Leid in Liebe wandeln

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„ LEID IN LIEBE WANDELN “ DIE BRIEFE DER FAMILIE PFAFF

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„Leid in Liebe wandeln“ Die Briefe der Familie Pfaff 1943–1945

Herausgegeben und erläutert von Michael Sachs unter Mitarbeit von Helga Anz und Edith Nikel-Ruppmann

alcorde verlag 3


© für diese Ausgabe bei alcorde Verlag, Essen, 2008 © Prof. Dr. med. Michael Sachs Richard-Wagner-Str. 51, 60318 Frankfurt am Main Lektorat: Hans-Joachim Pagel, Essen Fotos: Archiv Pfaff / Michael Sachs Satz und Layout: alcorde Verlag, Essen Reproduktionen der Abbildungen und digitale Bearbeitung:Thomas Stolper Die Abbildung auf dem Umschlag zeigt einen Brief von Hans Pfaff an seine Frau Ella Pfaff vom September 1943 aus Narvik Gesamtherstellung: fgb-freiburger graphische betriebe, Freiburg ISBN: 978-3-939973-08-9

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INHALT

1. Einleitung

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2. Die Familie Pfaff

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3. Briefe von Peter Pfaff aus Kowno (Litauen) April bis August 1943

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4. Briefe von Peter Pfaff aus Nordfrankreich September 1943 bis Januar 1944

74

5. Briefe von Peter Pfaff aus Bergen bei Celle M채rz bis August 1944

115

6. Briefe von Ella Pfaff aus Holland August bis September 1944

150

7. Briefe von Ella Pfaff aus Braunschweig und Wolfenb체ttel April bis Oktober 1944

161

8. Briefe von Hans und Ella Pfaff aus Norwegen September 1943 bis M채rz 1945

169

9. Peter Pfaffs letzte Briefe auf dem Weg nach Lettland September bis Oktober 1944

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10. Das Fronttagebuch von Peter Pfaff aus Lettland 1. bis 4. Oktober 1944

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11. Fr체he Briefe von Peter Pfaff Sommer 1942 bis April 1943

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Anstelle eines Nachworts Anmerkungen Literatur Personenregister Ortsregister (Absendeorte der Briefe)

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247 248 281 285 287


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1 . EINLEITUNG

Publizierte Briefwechsel haben eine ganz besondere Bedeutung als historisches Quellenmaterial. Denn Briefe geben nicht nur zeitgeschichtliche Fakten wieder, sie sagen gleichzeitig auch viel über den Charakter des Schreibers sowie über den Empfänger und über das Verhältnis des einen zum andern aus. Das gilt vor allem, wenn beim Abfassen der Briefe nicht an eine spätere Veröffentlichung gedacht wurde.1 „Die Bürgerliche Briefkultur des 20. Jahrhunderts ist ein weißer Fleck in der Forschung“, wird die Frankfurter Professorin für Zeitgeschichte Marie-Luise Recker zitiert.2 Unter den hier erstmals vollständig publizierten Briefen der Wolfenbütteler Familie Pfaff aus den Jahren 1943–1945 stehen die Feldpostbriefe des Sohnes Peter im Mittelpunkt des Interesses. Sämtliche Mitglieder der Familie Pfaff, Mutter,Vater und Sohn (einziges Kind), waren während des Zweiten Weltkrieges Angehörige der Wehrmacht und schrieben Feldpostbriefe: der Vater (im Zivilberuf Mathematik-Lehrer an einem Gymnasium) als Reserve-Offizier, die Mutter (Klavierpädagogin) als Rot-KreuzSchwester in einer Heeresbetreuungsabteilung und der Sohn Peter als Kriegsoffizieranwärter. Der Chirurg, Schriftsteller und spätere Pfarrer Hans Graf Lehndorff (1910–1987)3 hat bereits 1964 eine – allerdings subjektive – kleine Auswahl aus einigen Briefen Peter Pfaffs erstmals publiziert.4 Im Vorwort zu dieser Ausgabe schrieb der Herausgeber Graf Lehndorff: „Das Land, aus dem diese Briefe kommen, kann man nicht anders als mit Ehrfurcht betreten. Es ist die zeitlose Welt einer klaren, tiefempfindenden, mit reichen Gaben ausgestatteten Menschenseele, der das Glück zuteil geworden ist, in ein von Liebe und mitmenschlicher Verantwortung geprägtes Milieu hineingeboren zu werden und sich darin entfalten zu können.“ 5 Peter Pfaff fiel im Alter von 19 Jahren an der Ostfront in Lettland. Ein Leben wurde ausgelöscht, bevor es eigentlich begonnen hatte, doch hat dieser junge Mann ein Vermächtnis hinterlassen, das seine Lebensjahre überdauert.6

Was ist das Besondere dieser Briefe? Die Briefe zeigen das Ringen eines früh vollendeten Abiturienten mit den ihm begegnenden Menschen in einer bereits zusammenbrechenden Epoche gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Briefe schildern auch, wie der feinfühlige 18 Jahre junge Mann direkt nach dem Abitur im April 1943 aus der heilen Welt seiner Familie und seiner Freunde herausgerissen 7


