BIBLIOTHEK HISTORISCHER DENKWÜRDIGKEITEN SEBASTIAN CASTELLIO DIE KUNST DES ZWEIFELNS UND GLAUBENS DES NICHTWISSENS UND WISSENS DE ARTE DUBITANDI ET CONFIDENDI IGNORANDI ET SCIENDI
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BIBLIOTHEK HISTORISCHER DENKWĂœRDIGKEITEN Herausgegeben von Wolfgang F. Stammler
Der Alcorde Verlag ist Mitglied im Freundeskreis der Kurt Wolff Stiftung
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Sebastian Castellio
DIE KUNST DES ZWEIFELNS UND GLAUBENS DES NICHTWISSENS UND WISSENS De arte dubitandi et confidendi ignorandi et sciendi Aus dem Lateinischen 端bersetzt von Werner Stingl Eingef端hrt und kommentiert von Hans-Joachim Pagel Herausgegeben von Wolfgang F. Stammler
ALCORDE VERLAG 3
Castellios Bronzebüste des Bildhauers François Bonnot vor der Kirche von Vandœuvres, eingeweiht am 30. Mai 2015. Über diese Büste sagte der Künstler: « Es liegt eine Liebe in seinem Blick, die allzu oft seinen damaligen Kollegen abging. Er will uns sagen, dass Gott nur ein Gott der Befreiung sein kann, nicht aber ein Gott der Unterwerfung. Castellio flößt Respekt ein, nicht durch sein akademisches Wissen, sondern durch seine Demut und Schwachheit. Sebastian wurde, wie der gleichnamige Heilige, von den Pfeilen seiner theologischen Gegner durchbohrt. Doch was soll’s, er ist lebendiger als sie. »
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INHALT
Vorwort des Herausgebers 6 Einführung 9 Die Kunst des Zweifelns und Glaubens, des Nichtwissens und Wissens De arte dubitandi et confidendi irgnorandi et sciendi Erstes Buch 19 Zweites Buch 55 ANHANG
Anmerkungen 346 Quellen und Darstellungen 388 Bildnachweis 397 Verzeichnis der Bibelstellen 398
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VORWORT
Die Kunst des Zweifelns beginnt in einem kleinen Dorf. Es liegt in Bugey, einer fruchtbaren Landschaft im heutigen Departement Ain, etwa siebzig Kilometer westlich von Genf und achtzig Kilometer südöstlich von Lyon. Hier, in St. Martin du Fresne mit seinen heute 1027 Einwohnern, wurde Sebastian Castellio 1515 geboren. Weitab vom großen Weltgetriebe liegt es wie viele der zahlreichen kleinen Dörfer hingestreut in ein weites Tal unweit des Lac du Nantua. Mit ein wenig Phantasie kann man noch heute den Geist jener Zeit erahnen, als der Bauer Claude Chastillon mit seiner Familie hier lebte. Es ist dieses Dorf, das in kaum einer anderen seiner Schriften so gegenwärtig ist wie im De arte dubitandi. Man spürt, wie entscheidend ihn dieses Dorf geprägt hat. Bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr war er selbst Teil dieser dörflichen Gemeinschaft, hat das bäuerliche Handwerk erlernt, dem Vater geholfen, den Acker zu pflügen und die Saat auszubringen, die Bäume zu beschneiden, zu pfropfen und zu veredeln. Hier hat ihn der Umgang mit der Natur gelehrt, das Gute vom Schlechten zu unterscheiden und mit Nachsicht und Geduld dem weniger Guten zum Besseren zu verhelfen. Doch welch tieferer Sinn sich darin verbirgt, begann er erst später zu ermessen, als die Beschäftigung mit Fragen der Religion und dem christlichen Verständnis der Bibel – vor allem auf dem Hintergund der reformatorischen Wirren und Zerwürf nisse – ihn immer stärker drängte, eigene Antworten darauf zu finden. Die Summe seines Nachdenkens über Gott und das Wesen christlichen Handelns findet sich in der Kunst des Zweifelns. Viel ist darin von der Natur die Rede. Für Castellio ist sie als Gottes Schöpfung sinnfälligster Ausdruck der in ihr wirkenden göttlichen Vernunft. Sie verstehen zu lernen, so Castellio, heißt 6
vorwort des herausgebers
zu erkennen, dass sie gut ist, wie auch der Mensch von Grund auf gut ist. Das gilt auch für das Verhältnis zwischen Menschen und Natur. Da die Natur nach dem Schöpfungsbericht den als Gottes Ebenbild geschaffenenen Menschen zur Pflanzung und Mehrung übergeben wurde, ist sie ihm damit gleichsam in Stellvertretung Gottes übertragen worden. Über sie zu herrschen heißt damit, ihr zu dienen und sie zu verstehen, sie zu heilen und und zu verbessern, wie es Jesus später vorlebte. Dieser Gedanke durchzieht viele Schriften Castellios und am deutlichsten hier, wo er mit der Kunst des Zweifelns beginnt, die den Menschen lehren soll, das von Gott Gemeinte von dem zu unterscheiden, was von Menschen erdacht oder hinzugedacht wurde. Schon in seiner Vorrede nennt er seine Schrift eine «Pflan zung» und vergleicht sein Tun mit dem eines Bauern, der sät in der Hoffnung, dass ein Teil der Saat auf guten Boden fällt. Aus der Überzeugung, dass in der Natur dieselbe Vernunft und Weisheit walten wie in den Menschen, ergibt sich für ihn die Aufgabe, dem Beispiel des Bauern folgend, der der Natur dient, kraft dieser Vernunft dem Menschen zu dienen, ihn zu veredeln und zu verbessern. Wenig später, im 4. Kapitel, geht er sogar so weit, im Zusammenhang mit der für ihn zentralen Lehre der Gerechtigkeit von einer Art Agrikultur des GeistigSeelischen zu sprechen. Castellio war und blieb bei all seiner Gelehrtheit stets der savoyardische Bauernsohn. Ob später in Lyon, in Straßburg, in Genf oder in Basel, er trug diese Herkunft überall in und mit sich, wie die Fischer und Handwerker, die Jesus nachfolgten, auch ihre Herkunft nie verleugneten. Die Imitatio Christi wurde für ihn zum Leitmotiv seines Lebens, Denkens und Schaffens, was für ihn bedeutete, die Weisheit nicht in den Köpfen, sondern in den Herzen der Menschen zu suchen, in die Gott alle Geheimnisse seiner Wahrheit hineingeschrieben hat. 7
vorwort des herausgebers
Das Manuskript, vermutlich erst sechs Monate vor seinem Tod begonnen, lässt die Hast erkennen, in der er das De arte geschrieben hatte, so als ahnte er bereits sein nahendes Ende. Die Erschöpfung nach den nicht enden wollenden Kämpfen mit seinen Genfer Gegnern, die wenige Wochen vor seinem Tod sogar noch in einer Anklage wegen Ketzerei gipfeln sollten, ist bisweilen förmlich zu greifen. In keinem seiner Werke kann man Castellio so erfahren wie in diesem: kämpferisch, verzweifelt ringend um ein rechtes Verständnis einer von Dogmen verstellten Wahrheit, verstellt von einem unbedingten, sich bis zum Hass steigernden und mörderischen Willen, Recht zu behalten gegen Andersdenkende, verstellt von Menschen, die sich von Gott berufen fühlen, das Himmelreich auf die Erde herabzuzwingen und die ihnen anvertrauten Schafe in ein Sound-nicht-anders zu versklaven. Noch während ich an der Herausgabe dieses Werkes arbeitete, hatte ich Gelegenheit, anlässlich eines Festes, das die Bürger von St. Martin du Fresne zum 500. Geburtstag ihres großen Sohnes ausgerichtet hatten, dieses Dorf und seine Bewohner kennenzulernen und zusammen mit ihnen zu feiern. Hier, in der Begegnung und in den Gesprächen mit diesen unverstellten, offenen und selbstbewussten Menschen, war mir, als begegnete ich in dem Gelehrten, den ich bereits einn wenig zu kennen glaubte, nun auch dem Menschen Castellio. Den St. Martinois, wie sie sich nennen, gilt daher neben dem Übersetzer Dr. Werner Stingl, dem Lektor und Kommentator dieses Bandes, Hans-Joachim Pagel, und Dr. Adrie van der Laan von der Bibliothek Rotterdam, Erasmuszaal, für seine vollständige Übermittlung des Castellio-Manuskripts mein größter Dank. Wolfgang F. Stammler September 2015
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EINFÜHRUNG
von Hans-Joachim Pagel
»Am Anfang des Evangeliums, da Gottes Wort durch die Apostel lauter und rein gepredigt wurde und noch kein Menschengebot, sondern nur die Heilige Schrift maßgeblich war, schien es, als sollte es keine Not geben, weil die Heilige Schrift unter den Christen die Kaiserin war. Aber [sieh’ an,] was der Teufel nicht alles zuwege brachte! Er ließ es zunächst geschehen, daß allein die Schrift galt und kein pharisäisches, jüdisches Gebot oder Werkgesetz mehr anerkannt werden sollte; er hatte aber seine Handlanger in den Lehrstätten der Christen, durch welche er heimlich in die Heilige Schrift schlich und kroch. Als er nun hineingekommen und der Sache gewiß war, brach und riß er aus nach allen Seiten, richtete ein solches Durcheinander in der Schrift an und machte viele Sekten, Ketzerei und Rotten unter den Christen.«1 Als Martin Luther das 1527 schrieb, befand er sich mitten im Streit: im Streit mit Zwingli über das rechte Verständnis des Abendmahls, in dem man sich bekanntlich nicht einigen konnte, so dass Lutheraner und Reformierte (wie sie später hießen) fortan getrennte Wege gingen. Es war ein Streit um Worte, genauer: um ein einziges Wort, das Wort »ist« in den Einsetzungsworten Jesu: »Das ist mein Leib, das ist mein Blut.« Brot und Wein, den Jüngern gereicht, sollen also Leib und Blut »sein«. Wie ist das zu verstehen? Wörtlich oder bildlich? Darüber konnte man sich nicht einigen. War der Teufel also heimlich sogar bis in dieses eine kleine Wort gekrochen? Er hockte schon längst darin, denn über das Abendmahl 9
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wurde seit Jahrhunderten gestritten. Castellio geht am Schluss seiner Kunst des Zweifelns darauf ein (II 38–44) und wählt es als eines der fünf Beispiele, die er aus den vielen Fragen herausgreift, über die die Theologen seiner Zeit uneins waren. Sie stritten über das Abendmahl, die Taufe, die Buße, die Erbsünde, die Rechtfertigung, den Glauben, den freien Willen, die guten Werke, die Mitwirkung des Menschen an seinem ewigen Heil, die Trinität, die göttliche Erwählung und Prädestination, die Klarheit oder Dunkelheit der Heiligen Schrift, Geist oder Buchstaben, die Dogmen der kirchlichen Tradition, die Heiligen- und Bilderverehrung, die Kompetenz der staatlichen Instanzen, über Glaubensfragen zu urteilen, die Bestrafung, gar Tötung von Ketzern und wer das wohl sei, und, ja, worüber eigentlich nicht? Waren da nicht auch wieder die Handlanger des Teufels in die Lehrstätten der Christen und in die Tintenfässer der Theologen gekrochen, wenn sie ihre Streitschriften verfassten und einer den anderen der Irrlehre bezichtigte? Doch es blieb ja nicht bei Schriften, es wurde nicht nur darüber diskutiert, ob man Ketzer bestrafen solle: Man tat es, trieb sie außer Landes, ertränkte sie und verbrannte sie lebendigen Leibes. Ja selbst Tote holte man aus ihren Gräbern und verbrannte ihre Gebeine mitsamt ihrem Bild und ihren Schriften auf dem Scheiterhaufen – so geschehen zu Basel am 13. Mai 1559, nachdem man offiziell erfahren hatte – inoffiziell wussten es manche schon lange –, dass der vor drei Jahren gestorbene angesehene Kaufmann Jan van Brugge in Wahrheit der aus den Niederlanden vertriebene Täuferführer und Prophet David Joris war, ein «Erzketzer». Castellio, der ihn persönlich gekannt und gewusst hatte, wer er war, der Schriften von ihm ins Französische übersetzt hatte, musste dem Feuerspektakel zusehen.2 Und warum das alles? Um der reinen Lehre willen, zur Ehre Gottes? Beriefen sich denn nicht alle – wenigstens 10
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alle Evangelischen – gleichermaßen auf die Heilige Schrift? Und dennoch verketzerte einer den anderen und der andere den einen, nur weil sie die Schrift unterschiedlich auslegten. Castellio hatte das am eigenen Leib erfahren. Schon in Genf fing das an.3 Dort war er als frisch gebackener Schullehrer mit Calvin und der Pfarrerschaft zusammengestoßen, weil er in einigen Punkten der Lehre abweichender Meinung war: Er fasste das Hohelied Salomos als weltliche Liebesdichtung auf, die eigentlich nicht in den Kanon gehöre, und er deutete den Satz im Glaubensbekenntnis über Christi Aufenthalt in der Unterwelt anders als Calvin. Das genügte, ihn aus seinem Schuldienst zu entlassen und ihm das gewünschte Pfarramt zu verweigern. Das war im Sommer 1544. Castellio ging nach Basel, wurde Korrektor bei dem Drucker-Verleger Johannes Oporin und 1553 Professor für Griechisch an der Universität. Hier arbeitete er unter anderem an seinen Bibelübersetzungen ins Lateinische und Französische, die ihm ebenfalls heftige Kritik eintragen sollten. Doch vorher kam der große Streit, mit dem sich Castellios Name vor allem für die Nachwelt verbinden sollte: der Streit um die Glaubens- und Gewissensfreiheit, ausgelöst durch den Prozess gegen den Antitrinitarier Michael Servet4 und dessen Verbrennung als «Ketzer» am 27. Oktober 1553 vor den Toren Genfs – auf Betreiben Calvins, der mit der Inquisition zusammengearbeitet hatte.5 Hier mischte sich Castellio ein mit seiner berühmt gewordenen Anthologie De haereticis an sint persequendi (Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll)6 und stellte den Begriff «Ketzer» grundsätzlich in Frage, indem er auf den inflationären Gebrauch dieses Wortes hinwies: Jeder halte jeden, der anders denkt als er, für einen Häretiker.7 Diese Einmischung löste eine scharfe Debatte vor allem mit Calvin und Beza aus,8 in der auch die Frage eine wichtige Rolle spielte, ob staatliche Instanzen sich in Religionsangelegenheiten einmischen 11
