Leseprobe_Freiheit des Denkens

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BEGLEITBAND ZUR BIBLIOTHEK HISTORISCHER DENKWÜRDIGKEITEN MIRJAM VAN VEEN DIE FREIHEIT DES DENKENS

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BEGLEITBAND ZUR BIBLIOTHEK HISTORISCHER DENKWĂœRDIGKEITEN herausgegeben von wolfgang f. stammler

Der Alcorde Verlag ist Mitglied im Freundeskreis der Kurt Wolff Stiftung

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Mirjam van Veen

DIE FREIHEIT DES DENKENS Sebastian Castellio Wegbereiter der Toleranz 1515­–1563 Eine Biographie Aus dem Niederländischen übersetzt von Andreas Ecke Herausgegeben von Wolfgang F. Stammler

ALCORDE VERLAG 3


Der Verlag dankt der Niederländischen Literaturstiftung für die freundliche Förderung der Übersetzung.

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INHALT Vorwort des Herausgebers  7 Einleitung 15 1. Ferne, fremde Zeiten  20 2. Jugend und Ausbildung  31 3. Auf reformatorischen Pfaden  38 4. Je näher der Kirche, desto ferner von Gott  44 5. Unter Dissidenten  54 6. Der Humanist bei der Arbeit  65 7. Das Wort  69 8. Buchstabe und Geist  78 9. Gruet, Bolsec, Servet  89 10. Das Schicksal Servets  99 11. Ein Geistesverwandter?  108 12. Pyrrhussieg  112 13. »… Ihr tötet einen Menschen …«  116 14. Widerlich!  130 15 Der Konflikt weitet sich aus  139 16. Hass und Neid  147 17. Zurück zu den Klassikern  153

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inhalt

18. Eine Bibelübersetzung fürs Volk  157 19. Mystik  170 20. Ein Ausweg?  180 21. Nicht die Lehre, sondern das Leben  191 22. Bei Castellio weiß man nie …  196 23. Die Kunst des Zweifelns  201 24. Lob von Eseln  211 25. Fazit  223 Dank 233 Castellios Verteidigung gegen den Autor des Buches mit dem Titel: Die Schmähungen eines Wirrkopfs (Defensio 1558) 235 Sebastiani Castalionis antwurtt vff ettliche articul etc. (1557)  290 Verteidigungsschrift vor dem Basler Rat 1563  293 Zeittafel 305 Stammtafel der Familie Sebastian Castellios  310 ANHANG

Anmerkungen 313 Quellen und Literatur  333 Bildnachweis 347 Personenregister 349 6


VORWORT

«Welch eine Dankesschuld ist an diesem Vergessenen noch zu begleichen! Welch ein ungeheures Unrecht hier noch zu sühnen!», rief Stefan Zweig 1936 in seinem von der NS-Zensur verbotenen Buch Castellio gegen Calvin1 aus – Worte, die knapp achtzig Jahre später mit der erstmaligen deutschsprachigen Edition seiner bedeutendsten Schriften erhört werden sollten. Doch noch immer ist Sebastian Castellio weithin unbekannt. Noch immer hat der Bannfluch des Genfer Reformators Johannes Calvin, jenes Mannes, der ihn wie kaum einen anderen verfolgt und mundtot gemacht hat, auch 450 Jahre nach seinem Tod nur wenig von seiner Wirkmacht verloren. Offiziell findet Zensur, der er zu Lebzeiten ausgesetzt war, nicht mehr statt. Seine wichtigsten Schriften sind seit 2013 auch in deutschen Übersetzungen zugänglich, aber in konservativen Kreisen des deutschen Protestantismus – deutet man das versammelte Schweigen richtig – herrscht noch immer ein unverkennbarer Vorbehalt gegenüber diesem kühnen Frager und Denker, dem Zweifler um der christlichen Wahrheit willen, ja fast eine Art Berührungsangst vor dem, der bis zum letzten Atemzug gegen einen exklusiven Alleindeutungsanspruch der verfassten Kirchen und um die Rückbesinnung auf die wahren Tugenden Christi kämpfte. Sein letztes großes Werk, Die Kunst des Zweifelns und Glaubens, des Nichtwissens und Wissens 2, in dem er noch einmal die Summe seines Denkens zusammenfasste, hatte er noch sechs Monate vor seinem Tod in spürbarer Eile begonnen. Es blieb ein Fragment, fraglos sein bedeutendstes Werk. Die Anmerkungen zu diesem Text befinden sich auf S. 13.

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vorwort des herausgebers

Ganz anders dagegen die liberal gesinnten Theologen, die dankbar die neuen Bemühungen begrüßen, Castellio mit seinen wichtigsten Schriften erstmals in deutschen Über­ setzungen verfügbar zu wissen. Ihre Zahl ist nicht gering, aber noch immer nicht groß genug, um die Schweigefront der Calvinanhänger aufzubrechen. Aber sie beginnt zu bröckeln. Ausgerechnet in der Schweiz, dem Land seiner schärfsten Gegner, und mehr noch in Genf, wird Castellios anlässlich seines 500. Geburtstages in überraschend wohlwollender Weise gedacht. In Vandœuvres, jenem Dorf bei Genf, in dem Castellio neben seinem Amt als Rektor des Collège de Rive drei Jahre lang als Prediger wirkte, würdigte man vom 26. bis 31. Mai 2015 mit Lesungen, Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Gottesdiensten das Wirken und Schaffen dieses einstigen Predigers an der kleinen Dorfkirche. Und mehr noch: Man hieß ihn wie den verlorenen Sohn mit allen Ehren willkommen und stiftete ihm sogar – weltweit einmalig – eine Büste aus der Werkstatt desselben Künstlers, François Bonnot, der auch eine Büste Calvins gestaltet hatte. Castellios Büste ziert heute die Außenmauer der Kirche von Vandœuvres. Wie umwälzend diese Rückbesinnung ist, kann man ermessen, wenn man bedenkt, mit welchen Worten Calvin 1557

Castellio-Büste vor der Kirche von Vandœuvres

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vorwort des herausgebers

von Genf aus in seiner Schrift Responses à certaines calomnies et blasphemes etc.3 gegen seinen einstigen Mitarbeiter in einer Weise fluchte, die auch damalige Leser, die Calvin an sein Schimpfvokabular gewöhnt hatte, befremdet haben musste: «Du nennst mich Gotteslästerer, Verleumder, Bösewicht, einen kläffenden Hund, vollkommen unwissend, primitiv und schamlos, einen Betrüger, einen schändlichen Verderber der Heiligen Schrift, ja geradezu einen Verspotter Gottes und Verächter jedweder Religion, unverschämt, einen räudigen Hund, gottlos und obszön, geisteskrank und pervers, einen Hanswurst und Schwätzer».4 Dabei hatte derselbe Calvin noch anlässlich Castellios Abschieds aus Genf 1544 diesem in einem Zeugnis attestiert: « In aller Kürze bezeugen wir, dass wir ihn für jemanden gehalten haben, der nach unserem einhelligen Urteil sogar für das Pastorenamt bestimmt war. » Und zum Schluss heißt es: « Damit niemand auf den Verdacht kommt, dass Sebastianus uns aus irgendeinem anderen Grund verlässt, so wollen wir, dass dies, wohin er auch kommen mag, bezeugt sei: Er ist aus freien Stücken aus seinem Schulamt geschieden. In diesem hatte er sich so verhalten, dass wir ihn dieses heiligen Pastorenamtes für würdig erachteten. Seiner Aufnahme stand nicht irgendein Makel seiner Lebensführung, nicht, dass er irgendetwas Gottloses in unseren Glaubensartikeln gelehrt habe, sondern ausschließlich der eine Grund entgegen, den wir dargelegt haben. »5 Welch ein Gesinnungswandel, der zeigt, mit welchem Hass Calvin gegen Castellio wütete, nachdem dieser seit der «Ketzer­ verbrennung» Servets im Oktober 1553 mit seiner Schrift De 9


vorwort des herausgebers

haereticis an sint persequendi (Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll)6 den Kampf gegen Calvin aufnahm. Die frühesten Bemühungen, Castellio Gehör zu verschaffen, gab es jedoch bereits seit dem frühen 17. Jahrhundert in Holland. Dort waren es die sogenannten Remonstranten, eine kleine, aber durchaus wirkmächtige Opposition gegen Calvin, die sich um den Dichter, Gelehrten und Politiker Dirck Volkertszoon Coornhert herum bildete. Diese Tradition hat sich bis heute bewahrt, und so kann es nicht verwundern, dass jüngst aus dem Geist dieser Schule diese neue, hier in deutscher Übersetzung vorgestellte Biographie Castellios erschienen ist, die ein modernes Bild dieses Vordenkers der Aufklärung und Wegbereiters der Toleranz zeichnet. Die Autorin, Mirjam van Veen, Kirchenhistorikerin an der Freien Universität Amster­ dam, trägt damit nach den großen Biographien von Ferdinand Buisson und Hans R. Guggisberg dem Bedürfnis Rechnung, nunmehr einem breiteren Publikum Leben und Werk dieses Humanisten vorzustellen. Dabei gelingt es ihr, in einem – angesichts der großen Materialfülle – bewundernswerten Akt der Selbstbeschränkung sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und dadurch umso deutlicher Castellios singuläre Haltung und Stellung in den Wirren religiöser Neuorientierung herauszuarbeiten, die wegweisend wurde für die geistesgeschichtliche Entwicklung der nachfolgenden Jahrhunderte. Die Gelegenheit dieser deutschen Ausgabe schien günstig, diesem Band erstmals auch eine deutsche Übersetzung von Castellios erschütternd zu lesender Defensio (1557) und seine Antwurt uff ettliche articul (1557)7 beizugeben. Auch in Frankreich beginnt man sich erneut Castellios zu erinnern. Stellvertretend dafür waren die Feierlichkeiten zu seinem 500. Geburtstag in dessen Geburtsort St. Martin du Fresne, etwa siebzig Kilometer westlich von Genf in der Landschaft Bugey nahe des Lac du Nantua. Dort schwelte bereits seit 1868 10


vorwort des herausgebers

der Streit um die Errichtung einer Büste für den «Apostel der Toleranz», damals angeregt durch den Kirchenhistoriker Edmond Chevrier (1818–1897).8 Auch die persönliche Inter­ vention Ferdinand Buissons 1911 fruchtete nicht. Erst 1926, nach dem Ankauf von Buissons zweibändiger Castellio-Bio­ graphie durch den örtlichen Magistrat, einigte man sich auf die Errichtung eines sieben Tonnen schweren Granitblocks mit einem Bronzerelief Castellios, gegen das die Presse damals höhnte, man bereite sich darauf vor, «den unbekanntesten Sohn dieser Stadt zu feiern», einen Hinterwäldler. Doch bereits 1942 endete das Bronzerelief zusammen mit vielen weiteren Büsten in den Schmelzöfen des Zweiten Weltkriegs. Erst 1953 wurde auf Initiative des Genfer Pastors Jean Schorer, der durch Roland H. Bainton von einem Brief der Witwe des Castellio-Forschers und Pastors Étienne Giran (er wurde 1944 in Buchenwald ermordet) über das Verschwinden des Castellio-Reliefs informiert worden war, ein neues Relief geschaffen und im Beisein zahlreicher Castellio-Verehrer aus Europa und Übersee am 23. August eingeweiht.