EINLEITUNG

wurde und zunächst vier Monate beim „Reichsarbeitsdienst“ (RAD) im fernen Litauen dienen mußte, bevor er dann zur Wehrmacht (Heer) nach Frankreich eingezogen wurde. Die Briefe zeigen die ungewöhnliche seelische Reife Peter Pfaffs, der gläubig und idealistisch ist, aber gleichzeitig die Menschen und die Verhältnisse seiner Zeit kritisch und distanziert betrachtet. Die Briefe zeigen einen zarten, empfindsamen, reinen jungen Menschen, der versucht, mit der rauhen Wirklichkeit des Soldatseins und des Krieges fertig zu werden, ohne seine Persönlichkeit und seine Ideale aufzugeben. Das wichtigste Lebensziel Peter Pfaffs, der nach dem Krieg Medizin studieren und dann Chirurg und/oder „Seelenarzt“ werden wollte, war es, „Liebe auszustrahlen“ und zu empfangen, den Mitmenschen „ihr Herz aufzuschließen“ und den Weg zu Gott zu suchen.7 Die Briefe fanden in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein unerwartetes Interesse und eine sehr positive Resonanz, so daß bald eine zweite und dann auch eine dritte Auflage notwendig wurden. Sie wurden als ein erschütterndes Dokument einer Generation bezeichnet, „die nicht wußte, daß sie so schrecklich mißbraucht wurde“.8 Wilhelm Karl Prinz von Preußen (1922–2007), ein Enkel des letzten deutschen Kaisers, schrieb an Graf Lehndorff wenige Wochen nach Erscheinen der Erstausgabe: „Lieber Hans. Selten hat mich ein Buch so bewegt wie die ‚Briefe des Peter Pfaff‘, die Sie mir in Godesberg in die Hand drückten. […] Bei aller Zartheit strömen diese Briefe doch eine überwältigende Kraft aus, und ich bin sicher, daß jeder, der sie in die Hand bekommt – ob Jugendlicher oder Erwachsener – etwas davon in sich aufnehmen wird und am Ende nicht mehr der gleiche ist wie zuvor. […] Ihr dankbarer Wilhelm Karl“ 9 Die aus Aahof (Lejasciems/Lettland) stammende Schriftstellerin Dr. phil. (Univ. Riga) Zenta Maurina (1897–1978), die 1945 aus ihrer Heimat vor der Roten Armee nach Schweden flüchtete, schrieb aus Uppsala an Ella Pfaff: „Sehr geehrte, liebe Frau Pfaff! Die Lektüre dieses sehr stilvoll herausgegebenen kleinen Bandes hat mich tief berührt, daß ich meine Arbeit unterbreche und Ihnen gleich ein paar Zeilen schreiben will. Mein erster Gedanke: Es waren die Besten, die aus edelstem Holz geschnitzten, die aus dem Felde nicht heimkehrten, daher ist unsere Zeit so dürr und verdürftigt. Die Wunde, die ein so tiefer Verlust schlägt, heilt nicht zu und dennoch müssen wir weiterleben, d. h. lieben und wirken, noch intensiver lieben, um im Sinne der Dahingegangenen zu leben. Die Briefe Ihres Sohnes sind wie die zarten Frühlingsblumen – Narzissen und Krokusse –, die die Kraft besitzen, die harte Wintererde zu durchbrechen, ohne den Hauch und Schmelz ihrer Schönheit zu verlieren. […]. Dieser kleine Band umschließt ein 8


EINLEITUNG

unverrückbares Ethos und jene Schönheit, die menschliche Bindungen gewinnen, wenn sie in einer höheren Welt verankert sind. Daß Ihr Sohn in Lettland, unweit von Prekuln beigesetzt ist, bewegte mich ganz besonders. Nach Prekuln bin ich oft mit meinem Vater gefahren, wenn er als Kreisarzt10 dort amtlich zu tun hatte. […]. Mit vielen Grüßen Ihre [gez. Zenta Maurina]“11

Wie kam es zur Erstausgabe der Briefe? Im Jahre 1963 lernte der aus Ostpreußen stammende Graf in seinem Haus in Bad Godesberg die Klavierpädagogin Ella Pfaff aus Wolfenbüttel kennen. Frau Pfaff übergab dem Grafen maschinengeschriebene Abschriften der Feldpostbriefe ihres im Kriege gefallenen einzigen Kindes zum Lesen. Graf Lehndorff schrieb daraufhin an Frau Pfaff: „Verehrte gnädige Frau! Sie haben mir die Briefe Ihres Sohnes, Ihres einzigen, einzigartigen Kindes geschenkt! Ich hatte Ähnliches schon immer erhofft, seit mein Buch12 erschienen war und die Seiten 255–59 gelesen wurden. Lange schwankte ich, ob ich sie mit veröffentlichen sollte, tat es dann auf Zureden eines objektiven Menschen, den ich um Rat fragte. Aber nun erst bin ich gewiß, daß es recht war. Ich habe die Briefe gleich gelesen und lasse sie mit mir gehen. Es ist eine vertraute Welt, und doch betritt man sie mit Ehrfurcht. An ihr teilhaben zu dürfen, ist schon Geschenk genug. Festhalten kann man sie nicht. Aber ich darf wohl gewiß sein, daß auch Ihnen der Trost zuteilgeworden ist, in dem die Flamme des Schmerzes weiterbrennen darf ohne zu zerstören und ohne sich zu verbrauchen, vielmehr lebenspendend da wo etwas sterben will. Für Ihr Vertrauen dankend grüßt Sie in Ergebenheit Ihr Gf. Lehndorff.“13 Drei Wochen später schrieb Graf Lehndorff einen weiteren Brief an Frau Pfaff: „Verehrte gnädige Frau! Wollen Sie es bitte recht verstehen, wenn ich mich heute noch einmal an Sie wende. Sie können selbstverständlich sofort abwinken – wenn ich binnen 8 Tagen keine Antwort von Ihnen erhalte, will ich das als Absage auffassen. Aber es macht mich einfach unruhig, daß ich diesen Reichtum, den Sie mir mit den Briefen Ihres Sohnes anvertraut haben, für mich behalten soll. Jeden Tag denke ich daran und überlege, ob und wie ich Ihnen mein Anliegen unterbreiten soll. Aber nun will ich nicht länger zögern: Ich finde es notwendig daß die Menschen mehr von dieser sauberen Welt wissen.Was werden heute alles für schreckliche Dinge geschrieben und empfohlen und mit was für Schmutz wird die Vergangenheit beworfen. Aber nicht nur das – es geht von diesen Briefen eine Heilkraft aus, und die sollte nicht ungenutzt bleiben. Sie wird einfach gebraucht. Meine Frage können Sie sich denken: Wären Sie bereit, die Briefe für einen Druck freizugeben? Natürlich unter der Voraussetzung veränderter Namen und sonstiger Hinweise. Oder ist daran garnicht zu denken? Sie könnten ja den ‚Erlös‘ von vorneherein 9


