind im Mutterleib versteht natürlich nicht den semantischen Sprachgehalt, aber es nimmt genau den Rhythmus, die Melodie, die Harmonie in der Mutterstimme wahr. In Verbindung mit seinen anderen Sinnen erfährt es synästhetisch, wie 13 es der Mutter geht.
Auch reagiert das Neugeborene schon unmittelbar nach der Geburt deutlicher auf menschliche Stimmen als auf andere Laute und Geräusche (zum Beispiel durch kräftigere Saugbewegungen beim Trinken); schon wenige Tage nach der Geburt erkennt es die Stimme seiner Mutter, auch wenn es die Mutter selbst nicht sieht, und kann im Alter von etwa zwei Monaten überhaupt bekannte und unbekannte Stimmen unterscheiden.14 Auch wenn das, was in diesen frühen Entwicklungsstadien vom Kinde gehört oder „verstanden“ wird, noch nicht der Inhalt des Gesprochenen ist, so ist es doch das, was auch späterhin allem inhaltlichen Sprachverstehen vorangeht: die den Worten innewohnende seelische Geste oder Haltung des Sprechenden.15 Erfassen wir doch auch als Erwachsene schon aus einem nur von ferne ertönenden Sprachklang, ob dieser aus innerer Zuwendung, aus Schmerz, aus Not oder womöglich aus drohender Aggression an unser Ohr dringt. Intime Nuancen seelischer Gestimmtheit sind es, die durch den Sprachklang einer mensch17
DIE MACHT DER SPRACHE
lichen Stimme wirken, ehe dem Zuhörenden Inhalt und Form des Gesprochenen verständlich werden. Wir wissen heute auch, dass ein Zuhörender mit dem ganzen Körper auf feine Bewegungen „antwortet“, die ein Sprecher unbewusst beim Sprechakt vollführt, ohne dass diese Bewegungen vom bloßen Auge eines anderen Menschen überhaupt wahrgenommen werden könnten.16 Es ist der besondere Zauber der durchseelten Menschensprache, welcher schon beim kleinen Kinde physische und seelische Regungen hervorzulocken imstande ist. Es ist diese Kraft, welche das Menschenkind in die Aufrechte erhebt und dessen eigene Sprechfähigkeit wie auch seine geistige Kompetenz durch die ihr immanente Geisteskraft heranbildet. Dies ist eine auch durch Negativbeispiele hinreichend belegte Tatsache. Denken wir nur 17 an das bekannte Experiment Friedrichs II. , welches der Chronist Salimbene de Adam (*1221) schildert und zugleich deutlich macht, dass Kinder nicht nur nicht sprechen lernen, wenn nicht Menschen mit ihnen reden, sondern dass sie ohne Sprache und die damit verbundene seelische Zuwendung nicht einmal lebensfähig sind. Darüber hinaus hat in jüngster Zeit P. J. Blumenthal ausführlich dokumentiert, dass Menschenkinder, die von klein an unter Tieren (Wölfen, Bären, Affen und anderen) aufwachsen, ihre Menschenfähigkeiten (unter anderem aufrechten Gang, Sprechen und Denken) verlieren und sich dem Verhalten der Tiere anpassen, der Mensch also „in seinem Menschsein verküm18 mert“ , wenn nicht Menschen mit ihm sprechen. So beschrieb zum Beispiel der junge Psychologe Winthrop Niles Kellogg im Februar 1931 ein Experiment, mit dem er nachweisen wollte, dass das Tier menschliches Verhalten lernen könne, wenn diesem dazu gleiche Chancen gegeben würden wie dem Menschen. Doch zeigte ihm dieses Experiment – anders als erwartet –, dass dabei nicht das Tier zum Menschen, sondern eher der Mensch zum Tier wurde:
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II. MENSCHWERDUNG DURCH SPRACHE
Am 26. Juni 1931 zog das 7½ Monate alte Schimpansenweibchen Gua, eine Leihgabe der Anthropoid Experiment Station der Yale Universität in Orange Park, Florida, zu der Familie Kellogg. Die Kelloggs hatten einen Sohn, Donald, damals zehn Monate alt. Gua und Donald sollten ohne Unterschied als Geschwisterpaar erzogen werden. Die beiden nahmen ihre Mahlzeiten im Hochstuhl ein, lernten mit dem Löffel umzugehen, badeten, schliefen beide in Schlafanzügen in Kinderbettchen. Nach den damals gültigen Erziehungsmethoden wurden auch beide auf den Topf gesetzt, um Sauberkeit zu lernen. Der Affe meisterte diese Aufgabe allerdings schneller als das Menschenkind. Auch in der Handhabung des Löffels war das Tier geschickter. Gua musste auch Schuhe tragen und lernte, aufrecht zu gehen. Zunächst war dies für den Schimpansen ein wahrer Balanceakt, den er nur mit aufgerichteten Armen bewältigen konnte. Später lief