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oder kirchliche Instanzen die staatlichen für ihre Zwecke in Dienst nehmen dürfen, was Luther einst heftig abgelehnt hatte.9 Als weitere Themen in der Kontroverse kamen Calvins Prädestinationslehre und Castellios Bibelübersetzungen hinzu. Der Streit wurde mit ungleichen Waffen geführt: Calvin und Beza konnten veröffentlichen, was sie wollten, Castellio unterlag – ebenfalls auf hartnäckiges Betreiben Calvins – der Basler Zensur, die seit dem Erscheinen des De haereticis verschärft worden war, so dass seine Erwiderungen zu seinen Lebzeiten ungedruckt blieben.10 Und es war ein von Anfang an vergifteter Streit, von Calvin und Beza mit allen Mitteln der Verleumdung und ehrverletzenden Beleidigungen ihres Gegners geführt,11 die darin gipfelten, dass sie ihn (im Blick auf seine Bibelübersetzungen) als «Instrument des Teufels zur Verwirrung der Gläubigen» bezeichneten,12 ja, so Calvin, als Teufel selbst13. Castellio hat sich dagegen gewehrt mit seiner persönlichsten Schrift, der Defensio.14 Es ging auch in dieser Auseinandersetzung immer wieder um die Auslegung der Bibel, und das ließ Castellio nach einem Kriterium suchen, mittels dessen man zwischen richtig und falsch unterscheiden lernen kann. Mit diesem Thema beschäftigte er sich in seiner letzten Arbeit, der Kunst des Zweifelns, geschrieben 1563 in seinem letzten Lebensjahr und nicht mehr ganz bis zur Druckreife vollendet. In ihr fasste er zusammen und führte weiter, was in seinen Bibelübersetzungen mit ihren Anmerkungen und Vorworten und in seinen theologischen Schriften der 1550er und frühen 1560er Jahre schon angelegt war. Sie ist in zwei Bücher unterteilt. Das erste, grundsätzliche, entfaltet Castellios hermeneutisches Prinzip: Was man sicher wissen kann, braucht nicht geglaubt zu werden. Was geglaubt werden kann, darf den Urteilen des Verstandes und der Sinne 12
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zumindest im Prinzip nicht widersprechen, auch wenn es sie übersteigt. Was ihnen klar widerspricht, ist zu verwerfen. Im zweiten Teil konkretisiert er das an einigen Beispielen: den umstrittenen Themen Trinität, Glauben, Rechtfertigung, Gnadengaben Christi und Abendmahl. Was man weiß und nicht zu beweisen braucht, ist, dass es Gott gibt, dass er die Welt regiert und gerecht ist (I 1–3). Was man wissen und beweisen kann, ist, dass die Lehre des Christentums, wie sie in der Heiligen Schrift überliefert ist, die beste aller Lehren über Gott und den Menschen ist. Aber nicht deshalb, weil sie das meiste Wissen vermittelt, sondern weil sie den Menschen zu wahrer Selbsterkenntnis führt und ihm den Weg weist, Gottes Willen gemäß zu leben (I 4–10). Auf die Einwände, dass in den heiligen Schriften vieles dunkel sei, dass sie Fehler und Widersprüche, ja hier und da sogar Absurdes enthalte, entgegnet Castellio, dass man in ihr verschiedene Textarten unterscheiden müsse, denen unterschiedlich große Verbindlichkeit zukomme: göttliche Offenbarungen, Erzählungen über historische Ereignisse und persönliche Meinungen der Autoren (I 11–14). Auf den Einwand gegen eine solche Unterscheidung: dass die biblischen Schriften doch vom Heiligen Geist eingegeben seien, deshalb keine Irrtümer enthalten könnten und in allem geglaubt werden müssten, antwortet er, nur in der Sache, dem wesentlichen Inhalt und Sinn seien die biblischen Autoren vom Heiligen Geist geleitet, nicht im Wortlaut. Als ein Beispiel dafür zitiert er die Einsetzungsworte Jesu beim Abendmahl, die bei Matthäus und Lukas unterschiedlich formuliert sind (I 15–16). Nach diesen eher einleitenden Ausführungen über die Geltung der Heiligen Schrift wendet sich Castellio seinem Hauptthema zu unter der Leitfrage, woran man sich denn nun halten solle, woran man erkennen könne, was an den vielen Lehrmeinungen wahr oder falsch sei (I 17). Er nimmt die 13
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schon im Titel genannte Unterscheidung von Glauben und Zweifeln, Wissen und Nichtwissen jetzt genauer in den Blick (I 18–22) und entwickelt dann ausführlich seine schon erwähnten Kriterien für die Wahrheitsfindung: die Urteile des Verstandes und der Sinne (I 23–33). Man kann ihnen grundsätzlich vertrauen, denn Verstand und Sinne sind eine Schöpfungsgabe Gottes und keineswegs (das geht gegen Calvin) durch den Sündenfall gänzlich verdorben. Auch Jesus hat seine Zuhörer auf ihren gesunden Menschenverstand und ihre Erfahrung hin angesprochen. Ihr Urteil kann allerdings durch verschiedene, von außen oder von innen kommende Beeinträchtigungen getrübt sein (körperliche und geistige Behinderungen, Sinnestäuschungen, «fleischliche» Leidenschaften). Mit diesen Kriterien geht Castellio dann im zweiten Buch an die schon erwähnten Streitfragen heran. Mit dem Trinitätsdogma ist er schnell fertig (II 2). Er wählt dafür die Form des Dialogs, die man aber getrost als Parodie eines solchen nehmen kann: Ein dogmatischer Starrkopf sagt sein Glaubensbekenntnis auf und erwidert die Einwände seines Gegenübers nicht nur nicht, sondern hört sie gar nicht, so dass nicht einmal der Ansatz eines Gesprächs in Sicht kommt. Das nächste Kapitel über den Glauben (II 3–6) ist unvollständig, es bricht mitten im Satz ab.15 Castellio hebt hier folgenden Aspekt hervor: Glaube ist eine Sache des Willens und nicht des Erkennens und damit auch nicht des Wissens (wieder gegen Calvin). Er ist deshalb auch nicht ausschließlich ein Geschenk Gottes, wenngleich er das auch sein kann. Geschenk Gottes ist das Heil, das dem Glaubenden zugesagt wird. Auf diese Zusage vertrauen heißt glauben. Das ist ein Akt freier Willensentscheidung.16 Das folgende Kapitel über die Rechtfertigung ist das umfangreichste (II 7–29)17 und zeigt noch deutlicher, worin Castellio anders denkt als die Reformatoren. Das ist vor allem 14
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deren zentrale Ansicht, dass dem Menschen, der an Christus und seine erlösende Tat glaubt, von Gott die Gerechtigkeit Christi zugerechnet werde. Gegen diese «Zurechnung» [imputatio] wird Castellio nicht müde zu argumentieren. Dem Glaubenden werde Gerechtigkeit nicht zugerechnet, er werde gerecht gemacht. So wie Christus körperlich Kranke tatsächlich gesund gemacht hat, so mache er auch seelisch-geistig Kranke18 tatsächlich gesund; Rechtfertigung sei Gerechtmachung. Das führt er in vielen Kapiteln aus, in denen er sich auch mit den Schriftbeweisen für und gegen die Imputation auseinandersetzt (II 7–23 [2]).19 Dabei wehrt er das Missverständnis ab, der Mensch werde gleichsam mit einem Schlag vollkommen gerecht (das widerspräche jeder Erfahrung), vielmehr sei das ein langer Prozess. Aber auch die unvollkommene Gerechtigkeit sei Gerechtigkeit, so wie das schwache Licht der Sterne gleichwohl Licht sei, wenn auch weit weniger als das volle Licht der Sonne (II 16–17). Abschließend erläutert er sein Verständnis von Rechtfertigung noch einmal anhand des Gleichnisses vom Pfropfen aus Röm 11 (II 26–29). Das sich anschließende vierte Kapitel über die Gnadengabe Christi (II 30–37) ist eher ein Anhang zu dem vorhergehenden. Es beschreibt noch einmal die dem Menschen durch Christus zuteil werdenden Gaben Sündenvergebung und Gerechtmachung und nennt als Voraussetzung für deren Empfang wieder die Hinwendung des Menschen zu Gott. Das Schlusskapitel über das Abendmahl (II 38–44) wirkt ebenfalls fragmentarisch, zumal das letzte Kapitel, das die ganzen Auseinandersetzungen eher etwas unwillig abbricht als abschließt. Zunächst erläutert er den Unterschied zwischen wörtlichem und bildlichem Sinn biblischer Rede, der ihn zu dem Schluss führt, dass die Einsetzungsworte Jesu «Das ist mein Leib, das ist mein Blut» nur symbolisch verstanden werden können; sie wörtlich zu nehmen sei schlicht widersinnig. Von da15
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her lehnt er sowohl die scholastische Transsubstantiationslehre wie auch Luthers Abendmahlsverständnis entschieden ab. Für ihn ist das Abendmahl eine reine Symbolfeier zum Gedächtnis an die Erlösungstat Christi. Worin besteht nun die Kunst des Zweifelns? Man könnte es ganz knapp so sagen: unterscheiden lernen, sich des eigenen Verstandes bedienen und nicht blind anderen Autoritäten (und sei es die der Bibel) folgen. Daraus folgt auch: die eigene Ansicht oder Erkenntnis als Meinung zu erkennen, sich also nicht im Alleinbesitz der Wahrheit zu glauben, sondern davon abweichende Meinungen gelten zu lassen. Im Blick auf den Glauben heißt unterscheiden lernen: erkennen, was für das Heil des Menschen notwendig ist und was nicht. Notwendig ist, sich von sich selbst ab- und Christus zuzuwenden und zu tun, was er geboten hat. Nicht notwendig ist, sich in theologischen Spekulationen zu ergehen, die von diesem Einen ablenken. Denn dass und was einer glaubt, wird erkennbar nicht an dem, was er denkt und sagt, sondern an dem, was er tut. Man könnte Castellios Kritik an den Dogmatikern unter das eine Jesuswort stellen: «Was nennt ihr mich Herr, Herr, und tut nicht, was ich euch sage?» (Lk 6,46) Verstehen wir Castellio so – und er wird sich so nicht missverstanden fühlen –, dann ist er unser Zeitgenosse.
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einführung anmerkungen
1 Luther: Daß diese Worte Christi, »Das ist mein Leib« noch fest stehen, wider die Schwärmgeister (April 1527), in: WA 23, S. 64; zitiert nach: Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen III, S. 146. 2 Siehe dazu Guggisberg, Castellio, S. 168–171; van Veen, S. 176 f. 3 Vgl. zu allem Biographischen, das im Folgenden nur angedeutet wird, Guggisberg, Castellio, und die für einen größeren Leserkreis gedachte Castellio-Biographie von Mirjam van Veen, welche jetzt auch in deutscher Übersetzung vorliegt (siehe Bibliographie). 4 Vgl. zu Servet vor allem die Biographie von Bainton; zum Prozess auch Plath, Der Fall Servet, S. 75–88. 5 Vgl. Castellio, «Bericht über den Tod Servets», in: Das Manifest der Toleranz, S. 39–48; dazu Plath, Der Fall Servet, S. 106–115. 6 Nachzulesen in: Castellio, Das Manifest der Toleranz, S. 49–207. 7 «Dies erhellt bereits aus der Tatsache, dass es unter allen Sekten (deren es heutzutage unzählige gibt) kaum eine gibt, die nicht die andern für Ketzer hält, so dass du, wenn du in der einen Stadt oder Gegend ein Rechtgläubiger bist, in der nächsten als Ketzer giltst.» Ebd., S. 65 f. 8 Vgl. Guggisberg, Castellio, Kap. V und VI, wieder abgedruckt in Castellio, Das Manifest der Toleranz, S. 221–308. Ferner Plath, Der Fall Servet, S. 138–176. Vgl. vor allem Castellios Generalangriff auf Calvins Vorgehen gegen Servet in: Gegen Calvin. 9 Castellio zitiert in Das Manifest der Toleranz, S. 73–86, ausführlich aus Luthers Schrift Von weltlicher Obrigkeit (1523). Dass Luther später anders dachte, wusste er. 10 Mit Ausnahme der Verteidigung seiner Bibelübersetzungen, der Defensio suarum translationum Bibliorum, et maxime Novi Foederis, Basel 1562, die er aber auch erst fünf Jahre nach ihrer Fertigstellung in zensierter Fassung drucken lassen konnte. 11 Vgl. die unten in Anm. 168 zitierte Schimpfwörterliste. 12 Dies steht ausgerechnet im Vorwort ihrer gemeinsamen französischen Übersetzung des Neuen Testaments, Le Nouveau Testament […] (Genf 1560), S. 4, zitiert bei Guggisberg, Castellio, S. 205. 13 Die Schrift Calvins, die zum Anlass für Castellios Defensio wurde (siehe die folgende Anm.), schließt mit den Worten: «Compescat te
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anmerkungen zur einführung
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Deus, Satan» (Möge Gott dich in Fesseln schlagen, Satan). In: van Veen, S. 243. Nicht nur Luther also sieht den Teufel am Werk bei seinen Gegnern. Defensio ad Authorem libri, cui[us] titulus est, Calumniae Nebulonis (1558), jetzt auch in deutscher Übersetzung in: van Veen, Anhang, S. 235 ff.. Siehe dazu unten Anm. 144. Hier wäre auch Castellios Dialog De Libero Arbitrio (1558) heranzuziehen, der erstmals in den Dialogi IIII (1578) veröffentlicht wurde. Dieses Kapitel des De arte dubitandi ist früher schon einmal veröffentlicht worden; siehe dazu unten Anm. 145. Sünde (Laster, Ungerechtigkeit, Selbstliebe, Selbstsucht etc.) ist für Castellio ein morbus animi, eine Erkrankung des Menschen in seinem Denken, Fühlen, Wollen. Animus lässt sich kaum mit nur einem Wort übersetzen. Diese Kapitel lassen sich fast wie ein Kommentar zu Calvins Institutio lesen, auch wenn dessen Name nicht fällt. Castellio nennt in vielen seiner Schriften keine Namen, wenn er auf die Ansichten anderer eingeht, auch hier in der Kunst des Zweifelns nicht. Er hat das einmal damit begründet, dass es ihm nicht darauf ankomme, woher eine Aussage stammt, sondern auf deren Wahrheit; vgl. die Praefatio zu seinen Dialogi IV (1613), S. 2r.