EINLEITUNG

für eine große Sache im Dienst am Menschen zur Verfügung stellen. Ich habe – außer mit einer uns befreundeten alten Dame – noch mit keinem Menschen über diesen Plan gesprochen und will es auch nicht, ehe Sie sich dazu geäußert haben. Ich würde die technischen Dinge in die Hand nehmen, sodaß Sie – abgesehen vom Urheberrecht – nichts damit zu tun haben brauchten. Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, verehrte gnädige Frau, und nehmen Sie sie als das was sie ist: ein Zeichen großen Beschenktseins. In herzlicher Verbundenheit grüßt Sie Ihr ergebener [gez.] Lehndorff“.14 Bereits ein Jahr nach Erscheinen der ersten Ausgabe bereitete Graf Lehndorff die zweite Auflage vor. Er nahm aber einige Änderungen und Kürzungen an den Briefen vor, besonders von Formulierungen, die die ungewöhnlich enge Beziehung Peter Pfaffs zu seiner Mutter zeigen. Graf Lehndorff unterließ es aber, diese Streichungen im Text zu kennzeichnen. Er schrieb an Frau Pfaff: „Verehrte Frau Pfaff! […] Ich bin gerade dabei, auf Wunsch des Verlages und mancher Leser, die mir direkt geschrieben haben, die Briefe für eine zweite Auflage etwas zu ‚redigieren‘, d. h. die allzu persönlichen Stellen zu neutralisieren, was doch wohl nötig ist, weil die Menschen sich die außerordentliche, nur durch Liebe zu überstehende Situation der damaligen Zeit eben doch nicht vorstellen können und deshalb die große Zärtlichkeit nicht richtig verstehen. Diese ‚Kritik am Rande‘ wird auch zu Ihnen gedrungen sein, und Sie werden deshalb – dessen bin ich gewiß – meiner Bemühung zur Eliminierung der Störungsfaktoren der genannten Art in Gedanken zur Seite stehen. […] Mit herzlichen Grüßen empfiehlt sich Ihnen Ihr sehr ergebener [gez.] Lehndorff.“15 Einige wenige typische Textveränderungen in dieser 2., „durchgesehenen“ Auflage, die dann in die dritte Auflage übernommen wurden, seien hier exemplarisch aufgeführt: Brief vom

1. Auflage (1964)

2. Auflage (1965)

6. 5. 1943 (Schlußformel)

Dein kleines Söhnlein, das so dankbar ist, daß Du es geboren hast.

[fehlt]

10. 5. 1943 (Schlußformel)

… Dein Muttiherz … Bleibe fröhlich, Du Geliebte von Vater und mir.

… Dein Herz … Bleibe fröhlich.

18. 5. 1943 (Schlußformel)

Leb wohl, mein Muttilein, … Leb wohl, Mutti, …

23. 5. 1943 (1.–2. Absatz)

Was ist das bloß … und es tröstet Dich 10

[fehlt]


EINLEITUNG

Gründe für eine vollständige Ausgabe der Briefe Der erste Eindruck beim Lesen – der nicht „redigierten“ Fassung – dieser Briefe von Peter Pfaff ist ihre ungewöhnlich lebendige und anschauliche Sprache. Man fragt sich, ob es wirklich Briefe eines noch nicht Zwanzigjährigen sind. Beim Lesen wird aber auch deutlich, welche Bedeutung die Atmosphäre des Elternhauses für diesen jungen Mann gehabt haben muß. Hier wurde Peter Pfaff die Möglichkeit gegeben, über seine jungen Jahre weit hinaus zu reifen, um sich mit den chaotischen Zeitumständen wie auch mit seinen eigenen Schwächen auseinanderzusetzen. Leider geben uns die drei Auflagen des Buches von Graf Lehndorff gerade über den familiären Hintergrund und die Biographie des jungen Mannes keine Auskunft. Dies machte den Herausgeber der jetzt vorliegenden Gesamtausgabe neugierig. Er ermittelte den Wohnort der inzwischen erloschenen Familie in Wolfenbüttel und lernte Freunde der Familie und Schülerinnen der Mutter von Peter Pfaff kennen. Ella Pfaff wirkte dort als Pianistin und Musikpädagogin (das Wort „Klavierlehrerin“ mochte sie nicht). Der Herausgeber staunte, welche Ausstrahlung und Bedeutung „Tante Ella“, wie sie meist respekt- und liebevoll genannt wurde und noch heute wird, auf ihre Freundinnen und Schüler(innen) auch heute noch, fast 20 Jahre nach ihrem Tode, hat.16 Er erkannte auch, daß die Briefe Peter Pfaffs ohne Kenntnis der noch erhaltenen Briefe der Mutter und seines Vaters nicht verständlich sind. Und er mußte erkennen, daß die inhaltsreichsten Briefe bisher nicht publiziert wurden. Vergleicht man die bisher gedruckte Auswahl an Briefen mit den hier erstmals publizierten Dokumenten, fällt auf, wie subjektiv die Auswahl von Graf Lehndorff und der damals noch lebenden Mutter Peters vorgenommen wurde. Peter versuchte in den Briefen an seine Mutter diese möglichst zu schonen und nur Positives zu berichten.17 Er schreibt dazu in einem bisher nicht publizierten Brief an seine Lieblingstante: „… eben kann ich Mutti nur die positiven Seite meines Lebens erzählen, muss ihr Stütze, ein Trost sein und kann sie nicht mit meinem Kummer noch Belasten. Sie muss ihren Sohn immer glücklich wissen.“18 Während Peter deshalb in den Briefen an seine Mutter fast wie ein bewundernswerter Heiliger erscheint, begegnet er nach dem Studium sämtlicher erhaltener Briefe (auch der an seinen Vater, an dessen Schwester und an seinen besten Freund) dem Leser mehr als ein angefochtener, suchender Mensch, der dem Leser dadurch viel näher kommt. Während der zwei Jahre, die seine Briefe spiegeln, verliert Peter seine Kindheit, ohne sich von seinen Idealen und von seinem christlichen Glauben zu entfernen.