Gua sicher über Gehsteige und Wiesen, die Arme entspannt in die Seiten gestemmt. Allerdings verlernte das Tier durch das Tragen von Schuhen die den Affen eigene Fähigkeit, mit den Füßen zu greifen. Unterdessen führte Kellogg ausführliche Experimente und Messungen durch, um die Fähigkeiten des Kindes und des Affen so objektiv wie möglich zu vergleichen. In vieler Hinsicht – vor allem im körperlichen Bereich – machte Gua viel schneller Fortschritte als Donald. Gua sprang und kletterte waghalsig durch die Gegend und wurde zum Vorbild für Donald, der zum Beispiel vom Affen das Klettern lernte. Dr. Kellogg stellte fest, dass Donald dank dem Affen anderen Menschenkindern seines Alters im Klettern weit voraus war. Gua pflegte einen lebhaften Umgang mit den Gegenständen des Kellogg-Hauses. Sie warf die Sofakissen auf den Boden und sprang auf sie. Dann patschte sie mit den Händen. Donald schaute zunächst zu. Dann machte er ihr das nach. In vieler Hinsicht begriff Gua die Welt schneller als Donald. Kellogg befestigte einen Keks an einer Schnur, die von der Wohnzimmerdecke hing. Gua rückte einen Stuhl unter den baumelnden Keks, um hinaufzuklettern
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DIE MACHT DER SPRACHE
und den Preis zu schnappen. Donald kam von allein nicht auf die Idee. Auch andere räumliche Aufgaben löste Gua im Vergleich zu Donald mühelos. Nur in einem Bereich war Donald unschlagbar: im Nachahmen. Nein, nicht der Affe ist der Meister im „Nachäffen“, sondern der Mensch. Mit vierzehn Monaten lernte der nachäffende Donald von Gua eine Art Bellen, um Hunger kundzutun. Immer häufiger krabbelte er auf allen vieren durch die Gegend, machte Gebrauch von seinem Mund, um Gegenstände zu tragen und leckte Essensreste vom Boden. Mit achtzehn Monaten begann Donald, seine Schuhe zu benagen. Der Mensch war dabei, peu à peu zu vertieren. Allmählich setzte die Sprachentwicklung bei ihm aus. Mit neunzehn Monaten konnte er sechs Wörter sagen. Normal für dieses Alter sind etwa fünfzig. Dafür verfügte er allerdings über eine Reihe von Grunz-, Schrei- und Belllauten, die er von Gua übernommen hatte. Dem Wissenschaftler Kellogg war nicht entgangen, was für eine Rolle die Nachahmungsfähigkeit im Überleben von wilden Kindern spielte. Nach neun Monaten brach Kellogg sein kühnes Experiment ab. […] Nach Auskunft der Psychologin Judith Harris beherrschte Donald Kellogg übrigens später sehr wohl die Menschensprache und promovierte schließlich zum Doktor der Medizin an der Harvard Medical School. Über das Schicksal Guas ist leider nichts Näheres bekannt.19
Vorbild für das Menschsein und damit für das Erlernen der Menschensprache kann eben doch einzig und allein der Mensch selber sein.
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II. MENSCHWERDUNG DURCH SPRACHE
2. Ouvertüre des Menschseins Wie in einer mächtigen Ouvertüre zum Menschsein entfaltet das Kind in den ersten drei Jahren seines Lebens die Fähigkeiten des Aufrechtstehens und -gehens, des Sprechens und des Denkens, welche in subtiler Weise miteinander korrespondieren und sich gegenseitig bedingen. Wenn auch in jedem dieser ersten Lebensjahre nacheinander jeweils eine der drei Grundfähigkeiten einen gewissen Vollkommenheitsgrad erreicht und sinnenfällig in den Vordergrund tritt, so entwickeln sich diese Fähigkeiten doch von Anfang an in einem ganzheitlichen Prozess, dessen Herzstück das Sprechen ist; denn Bewegung geht dem Sprechen voran, und dieses wiederum bringt das Denken zur Erscheinung. Ist mit der Befreiung der Motorik und dem Erlernen des aufrechten Ganges im ersten Lebensjahr des Kindes zunächst das Organ der Bewegungsfähigkeit, das so genannte pyramidale 20 System herangereift, so ist damit ein entscheidender Entwicklungsschritt geleistet, den Heinz Krombholz so schildert: Im Laufe des ersten Lebensjahres gelingt es […] dem Kind analog zur Reifung des Zentralnervensystems zunehmend besser, seine Bewegungen bewusst zu steuern. […] Das Zusammenspiel der einzelnen Bewegungen wird […] zunehmend aufeinander abgestimmt. Dieses sogenannte Koordinationsvermögen verbessert sich im ersten Lebensjahr und in der frü21 hen Kindheit entscheidend.