Die folgende Übersetzung beruht auf der bisher einzigen vollständigen Edition des De arte dubitandi von Elisabeth Feist Hirsch, Leiden 1981. Zu dieser Edition siehe ihr Vorwort (Preface, S. IX–XII). Offen sicht liche Druckfehler in deren Anmerkungen (vor allem bei der Angabe von Bibelstellen) wurden stillschweigend korrigiert, fehlende Bibelstellenangaben ergänzt. Die Kommentierung hält sich in dem von ihr abgesteckten Rahmen, füllt ihn aber auf durch Verweise auf weitere Schriften Castellios und anderer Autoren und Erläuterungen zeitgeschichtlicher und biographischer Hintergründe. Für die Wiedergabe der Manuskriptseiten danken wir der Bibliothek Rotterdam, Erasmuszaal, Handschrift Rem.Gem. no. 505, namentlich Herrn Dr. Adrie van der Laan, der eigens eine vollständig digitalisierte Kopie des Manuskripts zu unserer Verwendung hat anfertigen lassen.
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SEBASTIAN CASTELLIO DIE KUNST DES ZWEIFELNS UND GLAUBENS, DES NICHTWISSENS UND WISSENS DE ARTE DUBITANDI ET CONFIDENDI IGNORANDI ET SCIENDI ERSTES BUCH
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liber primus, erstes [vorwort] buch fol. 56
De arte Dubitandi et confidendi, ignorandi et sciendi, liber primus.
Veritatis magister Christus futurum praedixit, ut postremis temporibus tot falsi Christi falsique doctores existant, ut vel electi, si fieri possit, decipiantur. Et quoniam postrema tempora iam esse cum ex aliis multis tum maxime ex tot tantisque quos vigere video erroribus et dissidiis mihi persuasum est, quibus erroribus homines etiam non mali tamen interdum sic commoventur, ut etiam de Christianae religionis veritate subdubitare incipiant, equidem saepe multumque cogitavi, ecquod usquam huic malo remedium inveniri queat. Ac si quis usquam hodie (sicut olim solebat) extaret in terris vates, qui dissidia componere et viam quaerentibus certo commonstrare erroresque divina authoritate profligare posset, equidem nihil melius aut expeditius esset quam ad eius oraculum confugere et, quod ille divinitus respondisset, id sine ulla dubitatione aut cunctatione sequi. Sed quo confugiemus? »Signa nostra non videmus« ut habetur in psalmis; »non iam vates, non nobis adest, qui sciat, quousque duratura sint haec« . Denique nunc, si unquam, viget illa fames sermonis dei, hoc est oraculorum, quam olim se immissurum esse deus per Amosum vatem minatus est. Igitur cum hoc perfugio destituamur, hoc superesse video, ut fiat, quod olim fecisse memoriae proditum est militiae ducem quendam, qui cum in flumen quoddam incidisset, quod omnino transeundum erat neque transeundi modum ullum videret ideoque aestuaret, edixit proposito praemio universis militibus, ut, si quis ullum transeundi consilium invenisset, id ipsi protinus indicatum veniret, quaecumque tandem vel diei vel noctis hora foret: mandavitque ianitoribus suis, ut quemvis, qui se consilium afferre diceret, quacumque hora ad se introducerent. Hac ratione consecutus est, ut quidam ex omnium numero extiterit, qui ei bonum consilium suggessit, quod ille secutus traiecit atque ita seque exercitumque servavit. 20
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erstes buch
[VORREDE]
Christus, der Lehrer der Wahrheit, hat vorhergesagt [Mt 24,24], dass in den letzten Zeiten so viele falsche Christusse und falsche Lehrer auftreten werden, dass selbst die Erwählten sich davon würden täuschen lassen, sofern das überhaupt möglich ist. Und weil ich nun zu der Überzeugung gelangt bin, dass wir jetzt in diesen letzten Zeiten leben1 – und zwar neben vielem anderen besonders wegen der vielen und schlimmen Irrlehren und Zerwürfnisse, die ich ins Kraut schießen sehe, von denen auch rechtschaffene Männer so erschüttert werden, dass sie insgeheim an der Wahrheit des christlichen Glaubens selbst zu zweifeln beginnen –, deshalb habe ich oft und viel darüber nachgedacht, ob sich gegen dieses Übel wohl ein Heilmittel finden ließe. Gewiss, wenn heute, wie es einst öfter geschah, ein Prophet auf Erden erschiene, der mit göttlicher Autorität die Zerwürfnisse schlichten und mit sicherer Hand den Suchenden den Weg zeigen und die Irrtümer zerstreuen könnte, so wäre nichts besser und einfacher, als zu seinem Orakelspruch Zuflucht zu nehmen und das, was aus göttlicher Eingebung daraus spricht, ohne Zögern und Zweifel zu befolgen. Doch wohin sollen wir uns wenden? « Unsere Zeichen sehen wir nicht », wie es in den Psalmen heißt, « kein Prophet ist mehr da, und keiner ist bei uns, der weiß, wie lange dies dauern wird » (Ps 74[,9]).2 Schließlich herrscht heute mehr denn je dieser Hunger nach dem Wort des Herrn, das heißt nach Weisheitssprüchen, den über uns zu senden Gott einst durch den Propheten Amos angedroht hat (Am 8[,11 f.]). Da uns also diese Zuflucht fehlt, sehe ich nur noch die eine Möglichkeit: dass wir nach dem Vorbild eines gewissen 22
[vorrede]
Heerführers handeln, der einst der Überlieferung nach auf einen Fluss stieß, den er unbedingt überqueren musste. Da er kein Mittel wusste, ihn zu überschreiten, und deshalb in große Sorge geriet, setzte er eine Belohnung aus und ließ allen seinen Soldaten verkünden: Wenn einer von ihnen eine Möglichkeit zur Überfahrt gefunden habe, solle er, ob bei Tag oder bei Nacht, geradewegs zu ihm kommen und sie ihm aufzeigen. Und er wies seine Türwächter an, jeden, der von sich behauptete, eine Lösung zu finden, zu ihm zu führen, zu welcher Stunde auch immer. Mit dieser Maßnahme hatte er Erfolg: Es fand sich einer unter ihnen, der ihm einen guten Rat gab, und den befolgte er und setzte über und rettete damit sich und das Heer. Fürwahr ein kluger Gedanke und wert, dass wir ihn in diesen schwierigen Zeiten befolgen. Denn nach einem klugen Rat zu verlangen und ihn einzuholen, woher er auch kommt, ist selbst schon ein kluger Rat. Auf diese Weise empfangen diejenigen, die guten Rat suchen, ihn oft dort, wo sie ihn am wenigsten erhofft hätten. Doch ergibt sich hier wiederum eine große Schwierigkeit, weil es sich mit dem Erteilen von Ratschlägen in religiösen Fragen anders verhält als in sonstigen Dingen. Denn die, welche Rat geben in sonstigen Dingen, mag ihr Rat auch keine Zustimmung finden, werden doch meistens allein schon wegen der Bereitschaft geschätzt, Rat zu erteilen. Wenn du aber in religiösen Fragen einen Rat gibst, der denen missfällt, die ihn empfangen, wirst du dafür nicht nur nicht geschätzt, sondern sogar für einen Ketzer gehalten und, derart bloßgestellt, nicht nur beim Volk verhasst gemacht, sondern gerätst sogar in Lebensgefahr. Denn so pflegt die Welt die ihr erwiesenen Wohltaten zu belohnen.3 Darum sind die Propheten und Christus und die Apostel und all die Gerechtesten getötet worden. Und folglich kommt es dazu, dass viele, durch solche Beispiele abgeschreckt, das 23
erstes buch
Heilige für sich behalten, damit sie nicht, wenn sie es den Hunden vorwerfen [Mt 7,6], zum Dank dafür von ihnen zerrissen werden. Und so geschieht es: Während die Guten zugrunde gehen oder schweigen, stehen die falschen Lehrer überall in Ansehen und werden geliebt, wobei sich die Welt in nichts um das Wort Christi schert: « Weh euch, wenn euch alle Leute loben! Denn das Gleiche haben ihre Vorfahren bei den falschen Propheten getan » (Lk 6[,26]). Wenn ich dies bedenke, scheint es mir in der Tat ein gewichtiger Grund zu sein, um zu schweigen und, wenn ich etwas weiß, das nur für mich zu wissen. Bedenke ich jedoch das Gebot des Herrn, in dem er uns auffordert, den anderen alles das zu tun, von dem wir wünschen, dass es uns selbst geschieht [Mt 7,12], so drängen mich Nächstenliebe, Pflicht und Barmherzigkeit, die ich angesichts so vieler irrender Menschen empfinde, das, was ich an Einsicht besitze, öffentlich bekannt zu machen. Was aber die damit verbundene Gefahr betrifft, so wird der Herr für mich sorgen, bei dem ich, wie ich glaube, zu der Schar derer gehöre, deren Haare gezählt sind [Lk 12,7]. Zwar bin ich weder ein Freund von Gefahren noch will ich den Verlust meines Saatguts riskieren und möchte auch nicht, dass es vor die Säue oder die Hunde geworfen wird [Mt 7,6]. Doch nachdem es mit zur Aussaat gehört, dass ein Teil der Samen, auch wenn der Bauer das nicht will, auf den Weg oder zwischen Steine und Dornen fällt, so muss eben gesät werden um jenes Teiles willen, der auf guten Boden fällt [Mt 13,3–9]. Gott stehe uns bei und schenke unserer Pflanzung Gedeihen und schütze uns vor den Feinden, ohne ihnen jedoch zu schaden. Ich unternehme es, eine Kunst zu beschreiben, mit deren Hilfe jemand mitten im Strudel der Zerwürfnisse, von denen die Kirche heute erschüttert wird, so fest stehen und sich so im Besitz der erkannten und erprobten Wahrheit wissen kann, 24
[vorrede]
dass er je nach Glauben und Amt unerschütterlich bleibt wie ein Fels. Dem Buch habe ich den Titel gegeben « Die Kunst des Zweifelns und Glaubens, des Nichtwissens und Wissens », weil in ihm vor allem gelehrt wird, woran man zweifeln und worauf man vertrauen muss, was nicht zu wissen erlaubt und was zu wissen geboten ist. Es wird sich, glaube ich, über diesen Titel manch einer wundern, weil es lächerlich sei, eine Kunst des Zweifelns und Nichtwissens zu lehren, da diese doch nicht durch Kunstfertigkeit vermittelt wird, sondern dem Menschen von Natur aus innewohnt. Wer aber das ganze Werk durchgelesen und alles genau bedacht hat, wird sicherlich begreifen, dass es genau dessen bisweilen bedarf und es einige Kunst braucht, um einen Menschen davon zu überzeugen. Die Menschen verfallen bis zum heutigen Tag oft in den Fehler, dass sie glauben, wo sie zweifeln müssten, wogegen sie zweifeln, wo sie glauben müssten, und nicht wissen, was sie wissen müssten, aber wissen wollen oder zu wissen glauben, was sie nicht wissen und auch ignorieren können, ohne um ihr Heil fürchten zu müssen. Hat doch Paulus einmal gelehrt: « Wer sich selbst für weise hält, der werde ein Narr, damit er weise werde » [1. Kor 3,18]. Wenn es aber so einfach wäre, ein Narr zu werden, und es nicht einer Kunst bedürfte, würden wir heute nicht so viele sehen, die sich für weise halten und dabei doch Narren sind. Hinzufügen will ich noch, dass die Kunst, von der ich schreibe, eine ist, auf die man leicht verzichten kann, wenn man einfach an Christus glaubt und seinen Geboten ohne allzu vieles Nachfragen folgt. Weil aber nicht alle so sind und es unser Wunsch ist, dass auch die etwas Verstockteren, wenn möglich, zur Wahrheit geführt werden (da ja auch Christus gekommen ist, um nicht nur die leichten Krankheiten, sondern auch die schweren zu heilen), werden wir uns bemühen, die Wahrheit, so gut es geht, auf möglichst verständliche Weise darzulegen. 25
erstes buch
Beginnen wollen wir aber mit dem, was alle Menschen wissen und was auch von denen, die die Heilige Schrift nicht kennen oder sie verwerfen, nicht geleugnet werden kann. Wenn wir dies festgestellt haben, wollen wir mit dessen Zeugnis die Heilige Schrift bekräftigen. Wenn auf diese Weise der christliche Glaube mit Natur und Vernunft verbunden und dadurch untermauert ist, dann erst werden wir ganz im christlichen Glauben stehen und werden darlegen, wie wir mit seinen Streitfragen umzugehen haben – sofern Gott das zulässt, ohne dessen Hilfe wir nicht einmal einen Gedanken fassen können. So begleite uns dabei, lieber Leser, nicht mit übelwollendem und von finsterem Argwohn erfülltem Herzen. Denn was wir hier als unsere Meinung darlegen, verkünden wir gleichsam im Senat4 und nicht als einen Orakelspruch, von dem abzuweichen ein Frevel wäre.