Castellio-Gedenkstein in St. Martin du Fresne

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vorwort des herausgebers

Zum 500-jährigen Gedenken am 13. Juni 2015 fand das Denkmal einen neuen Ort in der Nähe des Rathauses mit Blick auf die bewaldeten Hänge von Leyssard. In Deutschland lässt die Castellio-Renaissance noch auf sich warten. Die kirchlichen Medien nehmen nicht oder nur sehr verhalten von den neuen Editionen Kenntnis und es bedarf bisweilen immer noch größerer Überzeugungsarbeit, insbesondere in der 2017 zum Abschluss kommenden « Luther-Dekade 2007–2017 » der Evangelischen Kirche in Deutschland, ein offenes Ohr für Castellio zu finden. Nur in Kreisen der bereits erwähnten liberalen Theologen ist die Freude über die verlegerischen Bemühungen um eine publizistische Verbreitung von Castellios wichtigsten Toleranzschriften deutlich zu erkennen. So hat sich unter anderen Hans Küng mit dankbaren Worten dazu geäußert, auch Jörg Zink sowie der Journalist Wolfgang Thiemann in der Christ & Welt. Besonders leidenschaftlich engagierte sich der Stuttgarter Pfarrer Andreas Rössler, der unter anderem für das « Freie Christentum » eine einfühlsame Würdigung Castellios verfasste. Auch der Kölner Pfarrer Klaus Schmidt und der Berliner Humanismusforscher (FU) Richard Faber vermittelten den Eindruck, dass sich in ihren Kreisen mit dieser Edition lang gehegte Erwartungen erfüllten. Doch es wird, wie es scheint, noch ein langer Weg, bis Castellio – dessen vor 450 Jahren formulierte Forderungen, heute als modern empfunden und dennoch angesichts einer wiederaufbrechender religiösen Intoleranz erneut auf dem Prüfstand – auch selbst als derjenige geachtet wird, über den Stefan Zweig in einem Brief an Romain Rolland schrieb: « Welch ein stiller Held […] und welch freier Geist, dieser Castellion, dieser Arme, dieser Isolierte, dieser Erasmische ohne dessen beizenden Spott, ohne dessen Schwäche. »9 Bleibt noch zu danken: Zuvörderst dem Inspirator und Mentor, Prof. em. Dr. Eckehart Stöve, der von der Provence 12


vorwort des herausgebers

aus mit stets neuen Anregun­ gen überraschte; Dr. Werner Stingl, der spontan bereit war, sich als Kom­battant an die Pionierarbeit der Übersetzungen des De haereticis an sint persequendi, der Defensio und zuletzt des De arte dubitandi zu wagen; und Dr. Uwe Plath, der mit seinen Übersetzungen und Kommentierungen, vor allem des Contra libellum Calvini, und seiner Monographie Der Fall Servet die Maßstäbe unserer Edition noch einmal nach oben verschob. Auch dass die fünf bisher erschienenen Bände so anschaulich illustriert und dokumentiert werden konnten, wäre ohne die Hilfe der Handschriftenabteilung der UB Basel nicht möglich gewesen. Besonderer Dank aber gilt hier Andreas Ecke, dem Übersetzer dieser Biographie, dessen Sprachkultur nicht umsonst bereits für preiswürdig erkannt wurde und dessen Textverständnis dem Lektorat viel Mühe und Arbeit ersparte. Abschließend sei noch mit großer Dankbarkeit vermerkt, dass ohne die sorgfältige Redaktionsarbeit und die editorische Phantasie des Lektors und Freundes Hans-Joachim Pagel diese Edition nicht zu dem geworden wäre, was sie heute ist. Wolfgang F. Stammler September 2015

Anmerkungen 1 Stefan Zweig in: Das Manifest der Toleranz, Essen 2013. 2 Sebastian Castellio, Die Kunst des Zweifelns und Glaubens, des Nichtwissens und Wissens, Essen 2015. 3 Johannes Calvin, Responses à certaines calomnies etc., Genf 1557. 4 Siehe Verteidigung (Defensio) in diesem Band S. 241. 5 A. a. O., S. 253 f. 6 In: Das Manifest der Toleranz, Essen 2013. 7 Siehe in diesem Band S. 239–292. 8 Die folgende Darstellung basiert auf den Recherchen Christian Buirons in seinem Buch Sébastien Castellion (1515–1563). Histoire du monument de Saint-Martin-du-Fresne, Bourg-en-Bresse, 2010. 9 Stefan Zweig an Romain Rolland, 2. 6. 1935, zitiert in: Das Manifest der Toleranz, Essen 2013, S. 18.

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Sebastian Castellio, Portr채t aus der Biblia sacra

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EINLEITUNG

« Ein Ungeheuer. » Calvins Urteil über Sebastian Castellio war deutlich. Castellio verspritze überall sein Gift und sei von Hass auf ihn, Calvin, getrieben.1 Kaum günstiger fiel Castellios Urteil über Calvin aus. Calvin sei ein Tyrann, der ihn gewaltsam mundtot zu machen versuche und genau wie die Papisten Bücher verbieten wolle.2 Christliche Sanftmut sei dem Reformator gänzlich fremd. Seine berüchtigten Schimpftiraden offenbarten seine wahre Natur.3 Der Konflikt zwischen Calvin und Castellio war Ausdruck seiner Zeit; es war ein Konflikt zwischen Alt und Neu. Beide wollten eine Erneuerung und Reinigung der Kirche, doch Castellio war in dieser Hinsicht wesentlich radikaler als Calvin. Instandsetzung war ihm nicht genug; das Gebäude der Kirche sollte praktisch neu errichtet werden. Calvin hielt am bestehenden Verhältnis von Kirche und Obrigkeit fest, während Castellio die Notwendigkeit sah, dieses Verhältnis von Grund auf zu verändern. Die Auseinandersetzung der beiden Gegenspieler konzentrierte sich auf theologische Probleme wie die Prädestina­ tionslehre und die Bedeutung des Hohenliedes, aber auch auf die Frage der religiösen Toleranz. Sie spiegelt außerdem die dramatische Geschichte des 16. Jahrhunderts wider. Beide waren Heimatlose. Wie so viele ihrer Zeitgenossen bekamen sie die zerstörerischen Folgen des großen religiösen Konflikts am eigenen Leibe zu spüren, sie hatten ihr Herkunftsland verlassen müssen und verbrachten den Rest ihres Lebens in der Die Anmerkungen des nachfolgenden Texts (bis S. 234) beginnen auf S. 313.

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die freiheit des denkens

Johannes Calvin, um 1550.

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einleitung

Fremde. Calvin suchte im Chaos dieses Jahrhunderts nach neuer Sicherheit; er wurde zum führenden Verfechter eines evangelischen Reinigungsideals und hat für dieses Ideal ein festes institutionelles Fundament geschaffen. Für sich selbst und seine Anhänger fand er neue Gewissheit im Glaubenssatz der « Rechtfertigung durch Glauben allein ». Seinen Gegner Castellio dagegen verschlug es in einen Kreis von Dissidenten: Menschen unterschiedlicher religiöser Überzeugungen, für die all jene konfessionellen Grenzen fließend blieben. Das Heilmittel für die Leiden seiner Zeit war nach Castellios Auffassung der Zweifel. Er war davon überzeugt, dass gegen die « Krankheiten », die Europa quälten, nur eine ganz andere Medizin als die herkömmlichen helfen könne; statt der alten, ausgetretenen Wege müssten neue eingeschlagen werden. So verabschiedete er sich vom Glauben an unerschütterliche religiöse Gewissheiten. Zwar blieb auch Castellio ein Mensch des 16. Jahrhunderts, er überschritt aber in vieler Hinsicht die Grenze zu einer neuen Epoche. Aus dem Kampf mit Castellio ging Calvin als Sieger hervor. Seine Form des Protestantismus entsprach dem Zeitgeist, sein Organisationsdrang trug dazu bei, den evangelischen Idealen eine klare institutionelle Form zu geben. Schon zu seinen Lebzeiten hat die nach ihm benannte Bewegung in etlichen europäischen Ländern Anhänger gefunden. Bei diesen wie bei Gegnern galt er als charismatische Persönlichkeit, als ein Mann, der mit der Kraft von Argumenten und dank ausgeprägter organisatorischer Fähigkeiten Menschen für sein Ideal gewinnen konnte. Genf, die Stadt Calvins, wurde für viele zum weithin leuchtenden Licht. Das änderte sich erst im 20. Jahrhundert, als Calvins Vereinheitlichungsdrang und sein Anteil am protestantischen Denken nicht mehr positiv bewertet wurden, die Durchsetzung von Disziplin nicht mehr als Beitrag zu einer wohlgeordneten Gesellschaft galt. Mehr und mehr sah man 17


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Calvin als Verfechter betonierter Dogmen, als Machtmenschen, der Andersdenkende mit dem starken Arm des Gesetzes mundtot gemacht und vertrieben hatte, als engherzigen Prinzipienreiter, der den Menschen alle Lebensfreude raubte. Was das Bild von Castellio angeht, vollzog sich die umgekehrte Entwicklung. Im 16. Jahrhundert verlor er den Kampf mit dem Protestantismus Calvins und seiner Anhänger und spielte in der Folgezeit kaum noch eine Rolle, seine Ideale blieben gewissermaßen im luftleeren Raum, denn eine In­ sti­ tution, die das Gedankengut von freien Denkern wie ihm bewahrt und verbreitet hätte, gab es nicht. Erst im 20. Jahrhundert wurde Castellio rehabilitiert, ja bewundert. Nun sah man ihn als den vergessenen Helden, der für die individuelle Gewissensfreiheit eingetreten war, den Vordenker eines modernen Protestantismus. Ferdinand Buisson, einer seiner wichtigsten Biographen, präsentierte ihn als Verfechter eines anderen, liberalen Protestantismus; Stefan Zweig beschrieb ihn 1936 im Londoner Exil als Kämpfer für die Freiheit des Gewissens. Castellio wurde zum verkannten Heiligen der liberalen Kirche, der sich keiner ordinären Macht gebeugt hatte.4 Der Ansatz dieser ersten großen Werke über Castellio war