„Aus Bewegung kommt alles, was Sprache ausmacht.“22 Diese Tatsache wird zum Beispiel in eindrucksvoller Weise anschaubar in den sichtbar gemachten Luftlautformen oder Luftbewegungen, welche durch die beim Sprechen geformten Laute entstehen, wie sie Johanna Zinke untersucht und dargestellt hat. Doch kennen wir auch aus eigener Erfahrung das Phänomen, dass jedem eigenen Sprechen innere Bewegungen vorausgehen und es begleiten. Dies wird manchmal gerade dann sichtbar, wenn wir nach Worten ringen, um etwas ausdrücken zu können. In solchen Momenten ersetzen wir oft durch suchende Mimik 21
DIE MACHT DER SPRACHE
und Gestik das Sprechen, bis wir die Worte finden. Nicht umsonst gehörte daher die bewusste Schulung von Mimik und Ges23 tik schon in der Antike zur Ausbildung des guten Rhetors. Von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung des Sprechens selbst ist jedoch die Bewegung des Kindes in die Aufrechte. Denn durch die Fähigkeit des aufrechten Gehens wird die Blickrichtung der Augen eine andere als beim vierbeinigen Gang, und damit ist eine andere Art der Wahrnehmung gegeben: das „orthoskopische Sehen“, welches die „Vielheit der Wahrnehmungsachsen“ ausmacht, „die dem Menschen allein eig24 net“. Eine spezifisch menschliche Perspektive ist also dadurch gewonnen; und diese hat wesentlichen Einfluss auf die Bildung des „Wahrnehmungsorgans“ für die Worte der Mitmenschen, wodurch in der Folge der Impuls entsteht, auch selber sprechend tätig zu werden. Während dies im Wesentlichen durch Nachahmung des Gehörten geschieht, wird durch die Übung der Sprechtätigkeit das im Kehlkopfsystem, dem Sprach-Organ, kon25 zentrierte „Miniaturmuskelsystem“ , ein Bewegungssystem im kleinen also, aktiviert, sodass sich dadurch die Motorik des Sprechens entfalten kann. Rudolf Steiner stellt diesen Prozess, wie folgt, dar: Das, was geschieht, wenn der Mensch selber spricht, umfasst einen viel kleineren Teil des […] Bewegungsorganismus. Das heißt […], der ganze Bewegungsorganismus ist Sprachsinn zugleich. Ein Teil ist herausgehoben und wird in Bewegung versetzt durch die Seele, wenn wir sprechen. […] Und dieser herausgegriffene Teil des Bewegungsorganismus, der hat eben sein hauptsächliches Organ im Kehlkopf, und das Sprechen ist Erregung der Bewegungen im Kehlkopf durch die Impulse des Willens, während unser gesamter Bewegungsorganismus Sinnesorganismus ist für die Wortewahrnehmung. Nur dass wir diesen Bewegungsorganismus, indem wir Worte wahrneh26 men, in Ruhe halten.
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II. MENSCHWERDUNG DURCH SPRACHE
Sprachwahrnehmung und Sprechtätigkeit haben also beide ihre physiologische Grundlage im Bewegungsorganismus; nur mit dem Unterschied, dass der große Komplex des gesamten Bewegungsorganismus zugleich auch Organ der Sprachwahrnehmung wird, während der im Kehlkopf bewegte kleine Teil dieses 27 Organismus die Tätigkeit des Sprechens selbst ermöglicht. Die zunehmend bewusste Steuerung der Bewegungen bedeutet ja, dass der Bewegungsorganismus schließlich vollständig beherrschbar wird, und zwar in allen Nuancen zwischen intensiver und gänzlich zurückgenommener Bewegung. Heißt das nicht auch, dass einem Menschen, der äußere Bewegungen absichtlich zurückhält und nicht ausführt, gerade deshalb die innere Kraft zur Bewegung als solche erhalten bleibt? Mehr noch, dass äußerlich zurückgehaltene Bewegung nunmehr als inneres Potenzial zur Verfügung steht? Was ermöglicht uns das InRuhe-Halten der eigenen Bewegung? Kennen wir es nicht aus der täglichen Lebenserfahrung, dass jedes Hinhören auf den anderen Menschen die Zurücknahme der eigenen Bewegungen voraussetzt? Von daher leuchtet es ein, dass Rudolf Steiner den gesamten ausgereiften Bewegungsorganismus zugleich als Organ des Wortsinnes, der Wortwahrnehmung bezeichnet, das physiologisch dadurch in Funktion treten kann, „dass wir den Bewegungsorganismus, indem wir Worte wahrnehmen, in Ruhe halten. Gerade dadurch, dass wir ihn in Ruhe halten, […] nehmen wir die Worte wahr und verstehen die Worte.“28 Überhaupt umfasst ja die Fähigkeit, Bewegungen absichtlich anzuhalten, sie „in Ruhe“ zu halten und damit Wahrnehmung zu ermöglichen, auch späterhin jede bewusste Wahrnehmung, und der innere Zusammenhang zwischen Bewegung und Sprechen bleibt im ganzen weiteren Leben des Menschen von Bedeutung. Die Bewegung in der Aufrechten erweist sich darüber hinaus auch als eine seelisch-geistige Qualität des Menschen, ohne die kein Sprechen und auch kein Denken möglich wäre. Erhebt sich doch der Mensch in der Aufrechten über alle Naturreiche hinaus 23