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EINLEITUNG

Zur Textgestalt Textgrundlage dieser Ausgabe sind (undatierte) maschinenschriftliche Abschriften der Briefe Peter Pfaffs und seiner Eltern, die in den ersten Nachkriegsjahren angefertigt wurden und die der Herausgeber bei Freunden und Freundinnen der Familie Pfaff auffinden und sammeln konnte. Die Originale aller Briefe ihres Sohnes wurden Ella Pfaff auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin mit in den Sarg gelegt (1989). Auszüge aus den Briefen ihres Mannes Hans Pfaff an sie aus Norwegen (siehe Kap. 8) liegen auch in zwei wohl älteren, um 1950 und 1952 von Hans und Ella Pfaff angefertigten handschriftlichen Abschriften vor. Diese Vorlagen gibt diese Ausgabe getreu wieder, auch in Orthographie und Zeichensetzung. (Manche Briefe wurden offenbar auf Schreibmaschinen abgeschrieben, die keine Type für den Buchstaben ›ß‹ hatten, weshalb er, wie in diesem Fall üblich, durch ›ss‹ ersetzt wurde. Auch diese Schreibung wurde beibehalten.) Lediglich offensichtliche Abschreib- oder Tippfehler wurden stillschweigend verbessert, wenige fehlende, für das Verständnis aber nötige Satzzeichen ebenso stillschweigend ergänzt. Auf zu vermutende Irrtümer (etwa bei Briefdaten) wird in den Anmerkungen hingewiesen. Hervorhebungen in den Vorlagen (Unterstreichungen, Sperrungen) werden einheitlich kursiv wiedergegeben. Erläuternde Zusätze des Herausgebers stehen in eckigen Klammern. Zusatz des Herausgebers sind auch die fortlaufende Numerierung der Briefe und die Angabe der Empfänger. Die Anmerkungen bringen alle erreichbaren Informationen, die zum besseren Verständnis des in den Briefen Mitgeteilten dienen können. Sie verwerten neben der herangezogenen Literatur auch einige Briefe Ella Pfaffs aus der Nachkriegszeit sowie mündliche Mitteilungen mit der Familie Pfaff befreundeter Personen. Daß sie nicht jede beim Lesen aufkommende Frage beantworten können (so konnten zum Beispiel nicht alle in den Briefen genannten Personen identifiziert werden), versteht sich von selbst.

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Hans Pfaff (1891–1963) Studienrat Wolfenbüttel

1924

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Johanna Edmund Bank Friederike (? – vor 1938) Oberregierungsrat Braunschweig

8

Hermann Pfaff (1862–1933) Oberstudienrat (Prof. Dr. phil.) Helmstedt

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2. DIE FAMILIE PFAFF

Helene Mansfeld (1867 – nach 1945) Braunschweig

Ella Bank (1898–1989) Musikpädagogin Wolfenbüttel

Hans-Peter Pfaff (1925–1944) Wolfenbüttel Großeltern und Eltern von Peter Pfaff; alle evangelisch-lutherisch

Abb. 1: Peter Pfaff, Anfang der 1940er Jahre. 13


DIE FAMILIE PFAFF

Peter Paff (1925–1944) geboren 18. 5. 1925 in Braunschweig; keine Geschwister gefallen 17. 10. 1944 in „Vitini“ (= Vibini) bei Pre[e]kuln [heute Priekule]/Lettland19 Aus den erhaltenen Dokumenten und Briefabschriften ergibt sich folgender Lebenslauf. Die genauen Quellen finden sich in den Anmerkungen zu den Briefen. Abb. 2: Peter Pfaff, um 1927.

1935–1943 Schüler der Großen Schule (Gymnasium für Jungen) in Wolfenbüttel, an der auch sein Vater als Studienrat für Mathematik unterrichtet.20 1943 (Februar) Abitur im Alter von 17 Jahren (Klassenbester) an der Großen Schule in Wolfenbüttel in Anwesenheit von Ministerialrat Dr. Rudolf Müller, Leiter der Schulabteilung des Landes Braunschweig. Direktor der Anstalt war seit 1939 der regimetreue Oberstudiendirektor Eduard Hogrebe, nachdem Dr. Müller dessen sehr angesehenen Vorgänger Oberstudiendirektor Hermann Lampe suspendiert hatte (mehrere Oberprimaner waren 1939 aus dem Religionsunterricht ausgetreten, weil der Religionslehrer parteikonform besonders das religiöse Brauchtum der Germanen behandelte).21 1943 (April–August) Viermonatiger Reichsarbeitsdienst bei der Reichsarbeitsdienstabteilung 6/ 15 in Kowno (Kauen, Kaunas/ Litauen). 14

Abb. 3: Peter Pfaff, um 1930.

Abb. 4: Peter Pfaff, um 1940.


DIE FAMILIE PFAFF

1943 (August) einige Urlaubstage in Solingen bei Familie Wüsthof und seiner Freundin Gretie. 1943 (Ende August) Meldung bei der Grenadier-Nachrichten-ErsatzKompanie 31 (Standort: Braunschweig). Erkennungsmarke: 6039-G.N.E.K. 31. 1943 (7.–14. September) mehrtägige Zugfahrt im Viehwagen von Braunschweig (?) über Köln und Koblenz nach Frankreich. 1943 (September – Februar 1944) Grenadier bei der Reserve-Infanterie-Nachrichten-Kompanie 31 in Frankreich, Ausbildung als Funker.Vermutlich gehörte diese Nachrichtenkompanie zum ReserveGrenadier-Regiment 31 (aus Braunschweig), das an der Küste bei Boulogne-sur-Mer (Hafenstadt am Ärmelkanal) eingesetzt wurde; das Regiment war dort der 191. Reserve-Division unterstellt.22 1944 (Ende Februar) Urlaub in Wolfenbüttel bei der Mutter. 1944 (1. März – 31. August) Kriegsoffizierbewerber-Kurs (freiwillige Meldung als Gefreiter) in Bergen bei Celle (beim Lehrstab XI = Wehrkreis Hannover). 1944 (1. September) Beförderung vom Gefreiten zum Unteroffizier (Kriegsoffizieranwärter). 1944 (5.–17. September) Urlaub in Solingen bei Familie Wüsthof gemeinsam mit seinem aus Norwegen angereisten Vater, seiner aus Holland angereisten Mutter und seiner Freundin Gretie, die im Hause Wüsthof lebte, da ihr Vater als Richter ein Jahr vor ihrem Abitur in eine andere Stadt versetzt worden war und sie nicht die Schule wechseln wollte. 1944 (17.–23. September) in Blankenburg bei der Stammkompanie seiner alten Einheit. 1944 (25. September) Peter ruft seine Mutter aus Goslar an.23 1944 (28. September) Abfahrt aus einer Kaserne (wahrscheinlich in Goslar oder Blankenburg), in der die Stammkompanie seiner (neuen) Einheit untergebracht war. 1944 (29. September) in Berlin; abends Abfahrt mit dem Zug vom Stettiner Bahnhof (in Berlin, Invalidenstr. 24–27). 1944 (30. September) „nach einer langen Nachtfahrt“ wohl vormittags Ankunft in einer Frontleitstelle in einer Stadt mit Hafen (wohl Danzig [oder Stettin]).24 1944 (30. September – 2. Oktober) Truppentransport mit einem „Reisedampfer“ nach Riga. 1944 (2. Oktober) abends Ankunft im Hafen einer Frontstadt (Riga), Übernachtung in einer Schule (Frontleitstelle). 1944 (3. Oktober) in der Morgendämmerung Abfahrt mit dem Lkw auf 15