KAPITEL 1 ES GIBT EINEN GOTT UND DIESER IST DER LENKER DER WELT UND IST GERECHT
Als Erstes sagen wir, dass es einen Gott gibt und dieser die Welt regiert und gerecht ist. Aus diesen drei Voraussetzungen gedenken wir alles zu entwickeln, was wir im Sinn haben. Auch wenn wir meinen, dass diese drei, die wir gleichsam als Voraussetzungen unserer Kunst erachten, nicht erst bewiesen oder bekräftigt werden müssen und diejenigen, die sie leugnen, vom Recht des Mitdisputierens ausschließen dürfen, wollen wir dennoch auch dies kurz untersuchen, damit allen so weit wie irgend möglich Genüge getan werde. Zunächst muss man zugeben, dass die Welt entweder vom 26
kapitel 1: es gibt einen gott
Zufall regiert wird oder von der Vorsehung. Denn ein Drittes gibt es nicht. Wenn einer glaubt, sie werde vom Zufall regiert, so halte ich ihn für zu dumm, als dass er noch belehrt werden könnte. Da wir sehen, dass bis jetzt nicht einmal die menschlichen Werke wie die Familien, die Schulen, die Staatswesen, die Schiffe, die Uhren und dergleichen sich vom Zufall lenken lassen, hieße das für einen Menschen, der die Regierung der Welt, dieses höchsten aller Werke, das alle übrigen mit einschließt, dem blinden Zufall zuschreibt, dass er nicht viel mehr Verstand besitzt als die Tiere. Somit müssen alle Menschen bekennen, dass die Welt nicht vom Zufall regiert wird, sondern von der Vorsehung. Wenn du aber diese Vorsehung einem anderen zuschreibst als Gott, so kannst du noch nicht einmal denken. Denn was immer du dir vorstellst, dem jene Vorsehung innewohne, das eben wäre Gott, und du wirst keinen anderen Namen oder Sachverhalt finden. Deshalb müssen wir ohne Wenn und Aber bekennen, dass es Gott gibt und die Welt von ihm regiert wird. Wenn nun aber der Lenker dieses besten aller Werke notwendigerweise auch der Beste ist (woran kein Zweifel besteht), so müssen wir, da die Welt das beste aller Werke ist, bekennen, dass auch Gott als ihr Lenker der Beste ist. Und wenn er es ist, so ist er auch gerecht, und wenn er gerecht ist, so lässt er Gerechtigkeit walten, wo immer sich Gelegenheit dazu bietet. Ist es doch die Aufgabe des Herrn der Gerechtigkeit, die Guten zu belohnen und die Bösen zu strafen. Darum belohnt Gott die Guten und bestraft die Bösen. Hier erhebt sich allerdings eine schwierige Frage: die Frage nämlich, wie man es gutheißen könne, dass es den Gottlosen gut, den Frommen aber schlecht ergeht, wie wir es doch häufig sehen. Denn wenn Gott gerecht ist und Herr über die Menschen, warum lässt er dann zu, dass die Gottlosen sich ihres Lebens freuen und die Frommen wehklagen? Darauf antwor27
erstes buch
te ich, dass oft doch auch das Gegenteil geschieht, dass es den Bösewichten schlecht, den Rechtschaffenen aber wohl ergeht und dass darin Gottes Gerechtigkeit offenbar wird. Dabei will ich hier nicht von solchen Fällen sprechen, in denen man sich fragen könnte, ob dabei göttliche Fügung oder der Zufall die Hand im Spiel hatte; etwa wenn ein verbrecherischer Mensch bei einem Schiffbruch umkommt oder wegen seiner Taten von der Obrigkeit ans Kreuz geschlagen wird oder einer Krankheit erliegt und dergleichen mehr; oder wenn ein rechtschaffener Mann reich wird und sich blühender Gesundheit erfreut und den Nachstellungen seiner Neider glücklich entgeht und bei den Mächtigen und Fürsten in Gnade steht und Ähnliches mehr. Denn obwohl man in solchen Fällen oft bei genauerem Hinsehen Gottes Gerechtigkeit und Vorsehung offenbar werden sieht, so könnte man dennoch – weil solches oft wahllos Rechtschaffenen wie Schurken widerfährt – sich noch eindeutigere Beispiele wünschen, bei denen auch die Verstockteren sich zu dem Eingeständnis genötigt sehen, dass hier kein Platz ist für das Walten der Fortuna. Darum will ich noch einige weitere hinzufügen, teils aus Quellen des Altertums, teils aus neuerer Zeit, die vielleicht noch nicht schriftlich niedergelegt wurden.5
KAPITEL 2
Das erste Beispiel soll Henoch sein, der, wie Mose schreibt, um seiner Frömmigkeit willen von Gott zu sich genommen wurde [1. Mose 5,24]. Sodann Noah, der um seiner Gerechtigkeit willen inmitten des Untergangs der gesamten Menschheit errettet wurde [1. Mose 6,8–22]. Ebenso Lot durch eigens zu seiner Rettung aus dem Untergang Sodoms entsandte Engel [1. Mose 19]. Für Abrahams Wohlergehen trug Gott so viel Sorge, dass 28
kapitel2
er dem König Abimelech im Traum den Tod androhte, wenn er das Eheweib nicht zurückgäbe, das er geraubt hatte [1. Mose 20,1–3]. Demselben Abraham, der schon betagt war, schenkte er durch dessen Weib, das gleichfalls betagt und zudem unfruchtbar war, einen Nachkommen [1. Mose 17,15–22; 18,9–15; 21,1–2]. Auch Isaaks und Jakobs Gottesfurcht hat er nicht etwa heimlich belohnt, sondern die Jakobs in aller Offenheit, indem er Laban in einem Traum bedrohte, falls er jenem irgendeinen Schaden zufüge [1. Mose 31,24]. Mose hat er oft vor dem Zorn des Volkes beschützt [2. Mose 15,24 f.; 16,2–5; 17,2–6 u. ö.]. Elisa hat er gegen die Syrer [Aramäer] verteidigt, indem er die syrischen Soldaten, die zu seiner Ergreifung entsandt wurden, derart mit Blindheit schlug, dass sie sich nach Samaria, eine feindliche Stadt, führen ließen [2. Kön 6,18–20]. So könnte ich noch andere Beispiele anführen, aber ich will nicht gar zu weitschweifig sein. Auch für Strafgerichte liegen Beispiele parat. Das erste und für alle Zeiten denkwürdigste ist die Sintflut [1. Mose 7], mit der Gott die Gottlosigkeit der Menschen bestraft hatte. Desgleichen nenne ich die Verwüstung Sodoms [1. Mose 19,24 f.] und die ägyptischen Plagen [2. Mose 7–11] und die vielen Strafen, die Gott dem Israelitenvolk um seiner Sünden willen auferlegt hatte, und besonders Korach, Datan und Abiram (4. Mose 16), die wegen ihrer schändlichen Verschwörung gegen Mose – einen Mann ohne Fehl und Tadel – teils öffentlich von göttlichem Feuer verzehrt, teils wie von Mose vorhergesagt (damit nicht einer behaupten könne, dies sei durch Zufall geschehen) vor den Augen des ganzen Volkes von einem Erdspalt verschlungen wurden. Aber nicht nur aus den Heiligen Schriften, sondern auch aus weltlichen, und zwar sowohl aus alten wie auch solchen neueren Datums, lassen sich Beispiele anführen.6
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erstes buch KAPITEL 3 NICHT JEDER ERHÄLT IN DIESEM LEBEN DEN SEINEN TATEN GEBÜHRENDEN LOHN, DAHER WIRD ER IHN IN EINEM KÜNFTIGEN LEBEN ERHALTEN
Diese und andere Beispiele, wie sie den Lesern zahlreich in den Sinn kommen, da sie ja häufig vorkommen, sind bestens geeignet, darin Gottes Gerechtigkeit aufs deutlichste zu offenbaren. Hier wird manch einer sagen: Warum geht es dann nicht immer so zu? Warum gehen oft die Unschuldigen zugrunde, und die Übeltäter triumphieren? Ich antworte: Wenn es nicht immer geschieht, so heißt das nicht, dass es überhaupt nicht geschieht; vielmehr, wenn es irgendwann geschieht, so heißt das, dass es geschieht. Mir genügt es zunächst festzuhalten, dass die Gerechtigkeit in manchen Fällen so klar zutage tritt, dass sie nicht einmal von den Dreistesten geleugnet werden kann. Und ich füge noch ein Gleichnis hinzu. Da gibt es irgendwo einen Staat, der nach Einberufung des Senats und nach gefasstem Beschluss dafür sorgt, dass ein Räuber ergriffen und ans Kreuz geschlagen wird. Ich frage: Ist dieser Räuber nun durch Zufall bestraft worden? Ganz und gar nicht, sondern kraft Beschluss und Vorsehung. Nun werden aber in demselben Staat nicht alle Bösewichte bestraft, selbst wenn sie bekannt sind. Zugegeben – aber was weiter? Willst du deshalb etwa behaupten, dass in jenem Staat keine Gerechtigkeit herrscht? Keineswegs – genauso wie es auch dort Schwerter gibt, selbst wenn man die Schwerter nicht immer gebraucht. Denn sie haben dort manchmal triftige Gründe, warum sie sich ihrer nicht oder noch nicht bedienen. Bisweilen ist nämlich ein Übeltäter so mächtig oder angesehen, dass er nicht bestraft werden kann, ohne damit größte Gefahr für den Staat herauf30
kapitel 3: nicht jeder erhält in diesem leben den lohn
zubeschwören, und gelegentlich wartet man aus bestimmten Gründen auf eine andere Gelegenheit, ihn zu strafen: Nicht selten meint der Senat, ihm wegen früherer Verdienste um den Staat Gnade erweisen zu müssen, oder man nimmt Rücksicht auf einen Fürsten, den die Hinrichtung des bei ihm in Gunst stehenden Angeklagten erzürnen würde, was dem Staat als nachteiliger erscheinen könnte, als wenn ihm Straffreiheit gewährt wird. Es gibt schließlich viele solcher Gründe (und ich rede hier nur von den berechtigten, um von den unberechtigten zu schweigen), warum ein Senat sich beeindrucken lässt und nicht tut, was das Gesetz eigentlich verlangen würde. Und doch könnte man nicht wirklich sagen, dieser Senat habe keinerlei Sinn für Gerechtigkeit oder Umsicht. Wenn nun aber ansonsten gerechte und besonnene Senate so handeln, sehe ich keinen Grund, warum nicht auch Gott so handeln kann. Gewiss hat er nicht oder nicht immer die gleichen Beweggründe wie die Staatsmänner, kann dafür aber andere und bisweilen sogar die gleichen haben. Um des Exempels willen gewährt er manchem Bösewicht Wohlergehen und länger währende Straffreiheit, sei es, damit jener zuletzt zur Rechtschaffenheit zurückkehrt, sei es, damit er zuletzt umso schwerere Strafen erleidet und über die Umkehr der Verhältnisse umso größeren Schmerz empfindet. Hinwiederum lässt er zu, dass mancher Rechtschaffene von schweren Drangsalen gepeinigt wird, damit sein Glaube und seine Standhaftigkeit wie Gold im Schmelzofen geprüft werden und er zuletzt, wenn Gott es ihm lohnt, über jene Wendung des Schicksals umso mehr Freude empfindet und Gott umso mehr für seine unerwartete Hilfe preist. Dass die Frommen von Gott mitunter strenger behandelt werden als die Gottlosen – damit sie danach umso mehr mit Gottesruhm und umso größerer Freude beschenkt werden –, ist schließlich auch nicht abwegiger, als wenn ein kluger Vater 31
erstes buch
seinen Lieblingssohn und künftigen Erben manchmal strenger und härter erzieht als die anderen, damit er geläutert daraus hervorgehe und die Erbschaft frei von jeder Schande erlange. Oder wenn ein tüchtiger Landmann einen Weinstock, der ihm so teuer ist wie kein anderer seiner Stöcke, beschneidet und strenger behandelt als irgendeinen von den anderen Weinstöcken, damit er bessere und reichlichere Frucht trage. Ja, wenn Gott die Frommen sofort belohnte und die Gottlosen sofort bestrafte, hätten die Frommen keine Gelegenheit, neben den anderen Tugenden vor allem deren schönste, die Geduld, zu erlernen und zu üben, die ohne Erleiden von Ungerechtigkeit und Missgeschick ebenso wenig erlernt werden kann wie die Schwimmkunst außerhalb des Wassers. Auch bliebe uns bei den Bösewichten deren innere Bosheit verborgen, da sie aus Furcht vor der drohenden Strafe von ihren Verbrechen ablassen würden, dabei aber den Sinn voll solcher Taten hätten und in Wirklichkeit nicht besser wären, als wenn sie diese Taten wirklich begangen hätten. Genauso würde ein Wolf, der im Schafstall eingeschlossen ist, aus Furcht vor den Schlägen der anwesenden Hirten vom Würgen der Schafe ablassen, wäre deshalb aber nicht weniger wölfisch gesinnt, als wenn er frei wäre. Was aber, so wird man fragen, wird mit denen geschehen, die in diesem Leben den Lohn für ihre Taten, die guten wie die schlechten, nicht bekommen? Antwort: Das ist in der Tat jene Frage, die viele schon lange umgetrieben hat und die man nur beantworten kann, indem man sagt, dass der gerechte Lohn auf ein anderes Leben verschoben wird. Wenn man nämlich behauptet, er werde schon in diesem Leben zuteil, würde man, wie an obigen Beispielen gezeigt wurde, die Frage nicht hinreichend beantworten, weil das eben nicht immer geschieht und, wenn es denn geschieht, der Lohn nicht ganz den Taten entspricht. Denn viele Fromme leben bis an ihr Ende im Elend und werden oft mit schlimmster Peinigung und Schande ums 32