Ferdinand Buisson (1841-1932)

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einleitung

vor allem biographisch. Hans R. Guggisberg, dessen Bücher und Artikel die Castellio-Forschung entscheidend voranbrachten, konzentrierte sich auf Castellios Eintreten für religiöse Toleranz.5 In den letzten Jahren haben französischsprachige Forscher wie Max Engammare und Carine Skupien Dekens wichtige neue Akzente gesetzt; sie heben Castellios historische Bedeutung für die Bibelübersetzung und -exegese hervor und rücken damit seine philologischen Talente ins rechte Licht.6 Ein Aspekt seines Werkes ist in der Forschung bisher zu kurz gekommen: der mystisch-spiritualistische. Castellio stand in engem Kontakt zu dem visionären Endzeitpropheten David Joris und hat zwei Standardwerke der spätmittelalterlichen Mystik übersetzt beziehungsweise bearbeitet: die Theologia Deutsch des « Frankfurters » und Thomas von Kempens Nachfolge Christi.7 In diesem Buch möchte ich Leben und Werk Sebastian Castellios einem breiten Publikum bekannt machen. Castellios Leben war ein einziges Ringen: ein Ringen mit Calvin um die Ideale der Reformation und ein Ringen um neue Wege des Denkens, um nie Gedachtes. Als der Calvinsche Protestantismus noch ganz am Anfang stand, schlug sich Castellio auf die Seite dieser Bewegung; bald zeigte sich jedoch immer deutlicher, dass Castellios Ideal ein anderes war als das Calvins. Beide früheren Verbündeten fühlten sich vom jeweils anderen verraten und verkannt. Die Folge war eine jahrelange Auseinandersetzung über alles, was nur irgendwie mit Kirche und Glauben zu tun hatte. Auch Castellios Suche nach seiner eigenen religiösen Identität war schwierig: Er trat für den Gebrauch der Vernunft ein und suchte doch die mystische Erfahrung, und seine Bereitschaft, die eigenen Überzeugungen zur Diskussion zu stellen, endete dort, wo die Existenz Gottes in Frage gestellt wurde. Er plädierte für die Kunst des Zweifelns, allerdings innerhalb gewisser zeitbedingter Grenzen. 19


ferne, fremde zeiten

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FERNE, FREMDE ZEITEN

Das 16. Jahrhundert war eine Zeit des Übergangs zwischen zwei Epochen. Innerhalb weniger Jahrzehnte ließ Europa das Mittelalter hinter sich, Humanisten verwarfen die Scholastik und propagierten neue Wege der Erkenntnis und der Wissens­ vermittlung, Europäer unterschiedlichen Standes und Glaubens wandten sich vom Ideal des einen großen Reiches ab und verfochten erstmals die Idee des Nationalstaates mit eigener Sprache. Gläubige forderten religiöse Reformen – waren sie innerhalb der katholischen Kirche nicht möglich, musste notfalls eine neue kirchliche Institution geschaffen werden, die dem frommen Reinheitsstreben zum Erfolg verhalf. Reformatoren wie Martin Luther, Ulrich Zwingli und Johannes Calvin erhoben Anspruch auf eine neue, unbekannte Art von Freiheit: die Freiheit, Gott in Übereinstimmung mit dem eigenen Gewissen zu dienen. Sämtliche Umwälzungen des 16. Jahrhunderts waren letztlich auch religiöser Natur. Es gab keinen Nationalstaat ohne religiöses Fundament, kein Lehrbuch, das nicht von der Bibel inspiriert gewesen wäre. Das Leben war durch und durch religiös geprägt; noch mehr als alle anderen Veränderungen erschütterte deshalb die Kirchenspaltung den Kontinent bis in seine Grundfesten. Denn die Kirche war viel mehr als eine Institution, in deren Gebäuden sich Gläubige zu festgesetzten Zeiten versammelten, sie war sowohl Garantin des ewigen Heils als auch sozialer Zement. Mit ihren zahllosen Ritua­ len brachte sie die Menschen zusammen, und sie stand für die Einheit der Gesellschaft. Ihre Bauwerke, von der Kathedrale 20


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bis zur Kapelle, waren die wichtigsten Orientierungs­punkte der Kulturlandschaft, in der die Menschen wohnten und arbeiteten, und ihre Feste bestimmten den Rhythmus des Lebens. Wenn auch Papst und Kaiser einen Kampf um die Vormacht austrugen und, wie es im damaligen Jargon hieß, einander die Schwertgewalt streitig machten, so bezweifelte doch niemand, dass beide Gott untertan waren. Gott regierte die Welt, es war Sein Gesetz, das der Gesellschaft eine segensreiche Ordnung auferlegte. Die Auseinandersetzung zwischen Papst und Kaiser war vor allem praktischer Art und drehte sich um die Frage, auf welche Weise diese göttliche Ordnung durchzusetzen sei. Wer hatte die Beachtung von Gottes Gesetz zu erzwingen? Wer war verantwortlich dafür, dass die sündige menschliche Natur in diesem irdischen Jammertal gebändigt wurde: Kirche oder Obrigkeit? Wer hatte letztlich das Recht und die Pflicht, Übeltäter mit dem Schwert zu strafen: die geistliche oder die weltliche Macht? Die Meinungsverschiedenheiten über die Rollenverteilung zwischen Kirche und Obrigkeit hielten keinen vernünftigen Menschen davon ab, innerhalb der Kirche sein Seelenheil zu suchen. In der Kirche feierte man die Nähe Christi, und Christus war der Weg zum ewigen Leben; die Kirche war die sichtbare Gestalt des Erlösers, durch die Vermittlung ihrer Priester hatte man Anteil an seinen Gnadengaben. Mit ihren Heiligen, mit Reliquien und natürlich in Brot und Wein des Abendmahls machte die Kirche Christus greifbar. Im Chaos der mittelalterlichen Wirklichkeit, in der so vieles von Willkür und Zufall abhing, war die Kirche der Fels, auf den die Gläubigen bauen konnten. Die religiösen Umwälzungen zerstörten diese alte Gewiss­heit und stürzten viele Menschen in tiefe Verwirrung. Reforma­ toren sprachen der katholischen Kirche ihre moralische Auto­ rität ab und beschrieben sie als Sündenpfuhl, idealistische 21


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Gläubige forderten eine Rückbesinnung auf die Kirche der Apostel. Religiöse Revolutionäre störten Prozessionen und lehnten die Teilnahme an weiteren Ritualen ab, die jahrhundertelang die Einheit der Christenheit symbolisiert hatten. All das warf Fragen auf, für die sich im 16. Jahrhundert zunächst kaum Antworten fanden. Wenn die Kirche keine Einheit mehr garantierte, wer dann? Konnte eine Gemeinschaft überhaupt ohne religiöse Einheit existieren? Was konnte dem Blutvergießen, das durch die religiösen Gegensätze ausgelöst wurde, Einhalt gebieten? Wie sollten Könige und Fürsten bei all den religiösen Streitigkeiten die « Pfleger » und « Ammen » der Kirche sein?8 Die religiösen Konflikte wirkten sich von Land zu Land unterschiedlich aus. In Deutschland hofften viele Bauern, die neue, von Luther propagierte Freiheit des Christenmenschen werde auch Freiheit für sie selbst einschließen; religiöse und soziale Erneuerung, Bekenntnisfreiheit und Befreiung von der Leibeigenschaft gehörten für sie zusammen. In der Schweiz wurden mancherorts Disputationen veranstaltet, bei denen Anhänger und Gegner der Reformation vor dem Rat der jeweiligen Stadt ihre Standpunkte darlegten. Der Rat bestimmte den Sieger, der in der Stadt das religiöse Monopol erhielt, die Verlierer mussten sich fügen oder ins Exil gehen. In Frankreich blieben die Verhältnisse jahrzehntelang unübersichtlich; der komplizierte Machtkampf zwischen König, Adel und Parlament entschied über den Ausgang des religiösen Konflikts; viele Protestanten flüchteten vor der Gewalt und Repression ins Ausland. Auch Genf wurde von französischen Glaubensflüchtlingen überschwemmt, was zu Spannungen innerhalb der Stadt führte: Mildtätige Einrichtungen waren mit der Unterstützung der Flüchtlinge überfordert, den Behörden gelang es kaum, sie unterzubringen, und die Einheimischen befürchteten, von den Fremden an die Wand gedrückt zu wer22


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den. In den nördlichen und südlichen Niederlanden schließlich kam es im dritten Viertel des 16. Jahrhunderts zur politischen und religiösen Konfrontation mit dem spanisch-habsburgischen Landesherrn, Philipp II. Der sich aus den Aufständen entwickelnde Krieg wurde mit großer Brutalität geführt; so berichtete ein Augenzeuge, dass zwischen Haarlem und Amsterdam fast kein Haus unzerstört geblieben sei. Die Verfolgungen und der Krieg trieben viele Niederländer ins Exil, unter anderem nach England und Ostfriesland. Der Dichter, Gelehrte und Politiker Dirck Volkertszoon Coornhert, 1568 ins Herzogtum Kleve geflohen, hat dem Heimweh zahlloser Landsleute Ausdruck verliehen: « Verstreut, verbannt aus unsrem ird’schen Eden Wo man uns Hoffnungsvolle wollt befehden Meist nur um Wohltat ohne jede Schuld – Lasst Gott den Herrn uns bitten um Geduld. »9 Vertriebene trafen im Exil auf Schicksalsgenossen aus anderen Ländern. In Städten wie London oder Emden entstanden Netzwerke von Glaubensflüchtlingen aus verschiedenen Regionen Europas; die religiöse Erneuerungsbewegung wurde dadurch international.