DIE FAMILIE PFAFF

1944

1944 1944

1944

einer „Rollbahn“ [= Straße Nr. 1 Riga–Wolmar (Valmiera)].25 Übernachtung in einem Privathaus in der Nähe der Rollbahn (vermutlich bei Segewold/Sigulda). (4. Oktober) morgens Fußmarsch über 10 km über den Divisionsgefechtsstand (der 31. Grenadierdivision) zum Regimentsgefechtsstand (des 17. Grenadierregiments).26 (10. Oktober) Letzter erhaltener Brief an die Mutter („schweres Erleben“), vermutlich in Riga aufgegeben. (12./13. Oktober) Die 31. Volksgrenadier-Division verläßt RigaOst über eine Notbrücke über die Düna und wird nach Vainode/ Prekuln verlegt. (17. Oktober) „Oberjäger Hans-Peter Pfaff“ wird bei dem Dorf „Vitini“ (Vibini) 24 km östlich von Prekuln beigesetzt. Er starb angeblich „schnell und schmerzlos“ infolge einer Granatverletzung.

Peter wollte nach dem Krieg Medizin studieren und niedergelassener Arzt werden: „Seelenarzt“ und „Chirurg“.27 Die Kombination von Chirurgie und Psychiatrie erinnert an seinen Ur-Ur-Großonkel Dr. med. David Mansfeld (1797–1863), der Dozent am anatomisch-chirurgischen Institut in Braunschweig und später Vizepräsident der „Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und gerichtliche Psychologie“ war (siehe S. 24).

Der Vater: Hans Pfaff geboren 15. 3. 1891 in Helmstedt gestorben 23. 10. 1963 in Dortmund verheiratet 1924 mit Ella geb. Bank (1898–1989) (Verlobung August 1922) 1910 Abitur am Gymnasium in Helmstedt. 1910–1921 Studium der Mathematik, Physik und Chemie an den Universitäten München, Göttingen und Leipzig, unterbrochen durch Kriegsteilnahme. 1914–1918 Kriegsteilnahme, zuletzt als Offizier Kompanieführer (Verleihung des Eisernen Kreuzes I. Klasse). 1919 Entlassung aus Kriegsgefangenschaft. 1922–1923 Studienreferendar am Wilhelm-Gymnasium in Braunschweig und an der Gauß-Oberrealschule in Braunschweig. 1923–1956 zunächst Studienassessor, dann Studienrat an der Großen Schule in Wolfenbüttel.28 16


DIE FAMILIE PFAFF

um 1940 Oberstudiendirektor Eduard Hogrebe lädt Pfaff vor, weil dieser in einem Fragebogen die jüdische Herkunft seiner Schwiegermutter verschwiegen habe. 1941 Studienrat Hans Pfaff wohnt laut Adreßbuch der Stadt Wolfenbüttel in der Leibnizstraße 10 und ist Studienrat an der „Großen Schule, Staatl. Oberschule für Jungen“ (Rosenwall 12).29 1941 (12. Juni) Besuch des Fliegerhorstes BraunschweigBroitzem durch die Klassen 6 und 7 der Großen Schule unter Führung von Studienrat Pfaff.30 1942–1945 Kriegsteilnahme als Hauptmann der Reserve (Transportoffizier) Abb. 5: Hans Pfaff, um 1930. in Narvik/Norwegen. Er leitet die „Außenstelle Narvik des Transportoffiziers beim Wehrmachtsbefehlshaber Norwegen“ in Oslo. Er organisiert die Truppen- und Materialtransporte von Mosjøen am Polarkreis über Narvik, Hammerfest, Nordkap, Petsamo nach oder von Finnland, Schweden und Dänemark. Vor allem ist er für die Schiffstransporte und den militärischen Geleitschutz in diesem Gebiet zuständig. 1945–1946 Kriegsgefangenschaft in einem Lager in Norwegen zusammen mit seiner Frau. 1946 Entlassung aus englischer Kriegsgefangenschaft gemeinsam mit seiner Frau. 1963 Beisetzung auf dem Friedhof Lindener Straße in Wolfenbüttel. Hans Pfaff war ein beliebter Lehrer, der die Mathematik fesselnd und anschaulich lehren konnte, ohne Schüler zu strafen. Er habe zu eigenem Denken angeregt und oft auch philosophische Fragen angeschnitten, so erinnern sich ehemalige Schüler.31 17


DIE FAMILIE PFAFF

Eine anschauliche Beschreibung des Mathematik-Unterrichts des Studienrats Pfaff am Gymnasium in Wolfenbüttel gibt Jürgen Herbst (Schuljahrgang 1926/27), ein ehemaliger Schüler (1937–1944), der nach dem Abitur 1946 in die Vereinigten Staaten auswanderte: „Then there was Mr. Pfaff, our mathematics teacher during my first two years. It was he who, when called to arms in 1939 like Bodo Wacker and my father, was then replaced by a high-ranking and thoroughly incompetent labor leader. Mr. Pfaff had a knack for making algebra and geometry comprehensible to ten- and eleven-years-olds. He split us up into competing teams and, as he would say, lubricated our little brains until they ran on over-drive, manipulating numbers and symbols. We did compete fiercely and spurred each other on to win the contest by solving the most problems in the shortest time. We worked with compass and circle, and with the help of razor blades, construction paper, and glue sticks fabricated all sorts or more or less complicated cubes and spheres. Mr. Pfaff had once been in America, when we had especially pleased him with our class work, would in the last five minutes tell us stories of that visit. He spoke of skyscrapers and elevators, movie palaces and subways that to us seemed inconceivable and, we thought, in all likelihood products of his fabulous imagination. We were most intrigued with his description of automats in the walls of buildings, machines that, he said, when prompted with a coin, would squirt Coco-Cola into a cup or place a frankfurter on a paper plate and then ask you whether or not you wanted mustard on top. We didn’t really believe him but we loved his stories and always begged for more.“ 32