DIE MACHT DER SPRACHE
in eine Gleichgewichtslage, die ihn von der Gebundenheit an die Erdenschwere befreit und ihm durch die nunmehr freie Beweglichkeit die eigene Orientierung im Raume ermöglicht. Damit gewinnt er zugleich den nötigen Abstand, durch den er der Welt jetzt als „selbst-ständig“ gewordenes Einzelwesen gegenübertreten kann. Diesem äußeren „Aufrecht-in-die-Höhe-Gerichtetsein“, dem „Selbst-ständig-Sein“ entspricht das innere „Aufrichtig-Sein“, „Einstehen-Können“ für das, was man tut. Und in der Tat geht es ja bei aller Sprachentwicklung und Spracherziehung darum, dass der Sprechende mit zunehmendem Bewusstsein auch zunehmend Verantwortung für das gesprochene Wort empfinden lernt, dass er lernt, seine Worte sprachlich stimmig, menschlich angemessen und sachlich wahr zu gebrauchen, also in jeder Hinsicht für das einzustehen, für das gerade zu stehen, was Inhalt und Form des Gesagten enthalten. Die Sprache aber bleibt auch im weiteren Leben des Menschen in der von innen her geleisteten Bewegung zur Aufrechten begründet. In der weiteren Entwicklung des Kindes schafft die Fähigkeit des Sprechens, die durch die Aufrichtekraft ermöglicht wird, nun ihrerseits die Voraussetzung für die Entwicklung des Denk-Sinnes, aufgrund dessen sich schließlich die Denk-Tätigkeit herausbilden kann. Karl König weist darauf hin, dass auch hierfür physiologische Grundlagen gegeben sind, indem aufgrund der Durchdringung des Kehlkopfes mit feinen Verästelungen des vegetativen Nervensystems das Sprach-Organ des 29 Kehlkopfes mit dem Gehirn, dem Denk-Organ verbunden ist. Dieser physiologischen Verbindung entspricht auf geistiger Ebene, dass im Sinne von Wilhelm von Humboldt das Sprechen 30 geradezu zum „bildenden Organ der Gedanken“ wird. Denn indem wir sprechen, bilden und entwickeln wir auch Gedanken. Durch dieses „Organ“, das gegen Ende des zweiten Lebensjahres in Aktion tritt, lernt das Kind allmählich die Gedanken seiner Mitmenschen verstehen. Wenn dann etwa im dritten und vierten Lebensjahr die Sprache des Kindes sich langsam zu grammatikalisieren beginnt, 24
II. MENSCHWERDUNG DURCH SPRACHE
das heißt, wenn sich der Wortgebrauch allmählich den Flexionsformen von Deklination, Konjugation oder Komparation anzupassen beginnt, so gewinnt das Kind im Zusammenhang damit auch in ersten Ansätzen die Möglichkeit zum Gebrauch selbst komplizierterer Satzgefüge. Ein Ausdruck dafür, dass es nun auch eigenständig Zusammenhänge zu erfassen und entsprechend zu sagen vermag. Vorerst bleibt allerdings das eigene Denken des Kindes ein mehr anschauliches, vorlogisches und benötigt noch längere Zeit, bis es voll in Erscheinung tritt. Auch das mit dem Erreichen des Schulalters herangereifte erste Denken bedarf zunächst noch der Einbettung in die Gesamtheit des Seelengefüges, wo es im Gefühl, in der Fantasie-, in Lern- und Gedächtnistätigkeit des Kindes arbeitet und sich als bildhaftes Denken in lebendigen und konkreten Vorstellungen entfaltet. Mit dem Hervortreten des Denkens im dritten Lebensjahr aber geht eine Emanzipation der eigenen Person von der Umwelt vonstatten: Ein erster Schritt des Kindes zum Bewusstsein seiner selbst wird getan. Inzwischen hat es auch Ich zu sich selbst sagen gelernt. Heinz Remplein beschreibt dieses Phänomen als das „Erwachen des Ichbewusstseins“: Bisher besaß das Kind noch kein Ich als Wirkens- und Erlebniszentrum. Wohl spielte es schon im ersten Jahr mit den Gliedern seines Leibes, sah seinen Leib und ward der Zustände seines Leibes in leiblichen Gefühlen inne; aber es erlebte sich noch nicht als den […] „Besitzer“ seines Leibes und einheitlichen Träger seiner Seelenregungen, d. h. noch nicht als Ich. […] es war noch so völlig eingebettet in seine Umgebung, dass es keines Unterschiedes zwischen Ich und Nichtich inne ward. […] Der Ichpunkt, der bisher alle Erlebnisse gewissermaßen nur registrierte, ohne selbst bewusst zu werden, wird jetzt 31 zum Gegenstand des Erlebens.