Dirck Volkertszoon Coornhert

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Doch die Uneinigkeit innerhalb des Protestantismus steigerte die Verwirrung. Martin Luther war der Erste gewesen, der offen mit der alten Kirche brach (151710). Luther strebte nach einer Erneuerung der Theologie und wollte die Recht­ fertigungslehre des Apostels Paulus zur Grundlage der kirchlichen Praxis erheben; dank der Unterstützung verschiedener Fürsten konnte sich seine Reformation in einigen deutschen Ländern durchsetzen, außerdem in Skandinavien und anderen Regionen des nördlichen Europa. Schweizer Reformatoren wie Ulrich Zwingli übernahmen schon in den frühen zwanziger Jahren Luthers Ideen, wollten aber das Gebäude der Kirche von Grund auf neu errichten; eine Restaurierung des alten genügte ihnen nicht. Bedeutsamer als alles andere war für die reformierte Glaubensgemeinschaft mit ihren kahlen Gotteshäusern die Gemeinde der Gläubigen selbst: Sie verkörperten die Kirche, nicht der kirchliche Amtsträger. In demselben turbulenten Jahrzehnt verwarfen die Täufer die Idee der Staatskirche: nicht durch Geburt werde man zum Mitglied der Glaubensgemeinschaft, sondern durch eigene Willensentscheidung; die Taufe besiegelte nicht irgendeinen Bund, den Gott mit den Israeliten oder den Bewohnern des

Martin Luther

Ulrich Zwingli

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Abendlandes geschlossen hatte, sondern in der Gläubigentaufe vollzog sich die Wiedergeburt des Individuums, sie markierte den Beginn eines Lebensweges, der von ernsthafter Frömmig­ keit bestimmt sein sollte. Was die Verdorbenheit der katholischen Kirche anging, herrschte unter Protestanten unterschiedlicher Richtungen Einig­­keit, doch davon abgesehen bekämpfte man sich. Beson­ ders hart traf es die Täufer, vor allem nach den Ereignis­sen von Münster: Aus den Niederlanden stammende Täufer, getrieben von apokalyptischen Wahnvorstellungen und einem überspannten religiösen Idealismus, hatten im Jahr 1534 in Münster einen « Gottesstaat » errichtet; dort sollte das Himmlische Jerusalem schon auf Erden Gestalt annehmen. Doch der zum « König Israel » ausgerufene Anführer Jan van Leyden erwies sich als Scharlatan, der durch Maßnahmen wie die Einführung der Vielweiberei, vor allem aber durch seine Schreckensherrschaft die ganze Täuferbewegung ins Verderben stürzen sollte. Denn die Katastrophe von Münster diente überall zur Legitimierung des Ausschlusses und der Verfolgung von Täufern; auch Reformierte und Lutheraner zögerten nicht, ihnen das Leben schwer oder unmöglich zu machen. Lutheraner nutzten den schlechten Ruf der Täufer sogar in ihren Polemiken gegen die Schweizer Reformierten und erinnerten auf wenig subtile Weise an die Tatsache, dass die Täuferbewegung ihren Ursprung in Zürich gehabt hatte, also quasi unter Zwinglis Augen aufgekommen war – Grund genug, Reformierte aus den lutherischen Gebieten zu verbannen. Die konfessionelle Vielfalt war für die meisten Menschen im damaligen Europa beängstigend. Religiöse Polemik ging einher mit Repression und gewaltsamen Auseinandersetzungen. Vor allem kirchliche Feiertage wurden häufig zum Anlass für Gewaltexzesse. Die Obrigkeit trug durch Unterdrückung und Verfolgung konfessioneller Minderheiten das Ihre zu dieser re25


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ligiös begründeten Gewalt bei. Calvin meinte, pure Angst halte viele davon ab, sich der religiösen Erneuerungsbewegung anzuschließen; aus Sorge um ihre Kinder etwa blieben manche Menschen « contre-cœur » katholisch – ein Beweggrund, für den der Reformator kein Verständnis aufbrachte: « une pauvre consideration et trop perverse ».11 Auch der Augustinermönch Jean de l’Espine schob, von Angst erfüllt, seine Entscheidung für die Reformation immer wieder auf.12 Diese Angst war keineswegs auf das Körperliche beschränkt, es ging um nicht weniger als das Seelenheil. Der Satz des Kirchenvaters Cyprian, « Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil », galt auch noch im 16. Jahrhundert. Wer nicht der « wahren » Kirche angehörte, durfte nicht auf ewige Seligkeit hoffen. Aber wie sollte ein gewöhnlicher Mensch, umgeben von Täufern, Lutheranern, Reformierten und Katholiken, erkennen, welche Kirche die wahre war? Angesichts all dieser Fragen und der Bedrohung durch gewaltsame Auseinandersetzungen sehnten sich die Menschen nach Gewissheiten. Glaubensgemeinschaften erfüllten dieses Verlangen, indem sie ein neues religiöses Fundament errichteten, sie halfen, Ordnung im Chaos zu schaffen. Auf dem Konzil von Trient bekräftigte die katholische Kirche ihre Dogmen; Katholiken sollten blind auf die kirchliche Überlieferung vertrauen. Protestanten fanden Halt in der Sola-fide-Lehre und im unbeirrbaren Glauben an Das Wort. Beide Gruppen disziplinierten ihre Gläubigen, indem sie ihnen eine religiös begründete Ordnung auferlegten und darauf achteten, dass sie ihren Regeln gemäß lebten. Die Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten waren groß und vergrößerten sich im Lauf des 16. Jahrhunderts weiter, doch die Mechanismen waren auf beiden Seiten die gleichen: bei den Gläubigen die verzweifelte Suche nach Gewissheiten, bei der Kirche der verbissene Kampf um das Glaubensmonopol, denn alle Menschen sollten 26


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von der jeweils eigenen Wahrheit überzeugt werden. Weder Katholiken noch Protestanten zweifelten daran, dass es möglich sei, zwischen rechtem und falschem Glauben zu unterscheiden. Kirchenführer beider Richtungen wollten das ganze Volk hinter einem gemeinsamen Ideal versammeln, der einen gemeinsamen Religion. Zu diesem Vereinheitlichungsstreben gehörten enge Ver­ flech­tungen zwischen Kirche und Obrigkeit. Im Jahr 1302 hatte Papst Bonifatius VIII. in einer Bulle verkündet, das weltliche Schwert sei dem geistlichen untergeordnet; zwar werde das weltliche, anders als das geistliche Schwert, nicht von der Kirche, wohl aber – von der weltlichen Obrigkeit – für die Kirche geführt. Kritische Geister des 16. Jahrhunderts vermuteten hinter dieser päpstlichen Lehre grenzenlose Herrschsucht und Hochmut, doch auch für Reformatoren stand fest, dass die weltliche Obrigkeit für das geistliche Heil ihrer Untertanen mitverantwortlich sei. Weltliche Herren, so glaubte man, waren von Gott eingesetzt, sie waren Pfleger und Ammen der Kirche. Wie ein Hausvater über das körperliche und geistige Wohlergehen seiner Kinder zu wachen habe, müssten sich auch die weltlichen Herren um beides kümmern. Calvin bekämpfte auf jede erdenkliche Weise die katholische Kirche, aber die gesellschaftliche Rolle der Kirche veränderte sich in Genf unter seiner Herrschaft kaum. Waren früher sämtliche Einwohner der Stadt in der katholischen Kirche vereint gewesen, so waren sie es nun in der reformierten; Kirche und Obrigkeit gehörten auch nach der Reformation untrennbar zusammen. Mehr als andere bekamen die Täufer die verhängnisvollen Folgen dieser engen Verbindung zu spüren, und nicht zufällig entstammten die ersten Kritiker dieses scheinbar selbstverständlichen Bundes ihren Reihen. Außer der Überzeugung, es gebe die eine unbestreitbare Wahr­heit, teilten Protestanten und Katholiken die Traditions­ 27


kapitel 1

gläubigkeit. Die katholische Kirche lehrte ausdrücklich, dass sich in der kirchlichen Überlieferung die Wahrheit offenbare. Allerdings glaubten auch die Protestanten Wege zu beschreiten, die schon ihre frühen Vorfahren eingeschlagen hatten, denn ihr Ziel war die Wiederherstellung der ursprünglichen Kirche. Keiner der protestantischen Anführer hatte die Absicht, eine neue Tradition zu begründen; was ihnen vorschwebte, war die Rückbesinnung auf den Kern des christlichen Glaubens. In ihrer Selbstwahrnehmung war die Reformation also eine traditionalistische Bewegung. Durch allerlei Neuerungen, von fehlbaren Menschen eingeführt, sei im Lauf der Zeit die Wahrheit verfälscht worden, so dass die Kirche ihre ursprüngliche Reinheit verloren habe; mit diesen Verfälschungen müsse nun Schluss sein, wiederholten die Reformatoren unermüdlich. Am radikalsten waren hier die Täufer. Während Reformatoren wie Calvin und Luther noch die Autorität der ersten großen Konzilien akzeptierten, hatte nach Ansicht der Täufer der Verfall der Kirche zur Zeit dieser Konzilien längst begonnen. Für sie verkörperte allein die Kirche der Apostel, wie sie in der Bibel beschrieben wird, das wahre Christentum; was nach ihr kam, war schon degeneriert. Nur wenige fanden den Mut, das Ende der religiösen Einheit auch als Menetekel für die überkommenen sozialen Strukturen zu sehen – und daraus zu folgern, dass sich die Gesellschaft mitverändern müsse. Nur sehr wenige kamen angesichts des verbissenen Streits um den rechten Glauben zu der Einsicht, dass es nicht möglich sei, die Wahrheit zweifelsfrei zu erkennen. Und nur eine Handvoll besonders Wagemutiger erklärte offen, dass deshalb die Kontrahenten auf allen Seiten mit ihrem Urteil zurückhalten müssten, wenigstens für den Augenblick. Sie sahen, dass die Leiden ihrer Zeit mit den altbekannten Mitteln nicht zu heilen waren. Sebastian Castellio war einer dieser Wagemutigen, die be28


ferne, fremde zeiten

zweifelten, dass Europa weiterhin nach religiöser Einheit streben müsse. Er gehörte zu der kleinen Gruppe von Denkern, die eine Veränderung des Verhältnisses zwischen Kirche und Obrigkeit, zwischen Religion und Gesellschaft als notwendig erkannten. Im Jahr 1554 hielt er in einem Manifest ein leidenschaftliches Plädoyer für religiöse Toleranz, eine Tat, die ihn für seine späteren Biographen zum Helden machte. Kurz zuvor hatte sich klar und deutlich gezeigt, dass die Reformation Calvins und seiner Anhänger an der traditionellen Verbindung von Kirche und Staat festhielt: Als der spanische Humanist und antitrinitarische Theologe Miguel Servet sich nach Genf wagte, wurde er als Ketzer verurteilt und umgebracht, wobei Kirche und Obrigkeit Hand in Hand arbeiteten. Offenkundig war nicht nur der Katholizismus außerstande, den Glauben als Angelegenheit des individuellen Gewissens zu sehen, sondern auch die Reformatoren; wie die katholische Kirche befürchteten sie, die Ketzerei werde die Gesellschaft insgesamt unterminieren. Während Katholiken 1553 zu ihrer Erleichterung feststellen konnten, dass Protestanten trotz ihrer Neuerungssucht immerhin dem ketzerischen Treiben eines Servet und Gleich­gesinnter Einhalt geboten, während von Wittenberg aus lutherische Theologen die Hinrichtung Servets rechtfertigten, kam aus Basel Protest. Sebastian Castellio erklärte, in Genf sei keine Lehre verteidigt, sondern ein Mensch getötet worden. Nur wenige pflichteten ihm bei. Von Genf aus richteten seine Gegner Beza (Théodore de Bèze) und Calvin heftige Angriffe gegen die Ideen wie gegen die Person Castellios und versuchten mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, ihn zum Schweigen zu bringen. Und sie sprachen damals für die Mehrheit. Castellios Eintreten für religiöse Toleranz blieb erfolglos; auch die Stadt Basel begegnete ihrem berühmten Einwohner mit Argwohn und unterstützte die Versuche, ihn 29


kapitel 1

mundtot zu machen. Nach seinem Tod im Jahr 1563 schritt die Konfessionalisierung fort, die verschiedenen Kirchen grenzten sich noch deutlicher von ihren Konkurrenten ab. Auf das Zeitalter der Reformation, in dem Sebastian Castellio lebte, folgte eine Epoche wachsender Intoleranz. Erst ein Jahrhundert nach Castellios Tod bereitete die Aufkl채rung den Weg f체r ein anderes Denken.