Die Mutter: Ella Pfaff geboren 18. 4. 1898 in Helmstedt gestorben 9. 6. 1989 in Braunschweig verheiratet 1924 mit Hans Pfaff

Abb. 6: Ella und Hans Pfaff, um 1925. 18

Nach dem Besuch des Gymnasiums in Braunschweig musikalische und pianistische Ausbildung in Braunschweig, Leipzig (Teichmüller) und Berlin (Breithaupt).


DIE FAMILIE PFAFF

1944 (März) Zehntägige Ausbildung als Helferin beim Deutschen Roten Kreuz in Hannover mit einem Abschlußexamen (Verbände, Medizinkunde, außerdem Exerzieren). 1944 (April/Mai) Ella arbeitet als DRK-Helferin zunächst als Nachtwache im Krankenhaus in Wolfenbüttel-Auguststadt (Jägerstraße 18), danach in einem Behelfslazarett („Auffangstelle für Verwundete“) im Anton-Ulrich-Museum in Braunschweig, wo sie gemeinsam mit Dr. med. Abb. 7: Ella Pfaff, um 1920. Heinz Wiebrecht (Approbation 1936) Bombenopfer versorgt. 1944 (Mitte Juli – Anfang September) sechswöchige Tätigkeit als „Schwester Ella“ in einem Soldatenheim „De Beer“ (bisher Jagdhütte des Ehemanns der niederländischen Königin Juliane, Prinz Bernhard zur Lippe-Biesterfeld) auf einer holländischen Insel, die strategisch wichtig vor Hoek van Holland in der Zufahrt zum Hafen Rotterdam liegt. Die Tätigkeit der etwa 1000 Marine-Soldaten auf der Insel ist geheim. „DRK.-Helferin Pfaff Feldpost-Nummer 36809“ [= Stab Wehrmachts-Betreuungs-Abteilung 10; die Gebietsführerin amtierte in Hilversum]. Sie war demnach Angehörige der Wehrmacht und deshalb später auch in Kriegsgefangenschaft. 1944 (4. September) Räumung der Insel De Beer, über Hoek van Holland, von dort Flucht mit dem Zug gemeinsam mit ca. 2500 holländischen Flüchtlingen („Nazi-Kollaborateuren“ des „NSB“) über Schiedam, Amsterdam (Beschuß durch englische Flugzeuge), Zwolle und Bentheim nach Köln.Von dort Weiterreise nach Solingen zur Familie Wüsthof. 1944 (7.–17. September) Urlaub in Solingen gemeinsam mit ihrem Ehemann, der aus Norwegen anreist, und ihrem Sohn bei Familie Wüsthof. 19


DIE FAMILIE PFAFF

1944 (Ende September) als DRK-Helferin Nachtdienste im Krankenhaus Jägerstraße in Braunschweig. 1944 (15. Oktober) 32. und bisher schwerster Bombenangriff auf Braunschweig, dessen Innenstadt weitgehend zerstört wird (über 600 identifizierte Tote). Ella Pfaff arbeitet bei einer „Auffangstelle“ für Verletzte. Nachtwachen im Krankenhaus Jägerstraße in Braunschweig 1944 (13. November) Abreise nach Norwegen, um dort als DRK-Schwester ein Soldatenheim zu leiten. Zugreise von Wolfenbüttel über Magdeburg und Berlin nach Güstrow, dann mit dem Schiff nach Flensburg (dort werden in drei Tagen die „Norwegenschwestern“ zusammengestellt). Von Flensburg mit einem Schiff zunächst nach Århus (oder Kopenhagen). Dann mit einem anderen Schiff zu einem norwegischen Hafen, von dort nach einer „langen Bahnfahrt“ nach Oslo (Ankunft in Oslo am frühen Morgen des 23. November 1944). 1944 (13. November) Wenige Stunden nach Ella Pfaffs Abfahrt aus Wolfenbüttel versucht ein Beauftragter der NSDAP, ihr die Nachricht vom Tod ihres Sohnes zu übermitteln. 1944 (23. November) In Oslo erhält sie im Armeeoberkommando telephonisch von ihrem Mann in Narvik die Nachricht vom Tod ihres Sohnes. 1944 (2.–22. Dezember) Urlaub gemeinsam mit ihrem Mann in einem von der Wehrmacht beschlagnahmten Schloß in der Nähe von Oslo. 1944 (ab 24. Dezember) als DRK-Schwester Leiterin eines Soldatenheimes in Mo i Rana (300 km südlich von Narvik). 1945 (8. Mai – 1946) Kriegsgefangenschaft (Engländer) in einem Lager in Norwegen zusammen mit ihrem Mann. 1989 Beisetzung auf dem Friedhof Lindener Straße in Wolfenbüttel. Besser als dieser tabellarische Lebenslauf zeigt der folgende Auszug aus einem Artikel der „Wolfenbüttler Zeitung“ vom 19. 4. 1988 die Persönlichkeit von Ella Pfaff, der anläßlich des 90. Geburtstages der „Pianistin und Klavierpädagogin Ella Pfaff“ erschien: „Menschliche Wärme und Musik – das sind die beiden Elemente, die in Ella Pfaff zu einer harmonischen Einheit verschmolzen sind. Als mütterliche Freundin mit einer besonderen Gabe für Freundschaften, als stets aufmerksame und interessierte Gesprächspartnerin und vor allem als Klavierpädagogin wird sie von zahllosen Freunden und Schülern verehrt. 20