kapitel 3: nicht jeder erhält in diesem leben den lohn
Leben gebracht, wie wir an vielen Propheten und an Christus und seinen Jüngern und ihren Nachfolgern sehen. Und wenn sie in diesem Leben einmal beschenkt werden, so ist das zu wenig, und dann werden sie zudem geringer beschenkt als viele Gottlose. Dagegen leben viele Gottlose ihr ganzes Leben lang ausschweifend und scheiden oft ohne Pein und Schande aus dieser Welt, und wenn sie doch einmal bestraft werden, so ist das unbedeutend im Vergleich zu den vielen von ihnen begangenen Schandtaten. Denn welche Strafe, die ihren Verbrechen angemessen gewesen wäre, hätten in diesem Leben die Herodes, Phalaris, Nero, Caracalla und Heliogabal und andere – man sollte nicht sagen: Menschen, sondern besser: menschliche Ungeheuer – dieser Art erleiden müssen, die sich oft an einem Tag mehr Strafen verdient hatten, als sie hätten abbüßen können, auch wenn sie ihr ganzes Leben lang die schlimmsten Peinigungen erlitten hätten? Welche Strafe empfängt der gottlose Soldat, der sein ganzes Leben in sämtlichen Übeltaten geschwelgt hatte und zuletzt freudig, munter und triumphierend mitten in der Schlacht von einer Kanonenkugel in die Luft gesprengt wird, ohne irgendwelchen Schmerz zu empfinden (denn welchen Schmerz kann man empfinden in einem Nu)? Stirbt er nicht um vieles leichter, als wenn er in seinem Bett von einer Krankheit aufgezehrt würde? Diese Frage hat die bedeutendsten Männer dazu geführt, mit Bestimmtheit anzunehmen, dass den Menschen ein ihren Taten angemessener Lohn erst in einem künftigen Leben zuteil wird. Denn da sie sahen, dass es in diesem Leben nicht geschieht, und daher, wenn es nicht geschieht, auch nicht von Gottes Gerechtigkeit sprechen konnten, waren sie um der Wahrheit willen gezwungen, so zu argumentieren. Es gehört zu Gottes Gerechtigkeit, jedem den Lohn zu entrichten, der seinen Taten entspricht, doch tut er es in diesem Leben nicht: Also wird er es im künftigen tun. 33
erstes buch KAPITEL 4
Da also Gott Gerechtigkeit will und sie übt und der Mensch in Gottes Hand und Urteil steht, ist es Aufgabe der Menschen, ihrerseits für Gerechtigkeit zu sorgen7 und diese, damit er für sie sorgen kann, auch zu erkennen. Gerechtigkeit aber bedeutet, einem jeden das Seine, also das, was ihm gebührt, zuteil werden zu lassen. Es gebühren aber Gott und dem Menschen von Seiten des Menschen Liebe und die Werke der Liebe.8 Denn wenn das, was gut ist und dem Menschen gut tut, vom Menschen geliebt werden soll, muss ganz sicher auch Gott, der sowohl gut ist (was nicht geleugnet werden kann) als auch dem Menschen gut tut (da der Mensch ja alles, was er an Gutem hat, von Gott hat), vom Menschen geliebt werden. Und wenn es von Natur so eingerichtet ist, dass diejenigen Geschöpfe, die miteinander verwandt sind, einander lieben wie das Schaf das Schaf und die Taube die Taube, so ergibt sich daraus, dass alle Menschen, da sie miteinander verwandt und Brüder sind, einander lieben müssen und keinen Menschen von ihrer Liebe ausschließen dürfen. Wenn sie dem zuwiderhandeln, verstoßen sie gegen ihre Pflicht. Also ist es aller Menschen Pflicht, Gott und die anderen Menschen zu lieben und Werke der Liebe zu tun: Dies ist die Gerechtigkeit, nach der wir streben. Gerechtigkeit aber wird gelehrt und erkannt sowohl durch die Natur wie durch die Lehre. Denn zum einen hat die Natur dem Menschen die Vernunft mitgegeben, mit der er das Wahre vom Falschen, das Gute vom Schlechten, das Gerechte vom Ungerechten unterscheiden kann; und zum andern bestätigt die Lehre, angeleitet von der Vernunft, die Natur und lehrt, dass man gemäß der Natur leben soll, und bezeichnet jene, die das tun, als Gerechte und die, die ihr zuwider handeln, als Ungerechte. An dieser Stelle erheben sich jedoch zwei sehr bedeutsame und erklärungsbedürftige Fragen. Die erste ist diese: Wenn 34
kapitel 4
man nach der Natur leben soll, wozu braucht es dann eine Unterweisung? Wo doch die Lehre selber lehrt, dass die Natur die beste Führerin und Lehrerin ist, und da die Tiere ohne irgendwelche Unterweisung von Natur aus ihrer Bestimmung nachkommen wie die Schwalben, die Kraniche, die Affen oder die Ameisen, die unter Anleitung der Natur ihren Auftrag erfüllen, unter sich Gemeinschaft pflegen, sich gewissermaßen zu Beratungen versammeln und über so etwas wie ein Staatswesen verfügen. Und die zweite Frage ist: Wenn es darum geht, nach der Natur zu leben, wieso werden dann von Natur aus diebische, lüsterne oder jähzornige Menschen als ungerecht angesehen, wenn sie getreu ihrer Natur stehlen und der Wollust und dem Zorn frönen? Wie kann man glauben, sie handelten wider die Natur, wo sie doch nach Art wilder Tiere ihrem natürlichen Trieb gehorchen? Die erste Frage beantworte ich so: Gott und die Natur tun nichts ohne Grund.9 Wenn nämlich dem Menschen ohne Hilfe des Verstandes alles auf natürliche Weise zu Gebote stünde, so hätte er nichts, wodurch sein Verstand oder seine Hand sich hervortun könnten, und so hätte die Natur beides dem Menschen unnützerweise gegeben. Da aber die Natur dem Menschen in weiser Voraussicht Hand und Verstand verliehen hatte, wollte sie, dass es etwas gibt, worin diese sich Gaben zeigen und betätigen könnten. Und indem sie von sich aus manche Dinge ohne menschliches Dazutun spendete, in anderen Dingen aber sich die Arbeit mit dem Menschen teilte, hat sie sich gewissermaßen zu seinem Gefährten und Helfer gemacht und seinem Verstand und seinen Händen gewisse Dinge zur Berichtigung oder Verbesserung überlassen, und zwar sowohl im körperlichen wie im geistigen Bereich. Der Unterschied zwischen den Lebensbedürfnissen des Menschen und denen der Tiere besteht also darin, dass die Natur dem Menschen nicht Brot und Wein, nicht Kleider und 35
erstes buch
Häuser geschenkt hat, sondern Korn und Trauben, Wolle und Holz und Steine, um sich mittels Verstand und Hand Brot, Wein, Kleidung und Häuser daraus zu fertigen. Ja, nicht einmal all die genannten Materien wollte sie ganz ohne menschliches Zutun hergeben, indem nämlich weder Korn noch Trauben noch Vieh ohne menschliche Arbeit und Pflege gedeihen noch auch Apfel- und Birnbäume und etliche andere Baumsorten ohne Pfropfung (die zum Menschenwerk, nicht zur Natur gehört) genügend gute Früchte tragen. Dem Vieh aber hatte die Natur Nahrung und Kleidung fertig mitgegeben und zuvor ganz von sich aus den meisten auch noch Verstecke beschafft; oder wenn es an etwas mangelte, so verlieh sie jedem Tier so viel Fleiß und Geschick, wie nötig war, sich dies zu verschaffen. Wenn sich also in den Fragen, die den menschlichen Körper betreffen, die Sache so verhält, dass Hand und Verstand des Menschen der Natur als Gefährtin und Helferin dienen, so kann es weder verwundern noch abwegig erscheinen, wenn es sich im Reich des Geistes ebenso verhält. Folglich hat die Natur gewollt, dass es wie bei der Erde und den Trieben der Pflanzen, so auch in der menschlichen Seele etwas geben soll, was durch die Kraft der Vernunft der Veredelung und Verbesserung bedarf. Wenn demnach feststeht, dass die Natur dort weise verfährt, so darf man darauf vertrauen, dass sie auch hier weise handelt: ist es doch ein und dieselbe Vernunft. Wenn also gelehrt wird, der Mensch habe gemäß der Natur zu leben, dann muss man dies ebenso bejahen, wie wenn man sagt, der Bauer müsse den Acker gemäß der Natur bestellen – und zwar nicht, weil der Bauer der Natur nicht helfen und sie verbessern würde, da die Bebauung des Ackers ja geradezu bedeutet, der Natur zu helfen oder sie zu verbessern, sondern weil er in allem die Natur selbst zur Führerin und zur Gefährtin hat. Denn er tut alles mit der Kraft der Vernunft, welche naturgegeben ist, 36
kapitel 4
und wenn er zufällig einmal entgegen der Natur handelt (wie wenn er Bäume pfropft, die die Natur selbst nicht pfropfen kann), so sagt ihm dies gleichwohl seine natürliche Vernunft und wird danach von der Natur selbst begünstigt und gefördert – in nicht geringerem Maß, als wenn die Natur es selbst getan hätte. Denn auch der gegen die Natur eingepfropfte Baum wächst und trägt dann Früchte gemäß der Natur, und es besteht hier zwischen der Pfropfung, die Menschenwerk ist, und dem Zuwachs, den die Natur bewirkt, eine ganz enge, sozusagen eheliche Verbindung. Und da es sich in seelischen Dingen ebenso verhält, ist für mich die Lehre von der Gerechtigkeit so etwas wie die Agrikultur im geistig-seelischen Bereich.10 So viel zur ersten Frage. Auf die zweite Frage antworte ich, dass Hang zu Diebstahl, Trunksucht, Lügenhaftigkeit und dergleichen Krankheiten der Seele sind und also wider die Natur, da ja jede Krankheit wider die Natur ist, selbst wenn einer mit ihr geboren wird. Diejenigen also, die sich von diesen Krankheiten leiten lassen, leben wider die Natur: Denn zu stehlen, zu lügen und sich zu berauschen ist dem Menschen nicht natürlicher als vom Aussatz befallen zu werden. Deshalb sind jene Eigenschaften zu bekämpfen, statt ihnen nachzugeben, was letztlich mit der Agrikultur des Seelisch-Geistigen gemeint ist. Denn wie die Bauern sich nicht nur um die Dinge kümmern, die wir aufgezählt haben, sondern auch die Krankheiten heilen, die bei Pflanzen oder beim Vieh auftreten, so leisten auch die Lehrer der Gerechtigkeit, nach ihrem eigenen Bekenntnis, beides im Reich des Seelisch-Geistigen: Aus diesem Grund sind wir der Meinung, dass die Lehre von der Gerechtigkeit für den seelisch-geistigen Bereich des Menschen gewissermaßen eine Art Agrikultur und Medizin bedeutet.
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liber primus, erstescap. buch 4.5, fol. 63
Ad secundam quaestionem respondeo furacitatem, ebriositatem, mendacitatem et huius generis alia esse morbos animi ideoque contra naturam, quandoquidem omnis morbus est contra naturam, etiam si quis cum eo nascatur. Itaque qui morbis illis obsequuntur, contra naturam vivunt: neque enim homini naturale est furari, mentiri, inebriari non magis quam leprosum esse. Proinde corrigenda sunt illa, non sequenda, quod etiam profitetur animorum agricultura. Sicut enim agricolae non solum illa praestant, quae recensuimus, verum etiam si quid vel in stirpibus vel in pecore morbi est, sanant, ita et iusticiae magistri utrumque animis praestare se profitentur. Quare sic statuamus, doctrinam iusticiae esse animorum quandam quasi agriculturam atque medicinam. Cap. 5
Nunc quoniam artem hanc multi et professi sunt et profitentur et, quinam sint eius authores optimi et vel ante omnes vel etiam soli sequendi, controversia est, dispiciendum nobis est, quanam ratione de eo iudicari possit, et, postquam, quinam sint optimi, deprehenderimus, in illis ipsis quid sequi oporteat considerandum. Dicet hic fortasse protinus aliquis Christianus nihil opus esse consideratione. Christianam enim doctrinam esse sine controversia omnium longe praestantissimam. Et sane de praestantia verum dicet: sed de consideratione fortasse non item. Debemus enim non temere, sed circumspecte et cum iudicio sequi quae sequimur, id quod plerique non faciunt. Maxima enim Christianorum pars in Christum non aliter credit quam Turcae in Mahometem aut quam illae ipsae nationes, quae nunc Christum profitentur, olim in Iovem aut Neptunum caeterosque peregrinos deos crediderunt.