Beim Abschluss dieses etwa dreijährigen Werdeprozesses tritt 25
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somit erstmals auch der Dirigent dieser Ouvertüre des Menschseins hervor und offenbart sich als die impulsierende und schaffende Kraft des Menschen-Ichs, welche Heraklit als den Logos bezeichnete, die in der Menschenseele wirkende schöpferisch_ ^ göttliche Kraft des Wortes: Cyxhq ®sti løgoq „aytØn a{jvn (Psyches _ esti logos heauton auxon, Der Seele ist der Logos eigen, der sich selbst mehrt).32 Und wenn Heraklit diesen Logos als der Seele des Menschen zugehörend und sich gleichsam als Initiator seiner selbst in ihr sich entfaltend beschreibt, so ist damit gleichzeitig auf die zentrale Wirkensmacht des Wortes hingedeutet, den schöpferischen Charakter der Sprache, welcher derselben innewohnt. Diesen wird das Kind von nun an mehr und mehr beherrschen lernen. Die Sprache des Kindes wird daher auch durch Sätze geprägt sein, die ganze Sinnzusammenhänge enthalten. Durch das erste Aufleuchten des Ich weiß das Kind von sich selbst, weiß sich als Einzelwesen zu behaupten, sich von seiner Umgebung abzusetzen, ja, sich ihr entgegenzustellen (erste Trotzperiode). Und mit diesem „Schlussakkord“ klingt die Ouvertüre des Menschseins nach den ersten drei Lebensjahren des Kindes aus. Noch ist der Ich-Sinn, das Wahrnehmungsorgan für die Iche anderer Menschen, nur veranlagt und bleibt zunächst im Verborgenen; er tritt erst mit der allmählichen Entfaltung und Ausbildung des eigenen Ich-Bewusstseins in Erscheinung und konsolidiert sich schließlich gegen Ende des neunten Lebensjahres, wenn das Kind eine völlige Umgestaltung des eigenen Wesens durchmacht. Doch umfasst das Ich-Sein des dreijährigen Kindes keimhaft alles, was zur „Grundausrüstung“ des Menschseins gehört. Die Sprache aber erweist sich auch im weiteren Leben des Menschen als Quellort menschlicher Wesensäußerung, ist sie doch die schöpferische Mitte, aus der heraus sich der Mensch mit der Welt und mit seinen Mitmenschen in Beziehung setzt. In ihr wirkt seine Aufrichtekraft; und durch sie vermag er seine Gedanken auszusprechen. 26
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3. Das Ergreifen des Wortes im Gespräch Im fortschreitenden Kindesalter lernt der Mensch wie von selbst mit der Sprache umzugehen, sie zu handhaben, seine Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern, sich in ihr zu beheimaten, ohne dass ihm irgendwelche formalen Strukturen des Gesprochenen bewusst wären. Er spricht, „wie ihm der Schnabel gewachsen ist“. Er kann aussprechen, was ihn innerlich bewegt. Er kann sich fragend und antwortend mit seinen Mitmenschen verständigen, und er kann erzählen, was er in der Welt seines Tages erlebt hat. Sprache wird ihm ein selbstverständliches Lebenselement. Daran muss der Sprachunterricht im ersten Schulalter anknüpfen. Vornehmste Aufgabe ist es, auf das aktuelle Sprachverhalten des Kindes so einzugehen, dass seine Fähigkeit und vor allem sein Mut, sich selber zu äußern, ins Gespräch mit anderen zu treten, wie auch Gehörtes und Erlebtes darzustellen, langsam und allmählich in seinem Bewusstsein und in seinem Willen Platz greifen kann. Inhalt und Art der Äußerung im Unterrichtsgespräch bleiben erst einmal auf den Unterrichtsstoff beschränkt. Rudolf Steiner bemerkt dazu: „Es würde unsere Aufgabe sein, dass man viel mit den Kindern zu dem redet, was man als Lehrstoff vorbringt“. Aber auch das, „was vom äußeren Leben hergenommen ist“, sollte spontan in den Unterricht „eingemischt“ werden.33 Für gezieltes, überlegtes Sprechen und für sachlich angemessene Sprechfähigkeit wird das Kind erst allmählich und behutsam sensibilisiert. Dies geschieht zunächst durch das möglichst getreue Nacherzählen der vom Lehrer erzählten Märchen und Geschichten, im dritten Schuljahr dann auch schon durch einfache Beschreibungen von Dingen oder Arbeiten, die im Sachunterricht (Landbau, Hausbau, erste Tierkunde) besprochen oder getan werden. Dabei wendet sich das Kind zunächst mit allem, was es mündlich oder schriftlich darstellt, wie selbstverständlich an die Autorität des Lehrers. Muss doch zuallererst eine menschlich sichere 27
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Grundlage, das Vertrauen zu einer erwachsenen Bezugsperson hergestellt werden, ehe sich das Kind am Beginn seiner Schulzeit überhaupt zu überlegtem Sprechen bereit findet. Natürlich muss eine gewisse Gesprächskultur veranlagt und gepflegt werden, doch geschieht dies noch weitgehend zwanglos und ohne dass damit bereits eine methodische, etwa im Lehrplan des Deutschunterrichtes vorgegebene Systematik verbunden wäre. Das Gespräch hat in jedem Unterrichtsfach seinen Platz, je nachdem, in welcher Weise sich der jeweilige Stoff für das gemeinsame Gespräch mit der Klasse eignet. Ein gewisses Maß an Gesprächsdisziplin, wie Rücksichtnahme auf den Gesprächspartner, taktvolles, geduldiges und genaues Zuhören, Beherrschtheit und Deutlichkeit beim Sprechen, wird allerdings als selbstverständliche Voraussetzung von Anfang an Bestand des Unterrichts sein. Im Gegensatz zu der heute in den kompetenzorientierten Kernlehrplänen von Grundschule und Sekundarstufe I vertretenen 34 Auffassung soll es sich in der Waldorfpädagogik allerdings noch nicht um freie Meinungsbildung handeln oder um den Versuch, irgendeinen Gesprächsteilnehmer, der etwa anderer Meinung wäre, von der eigenen Meinung zu überzeugen; vielmehr sollen Gespräche in den unteren Klassen vorerst noch in einem lebendigen, vom Lehrer gelenkten Hin und Her, einem lockeren wechselseitigen Austausch von Erlebnissen an menschlichen und sachlichen Inhalten bestehen. Wirkliche Dialoge mit Rede und Gegenrede, Debatten mit Argumenten des Für und Wider bleiben dem reiferen Lebensalter vorbehalten. „Es wäre verfrüht“, so die Marburger Fachdidaktikerin Erika Essen, „wenn man die Kinder ausdrücklich zu eigener Stellungnahme und verantwortlicher Aussage veranlassen wollte, da für sie der Begriff der Wahrheit noch durchaus schwebend ist.