DIE FAMILIE PFAFF

Das Leben der Jubilarin begann Ende des letzten Jahrhunderts in Helmstedt. Ihre musikalische Ausbildung erhielt sie in Studien an den Konservatorien von Braunschweig, Leipzig und Berlin bei namhaften Persönlichkeiten, unter anderem Max Reger. Nach der Heirat mit Hans Pfaff (Studienrat an der Großen Schule) wird ihr einziges Kind Peter geboren. Im Zweiten Weltkrieg stellt sie sich als ehrenamtliche Helferin dem Roten Kreuz zur Verfügung und arbeitet zunächst in einem Braunschweiger Lazarett. Später leitet sie ein großes Soldatenheim in Moirana. Einen, wenn nicht zentralen Einschnitt im Leben der Pfaffs markiert das Jahr 1944: der geliebte Sohn Peter fällt 19jährig in Lettland. Erschütternde Zeugnisse aus dem Leben dieses begabten und frühreifen Jungen wurden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. […] Diese Briefe sind voller Zärtlichkeit und Poesie, ein Abb. 8: Ella Pfaff in ihren letzten Dokument einer ungewöhnlichen BezieLebensjahren. hung zwischen Mutter und Sohn. Nach Kriegsende gerät Ella Pfaff gemeinsam mit ihrem Mann, der im Kreisauer Kreis am antifaschistischen Widerstand teilgenommen hatte, in englische Gefangenschaft. Zurückgekehrt nach Wolfenbüttel sieht sie durch den Verlust ihres Sohnes ihre besondere Aufgabe im Vermitteln von menschlichen und musikalischen Werten an die Jugend. Über drei Jahrzehnte unterrichtet sie ganze Schülergenerationen. So schrieb eine ehemalige Schülerin sehr treffend, sie sei eine Persönlichkeit, die auch dem schwierigsten Kind Musik als etwas Beglückendes erschließen konnte. Mit diesem pädagogischen Einfühlungsvermögen ging auch eine gewisse Strenge einher. ‚Tante Ella‘, wie sie fast alle liebevoll nennen durften, stellte nämlich hohe Ansprüche an Genauigkeit und Technik. Das besondere Gefühl für Spannungsbögen, für Melodie und Harmonie wollte sie auch auf ihre Schüler vermittelt wissen. Gekrönt wurde der Unterricht in öffentlichen Schülerkonzerten, unter anderem im Schloßtheater. […] Trotz des Augenleidens erhielt sich Ella Pfaff ihre Vitalität, ihre unglaubliche Energie bis in das hohe Alter. Was könnte diese Tatsache besser zum Ausdruck bringen, als ihre zahllosen Reisen, die sie bis zu ihrer Erkrankung Anfang dieses Jahres allein unternahm, um ihre Schüler in der Ferne zu unterrichten und Freundschaften zu pflegen.“ 21


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Ella Pfaff schreibt um 1960 in ein Poesiealbum, das Peter ihr 1943 geschenkt hatte: „So kehren oft gerade in den Nächten die Gedanken an Pohlys zurück. Pohly: Vater, Mutter, 2 Töchter, Hannah war meine Schülerin. – Immer wieder nagt an mir der Vorwurf, daß ich nichts für sie tat, ehe diese Unglücklichen der fürchterlichen Angst verfielen. Sie wohnten uns gegenüber. Wir sahen, wie in der Kristallnacht der Vater abgeholt, nach einiger Zeit zerschlagen, zerschunden, verstummt wiedergebracht wurde.Wie keiner von ihnen mehr sich in der Straßenbahn setzen durfte, wie sie aus ihrem Haus in ein Hundeloch vertrieben und schließlich ins – Unbekannte- abtransportiert wurden. Wir sahen, wir wussten – wir taten nichts, als nur ,gut‘ sein zu ihnen. Wir besuchten sie nicht, wir retteten sie nicht.“33

Der Großvater: Hermann Pfaff34 geboren 27. 4. 1862 in Neuhaus im Solling, Kreis Holzminden gestorben 31. 12. 1933 in Helmstedt verheiratet um 1890 mit Johanna Friederike

Abb. 9: Hermann Pfaff (1862–1933). Undatiertes Gemälde eines unbekannten Künstlers. 22

Hermann Pfaff wurde 1862 als Sohn des Glashüttenbesitzers H. Pfaff in Neuhaus im Solling (Kreis Holzminden) geboren. Zunächst besuchte er die Bürgerschule und das Gymnasium in Holzminden. Er promovierte 1887 an der Universität Marburg/ Lahn zum Dr. phil. mit einer Dissertation „Über die freie und eine bestimmte unfreie Bewegung eines Systems materieller Punkte, zwischen denen den Massen und der Entfernung proportionale anziehende Kräfte wirken“. Von


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1888 bis 1931 war Pfaff Mathematiklehrer am Gymnasium in Helmstedt. (1894 wird Dr. Pfaff als Gymnasiallehrer am Gymnasium zu Helmstedt erwähnt.35) 1914–1916 war er während des Ersten Weltkrieges Hauptmann im Landsturm-Infanterie-Regiment Nr. 10 und erwarb bei den Stellungskämpfen um Mitau das Eiserne Kreuz. Als Lehrer zeigte er „stetige Freundlichkeit und wahre Güte; ein wahrer Humanist“, wie es in seinem Nachruf formuliert wird. Er verfaßte mehrere Publikationen über analytische Geometrie für die „Zeitschrift für mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht“.36 Außerdem war er Obmann der Pflegschaft Helmstedt des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg. Er starb 1933 als Oberstudienrat i. R. Prof. Dr. phil. in Helmstedt. Seine Kinder waren: Helene (Lenchen) und ihre Zwillingsschwester Lotti, außerdem Hans, Elisabeth und Manfred. In der Wohnung der Familie Hans Pfaff hing neben einem Gemälde von Hermann Pfaff (siehe Abb. 9) auch ein Kupferstich-Portrait des Mathematikprofessors Johann Friedrich Pfaff (geb. 22. 12. 1765 Stuttgart, gest. 21. 4. 1825 Halle/Saale), eines Schülers von Georg Christoph Lichtenberg in Göttingen. Pfaff war auch der Doktorvater des Mathematikers Carl Friedrich Gauß (Promotion 1799). Johann Friedrich Pfaff stammt aus einer württembergischen Gelehrtenfamilie, aus der seit dem 17. Jahrhundert zahlreiche Pfarrer, Theologieprofessoren und andere Gelehrte hervorgegangen sind.37 Eine Verwandtschaft der niedersächsischen Glaser-Familie Pfaff mit der gleichnamigen württembergischen Gelehrtenfamilie läßt sich aber nicht nachweisen.38 Ein weiteres „Ahnenbild“ in der Wohnung der Familie Pfaff in Wolfenbüttel zeigte den Königlich Preußischen Hofzahnarzt und Chirurgus Philipp Pfaff (getauft 27. 2. 1713 in Berlin, gest. kinderlos 4. 3. 1766 ebendort). Er war der Verfasser eines der ersten deutschsprachigen Lehrbücher der Zahnheilkunde: „Abhandlung von den Zähnen des menschlichen Körpers und deren Krankheiten“ (1756). Der Vater des Hofzahnarztes, Johann Leonhard Pfaff (gest. 1734 in Berlin), wurde um 1680 in Heidelberg geboren und kam als französischer Flüchtling nach Berlin, er könnte also mit der württembergischen Familie verwandt gewesen sein.39 Vergleicht man das Wappen auf einem Kupferstichportrait40 des aus Stuttgart stammenden Tübinger Theologieprofessors Christoph Matthaeus Pfaff (1686–1760) mit dem Wappen auf dem Frontispizportrait des Berliner Hofzahnarztes Philipp Pfaff aus seinem Lehrbuch41, so erkennt man, daß es sich um zwei völlig verschiedene Wappen und daher auch um unterschiedliche Familien handelt, die nur zufällig denselben Namen tragen. 23