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JUGEND UND AUSBILDUNG 13

Sebastian Castellio wurde 1515 als Sébastien Chastillon oder Châtillon in Savoyen geboren, und man könnte beinahe sagen, dass ihm ein turbulentes Leben vorherbestimmt gewesen sei. Denn das kleine Savoyen, eingeklemmt zwischen Frankreich, Schweizer « Orten » und italienischen Staaten, war ein Marktplatz der Kulturen und regelmäßig Schauplatz und Objekt von Auseinandersetzungen verschiedener Mächte. In Castellios Jugendzeit erlebte Savoyen einschneidende Veränderungen. Unter Herzog Karl III. (1486–1553) endete eine Tradition relativer Toleranz. Lange Zeit hatte Savoyen religiösen Abweichlern unterschiedlicher Couleur Zuflucht geboten, doch als sich im Herzogtum lutherische Ideen verbreiteten, ergriff Karl III. repressive Maßnahmen, sein Edikt von 1528 schrieb schwere Strafen für « Ketzer » vor. Im zweiten und dritten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts wurde das Land wieder einmal Opfer seiner Lage zwischen rivalisierenden Mächten, Frankreich sowie Bern und Genf eigneten sich Teile Savoyens an. Was Castellio von den religiösen und politischen Wirren mitbekam, wissen wir nicht. Über seine Jugend ist kaum mehr bekannt, als dass er ein Sohn des Bauern Claude Chastillon war und im Dorf Saint-Martin-du-Fresne aufwuchs. Sein Leben lang hegte er große Achtung für seinen Vater, der zwar nur geringe Bildung besaß, ihm aber ein Vorbild an Ehrlichkeit und Anstand gewesen sein soll. Castellio hat seine Herkunft nie verleugnet, er blieb ein Mensch vom Lande und Sohn einfacher Leute. Überall in sei31


kapitel 2

In seiner Abhandlung « Über die Kunst des Zweifelns » erklärt Castellio im Kapitel über die Rechtfertigung das Pfropfen von Bäumen (siehe Die Kunst des Zweifelns S. 270 f.) folgendermaßen: a. Arbor est sylvestris, inserenda. b. eiusdem truncata caudex inserendus. c. Rami execti et humi ad arescendum proiecti. d. Caudex insitus, cuius calami sunt e, aliunde videlicet ex arbore cicure decerpti et in hanc insiti. f. Eadem arbor inolitis et incrementum adeptis calamis. Constat autem haec arbor ex duabus dissimilibus partibus, videlicet ex inferiore sylvestri g, quantum scilicet est infra eum locum in quo insita fuit signatum litera h, et [ex] superiore cicure signata litera i. A ist ein wild wachsender Baum, der mit Pfropfreisern versehen werden soll. B ist dessen abgeschnittener Stamm, an dem die Zweige eingepfropft werden sollen. C sind die abgeschnittenen Äste, die zum Austrocknen auf den Boden geworfen werden. D ist der Stamm nach dem Einpfropfen, dessen neue Fruchtzweige, als E bezeichnet, natürlich einer Kulturpflanze entnommen und in den wilden Baum eingefügt sind. F ist derselbe Baum, nachdem die neuen Zweige angewachsen sind und an Größe zugenommen haben. Dieser Baum besteht also aus zwei unterschiedlichen Teilen, nämlich aus dem unteren, wildgewachsenen G unterhalb der mit H bezeichneten Stelle, an der die Pfropfung vorgenommen wurde, sowie aus dem oberen, veredelten Teil, bezeichnet mit I.

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bezeichnet mit I.  Dieses I versteckt sich mitten in der Baumkrone.

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kapitel 2

nen Büchern gebraucht er Bilder, die dem Landleben entstammen; in einer Abhandlung über die Rechtfertigung zum Beispiel erklärte er seitenlang das richtige Pfropfen von Bäumen. In der Defensio kritisierte er seine früheren Mitstudenten, weil sie das Volk verachteten. Mit seiner französischen Bibelübersetzung beabsichtigte er nicht zuletzt, den Text der Heiligen Schrift auch gewöhnlichen Menschen zugänglich zu machen, weshalb er wenn möglich fremdsprachige Fachausdrücke vermied; so ersetzte er zum Beispiel das Wort Katechisieren durch Unterrichten. Aus dem gleichen Grund wählte er ein eher schlichtes Französisch statt der literarischen Hochsprache der damaligen Zeit. Mit einigen seiner Verwandten blieb er in enger Verbindung. Castellio hatte mindestens drei Brüder und drei Schwestern; auch sie entfremdeten sich der katholischen Kirche und vertraten später ähnliche Auffassungen wie ihr Bruder. Drei Schwestern Castellios kamen in den vierziger Jahren nach Genf. Ein Schwager zog 1563 den Zorn des Genfer Kirchenrats auf sich, weil er eine von Castellios Schriften verbreitete; ein Bruder ließ 1557 in Lyon ein Traktat Castellios drucken; dieser Michel Chastillon soll sogar den Ideen Servets nicht abgeneigt gewesen sein.14 Etwas deutlichere Umrisse bekommt Castellios Leben für uns ab dem Jahr 1535, in dem er, etwa zwanzigjährig, nach Lyon zog. Lyon war eine aufstrebende Stadt, die wirtschaftlich wie kulturell eine stürmische Entwicklung durchmachte; dem Collège de la Trinité verdankte das geistige Leben der Stadt neue Impulse. Wenn es auch im 16. Jahrhundert keine wirkliche Meinungsfreiheit gab, so herrschte hier doch ein relativ freier Geist und reger Meinungsaustausch. 1565 stellten die Jesuiten mit Bedauern fest, das Collège de la Trinité sei jahrelang eine Brutstätte der Häresie gewesen. Tatsächlich waren in den Jahren, als Castellio dort studierte, die führenden Köpfe 34


jugend und ausbildung

des Collège nicht frei von Sympathien für die Reformation.15 Es gab Verbindungen zu Genf; unter anderem dank einiger Drucker wurde Lyon zu einem Zentrum reformatorischer Pro­ paganda. Nicht zufällig hat Calvins Mentor Guillaume Farel im Jahr 1536 mit dem Gedanken gespielt, nach Lyon zu gehen, um dort die reformierten Glaubenswahrheiten zu verkündigen. Doch auch der von allen Seiten angefeindete Freidenker Étienne Dolet wohnte in Lyon. Dolet galt nicht wenigen Zeitgenossen als Atheist. Nun war Atheismus im modernen Sinn im 16. Jahrhundert undenkbar, Dolet entfernte sich aber bemerkenswert weit von den gängigen theistischen Vorstellungen. An die Stelle von Gottes Vorsehung trat bei ihm ein die Welt regierendes Schicksal (Fatum) als Ursache allen Geschehens; göttliche Wunder hatten in diesem Weltbild keinen Platz. Dolet, der viel übersetzte, war auch auf diesem Gebiet für seine ungewöhnlichen Auffassungen bekannt. Seiner Ansicht nach sollten für Begriffe wie « Kirche », « Apostel » und « Dogma » andere Übersetzungen gefunden werden, um sie aus dem kirchlichen Kontext zu lösen.16 Castellio verwarf Dolets Ideen, er meinte, Dolet glaube weder an Gott noch an Christus. Doch das besondere geistige Klima Lyons, zu dem auch Dolet seinen Teil beitrug, begünstigte Castellios Entwicklung. Castellio wurde in Lyon zu einem eifrigen Humanisten, er genoss die Lektüre der klassischen Autoren und besang die Musen: Nichts Höheres könne man erstreben, als ein schönes Gedicht zu schreiben. Und er teilte die optimistische Auffassung seiner humanistischen Zeitgenossen, das Studium der schönen Literatur helfe, ein besserer Mensch zu werden, und führe zur Erkenntnis der Wahrheit. Bildung war für ihn viel mehr als der Erwerb von Wissen, er war davon überzeugt, dass sie den Menschen innerlich wachsen lasse. Schon Erasmus hatte erklärt, der Mensch könne sein sündiges Selbst mit zwei Waffen besiegen: dem Gebet und der Weisheit (scientia).17 35


kapitel 2

Die humanistische Methode, zu der intensives Sprachstudium und Rückkehr zu den Quellen gehörte, hatte eine Vielzahl religiöser Aspekte. Natürlich wollte man auch bei der Bibel ad fontes, also zu den ältesten erhaltenen Texten, zurückkehren und erlernte deshalb die biblischen Sprachen Hebräisch und Griechisch. Die Autorität der von der Kirche favorisierten Vulgata wurde dadurch relativiert, letztlich sogar die kirchliche Lehrautorität insgesamt. Nicht mehr die Lehre der Kirche öffnete das Tor zur Weisheit und zur Erkenntnis der ewigen Wahrheit; das Studium der Bibel in den Originalsprachen übernahm wenigstens zum Teil diese Aufgabe. Die Sprache selbst wurde von manchen Humanisten geradezu vergöttlicht. Der berühmte Hebraist Johannes Reuchlin hat wie kein anderer der Entdeckerfreude seiner Generation Ausdruck verliehen: Als er endlich das Hebräische beherrschte, habe er geglaubt, Gott selbst sprechen zu hören. Auch für den Bibelübersetzer Olivétan (Pierre Robert) stand das Hebräische höher als andere, « gewöhnliche » Sprachen. Petrus Mosellanus rühmte das Hebräische, Griechische und Lateinische, weil die Kenntnis dieser Sprachen den Menschen nicht nur dazu befähige, die Propheten und Apostel zu verstehen, sondern ihn Gott näher bringe; die Sprache unterscheide den Menschen vom Tier, Gott beherrsche alle Sprachen, und je mehr Sprachen jemand spreche, desto ähnlicher sei er folglich Gott. Theodor Beza, der Mitte der sechziger Jahre Calvins Nachfolger werden sollte, glaubte im Hebräischen größere religiöse « Reinheit » zu entdecken als in jeder anderen Sprache.18 Einige Humanisten waren « irdischer ». So fand Calvin in jungen Jahren grenzenloses Vergnügen darin, die Bedeutung einzelner Wörter auszuloten: In der Korrespondenz mit seinem Freund François Daniel wimmelt es von Wortspielen.19 Die Kehrseite all der Gelehrsamkeit konnte Geringschätzung gegenüber den weniger Gebildeten sein. So mancher Humanist 36