“ Eines aber muss von Anfang an gelten: „Wahrhaftigkeit der Aussage ist der 35 Grundsatz aller Spracherziehung. Auf der Unterstufe wirkt er 36 stillschweigend.“ Er muss aller Spracherziehung zugrunde liegen. Auch Rudolf Steiner betont dies ausdrücklich.37 Ist es doch ein Entwicklungsgesetz, dem wir bereits beim Spre28
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chenlernen des Kindes auf physischer Ebene begegnen, dass dem Sprechen die Bewegung in die Aufrechte vorangeht. Jetzt ist es die innere Aufrichtigkeit, welche als stillschweigende Voraussetzung für das eigene Sprechen gelten muss. Frage und Antwort des Gesprächspartners wirken hier aber noch wie ein Spiegel von außen, wie ein ergänzendes Korrektiv. Etwa vom neunten/zehnten Lebensjahr an, wenn es sich altersgemäß mehr von der Welt und auch von der Erwachsenenwelt distanziert, soll das Kind dann auch versuchen, das „was [es] gelernt hat mit Bezug auf schriftliches Nacherzählen, schriftliches Beschreiben, überzuleiten in das Abfassen […] von Briefen aller Art“.38 Also nicht mehr an die Autorität des einen Lehrers oder etwa der Mitschüler soll es sein Erzählen richten, sondern auch an andere, frei gewählte oder vorgestellte Adressaten, so dass sich seine Darstellung in der Diktion auf den Briefempfänger einstellt und es somit „in der richtigen Weise sozial an der 39 Menschenkultur teilnehmen kann“. Das heißt, Grundlage aller mündlichen und schriftlichen Sprachäußerung bleibt weiterhin – wie von Anfang an – der Bezug zum Menschen. Ein erster Ansatz zur Schulung ethischer Sprechgesinnung wird hier geleistet. Muss doch jetzt besonders geübt werden, das Erlebte, Gesehene und Gehörte sprachlich auf das Wesen und die Auffassungsgabe des Adressaten abzustimmen und es zugleich sachlich exakt darzustellen. Ein weites Übungsfeld wird nun betreten und durchwandert, auf das der Waldorflehrplan zwar nur mit wenigen knappen Anregungen hinweist, das aber doch aller noch zu entwickelnden Sprachkultur des Kindes einen gedeihlichen und tragfähigen Nährboden bereitet. Das Erzählen in Briefform soll dann allmählich erweitert werden durch die Form „leichter, anschaulicher Geschäftsaufsät40 ze“ (zum Beispiel Information, Agentenbericht oder Gutach41 ten ). Und es sollen „leichte Charakteristiken“42 im Aufsatz geübt werden. Durch Information und Agentenbericht, also einfache Mittei29
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lungen und Nachrichtenübermittlungen, wird sachliches Berichten geübt, wobei gelernt werden muss, aus der Fülle einzelner Tatsachen das für das Verständnis Wichtige herauszugreifen, es vom Unwichtigen zu unterscheiden und zugleich in für jedermann (also nun auch für fremde Menschen) nachvollziehbarer Aufeinanderfolge darzustellen. Das Schreiben von Gutachten erfordert darüber hinaus bereits eine Beurteilung auf der Grundlage der mitgeteilten Tatsachen. Dabei geht es um ein sachgerechtes Charakterisieren, Abwägen und Begutachten von Eigenschaften und besonderen Merkmalen, welche die Qualität zum Beispiel von Gebrauchsgegenständen oder Kulturgütern verschiedenster Art ausmachen. Eine Anforderung, die natürlich dem leise erwachenden Urteilsvermögen des Jugendlichen zur rechten Zeit entgegenkommt. Wenn dann in einem späteren Schritt, der über solche sachgebundene Begutachtung hinausführt, leichtere Charakteristiken erstellt werden sollen, handelt es sich erst noch um eine möglichst sachgetreue Beschreibung arttypischer Eigenschaften und arttypischen Verhaltens zum Beispiel von Tieren (Aufsatzthemen sind also etwa „Der Wolf“, „Die Biene“ oder „Die Maus“). Erst später wird es um die Schilderung besonderer individueller Erscheinungsformen gehen. Beispiel aus dem Aufsatz einer Viertklässlerin: Die Feldmaus hat braunes Fell, eine spitze Schnauze und fünf lange Krallen zum Entlanglaufen an den Wänden. Sie hat kleine schwarze Augen, aber sehen kann sie nicht sehr gut. Außerdem hat sie kleine und aufmerksame Ohren. Vorne an der Schnauze hat sie lange Schnurrbarthaare. Mit denen kann sie gut tasten. Die Feldmaus bewegt sich schnell vorwärts. Mit ihren scharfen Krallen kann sie nicht nur Wände hoch laufen, sondern sich auch kurze Zeit an einer Decke halten. Außerdem kann sie sich sehr klein machen und durch enge Spalten schlüpfen. Sie kann sich gut Gänge graben. Die Feldmaus vermehrt sich schnell, weil sie schon zwei Monate nach ihrer Geburt Jun-
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ge kriegen kann. Mit ihren Hinterpfoten kann sie sich aufrichten, um sich umzuschauen. Sie lebt in unterirdischen Gängen und Kammern. In einer Kammer ist der Boden mit Moos ausgelegt, dort kriegt sie ihre Jungen. Eine andere Kammer dient 43 als Vorratskammer für den Winter.