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erstes buch KAPITEL 5
Weil nun viele als Lehrer dieser Kunst aufgetreten sind und es immer noch tun und man darüber streitet, wer denn die besten oder gar die einzigen Autoren sind, denen man vorzugsweise zu folgen habe, müssen wir jetzt herausfinden, auf welche Weise man dies beurteilen kann, und – nachdem wir erkannt haben, welche die besten sind – abwägen, worin man ihnen folgen soll. Hier wird vielleicht der eine oder andere Christ rundheraus sagen, es brauche keine solche Erwägung: Die christliche Lehre sei unstrittig die bei weitem vortrefflichste. Und in der Tat mag er wohl Recht haben, was die Vortrefflichkeit betrifft, aber vielleicht nicht in gleicher Weise in Bezug auf das Abwägen. Denn wir dürfen den Lehren, denen wir folgen, nicht blindlings folgen, sondern umsichtig und mit Bedacht, was die meisten nicht tun. Der größte Teil der Christen glaubt nämlich nicht anders an Christus als die Türken an Mohammed oder als selbst jene Völker, die heute Christus bekennen und einst an Jupiter oder Neptun oder die anderen heidnischen Götter geglaubt haben. Denn sie glauben an Christus, weil sie von klein auf in seiner Lehre erzogen wurden und sie von ihren Eltern empfangen haben. Wären sie aber in gleicher Weise in Mohammeds Lehren erzogen worden, würden sie ebenso an Mohammed glauben. Von dieser Art ist der Glaube der Kinder und der Unwissenden, die ich bestenfalls glücklich, aber nicht weise nennen möchte. Wie jemand, der seine Gesundheit dem Arzt seiner Stadt anvertraut, weil er eben der Arzt seiner Stadt ist, und nicht, weil er ihn als einen guten Arzt erkannt hat; hat er Erfolg – gut so; doch sollte er dafür seinem Glück und nicht seiner Weisheit danken. Hätte jener Arzt sich nämlich als schlechter Arzt erwiesen, so wäre der Kranke an derselben Gutgläubigkeit zugrunde gegangen, die ihn geheilt hat. 40
kapitel 5
Selbst wenn wir an einen hervorragenden Arzt geraten, müssen wir doch sehen, wie seine Vortrefflichkeit bewiesen werden kann, damit zum einen diejenigen, die schon an ihn geraten sind, noch mehr in ihrem Glauben bestärkt werden, zum anderen jedoch die, die noch Zweifel haben (es zweifeln ja auch etliche Menschen, die den Namen Christen tragen), nach Möglichkeit von ihrem Irrtum geheilt werden. Hinzu kommt noch der Nutzen, den diese Abwägung haben wird, um auch die Anhänger einer fremden Religion zu überzeugen oder zumindest in ihren Irrtümern zu widerlegen. Fest steht zunächst, dass man den Schöpfer eines Werkes entweder nach seinen Worten oder nach seinem Werk beurteilen muss. Worte sind allerdings oft trügerisch, und es gibt heutzutage so redegewandte und scharfsinnige Leute, die zwar keine guten Werkmeister sind, die man aber, wollte man sie nur nach ihren Worten beurteilen, leicht den guten Werkmeistern vorziehen möchte, sofern man nicht selber (was nur wenigen gegeben ist) ebenso scharfsinnig ist. Vom Werk aber kann jeder getrost auf dessen Schöpfer schließen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn umstritten ist, welcher von zwei Schmieden der bessere ist, gibt es niemanden, der nicht rundheraus den für den besseren halten wird, der die besseren Eisengeräte schmiedet, und zwar nicht nur einige wenige (denn das könnte als Zufall erscheinen), sondern fast alle. Dasselbe sage ich über den Soldaten oder Heerführer, der die Feinde am trefflichsten besiegt; dasselbe über den Landmann, von denen der sich als der beste erweist, der dank seiner Kunst die meisten Früchte erntet; dasselbe vom Arzt, der entweder die Gesundheit am besten erhält oder die Krankheiten am besten zu heilen versteht. Kurz, für den größten Künstler ist derjenige anzusehen, der die besten Werke vollbringt. Da es nun hier um die Frage der Lehre von der Gerechtigkeit geht, welche von allen die beste ist, und wir vorher gesagt ha41
erstes buch
ben, sie sei gewissermaßen die Agrikultur und Medizin11 des seelisch-geistigen Bereichs, so steht außer Zweifel, dass diejenige als die beste anzusehen ist, welche die Menschen so rechtschaffen wie möglich werden lässt und ihre Krankheiten am besten heilt.12 Diese Lehre, sage ich, ist die christliche, wie ich an vielen Beispielen zeigen kann, von denen ich aber, um nicht weitschweifig zu werden, nur wenige anführen will. So schreibt Lukas in seiner Apostelgeschichte die folgenden Sätze: « Alle Glaubenden aber lebten zusammen und hatten alles gemeinsam; sie verkauften ihr Hab und Gut und verteilten es an alle, jedem nach dem, was er brauchte; und täglich waren sie zusammen im Tempel und nahmen die Mahlzeiten mal in diesem, mal in jenem ihrer Häuser ein, wobei sie das Brot brachen und Gott lobten mit Freude und einfältigem Gemüt; und sie fanden Wohlwollen beim ganzen Volk » (Apg 2[,44–47]). Wir sehen hier eine Heiligkeit und Gerechtigkeit des ganzen Volkes, wie es sie niemals zuvor auf Erden gegeben hatte. Und damit man erkennt, dass durch diese Lehre nicht nur Menschen von durchschnittlicher, sondern auch von ganz ungewöhnlicher Schlechtigkeit zu Besserung und Gerechtigkeit geleitet wurden, schreibt derselbe Autor in Kapitel 19 desselben Buches: « Viele von denen, die gläubig geworden waren, kamen und bekannten und verkündeten, was sie getan hatten. Viele auch, die Unerlaubtes getan (das heißt magische Künste getrieben) hatten, brachten die Bücher zusammen und verbrannten sie öffentlich » (Apg 19[,18–19]). Hier handelt es sich also nicht um gewöhnliche Sünder, die auf den Weg der Besserung zurückfanden, sondern gerade um die schlimmsten von allen. Denn die, welche jene magischen Künste betreiben, haben zuvor Gott abgeschworen (ein Verbrechen, wie man es sich furchtbarer fast nicht vorstellen kann) oder waren zumindest nicht weit davon entfernt, und dennoch vermochte christliche Lehre sie zu heilen. So schreibt denn auch Paulus an die Korinther: « Irrt euch 42
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nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener noch Ehebrecher noch Lustknaben noch Knabenschänder noch Diebe noch Geizige noch Trunkenbolde noch Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes erlangen. Und solche waren einige von euch. Aber ihr seid reingewaschen worden, ja, ihr seid geheiligt worden, ja, ihr seid gerecht gemacht worden durch den Namen des Herrn Jesus und durch den Geist unseres Gottes » (1. Kor 6[,9–11]). Er spricht hier zweifellos von den schändlichsten Menschen, die dennoch durch Jesu Namen und Gottes Lehre von ihren Verbrechen reingewaschen werden konnten. Und ebenso Petrus: « Weil nun Christus für euch den Tod erlitten hat, so wappnet auch ihr euch mit demselben Sinn; denn wer dem Leib gestorben ist, hat aufgehört zu sündigen, so dass er fortan die noch übrige Zeit im Fleisch nicht den Begierden der Menschen, sondern dem Willen Gottes lebe. Denn es ist genug, dass ihr in der vergangenen Lebenszeit fremdem [heidnischem] Willen gefolgt seid, als ihr ein Leben führtet in Ausschweifung, Begierden, Trunkenheit, Fresserei, Zecherei und gottlosen Astralkulten. Das allerdings erstaunt jene, dass ihr nicht mehr mitmacht bei diesem genusssüchtigen Treiben » (1. Petr 4[,1–4]). Soweit Petrus. Mit diesen Worten zeigt er, dass diese Menschen sich so sehr von ihren Sünden losgesagt und aus Ruchlosen zu Rechtschaffenen gewandelt hatten, dass selbst die Heiden darüber erstaunten. Wenn das von der breiten Masse der Christen gesagt wird, was soll ich dann erst über die Vornehmsten unter ihnen sagen, die Apostel? Deren Lebenswandel war so unsträflich, wie es selbst die ehrwürdigsten Philosophen sich kaum zu wünschen, geschweige denn für sich zu hoffen gewagt hätten, so dass sie gleichsam als Leuchten den Erdkreis (wie Christus ihr Lehrer es ihnen geboten hatte) erhellten.13 Man vergleiche doch nur die Werke der Lehre der Philosophen, so viel ihrer nur unter dem ganzen Himmelszelt in der Erinnerung fortleben, mit den Werken dieser Lehre, und man wird sehen, dass diese Werke all den anderen ebenso 43
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sehr überlegen sind, wie die Sonne die Sterne überstrahlt, und dass mit deren Erscheinen die Lehren der Weisen nicht anders verblassen als die Sterne beim Aufgang der Sonne. Da nun feststeht, dass es sich so verhält, ist damit für mich begründet, dass die christliche Lehre von der Gerechtigkeit von allen bei weitem die beste ist.
KAPITEL 6
Doch mag der eine oder andere hier einwenden, damals seien die Christenmenschen keineswegs immer so heilig gewesen und seien heutzutage fast die Schlimmsten von allen. Denn schon zu seiner Zeit geht Paulus mit den Galatern sehr hart ins Gericht und sogar so weit, sie geistig verwirrt zu nennen, weil sie, aus dem Geist geboren, zum Fleisch übergegangen seien (Gal 3[,3]). Und die Korinther schilt er aufs heftigste, weil sie eine Unzucht duldeten, wie es sie nicht einmal unter den Heiden gab, und sich geradezu daran zu ergötzen schienen (1. Kor 5[,1 f.]), und weil sie nicht nur gegeneinander prozessierten, und das vor nichtchristlichen Richtern, sondern auch ihre Brüder hintergingen (1. Kor 6[,1.6–9]). Ist es nicht so, dass derselbe Paulus darüber klagt, in seiner Bedrängnis von allen verlassen worden zu sein? (2. Tim 4[,16]) Dass er in aller Deutlichkeit feststellt, alle seien nur um ihren eigenen Vorteil besorgt [Phil 2,21], und in seinem Elend hätten ihn die Seinen im Stich gelassen? « Ihr », sagt er [zu den Philippern], « habt recht daran getan, dass ihr euch meiner Bedrängnis angenommen habt. Denn ihr wisst es, ihr Philipper, dass am Anfang [meiner Predigt] des Evangeliums, als ich auszog aus Mazedonien, keine Gemeinde etwas beigetragen hat zu meinen Ausgaben als ihr allein » (Phil 4[,14 f.]). Ich frage, was waren das für Christen, die ihren Lehrer – um nicht zu sagen Vater –, einen ehelosen Mann, ohne familiäre 44
kapitel 6
Belastung, ernst, nüchtern und mit dem Allergeringsten zufrieden, der überdies oftmals von der eigenen Hände Arbeit gelebt hatte, dass sie ihn dennoch als Bittsteller darben ließen − und das, obwohl sie so viele waren, dass es kaum zu sagen ist, denn Paulus hatte ja das Evangelium überall ausgebreitet? Dass er ihnen schließlich an anderer Stelle vorwirft, sie selbst seien schuld daran, dass das Evangelium bei den Heiden einen schlechten Ruf habe (Röm 2[,24])14 – natürlich weil sie ein zuchtloses Leben führten? Und die Christen heute, was braucht es da viele Worte? Wo doch die Christen selbst ihre Zuchtlosigkeit nahezu offen bekennen15 – doch was sage ich: nahezu? Wo diejenigen, die sich nicht nur als Christen, sondern auch als Reformatoren der Kirchen aufspielen, öffentlich und vor der Gemeinde und in Versammlungen und im Angesicht der heiligen Majestät tagtäglich unter feierlichem Chorgesang des ganzen Volkes verkünden, dass sie dem Bösen ergeben und zu nichts Gutem fähig sind und durch ihre Verdorbenheit unablässig gegen Gottes heilige Gebote verstoßen? Ich frage, was lässt sich vom verruchtesten aller Völker, die es je gegeben hat, Schlechteres sagen, als was jene Christen täglich von sich selber bekennen? Oder was braucht es noch Zeugen zum Beweis ihrer fortwährenden Schandtaten, da sie selbst sie verkünden, ohne auch nur dazu vernommen, geschweige denn gerichtlich dafür belangt zu werden? Darauf erwidere ich: Die Schuld liegt nicht bei der Lehre, sondern bei den Menschen, die sich nicht an die Lehre halten. Es ist wie mit den guten Regeln für die Landwirtschaft: Wer sie befolgt, erntet Früchte im Überfluss, wer sie aber vernachlässigt und dem Müßiggang und den Freuden des Bauches frönt, dem trägt die Erde statt Früchten und Trauben Disteln und Dornen. So waren auch anfangs jene Christen, als sie der Lehre Christi gehorcht hatten, zu Heiligen geworden; später 45
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aber wurden sie nachlässig und verkamen. Dass sie aber einmal heilig geworden waren, geschah wegen der Lehre, die sie gewiss nicht hätte heiligen können, wäre sie selbst nicht heilig gewesen. Und dass sie verkamen, war ihre eigene Schuld, da sie als schlechte Schüler von der Lehre abfielen. Wir jedoch handeln hier nicht von der Standhaftigkeit der Menschen, sondern von der Wahrhaftigkeit der Lehre, und wir halten dafür, dass diejenige die beste ist, welche am besten auf die Besten einwirkt, so wie auch diejenige Medizin erwiesenermaßen die beste ist, welche die Gesundheit am besten erhält oder wiederherstellt, auch wenn ihr nur wenige folgen oder, wenn sie ihr einmal gefolgt sind, sie wieder aufgeben. Was nun die heutigen Christen betrifft und vor allem jene, über deren Geständnis oder vielmehr öffentliches Selbstbekenntnis ich soeben gesprochen habe, so kann ich ihnen nichts antworten, was passender und wahrer und weniger dazu angetan wäre, sie zu verletzen, als jenes Wort aus dem Gleichnis Christi: « Nichtsnutziger Knecht, mit deinen eigenen Worten werde ich dich richten » (Lk 19[,22]). Denn da sie selbst eingestehen, einen Hang zum Bösen zu haben und unfähig zu allem Guten zu sein und ständig gegen Gottes heilige Gebote zu verstoßen, so würde niemand, wenn er die Rollen tauschte, ihnen eine größere Schmähung zufügen als sie sich selber antun, wenn er ihnen sagte: Ihr neigt dazu, Böses zu tun, seid unfähig zu allem Guten und brecht unablässig Gottes heilige Gebote.16 Denn sei es, dass sie niemals heilig gewesen sind, so waren sie doch einmal Christen, und wir sprechen hier über Christen; oder sie waren einmal heilig, dann sind sie verkommen und ähneln der Sau, die sich nach dem Bad in der Schwemme wieder im Kot wälzt [2. Petr 2,22], oder dem Hund, der wieder frisst, was er gespien hat [ebd.], oder den herbstlichen Bäumen, die zweimal gestorben sind [Jud 12]. Für uns aber ist das wahre christliche Bekenntnis das genaue 46