jugend und ausbildung

stellte selbstzufrieden fest, dass er besser und schöner schrieb als andere; Kultiviertheit und hoch entwickelte Schreibkunst galten als ein und dasselbe. Erasmus zum Beispiel empfand regelrechte Verachtung für Autoren, die seiner Ansicht nach ein « barbarisches » Latein schrieben. Calvins Konflikt mit Peter Kuntz, einem Berner Pfarrer, eskalierte Ende der dreißiger Jahre auch deshalb, weil Calvin ganz offen über die geringe Bildung seines Kollegen die Nase rümpfte und ihn verächtlich als « Bauern » bezeichnete.20 Ein ähnlicher Geist wehte vermutlich in Lyon, als Castellio dort studierte. Viel später sollte er über sich selbst schreiben, dass seine Gelehrsamkeit ihn hochmütig gemacht habe. Außerdem habe ihn das Studium der Klassiker davon abgehalten, sich eifriger der Heiligen Schrift zu widmen: « Mit größerer Leidenschaft, als gut für mich war, verlegte ich mich auf das Studium Homers; die heiligen Texte dagegen vernachlässigte ich, abgestoßen von ihrem Mangel an Schönheit […]. »21 Wie dem auch sei, in Lyon hat Castellio die Grundlagen für seine spätere Laufbahn geschaffen und Freunde fürs Leben gefunden. Unter anderem lernte er Giovanni und Bartolomeo Argentieri kennen, zwei italienische Ärzte. Mit Bartolomeo blieb er in Verbindung; 1546 widmete er ihm ein Buch, außerdem nahm er Bartolomeos Sohn in sein Haus auf. Die in Lyon geknüpften Kontakte nutzte er auch, um von dem Baseler Buchdrucker Johannes Oporinus eine Sammlung typisch humanistischer Gedichte herausgeben zu lassen.

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AUF REFORMATORISCHEN PFADEN

Castellios Leben veränderte sich im Jahr 1540, als er nach Straßburg ging und sich Johannes Calvin anschloss, der zwei Jahre zuvor in die elsässische Stadt gekommen war und als Pfarrer in der dortigen Gemeinde französischer Glaubens­ flüchtlinge wirkte. Dessen Name lockte damals viele in die freie Reichsstadt: 1536 hatte Calvin in Basel, wo er eine Zeitlang als Glaubensflüchtling lebte, seine Institutio Christianae Religionis (Unterricht in der christlichen Religion) veröffentlicht, die ihn rasch bekannt machte (1539 erschien, nunmehr in Straßburg, eine überarbeitete Neuausgabe): eine Art Katechismus, der die Rechtgläubigkeit der Protestanten erweisen sollte, die damals auch in Frankreich blutig verfolgt wurden, weshalb Calvin das Buch dem französischen König Franz I. zugeeignet hatte. In der Widmung beschwor er den Monarchen, den französischen Reformierten Glaubensfreiheit zu gewähren; sie seien redliche Bürger, die es nicht verdient hätten, von der Obrigkeit verfolgt

Martin Bucer

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auf reformatorischen pfaden

zu werden. In den ersten Fassungen war die Institutio nicht ausgesprochen dogmatisch, man spürt darin noch die frühe reformatorische Begeisterung. Vermutlich gehörte Castellio schon in Lyon zum Kreis ihrer Leser. Die Straßburger Jahre waren für Calvin eine eigenartige und bedeutsame Zeit. Er stand dort im Schatten des großen Reformators Martin Bucer, führte ein äußerlich relativ ruhiges Leben, machte aber vielleicht gerade deshalb eine entscheidende Entwicklung durch. Sowohl vor als auch nach seinem Aufenthalt in Straßburg war er Pfarrer in Genf. Während seiner ersten Genfer Zeit (1536–1538) war er der engste Mitarbeiter von Guillaume Farel gewesen, einem radikalen Reformator, der von der Idee besessen war, Genf von aller papistischen Abgötterei zu säubern, wie im Alten Testament Josia, König von Juda, die Götzenpriester abgesetzt und alle Bilder und Gerätschaften des Götzendienstes aus dem Tempel entfernt hatte. Und wie einst die Bewohner von Juda, angeführt von Josia, den Bund mit Gott erneuert hatten, so sollten die Einwohner Genfs sich durch einen Eid der reinen, reformatorischen Lehre verpflichten.22 Farel und in seinem Schlepptau Calvin waren mit ihrer Mission kläglich gescheitert, denn durch ihre

Guillaume Farel

Der junge Calvin

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kapitel 3

Radikalität hatten sie sich die Mächtigen der Stadt zu Feinden gemacht; der Rat wies die beiden französischen Pfarrer aus. Calvin war zu Martin Bucer nach Straßburg gegangen. Martin Bucer war das genaue Gegenteil von Guillaume Farel, gemäßigt, friedliebend und stets auf der Suche nach Kompromissen. Er meinte, Calvin sei selbst für sein Scheitern verantwortlich, und hielt ihm seinen Rigorismus vor. Trotzdem unterstützte er ihn und verhalf ihm zu der Pfarrstelle in der französischen Gemeinde. In den ruhigen Straßburger Jahren konnte Calvin seine Theologie und seine Vorstellungen von der idealen Kirche weiterentwickeln. Damals war er also noch längst nicht der große Reformator, der er später in seiner zweiten Genfer Periode werden sollte, er war gerade erst Anfang dreißig und suchte seinen Weg. Wie schon angedeutet, entstanden in Straßburg seine Ideen über die Einrichtung der idealen Kirche. Die Prädestina­ tionslehre, die Castellio und andere von den fünfziger Jahren an so heftig kritisierten, kam in Calvins damaligen Schriften noch kaum vor, die Abgrenzung der reformatorischenen Positionen von denen der katholischen Kirche war noch nicht so deutlich. In der Institutio verteidigte er die französischen Protestanten und trat vor allem für eine Erneuerung des Glaubens und der Kirche ein. Der Glaube sei nicht auf sinnentleerte Rituale angewiesen, sondern eine Angelegenheit des Herzens. Der Aufruf zur Verinnerlichung betraf auch die Kirche: Das Wesentliche an der Kirche seien nicht die Gotteshäuser und die geistliche Hierarchie, sondern der Glaube; die wahre Kirche sei unsichtbar: « Die Kirche ist kein Ding des Fleisches, das wir unseren Sinnen unterwerfen oder auf einen bestimmten Raum begrenzen oder auch nur einem bestimmten Ort zuweisen dürfen. »23

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auf reformatorischen pfaden

Castellio hat sich also 1540 für Straßburg und Calvin entschieden, wahrscheinlich angesteckt von der religiösen Begeisterung des Reformators und überzeugt durch seine mitreißende Argumentation in der Institutio. Auch später noch, als Calvin und Castellio füreinander schon wie das sprichwörtliche rote Tuch waren, urteilte Castellio über vieles in den Schriften des Reformators positiv; seine Kritik richtete sich weniger gegen Calvins Ideen an sich – auch wenn er dann in manchem eigene Wege gehen sollte – als gegen seine Maßnahmen in Genf. In Straßburg dagegen gaben Gemäßigte wie Martin Bucer und Bürgermeister Jakob Sturm von Sturmeck den Ton an; schon wegen der Nähe zu den lutherischen Nachbarn konnten sich die Reformierten hier nicht in gleicher Weise radikalisieren wie in Genf. Straßburg war eine Grenzstadt mit den für einen solchen Ort typischen Problemen und mit einer eigenen Dynamik, und immer nahmen die führenden Köpfe der Stadt auch Rücksicht auf die Verhältnisse in der Nachbarschaft. In den Jahren um 1540 hatten sie die Hoffnung auf einen friedlichen konfessionellen Ausgleich noch nicht aufgegeben. In der Zeit, als Castellio nach Straßburg ging, entsandte die Stadt hochkarätige Delegationen zu den Hagenauer, Wormser und Regensburger Religionsgesprächen. Der Bruch zwischen Katholiken und Protestanten war noch kein endgültiger, und führende Persönlichkeiten beider Konfessionen bemühten sich in den Religionsgesprächen unter der Ägide Kaiser Karls V. um einen Kompromiss. Das wichtigste Motiv auf Seiten des Kaisers war politischer Art; gegen die nach Westen vordringenden Osmanen war er auf die militärische Unterstützung aller Fürsten, auch der protestantischen, angewiesen, und ein religiöser Ausgleich war die Voraussetzung für eine solche Allianz. Bei den erwähnten drei Religionsgesprächen spielte Martin Bucer eine wichtige Rolle; zusammen mit Luthers Verbündetem Philipp Melanchthon versuchte er Brücken zu 41