In sachlich treffender und geschickter Diktion enthält diese Beschreibung alle wesentlichen Fakten. Meist unverbunden aneinander gereiht, fügt sich Aussage an Aussage. Und der nüchterne sprachliche Ausdruck entspricht durchaus der angestrebten Sachlichkeit. Im Weiteren wird es um das Einüben einer differenzierteren und nuancenreicheren Wortwahl gehen, sodass das Charakterisieren bei aller Sachlichkeit doch sprachlich lebendig, geschmeidig und facettenreich werden kann. So könnte die Viertklässlerin das Wort „haben“ auch einmal durch „besitzen“ oder „über etwas verfügen“ ersetzen; oder passivisch durch „zu eigen sein“, „mit etwas versehen oder ausgestattet oder begabt sein“. Auch das Wort „können“ wäre zu variieren durch „fähig sein“, „in der Lage sein“, „etwas beherrschen“, „etwas leisten“, „imstande sein“ und anderes mehr. Dazu aber muss der Sinn des Kindes erst ausgebildet werden und natürlich sind jetzt auch Wortschatzübungen dem Einüben sprachlicher Differenzierung und Treffsicherheit dienlich. Wortschatzübungen allerdings, die ihren Ausgang nehmen von sorgfältiger Sinneswahrnehmung und genauer Beobachtung dessen, was beschrieben werden soll. Bedarf es doch des intensiven Wahrnehmens, des Hinsehens Hinhörens und Hinfühlens auf die Sache, die im sprachlichen Ausdruck gleichsam neu erstehen möchte. Schließlich ist auch wirkliche Entdeckerfreude vonnöten, um sich am treffenden charakteristischen Ausdruck begeistern zu können. Ein Vorgang, den wir zum Beispiel Ulla Hahns Schilderungen ablauschen können, wenn sie vom Wahrnehmen des „verborgenen Wortes“ spricht:
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Regungslos lagen wir auf dem Rücken im Sand, wenn der Großvater befahl, die Augen zu schließen und die Ohren auszustrecken. An geschmeidigen Röhren fuhr ich meine Ohren in die Landschaft hinaus, näherte mich dem Erdboden, den zirpenden Grillen, ein betäubender Lärm, suchte nach stillen Fleckchen im Gras, hörte das beharrliche Trommeln seiner Wurzeln, das Zischen millionenfacher grüner Zungen, hörte die Käfer fressen, ein kleines Knacken, winziges Knistern, der Käfer kam näher, die Käferkiefer fragten: Wo bist du Biss, du, als wollten sie mich fressen. Ich zog die Ohren ein. Fuhr sie im hohen Bogen durchs zischelnde Schilf ins Sausen der Pappeln, hier einen Kuckuck schnappend wie der Fisch die Mücke, dort ein Bienensummen, Hummelbrummen, Libellensirren. Das Tuscheln der Wellen, ihr aufgeregtes Schlagen, wenn ein Kahn sich näherte, den Rhein hinauf oder hinunter, beladen oder leer. Mit meinen ausgestreckten Ohren lauschte ich es den Wellen ab; ließ die Ohren ein Stück weit auf den Kähnen fahren; das Flattern der Wäsche im Wind, das Bellen des Hundes an Bord, das Klappern der Töpfe aus der Kombüse, helle Frauenstimmen, die rauen der Männer, Kindergeschrei.44
Im Unterricht bieten sich vielfältige Möglichkeiten. Übungen zum Benennen wie auch zum Erfragen eines Gegenstandes oder Wesens sind bereits durch einfache und später kompliziertere Ratespiele aus den allerersten Schuljahren bekannt („Ich sehe was, was du nicht siehst …“, „Welcher Gegenstand ist das …?“, „Teekesselchen“ raten etc.). Doch geht es ja nicht nur um einfaches Abfragen und um das rein substantivische Benennen von Gegenständen oder Wesen, sondern es geht darum, Tätigkeiten, Bewegungen oder Vorgänge so sorgfältig in ihrer Eigenheit zu beobachten, dass dadurch auch sprachlich treffsicheres und charakterisierendes Erfassen möglich wird. Denken wir nur an eine Bewegung wie das Gehen. Wie unterschiedlich können Menschen gehen! Es nimmt sich jeweils anders aus, ob sie gehen, wandeln, schreiten, trotten, schlurfen, schlendern, schleichen oder bummeln, flanieren, trö32