kapitel 6
Gegenteil davon und wir streben nach dem, was man am besten so formulieren kann: Wir sind erpicht darauf, Gutes zu tun, sind fähig zu allem Guten und wollen unablässig Gottes heilige Gebote befolgen. Und waren wir einmal schlecht, so sind wir « reingewaschen, sind geheiligt, sind gerecht gemacht worden » (1. Kor 6[,11]) und « erfreuen uns am Gesetz Gottes und sinnen Tag und Nacht darüber nach » (Ps 1[,2]) und bewegen uns in Gottes Geboten. Und nachdem wir Kinder des Lichts geworden sind und die Werke der Finsternis verworfen haben, tun wir die Werke des Lichts [Eph 5,8] und ehren, geheiligt an Körper, Seele und Geist, unseren Gott als Spender all dieser Gaben mit Körper, Seele und Geist. Dies, genau dies ist das wahre und den Heiligen Schriften gemäße Bekenntnis der wahren Christen, das anders ist als dasjenige derer, die Christus ihren Heiland aufs schändlichste verunehren. Dabei rühmen sie sich, von ihm erlöst worden zu sein, und bekennen sich dennoch als Sklaven aller Sünden, ohne zu bedenken, dass sie durch Christi Wort verdammt sind, der da sagt: « Wer eine Sünde begeht, ist der Sünde Knecht » (Joh 8[,34]), und ohne zu sehen (o welche Verblendung!), dass der von ihnen entehrt wird, den sie geehrt glauben, wie etwa ein Gelähmter Christus entehren würde, wenn er über seine Gesundheit verkündete: Ich bin von Christus so geheilt worden, dass ich mich nicht vom Fleck rühren kann und ständig von Schmerzen geplagt werde. Um wie viel aufrichtiger sind da die Worte dessen, der sprach: « Eines weiß ich: dass ich blind war und nun sehe » (Joh 9[,25]). All dies sage ich in aller Entschiedenheit und Wahrhaftigkeit. Ich sage es nicht gern, da ich mir sicher bin, dass es jene verletzen wird, die am wenigsten Grund hätten, verletzt zu sein, da sie sich doch selbst öffentlich darüber erklären. Doch zwingen mich dazu die innere Notwendigkeit und das Mitleid, das ich mit einem Volk empfinde, das irregeführt wird und blind den Blinden folgt und ohnehin wenig erpicht ist, Gutes zu 47
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tun, und durch diese Art Lehre und Bekenntnis nur noch träger und mehr und mehr davon abgehalten wird. Aber damit werden wir uns, so Gott will, zu gegebener Zeit noch weiter beschäftigen.17
KAPITEL 7
Nachdem wir nun gezeigt haben, dass die christliche Lehre von allen weitaus die beste ist, weil sie die besten Werke vollbringt, unterstellen wir, dass sie, wenn sie die beste von allen ist, auch am meisten Glauben verdient; das sollte mir, auch wenn ich es ohne weitere Argumente behaupte, jeder zugestehen. Um aber die Autorität dieser Lehre und weshalb sie am meisten Glauben verdient, besonders zu bekräftigen, will ich noch weitere Gründe anführen und dabei vorausschicken, dass ich unter der christlichen Lehre sämtliche heiligen Schriften verstehe: das Alte und das Neue Testament. Denn da Christus (der, wie wir zeigen konnten, der Urheber dieser besten Lehre ist) den Alten Bund gutgeheißen und bekannt hat, er sei nicht gekommen, das Gesetz abzuschaffen, sondern es zu erfüllen [Mt 5,17], so müssen auch wir, indem wir der Autorität Christi gehorchen, es gutheißen. In dieser Hinsicht denke ich anders als einige, die meinen, die Autorität des Alten Testaments sei größer als die des Neuen, und Christus müsse man vor allem deshalb glauben, weil Mose und die Propheten ihn bezeugten.18 Wenngleich nun freilich die Unwissenden von dieser Begründung am meisten überzeugt sind und daher sowohl Christus selbst wie auch später seine Apostel seine Autorität auf Zeugnisse des Alten Bundes stützten − sicherlich mit Rücksicht auf die Unwissenheit des Volkes, das sich für gewöhnlich mehr von der Tradition als von der Wahrheit bestimmen lässt −, so muss doch in Wahrheit in dem Maße, in dem 48
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Christus alle anderen überragt, auch seine Autorität für alle die größte sein, und bei den Gebildeteren ist sie es auch. Was aber das Alter [der Überlieferung] betrifft, so hätten dieselben Leute, die Mose wegen dieses Alters mehr Glauben schenken, ihm weniger geglaubt, wenn sie seine Zeitgenossen gewesen wären, weil er ja damals kein Autor aus der Vergangenheit war. Der Glaube aber muss der Sache gelten und nicht der Zeit, und ein jegliches Ding ist danach zu beurteilen, was es in Wirklichkeit ist; denn die Wahrheit ist nicht wie der Käse, der durch Altern besser wird. Ich fragte einmal einen Juden, aus welchem Grund vor allem er Mose glaube. Er gab zur Antwort: wegen der Wunder, die er mit Gottes Hilfe getan hat. Und da hat er meiner Meinung nach recht geantwortet. Und ich sagte ihm das Gleiche, was ich jetzt sagen will: Wenn man Mose wegen seiner Wunder glauben muss, dann doch umso mehr Christus, der zahlreichere und größere gewirkt hat, zumal noch seine Lehre hinzukommt, die von allen bei weitem die gottgefälligste und heiligste ist. Um also wieder auf mein ursprüngliches Vorhaben zurückzukommen, sage ich, dass man der christlichen Lehre aus all den Gründen, aus denen im allgemeinen jemandem Glauben geschenkt wird, am meisten glauben muss. Und zwar sind das (soweit ich es im Moment überschauen kann) vier Gründe. Der erste sind Übereinstimmung und Konstanz, das heißt, wenn sich jemand nirgends widerspricht, und erst recht, wenn dies mehrere tun, also mehrere Zeugen auch bei wiederholter und sorgsamer Befragung stets miteinander übereinstimmen. Der zweite Grund ist: Wenn wir merken, dass wir dem, was uns jemand sagt, innerlich zustimmen mit dem Gefühl, das sei eine bewiesene Sache, dann glauben wir ihm auch da, wo wir dieses Gefühl nicht haben. Wie wenn etwa ein Arzt zu einem Kranken sagt: Du fühlst eine körperliche Schwere und gelegentlich Übelkeit oder Bauchschmerz und Seitenstechen, 49
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wenn du hustest, oder dergleichen mehr. Wenn der Kranke dies nun an sich selber wahrnimmt, so glaubt er dem Arzt auch in den Punkten, in denen er keine eigenen Empfindungen hat. Ebenso, wenn der Arzt beim Sezieren eines Tierkadavers sagt: Durchschneidet jene Haut, und ihr werdet darunter den und den Nerv finden oder die und die Vene oder Membran oder was auch immer es sein mag, so halten wir ihn, wenn wir an mehreren Stellen bemerken, dass es sich so verhält und kein Irrtum vorliegt, in dieser Frage für sachkundig und glauben ihm auch dann, wenn wir etwas nicht sehen. Das dritte ist die Zuverlässigkeit, wie wenn ein Kaufmann sich immer als zuverlässig erwiesen und unser Vertrauen niemals enttäuscht hat: Dann glauben wir, dass er nicht lügt, und vertrauen ihm. Und viertens sind da Leistung und Erfahrung: Wenn wir zum Beispiel sehen, dass ein Schlosser ein Schloss oder einen Schlüssel gut gemacht hat, so glauben wir, dass ihm auch ein Gatter oder ein Riegel oder dergleichen gut gelingen wird. Dasselbe gilt, wenn wir sehen, dass dieser oder jener Kranke von einem Arzt richtig geheilt worden ist: Wir vertrauen ihm auch dort, wo wir noch keine Heilwirkung gesehen haben. Dies sind, jedenfalls aus meiner Sicht, die Fälle, die uns für gewöhnlich dazu bewegen, jemandem Vertrauen zu schenken. Und da nun die Frage lautet, welcher Lehre man glauben soll, sage ich: der christlichen, und zwar aus den vier soeben dargelegten Gründen, die wohlgemerkt nur auf sie und nicht auf andere zutreffen.
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KAPITEL 8
Was zunächst die Übereinstimmung und Konstanz betrifft, so stelle ich fest, dass diese Lehre – was, wie auch die Böswilligsten zugeben werden, von keiner anderen gesagt werden kann – vom Anfang der Welt bis auf unsere Tage stets fest, beständig, unwandelbar und im Einklang mit sich selbst geblieben ist, immer auf dasselbe Ziel gerichtet, und dass wie in einer Kette ein Glied auf das andere folgt, auch die nachfolgenden Generationen stets die Lehre der früheren bekräftigten und dafür einstanden. Was aber diese Konstanz und Kraft noch bestärkt, ist, dass keine andere Lehre jemals so viele, so starke und mächtige und hartnäckige und in ihrer Bekämpfung so einmütige Feinde gehabt hat: Und doch ist sie, allen zum Trotz, dank einer nicht menschlichen, sondern zweifellos göttlichen Hilfe stets unbesiegt geblieben. Hat doch schon Noah in der Welt des Alten Testaments, ohne selbst über Heerscharen zu gebieten, nicht etwa wenige und schwache Feinde, sondern die Menschheit insgesamt, so zahlreich ihrer unter dem Himmel lebte, zu Widersachern gehabt [1. Mose 6,9–22] und hat, ganz auf sich allein gestellt, mit Hilfe dieser Lehre so viele Jahre unerschütterlich am Bau der Arche festgehalten. Und als er mit dieser Lehre zusammen in seiner Arche gleichsam begraben worden war, ist er, nachdem die Sintflut endlich vorbei war, mit ihr der Arche entstiegen, sozusagen vom Tode wieder zum Leben erstanden, und hat die Samen jener Lehre für immer an seine Nachkommen weitergegeben. Es folgten Abraham, Isaak, Jakob und ihre Nachfahren, die an derselben Lehre festhielten und auch in Ägypten, dieser eisernen Schmiede der Knechtschaft, nie von ihr abgefallen sind [5. Mose 4,20]. Soll ich an Mose erinnern? Wurde er nicht schon vor seiner Geburt verfolgt [2. Mose 1,15–17; 2,1–9] und obsiegte allein durch Gottes Lenkung und Vorsehung über 51
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alle Anschläge [2. Mose 2,11–15], über die Zauberer [2. Mose 7,8–13], über den Pharao und die ägyptischen Heerscharen und schließlich über das Meer, das er durchquerte [2. Mose 14,5–31], und hat die Lehre, die er teils aus den Händen der Vorväter und teils erst jüngst von Gott selbst empfangen und aufgeschrieben hatte, den Nachfahren anvertraut, wonach sie, so vielen Drangsalen und Kriegen zum Trotz, unbesiegt überdauert hat bis zur Zeit Christi? Und was soll ich von Christus und seinen Sendboten berichten? Auf welche Waffen gestützt haben sie diese Lehre verbreitet, die einst nur bei einem Volk zu Hause und allen anderen verhasst war? Kümmerliche Geschöpfe ohne Ansehen und Ruhm, unbewaffnet und zuletzt ohne irdische Schutzwehr, angefeindet und mit allen Mitteln bekämpft von den Reichen, den Gelehrten, den Mächtigen, den Fürsten, den Weisen, so viel ihrer nur auf Erden waren, und schließlich der Feindschaft des ganzen Erdkreises ausgesetzt, ohne einen eigenen Ort, in dem sie zusammen lebten, sondern verstreut über die ganze Welt: So haben sie diese Lehre ausgesät und so verbreitet, dass sie über mehr als fünfzehnhundert Jahre bis zum heutigen Tag siegreich und unbezwungen geblieben ist. Hinzu kommt noch – was ihre Kräfte bestätigt –, dass sie nicht nur von Andersgläubigen, sondern auch von Ihresgleichen bekämpft worden ist und bis heute tagtäglich bekämpft wird, indem diejenigen, die sie mit dem Mund bekennen, sie durch ihre Taten, ihr gottloses Leben, verleugnen und durch die Vielzahl der Sekten19 und widerstreitenden Meinungen nach Kräften erschüttern. Denn angesichts der von Christen versursachten Verbrechen, Zerwürfnisse, Verfolgungen und Kriege, schlimmer als Bürgerkriege − und das wegen unterschiedlicher Meinungen im Schoß derselben Lehre −, gibt es keinen Grund, warum die christliche Lehre nicht von Grund auf aus dem Gedächtnis der Menschen hätte getilgt werden sollen. 52
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Und dennoch dauert sie fort, und zwar so, dass selbst die Gottlosen, die sie mit dem Munde bekennen und mit Taten verleugnen, lieber sterben und sich der Gefahr eines Krieges aussetzen wollen, als sich die Lehre nehmen zu lassen. Denn darin besteht wahrhaftig die Kraft der Wahrheit, dass sie aus sich heraus und ohne irgendwelche Hilfe, ja sogar von allen mit äußerster Kraft bekämpft, sich dennoch siegreich behauptet. Aus diesem Grund hat auch Jesus, dieser Lehrer der Wahrheit, selbst nur mittels der Wahrheit gekämpft und die Seinen zu kämpfen gelehrt. Und solange die Jünger dem Meister gefolgt sind, das heißt nur mit der bloßen Wahrheit gekämpft haben, sind sie siegreich geblieben. Doch wenn sie einmal diese geistlichen Waffen beiseite legten und irdische Hilfsmittel einsetzten, haben sie die Herrschaft der geistlichen und göttlichen Kirche mit Schande bedeckt und den himmlischen Glanz der Wahrheit mit dem dichten Nebel der Irrlehren verdunkelt.