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schlagen, und vorübergehend schien eine Einigung in Sicht zu kommen. Calvin hatte große Bedenken: Er befürchtete, dass Bucer und Melanchthon zu viele evangelische Positionen preisgeben könnten. Doch alle Versuche, den Graben zwischen Katholiken und Protestanten zu überbrücken, scheiterten. Calvin sollte später eine Kirchenorganisation nach seinen Vorstellungen schaffen und seine eigene reformatorische Lehre formulieren; das Ergebnis war eine kämpferische Kirche mit strenger Ordnung und scharf umrissener Identität. Doch das war 1540 nicht abzusehen, die Grenzen in der konfessionellen Landschaft waren noch fließend, Straßburg eine Stadt in Bewegung und Calvins Ideen nicht vollständig entwickelt. Castellios Entscheidung für Straßburg und Calvin war eine Entscheidung für religiöse Erneuerung, nicht für den klar von anderen Konfessionen abgegrenzten reformierten Protestantismus, der sich erst langsam herausbildete. Castellio erlebte die Übersiedlung nach Straßburg als wichtigen Abschnitt auf seinem religiösen Weg. Die klassische Literatur war nicht mehr das Höchste, an erster Stelle stand nun der Glaube. Die Freude an den Künsten und an selbst erschaffenem Schönen hätten ihn zum Hochmut verführt, meinte er später, und mit dieser Selbstüberhebung sollte Schluss sein. Wie bei Calvin änderte sich die Einstellung zum humanistischen Ideal. Seine klassische Bildung und sein phänomenales Sprachgefühl waren bedeutende Gaben, aber nicht mehr Selbstzweck, sie sollten einem religiösen Ideal dienen, anders gesagt: der höheren Ehre Gottes. Es war ein Neuanfang.24 In Straßburg konnte Castellio zunächst in Calvins Haus wohnen, allerdings nur eine Woche, denn als aus Frankreich die Hugenottin Madame du Verger eintraf, musste er das Feld räumen, fand aber schnell eine andere Unterkunft. Obwohl er nicht mehr bei Calvin wohnte, schloss er sich dem Kreis 42


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der Evangelischen um den Reformator an. Wie eng die Verbindung war, zeigt sein Verhalten beim Ausbruch der Pest. Als Calvin 1541 zum Religionsgespräch nach Regensburg gereist war, erkrankten auch mehrere seiner Verwandten und der in seinem Haus wohnenden Schüler. Castellio half, wo er konnte; nachdem einer von Calvins Schülern an der Pest gestorben war, nahm er einige andere Bewohner des Hauses bei sich auf und pflegte sie, sogar sein eigenes Bett trat er ab. Damals, bekannte er später, hätte er Calvin und den Seinen jede Art von Gefallen getan.25 Noch während des Regensburger Religionsgesprächs erreichte Calvin die dringende Bitte des Genfer Magistrats, zurückzukehren und die Führung der Genfer reformierten Kirche zu übernehmen. Nach längerem Zögern folgte er dem Ruf und unternahm den zweiten Versuch, Kirche und Stadt nach seinem Ideal umzugestalten. Später schrieb der Reformator, er habe sich wie der Prophet Jona gefühlt, als habe der Herr selbst ihn beim Wickel gepackt und in Genf abgesetzt. Dieses prophetische Selbstverständnis verlieh Calvin große Energie, sein grenzenloses Gottvertrauen gab ihm die Kraft, gegen den Strom zu schwimmen und alle Widerstände zu überwinden. Doch dieses Selbstverständnis hatte eine Schattenseite; Calvin fühlte sich über gewöhnliche Sterbliche erhaben und wurde immun gegen Kritik. Für Castellio hatte Calvins Entscheidung weitreichende Folgen, denn er wurde bald ebenfalls nach Genf gerufen, um an der Umgestaltung von Kirche und Gesellschaft nach reformatorischem Ideal mitzuwirken.

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JE NÄHER DER KIRCHE, DESTO FERNER VON GOTT 26

Calvins Reformbestrebungen richteten sich auf weit mehr als die Kirche: Auch das Verhalten der Menschen im Alltag, die Gesetze der Stadt, der Unterricht mussten seinen Vorstellungen entsprechen. Im Unterrichtswesen sollte Sebastian Castellio eine wichtige Rolle spielen. Genf hatte vergeblich versucht, einen namhaften Gelehrten für die neue Lateinschule zu gewinnen, und wandte sich schließlich an Castellio; anders als seine berühmteren Kollegen war er bereit, die Aufgabe zu übernehmen. Allerdings suchten die Genfer auch noch nach seiner Anstellung im Juni 1541 eine bekanntere Persönlichkeit für das Amt des Rektors, in das er offiziell erst 1542 eingesetzt wurde. Im Frühjahr desselben Jahres wurde er außerdem zum Prediger in der Kirche von Vandœuvres bestellt.27 Zu jener Zeit arbeitete Castellio an den Dialogi sacri. Sie gehören zu jener humanistischen Gattung des Dialogs, der einem doppelten Zweck diente: schönes Latein und gleichzeitig hehre moralische Grundsätze zu lehren. Formal standen Castellios Dialogi in dieser noch jungen Tradition; etwas Neues war, dass er nicht mythologische, sondern biblische Erzählungen in Dialogform übertrug, vor allem aus dem Alten Testament – entsprechend dem Geist des calvinischen Protestantismus, der auf den ersten Teil der Bibel größeren Wert legte als jede der anderen Konfessionen und sich in gewisser Weise mit dem alten Israel identifizierte. In den Dialogen erzählte Castellio die Geschichten der Erzväter und ‑mütter auf Französisch und Latein;28 um das Lateinische zu vereinfachen, verwendete er oft die französische Wortstellung. 44


je näher der kirche, desto ferner von gott

Die Kirche von Vandœuvres um 1922

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Das Bemühen um Einfachheit harmonierte mit dem Sprach­ ideal der Reformation. Die Sprache galt als Spiegel der Seele, eine schlichte, natürliche Ausdrucksweise als das Kenn­zeichen eines Menschen, der sich nicht über andere erhebt, sondern von christlicher Demut erfüllt ist; der gekünstelte Sprachstil der Rhetoriker dagegen verriet angeblich moralischen Verfall. Die biblischen Geschichten hielt man wegen ihrer Sprache und ihres sittlichen Gehalts für vorbildlich. Es ging Castellio also nicht nur darum, gutes Latein zu lehren, sondern auch um ethische Erziehung; die Dialoge sollten Nahrung für den Intellekt wie für die gläubige Seele sein.29 In gewisser Weise scheint er sich mit den Dialogi sogar vom Geist des Humanismus zu entfernen. In der Widmung für Maturin Cordier, einen bekannten Humanisten und Prote­ stanten,30 erklärte er, keineswegs alle Klassiker seien für Schüler geeignet; Terenz und Plautus mit ihrer verdorbenen Moral könnten die Jugend vom rechten Weg abbringen. In diesem Punkt war Castellio also anderer Ansicht als zum Beispiel Erasmus, der in den Komödien der von Castellio kritisierten Autoren keine Gefahr für die Moral entdecken konnte.31 Welch große Bedeutung der moralische Aspekt für Castellio hatte, zeigt die Dialogszene, in der Jakob seiner künftigen Frau Rahel begegnet. In der Bibel küsst Jakob Rahel. Castellio legt ihr eine Äußerung in den Mund, die deutlich macht, dass ihr diese intime Begrüßung nicht behagt: « Fasse mich nicht an, wer bist du denn? »32 In religiöser Hinsicht waren die Dialoge harmlos, meistens folgte Castellio getreu dem biblischen Text. Nur bei sehr genauer Lektüre stellt man fest, dass hier und da ganz schwach schon bestimmte, erst in späterer Zeit formulierte Ansichten durchschimmern, die von der reformierten Lehre abweichen. So ließ Castellio in der Geschichte von Sodom und Gomorra die beiden Engel zu Lot sagen, wer nicht errettet 46


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werden wolle, müsse zu Grunde gehen. Eine Aussicht auf Rettung bestand offenbar nach Castellios Auffassung auch für Lots Schwiegersöhne in spe; nur wer das Angebot ausschlug, wurde vernichtet. Mit göttlicher Vorherbestimmung hat das wenig zu tun.33 Manche der Dialoge überraschen mit ausgesprochen stimmungsvollen Details. In der Geschichte vom Besuch der Engel bei Abraham wird ausführlich geschildert, welche Hektik in Abrahams Haushalt ausbricht, als Hagar und Sara den unerwarteten Gästen ein Mahl zubereiten müssen.34 Wie vor allem solche atmosphärisch genauen Schilderungen oder die hinzugefügte Ermahnung Jakobs durch die keusche Rahel zeigen, hat Castellio nicht klar zwischen seiner eigenen Epoche und Kultur und denen der Bibel unterschieden; einen bedeutenden Abstand nahm er kaum wahr.35 Im Dialog über Moses Errettung machte er seiner Empörung über die Befehle des Pharao Luft. Im 2. Buch Mose wird sachlich berichtet, dass der Pharao die Tötung aller männlichen Neugeborenen der Hebräer angeordnet hat. Moses Mutter verbirgt den Knaben drei Monate lang und legt ihn dann in einem Kästchen aus Schilfrohr am Ufer des Nils ab, in der Hoffnung, dass sich jemand seiner annehmen wird; die Tochter des Pharao findet ihn, lässt ihn von der Mutter stillen und nimmt ihn später als ihren eigenen Sohn auf. Dieser Geschichte fügte Castellio mehrere Äußerungen über die Grausamkeit des Pharao hinzu; auch die Tochter missbilligt ausdrücklich die Maßnahme ihres Vaters und beschließt, um der gerechten Sache willen seine Befehle zu missachten.36 Vielleicht fühlte sich Castellio von den Erzählungen über Erzväter und ‑mütter im Exil besonders angesprochen. Er selbst war in Genf ein Fremder und vor allem von anderen Emigranten umgeben. Seine drei Schwestern lebten nun ebenfalls in oder bei Genf, zwei von ihnen heirateten Männer, die 47


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selbst nicht aus Genf stammten. Huguine Paquelon, die Anfang der vierziger Jahre Castellios Frau wurde, war allerdings gebürtige Genferin; ihr Vater hatte schon 1521 das Bürgerrecht erhalten. Mit Huguine bekam Castellio drei Kinder: Susanna, Debora und Nathanael.37 Ohne Schwierigkeiten erhielt der Drucker Jean Girard die Druckerlaubnis für die Dialogi sacri.38 Und doch gab es schon in dieser Zeit die ersten Reibungen im Verhältnis zwischen Castellio und Calvin. Wie aus Briefen an einige Vertraute hervorgeht, ärgerte sich Calvin über Castellio, weil er sich mit seinen Schwägern um Geld stritt, so dass Calvin sich genötigt sah, zwischen den Parteien zu vermitteln, auch um des guten Rufs der Genfer Schule willen. Seine Bemühungen verhinderten allerdings nicht, dass sich Gerüchte über Auseinandersetzungen zwischen Castellio und den Schwägern wie ein Lauffeuer verbreiteten. Bis zum Sommer 1542 hatte sich der Sturm zwar gelegt, doch der überlastete Calvin befürchtete, dass die Herren sich bald erneut in den Haaren liegen würden, wie er in einem Brief an Pierre Viret klagte.39 Einen Monat später machte Calvin sich in einem weite­ ren Brief an Viret über Castellios Übersetzung des Neuen Testaments ins Französische lustig. Seiner Ansicht nach ließen sie und Castellios übersetzerische Fähigkeiten überhaupt viel zu wünschen übrig. Er wollte die Veröffentlichung zwar nicht verhindern, verlangte aber von Castellio, die Übersetzung erst von ihm korrigieren zu lassen. Castellio lehnte dies selbstverständlich ab, erklärte sich aber bereit, zusammen mit Calvin die kritisierten Stellen durchzugehen, wann immer es dem Reformator zeitlich passte. Worauf Calvin entgegnete, er könne nicht zwei Stunden mit ihm über ein einziges Wort diskutieren.40 Was Castellios wachsenden Unmut über Calvin angeht, sind die Quellen spärlicher. In jenen Jahren spielte Calvin in Genf schon eine ganz andere Rolle als in Straßburg: Dort hatte er im 48