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deln, tapsen, zockeln, lustwandeln oder ob sie fegen, stürmen, stapfen, hetzen, trampeln, poltern oder jagen, vielleicht auch hasten, sausen, laufen, spazieren, rennen, tänzeln, trippeln, huschen, eilen oder dergleichen mehr. Auch für Wörter wie „sprechen“ oder „sehen“ gibt es ähnlich vielfältige Nuancen. Eine entsprechende Ausdrucksfülle findet sich natürlich auch bei Adjektiven, wie zum Beispiel dem Wort „schön“ oder „schrecklich“. Das nuancierende Unterscheiden in der Wahl des sprachlichen Ausdrucks sollte überhaupt nach und nach für den jungen Menschen ein Anliegen werden; denn nur so kann jegliche Schilderung im ständigen Fluss des Charakterisierens belassen, das heißt gedanklich in Bewegung gehalten werden, immer offen für neu hinzukommende Gesichtspunkte, die einbezogen werden wollen. Später, für den Aufsatz in der 7. Klasse, empfiehlt Steiner zum Beispiel ausdrücklich Themen, bei denen die Schüler genötigt sind, eine und dieselbe Sache nacheinander 45 von verschiedenen Standpunkten aus darzustellen. Auch können Beispiele guten Charakterisierens aus der Literatur vom Lehrer selbst zur eigenen Anregung herangezogen und, wenn möglich, auch den Schülern zu Gehör gebracht werden, sobald sie daran ihr eigenes Sprachvermögen auszurichten imstande sind. Thomas Mann zum Beispiel beschreibt seinen Hund Bauschan wie folgt [für Kinder schwer zu verstehende Worte sind in eckigen Klammern vereinfacht wiedergegeben]: Es ist ein kurzhaariger deutscher Hühnerhund, […] Bauschans Färbung ist sehr schön. Sein Fell ist rostbraun im Grunde und schwarz getigert. Aber auch viel Weiß mischt sich darein, das an der Brust, den Pfoten, dem Bauche entschieden vorherrscht, während die ganze gedrungene Nase in Schwarz getaucht erscheint. Auf seinem breiten Schädeldach sowie an den kühlen Ohrlappen bildet das Schwarz mit dem Rostbraun ein schönes, samtenes Muster, und zum Erfreulichsten an seiner
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Erscheinung ist der Wirbel, Büschel oder Zipfel zu rechnen, zu dem das weiße Haar an seiner Brust sich zusammendreht, und der gleich dem Stachel alter Brustharnische waagerecht vorragt. […] Welch ein schönes und gutes Tier ist Bauschan, […] wie er da straff an mein Knie gelehnt steht und mit tief gesammelter Hingabe zu mir emporblickt! Namentlich [Besonders] das Auge ist schön, sanft und klug, wenn auch vielleicht ein wenig gläsern vortretend. Die Iris ist rostbraun – von der Farbe des Felles; doch bildet sie eigentlich nur einen schmalen Ring, vermöge einer gewaltigen [durch eine gewaltige] Ausdehnung der schwarz spiegelnden Pupillen, und andererseits tritt ihre Färbung ins Weiße des Auges über und schwimmt darin. Der Ausdruck seines Kopfes, ein Ausdruck verständigen Biedersinnes [verständiger Rechtschaffenheit], […] der gewölbte Brustkorb, unter dessen glatt und geschmeidig anliegender Haut die Rippen sich kräftig abzeichnen, die eingezogenen Hüften, die nervicht [nervig] geäderten Beine, die derben und wohlgebildeten Füße […]46
Fügen wir mit Rudolph G. Bindings Beschreibung der Großmutter noch ein weiteres Beispiel hinzu: Die Großmutter war eine robuste Frau mit großen, bedeutenden und sicheren Zügen und von einer ungeheuerlichen Kraft des Körpers und der Seele, die sie nach beiden Richtungen zeitlebens voll in Aktion brachte. Wenn sie in Bewegung war, zitterten die Türen, und nur wenn sie gerade mit der ihr genehmen Wucht durch sie hindurch fuhr und sie mit fulminantem Krach in voller Sorglosigkeit hinter sich zuschmiss, zitterten sie noch mehr. […] Wo sie einen Stuhl hinstellte, da stand er eben, und wenn sie eine Fliege totschlug, war sie ganz bestimmt tot. Aber mit gleicher Energie, unter lebhaftem, bewunderndem „Hoh!“ und „Hah!“ und „Herrlich! unerhört!“ vermochte sie es, lange Stellen aus Schiller oder Shakespeare aufzusagen, die sie begeisterten, oder unter „Schrecklich!“ und „Schön!“ meinem Großvater zuzuhören, wenn er ihr die Verse
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aus dem Homer, wo Achilles den Leichnam Hektors um die Tore von Troja schleift, in griechischer Sprache vorlas. Sie konnte kein Griechisch, aber sie liebte den Klang und den Sinn der Worte in ihrem Ohr. Alles Leben war Handlung f체r sie aus ei47 ner Anlage heraus. Sie agierte es.
Durch all das, was das Kind in diesem Alter im Hinschauen auf die Welt und im Umschauen in der Welt an Gesichtspunkten, im wahrsten Sinne des Wortes, und damit an sprachlicher Ausdruckskraft erwirbt, wird es auf sinnlicher Ebene im lebendigen Umgang mit dem Wort bereits auf das vorbereitet, was es sp채ter auf gedanklichem Felde zu leisten haben wird, n채mlich zu nuancieren und zu differenzieren.
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