KAPITEL 9
Was den zweiten Grund betrifft, so ist gewiss, dass es niemals eine Lehre gegeben hat, welche den Menschen so von Grund auf erschloss und ihn gleichsam sich selbst in vollem Licht offenbarte wie die christliche. So wie diejenigen, die menschliche Körper sezieren und mit den Ergebnissen des Sezierens die von anderen verfassten Bücher vergleichen, leicht beurteilen können, wer die besten geschrieben hat, so können auch jene, die sich mit der Zergliederung, Erforschung und sozusagen stückweisen Sezierung menschlicher Seelen (und vor allem der eigenen) befassen und diese Untersuchung mit den heiligen Schriften vergleichen, leicht erkennen, dass der Geist, in dem die heiligen Schriften verfasst wurden, die menschliche Natur derart durchschaut hat, dass man, um sie kennen zu lernen, 53
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nirgendwo sonst zu suchen braucht. Wenn jemand sich davon überzeugen möchte, soll er die Probe machen und sich selbst aufrichtig im Lichte dieser Schriften erforschen und sich Mühe geben, sie zu befolgen, und er wird sagen: Ja, so ist es. Und er wird nach dem, was er fühlt und erlebt, allen Grund haben, auch an das zu glauben, was jenseits von Sinneswahrnehmung und Erfahrung liegt. Das Gleiche stelle ich fest in Bezug auf den dritten Grund, die Zuverlässigkeit. So verkündete Noah seinen Zeitgenossen, die Sintflut werde kommen, und sie ist gekommen [1. Mose 7]. So sprachen Gott zu Abraham [1. Mose 18,16–33] und die Engel zu Lot [1. Mose 19,12 f.], Sodom werde zugrunde gehen, und es ist zugrunde gegangen. So sprach Gott zu ebendiesem Abraham, dass seine Nachkommen einem fremden Volk vier Jahrhunderte lang Sklavendienste würden leisten müssen und danach nach Kanaan gelangen würden [1. Mose 15,13 f.], und so ist es gekommen. So hat Jakob auf dem Sterbebett seinen Kindern das Kommende vorhergesagt (1. Mose 49), und es ist eingetreten. Josef hat dem Bäcker und dem Mundschenk des Pharao prophezeit, was ihnen geschehen werde [1. Mose 40,9– 19], und die Ereignisse haben seine Prophezeiung bestätigt. Ebenso hat er dem Pharao sieben Jahre Überfluss und sieben Hungerjahre richtig vorhergesagt [1. Mose 41]. Wer schließlich alle Schriften des Alten wie des Neuen Testaments gründlich studiert, wird erkennen, dass alles, was dort den Menschen als göttliche Offenbarung überliefert worden ist, sich als wahr herausgestellt hat, zumal was im Neuen Testament von den Juden wie von den Christen vorausgesagt wurde, dass nämlich Jerusalem zerstört und unter den Füßen zertreten werden solle (Lk 21[,24]) und das Evangelium auf dem ganzen Erdkreis zu verkünden sei (Mt 26[,13]); ebenso, was Paulus vorhergesagt hat, dass gierige Wölfe eindringen und die Herde nicht verschonen würden [Apg 20,29] 54
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und die Menschen von Glauben und Wahrheit abfallen [1. Tim 4,1] und am Ende der Zeiten so sein würden, wie wir sie heute sehen: Kurz, was immer dort vorhergesagt wurde, ist so offensichtlich eingetreten, dass jemand, der an anderen Dingen zweifeln kann, die jetzt noch in der Zukunft liegen oder verborgen sind, wohl verdient hätte, zum Glauben an die Wahrheit erst dann zu kommen, wenn es zu spät ist. Denn es ist nicht wahrscheinlich, dass der, der seit Anbeginn der Welt bis zum heutigen Tag niemals bei einer Lüge ertappt worden ist, zu guter Letzt anfängt zu lügen. Und wer immer die Wahrheit gesagt hat in allem, was uns bekannt ist, sollte der etwa lügen in Dingen, die uns nicht bekannt sind? Wenn nun trotzdem jemand verstockt und ungläubig bleibt und, obwohl vom Vergangenen überzeugt, dennoch ungläubig ist in Bezug auf die Zukunft, so schadet er sich mit seinem Unglauben selbst, und es wird ihm so ergehen, wie es den Menschen vor der Sintflut oder den Sodomitern und den anderen erging, die erst glaubten, als es zu spät und alles vergebens war. Denn wer erst dann an die kommende Sintflut glaubt, wenn sie schon begonnen hat, wird vergeblich anfangen, an den Bau einer Arche zu denken, in der er entkommen könnte.
KAPITEL 10
Was den vierten Grund angeht, nämlich Taten und Erfahrungen, so will ich hier die Wunder anführen, welche zur Bestätigung des Alten Testaments wie auch des Evangeliums vollbracht worden sind. Es sind so viele und große und ungeheuerliche, dass niemand so abgestumpft oder verstockt war, darüber nicht zu erstaunen. Sogar die Juden (und niemals hat es unter dem ganzen Himmel ein verstockteres, für die Wahrheit weniger aufgeschlossenes Volk gegeben) wurden 55
erstes buch
über die Wunder Christi vom Staunen ergriffen, und da sie diese nicht leugnen konnten, weil sie ja bei vollem Tageslicht öffentlich und im Beisein aller geschahen, gaben sie zu, dass er zwar Wunder gewirkt habe, jedoch im Namen Beelzebuls, des Fürsten der Dämonen [Mt 9,34; 12,24 par]. Ja, gewisse Gesetzeslehrer der Juden, gewöhnlich Rabbiner genannt, schrieben noch viele Jahrhunderte später − da selbst sie die Wunder Christi auch nach so langer Zeit nicht zu leugnen wagten, so wenig wie einstmals ihre Vorväter −, dass diese Wunder gewirkt worden seien durch die Kraft einer gewissen, von ihnen Schem Hamphoras genannten Gottheit. So jedenfalls soll es erzählt worden sein von einem Rabbiner Porchetus.20 Diese Erzählung, obwohl es in ihr von lächerlichen und unzüchtigen Lügengeschichten nur so wimmelt, hat immerhin so viel Gutes, dass sie bezeugt, es seien von Christus die größten Wunder gewirkt worden. Gerade weil dieses Zeugnis für Christus von seinen tödlichsten Feinden abgelegt worden ist, muss man es in diesem Punkt für besonders stichhaltig und glaubwürdig halten. Durch welche Kraft nun, ihrer Überlieferung nach, solche Wunder gewirkt worden sind, kümmert mich nicht. Denn da sie schlecht gesinnt sind, können sie auch nichts Gutes reden: Genug, dass sie zugeben, sie seien gewirkt worden. Und dabei spreche ich von fleischlichen und sichtbaren Wundern, die von allen als Wunder bezeichnet werden, und will dazu noch zwei hinzufügen, die ich weiter oben schon beiläufig erwähnt habe.21 Das erste ist, dass die Apostel – Männer von der Art, wie wir sie oben beschrieben haben – aller Ehrsucht und Habgier und Genusssucht zum Trotz (drei Gottheiten, die nahezu der ganze Erdkreis verehrt) die Lehre des Evangeliums überall in der Welt verbreitet und den Erdkreis davon überzeugt haben. Und dies gegen die Abneigung und den Abscheu der ganzen Welt, die gleichsam für ihre heimatlichen Altäre und Herde 56
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kämpfte (und wahrhaftig für Altäre und Herde, nämlich für die drei eben erwähnten Weltgottheiten). Und obwohl sie über keinerlei Unterstützung durch menschliche Waffen verfügten, gelang ihnen das auf solche Weise, dass bis zum heutigen Tag weder der Lauf der Jahrhunderte noch menschliche Kriege, Nachstellungen, Anschläge und Verbrechen sie [die Lehre des Evangeliums] wieder aus der Welt schaffen konnten. Mit welchen Worten könnte ich dieses Wunder noch steigern? Plinius rühmt die Eloquenz Ciceros und erhebt sie in den Rang eines Wunders, weil dieser die Römer zu Dingen habe überreden können, die ihren Begierden, ihren Interessen und ihrer Ehre zuwiderliefen. So schreibt Plinius im Buch VII, Kap. 30: « Du sprachst », sagt er (sich an Cicero wendend), « und die Tribus verzichteten auf das Ackergesetz, das heißt ihren Unterhalt; du gabst einen Rat, und sie verziehen dem Roscius, dem Urheber des Theatergesetzes, und nahmen die Beleidigung durch die Unterscheidung der Sitzplätze gleichmütig hin. »22 Soweit Plinius über Ciceros Eloquenz, die er zweifellos nicht ohne Grund rühmt; denn all das hätte er nicht vollbringen können ohne die außergewöhnliche Kraft seiner Rede. Vergleicht man damit aber, was die Apostel vollbracht haben, so verblasst Cicero und erscheint als ein Nichts. Denn dieser, ein Mann von höchstem Ansehen und mit allen Mitteln der Redekunst ausgestattet, der vieles vortäuschte, vieles verdrehte und verbarg und den Verstand seiner Zuhörer bisweilen (wie er sich selbst einmal rühmt) mit Dunkel umhüllte, konnte mit seiner wohlbedachten, ausgeschmückten, einschmeichelnden Rede doch letztlich die Römer nicht dazu überreden, der Jagd nach Genüssen oder der Ehrsucht auf Dauer Lebewohl zu sagen (wozu Cicero selbst sich auch nie durchringen konnte); sondern nur für den Augenblick und unter dem Eindruck seiner Redeglut fassten sie Beschlüsse, die für sie selbst abträglich erschienen. 57
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Die Apostel jedoch, kümmerliche Geschöpfe ohne Ansehen und bar jeder rhetorischen Eloquenz, die alles ohne jegliche Augenwischerei oder Kunstfertigkeit in ungelenker, schmuckloser und unvorbereiteter – ja, wie es in einem Psalm heißt [Ps 8,3], in kindlicher und lallender – Sprache aus dem Augenblick heraus vortrugen, sie wussten die Völker zu überzeugen, dass diese all das für immer aufgaben, was ihnen seit jeher das Teuerste gewesen war und wofür sie alle Mühe ertragen, Gefahren auf sich genommen und Kriege geführt hatten, und zwar derart, dass all dies noch heute, nach so vielen Jahrhunderten und so vielen Wechseln der Zeiten und Herrschaften, verfallen und bedeutungslos geworden ist. Denn die Jupiter, Neptun, Merkur und sonstigen Heidengötter dieser Art, die der ganze Erdkreis (mit Ausnahme nur des Hebräervolks) in Opfern und Riten verehrte, haben mit dem Auftreten der Apostel bald ihr Ansehen verloren. Es wurden nicht nur ihre Kulte abgeschafft, sondern auch die berühmten und hoch angesehenen Orakel begannen zu verstummen, so dass selbst bei den Völkern, die in ihrer Verderbtheit zeitweise von der Lehre Christi abgefallen waren, heute keine Spuren jener Götter mehr sichtbar sind. Vielmehr beten (wie einst der Prophet Jesaja geweissagt hatte [Jes 55,5]) alle Völker nur noch Jahwe, den Gott der Hebräer, an. Wahrhaft göttlich war die Kraft ihrer Rede, und es sprach aus ihnen so der Feuerzungen wirkende Heilige Geist,23 dass dem Feuer ihrer Beredsamkeit nichts widerstehen konnte. Dazu kamen dann noch die schon genannten Wunder, die so beschaffen waren, dass alle bekennen mussten, sie seien gewirkt worden aus göttlicher Kraft. Denn ohne Wunder hätte all das sicher nicht geschehen können. Wenn aber einer behaupten wollte, es seien keine Wunder im Spiel gewesen, so kommt er doch nicht umhin, das wohl größte Wunder von allen einzugestehen – oder war es etwa kein Wunder, die Welt von all dem zu überzeugen, was wir aufge58
kapitel 10
zählt haben, und die Religionen der Königreiche und Völker derart umzustürzen, dass die Welt eine neue Form annahm und gleichsam eine andere Welt geworden zu sein scheint? Ein weiteres Wunder (von dem wir bereits gehandelt haben und auf das wir, so Gott will, zu gegebener Zeit noch gründlicher eingehen werden)24 ist der Sinneswandel, der seinerzeit auf diese Lehre folgte und auch heute noch auf sie folgt bei denen, die wahrhaft an Christus glauben. Doch kann dieser Wandel nicht in gleicher Weise deutlich gemacht werden wie jene äußeren Wunder. Denn wie nur der Liebende weiß, was Liebe ist, so weiß auch nur der, was es mit diesem Sinneswandel und (wie es in der Heiligen Schrift verschiedentlich heißt)25 dem neuen Menschen und der neuen Schöpfung auf sich hat, der dies bei sich erlebt hat. Wer es nie erlebt hat, wird es durch noch so viele Worte nicht nachempfinden können. Doch mag dies als Nachweis genügen, dass auch die, in denen dieser Wandel nicht geschehen ist, ihn doch bei anderen an deren Taten wahrnehmen können. Indem also, um das Thema abzuschließen, die christliche Lehre stets unwandelbar und mit sich selbst in Übereinstimmung ist und aussagt, was durch eines jeden Gewissenszeugnis bestätigt wird, und fern jeglicher Täuschung durch Größe und Erhabenheit ihrer Werke alle anderen Lehren ebenso sehr übertrifft, wie der Tag heller ist als die Nacht: so meine ich, dass man dieser Lehre zuverlässig und ohne jeden Zweifel glauben muss.
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erstes buch
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liber primus, cap. 11, fol. 71 b
Cap. 11
Sed hic existunt tria..., quorum unum est quod in sacris literis insunt quaedam, quae absurda et dei maiestatem parum decentia esse videantur. Cuiusmodi est, quod de Mose narratur, intrasse eum in cavum saxi et a deo fuisse manu coopertum atque ita demum praeteriisse deum et a Mose a tergo, non a fronte fuisse visum. Item quod praecepit deus Israelitis, ut sibi bestias immolarent carnemque torrerent, ut eius nidor ad illius nares suavis perveniret, quasi ipse nidore carnis pasceretur. Idem dico de tabernaculo, templo, vestibus et ceremoniis, quae deus sic praecepit, quasi is humano more delectaretur et, ut paucis absolvam, de omnibus, in quibus inesse videtur aliquid absurditatis. Alterum est, quod videntur alicubi sacrae literae ipsae secum pugnare, tum in historiis tum in sententiis. Ex quo deinde nascitur tertium, quod earum interpretes ipsi quoque tum verbis tum scriptis ita non solum diversa, verum etiam saepe pugnantia docent et tamen omnia sacrarum literarum authoritate tuentur, ut saepe quid sequendum sit dubitent homines nec mali nec imperiti. Ad quorum primum sic respondeo. Fieri videmus tum natura tum arte quaedam, quae si per se consideres, foeda ineptaque videbuntur. Eorundem finem si perpendas, iudicabis et optime fieri et sapientissime, nisi eris et naturae et arti inimicissimus. Nam primum ipsa natura quomodo gignit et alit hominem? Concipitur homo in utero foeminae inter stercoris et lotii conceptacula collocato. Ibi alitur augescitque spacio circiter novem mensium sanguine menstruo, hoc est re haud scio an omnium, quae sunt, sub omni coelo immundissima, nasciturum deinde antecedit liquor quidam haud sane mundissimus, in quo foetus ipse in utero mersus iacuit.
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