je näher der kirche, desto ferner von gott

Stillen agiert, war vor allem ein Denker gewesen, der die evangelischen Ideale in Worte fasste. In seiner zweiten Genfer Zeit wurde Calvin auch zum erfolgreichen Organisator, schließlich hatte man ihn zurückberufen, damit er der reformatorischen Bewegung eine feste institutionelle Form gab und ihre Normen gesetzlich verankerte. Calvin, der unter anderem Römisches Recht studiert hatte, konnte den Juristen in sich nie verleugnen. Zunächst entwarf er eine Kirchenordnung und nahm Einfluss auf die Formulierung der Ehegesetze der Stadt. Aus dem Scheitern seines ersten Anlaufs in Genf hatte er gelernt, dass er eine stabile Machtbasis brauchte. Innerhalb weniger Jahre versicherte er sich der Unterstützung praktisch der gesamten Predigerschaft, wobei er sich als gewiefter Machtpolitiker erwies; Kritiker drängte er an den Rand und ersetzte sie durch loyale Anhänger. So wurde beispielsweise der kritische Pfarrer Henri de la Mare systematisch benachteiligt, als Einzigem wurde ihm eine Erhöhung der Bezüge verweigert, er musste sich mit einem baufälligen Haus begnügen, dem eine Außenwand fehlte und das trotz wiederholter Bitten nicht instand gesetzt wurde.41 Castellio sah, wie sich in Genf der Charakter der reformatorischen Bewegung veränderte. Die Reformierten waren keine bedrohte Minderheit mehr, sondern übernahmen nach und nach die Macht in der Stadt. Eine solche Entwicklung konnte Castellio nicht gutheißen, er war und blieb der Fremde und Außenseiter, dessen Herz für die Minderheit schlug. Aber noch etwas anderes war für die Entfremdung zwischen Castellio und Calvin verantwortlich. Auch Calvins Theologie bekam in jener Zeit eine festere Form, er arbeitete die Institutio weiter aus und grenzte den « wahren » reformierten Glauben deutlicher von anderen Konfessionen ab. In der Ausgabe der Institutio von 1541 betonte er, dass der Mensch niemals einem blinden Schicksal ausgeliefert sei, sondern sicher in Gottes 49


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Hand ruhe. Eine logische Konsequenz dieser Überzeugung war für ihn die Prädestinationslehre. Allein Gottes Ratschluss bestimme über das Leben des Menschen.42 Für Calvin war die Prädestinationslehre der höchste Ausdruck von Gottvertrauen, Castellio dagegen hegte große Bedenken; seiner Ansicht nach nahm eine solche Lehre dem Menschen die Verantwortung für ethisch richtiges Handeln. In den turbulenten Jahren unmittelbar nach Calvins und Castel­lios Übersiedlung nach Genf machten also beide eine Entwicklung durch. Viele Gemeinsamkeiten blieben, doch immer deutlicher zeichnete sich auch ab, dass Calvins Reforma­ tion eine Richtung einschlug, die Castellio nicht gutheißen konnte. Als 1542 in Genf die Pest ausbrach, wurde der latente Konflikt zu einem offenen. Die Pestkatastrophe versetzte auch die Genfer Compagnie des Pasteurs in eine außerordentlich angespannte Lage. Wer sollte den Pestkranken geistlichen Beistand leisten? Die Pfarrer der Stadt drückten sich vor dieser lebensgefährlichen Aufgabe, einer erklärte sogar öffentlich, sie gingen noch lieber zum Galgen als zum Pesthospital. Nur Castellio bot seine Dienste an, doch er war, obwohl er wie erwähnt in Vandœuvres predigte, offiziell kein Pfarrer.43 Der Genfer Magistrat schickte deshalb statt Castellio Pierre Blanchet ins Hospital. Als Blanchet starb, stand man wieder vor dem gleichen Problem; diesmal wurde ein gewisser Simon Moreau auserwählt, den Pestkranken beizustehen – keine glückliche Wahl, da Moreaus Lebenswandel nicht gerade calvinistischen Moralvorstellungen entsprach. Nach Moreau fiel das Los auf einen Mathieu de Geneston. Das Theater um die Auswahl eines Seelsorgers für das Pest­ hospital führte anscheinend zu einer weiteren Verschlech­te­ rung des Verhältnisses von Calvin und Castel­lio. Außerdem verschlimmerten sich durch die Pest die Lebensbedingungen 50


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auch derjenigen, die von der Seuche selbst verschont blieben; es herrschte Mangel an Getreide, viele Genfer hungerten. Vielleicht lag es unter anderem an diesen ungünstigen Umständen, dass Castellio erkrankte. 1543 fasste er den Entschluss, Genf zu verlassen. Er bat den Magistrat, nach einem Nachfolger zu suchen; bis der gefunden sei, wollte er auf seinem Posten bleiben. Immer deutlicher zeichnete sich in dieser Zeit ein theologischer Dissens zwischen Castellio und Calvin ab. Als man im Rat der Stadt erwog, Castellio offiziell zum Prediger zu ernennen – was auch die Möglichkeit bot, sein spärliches Einkommen zu erhöhen –, legte Calvin Einspruch ein. Das Argument, Castellio habe sich in Vandœuvres bewährt, fegte er vom Tisch: Castellio habe nur hin und wieder gepredigt, außerdem sei das ohne sein Wissen geschehen. Calvin wollte um jeden Preis eine einheitliche reformierte Predigerschaft nach seinen Vorstellungen und war deshalb fest entschlossen, Castellios Ernennung zu verhindern. Er hielt ihn für ungeeignet, weil nicht alle seine Standpunkte mit der reformierten Lehre übereinstimmten. So vertrat Castellio andere Ansichten über ein Detail des Glaubensbekenntnisses und über das Hohelied. Über den ersten Punkt – Castellio legte Christi Höllenfahrt eine andere Bedeutung bei – hätte Calvin vielleicht noch hinweggesehen, über den zweiten nicht. Castellio bezweifelte nämlich offen den geistlichen Charakter des Hohenliedes. War es nicht ein profanes Liebesgedicht? Vor allem das 7. Kapitel sei doch eher Ausdruck weltlicher Begierden als ein vom Heiligen Geist inspirierter Text.44 Diese wörtliche Interpretation war schon von der frühen Kirche (Konzil von Konstantinopel, 553) zurückgewiesen worden, und im Lauf des Mittelalters hatten sich die Exegeten immer deutlicher für eine geistliche und gegen eine buchstäbliche Interpretation ausgesprochen: Das Hohelied handle von 51


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der Liebe Christi zu seiner Kirche, von der Liebe zwischen Christus und der gläubigen Seele oder von der Liebe Christi zu Maria – auf keinen Fall aber von der irdischen Liebe Salomos zur Tochter des Pharao. Mit seiner Ansicht schwamm Castellio also gegen den Strom. Er war nicht der Einzige, doch das machte die Sache nur schlimmer: In Paris beispielsweise stellten sogenannte li­ber­­tins unter Verweis auf das Hohelied die Autorität der Bibel ins­ gesamt in Frage. Sie argumentierten, ein Buch, das ein profanes Liebesgedicht wie das Hohelied enthalte, könne nicht göttlichen Ursprungs sein. Ein Briefpartner Calvins hatte den Reformator schon warnend auf die Verbreitung dieser libertinistischen Ansichten hingewiesen; sie untergrüben das Fundament des Protestantismus, die Heilige Schrift selbst. Castellios Äußerungen zum Hohenlied mussten also bei Calvin Alarmglocken zum Läuten bringen.45 Obwohl Castellio sich theologisch auf gefährliches Terrain wagte – seine Ansicht über das Hohelied widersprach nicht nur der traditionellen kirchlichen Lehre, sondern berührte bei Calvin selbst einen empfindlichen Punkt –, versuchte Calvin nicht, sich Castellios ganz zu entledigen. Als Prediger hielt er ihn für ungeeignet, da die erstrebte Einheit der reformierten Kirche nicht gefährdet werden dürfe; angesichts von Castellios Begabung und Verdiensten könne aber eine andere Aufgabe für ihn gefunden werden. Calvins Urteil über Castellio zu jener Zeit erscheint ambivalent. Seiner Ansicht nach war Castellio zu eigensinnig und überschätzte seine Gelehrtheit. In einem Brief behauptete Calvin aber, er suche nach einer Möglichkeit, ihm entgegenzukommen.46 Calvins Eindruck, dass Castellio ihn negativer beurteile als umgekehrt, war vermutlich richtig. Castellio war 1544 tief enttäuscht von der Reformation Calvins und seiner Anhänger. Statt sich den Apostel Paulus zum Vorbild zu nehmen, seien 52


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die Prediger herrschsüchtig geworden. Wie man Paulus in den Kerker geworfen habe, so ließen nun die Genfer Geistlichen jeden ins Gefängnis werfen, der ihnen widerspreche. Statt wie Paulus Verfolgung zu erleiden, verfolgten die Prediger Unschuldige.47 Castellios Verhältnis zur Reformation war also schon 1544 recht kompliziert. Es gab persönliche Reibereien zwischen ihm und dem Genfer Reformator, er hatte nicht nur über das Hohelied, sondern möglicherweise über die Autorität der Bibel allgemein andere Ansichten als Calvin. Das Entscheidende war aber vielleicht seine Enttäuschung darüber, dass die Reformierten der ganzen Welt ihre neue Ordnung aufzwingen wollten. Jahre später schrieb er, die Reformation habe als religiöse Bewegung begonnen, inzwischen seien die Reformierten jedoch nicht anders als die römische Kirche von weltlichem Machthunger getrieben.48 Castellio hatte einmal gehofft, durch eine Erneuerung des Glaubens würden die Gläubigen zu besseren Menschen werden, doch jetzt sah er bei den Reformierten die gleichen Laster wie bei den Katholiken. Als besonders schrecklich empfand er, dass die reformierten Prediger, einmal zur Macht gekommen, ihre früheren Verfolger nachahmten und nun ihrerseits Menschen verfolgten.49

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