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Beim Blick auf diese beiden berühmten Namensträger („Ahnen“) soll der kleine Peter Pfaff zu seinem Vater gesagt haben: „Ach Vater, was sind wir heruntergekommen!“

Die Familie der Großmutter Helene Bank geb. Mansfeld42 Peters Großmutter Helene Bank geb. Mansfeld stammte aus einer angesehenen jüdischen Juristenfamilie, die bereits im Jahre 1826 zum evangelisch-lutherischen Glauben konvertiert war. In diesem Jahr trat ihr Großvater (Peter Pfaffs Ur-Ur-Großvater), der Obergerichtsadvokat Dr. jur. Philipp Mansfeld (1799–1871), in Wolfenbüttel zum christlichen Glauben über. Daraufhin wurde ihm ein Jahr später (1827) der Titel „Notar“ zuerkannt. Seine Ehefrau Betty geb. Cahen folgte diesem Schritt erst im Jahre 1837. Philipp Mansfeld hatte im Jahre 1819 an der Universität Göttingen mit öffentlich verteidigten juristischen Thesen („Theses qvas pvblice defendet“) promoviert. Er war ein Sohn des Braunschweiger Bankiers und Kaufmanns Marcus Moses Mansfeld und ein Bruder des Braunschweiger Arztes Dr. med. David Mansfeld (1797–1863), der Dozent am anatomisch-chirurgischen Institut zur Ausbildung von Wundärzten (Chirurgen) in Braunschweig war.43 Dr. David Mansfeld wurde 1858 Mitherausgeber des „Archivs der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie“ und des „Correspondenz=Blatt der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und gerichtliche Psychologie“, deren Vizepräsident er 1854 war. Dr. Mansfeld scheint ein besonderes Interesse an diesem Gebiet der forensischen Psychiatrie und Psychologie gehabt zu haben.44 Der Vater von Helene Bank geb. Mansfeld, der spätere Braunschweiger Oberlandesgerichtspräsident Wilhelm Mansfeld (geb. 7. 5. 1831 in Wolfenbüttel, gest. 26. 8. 1899 in Braunschweig), besuchte von 1840 bis 1849 das Wolfenbütteler Gymnasium. 1850–1857 studierte er Rechtswissenschaften an den Universitäten Göttingen und Heidelberg. Er heiratete 1863 die Tochter Antonie des Staatsanwalts (später Oberamtsrichters) Görtz (gest. im November 1906 in Braunschweig) in Wolfenbüttel. Weitere Lebensdaten: 1863 Kreisgerichtssekretär (später Assessor) beim Kreisgericht Wolfenbüttel 1867 Obergerichtssekretär 1869 Staatsanwalt (900 Taler Jahresgehalt) 1875 Obergerichtsrat beim Herzoglichen Obergericht in Wolfenbüttel (Jahresgehalt 1600 Taler = 4800 Mark) 1879 Landgerichtspräsident in Braunschweig; Mehrere Publikationen 24


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über spezielle Gesetze des Herzogtums Braunschweig, die der Reichsgesetzgebung angepaßt werden mußten 1892–1898 Oberlandesgerichtspräsident in Braunschweig 1898 Ruhestand, wohnhaft in Braunschweig (Celler Str. 80).

Seine Kinder: Richard (geb. 29. 11. 1865 in Wolfenbüttel, gest. 5. 12. 1943 in Leipzig an einem Schlaganfall). 1884 Maturitätszeugnis auf dem Gymnasium Martino-Catharineum in Braunschweig. 1884–1888 Jurastudium an den Universitäten Berlin, Leipzig und Göttingen. Promotion 1888 zum Dr. jur. an der Universität Göttingen.45 1895 Amtsrichter, 1896 Landrichter, 1906 Oberlandesgerichtsrat. 1907 Reichsgerichtsrat in Leipzig. 1922–1933 als Senatspräsident Vorsitzender des 2. Zivilsenats (Handels- und Gesellschaftsrecht). 1933 (November) Pensionierung. Helene (geb. 20. 12. 1867, gest. nach 1945), die den späteren Oberregierungsrat Bank in Braunschweig heiratet.46 Wilhelm (geb. 16. 10. 1875 in Wolfenbüttel, gest. 25. 12. 1955 in Braunschweig, evangelisch-lutherisch, 1946 katholisch). 1894 Maturitätszeugnis auf dem Gymnasium Martino-Catharineum in Braunschweig. Jurastudium an den Universitäten München, Kiel und Berlin. 1901 Gerichtsassessor. 1901 Heirat mit Helene geb. Klipfel (gest. Juli 1946), Tochter eines Weingutsbesitzers in Neustadt an der Haardt (Rheinpfalz). 1907 Regierungsassessor im Braunschweigischen Staatsministerium. 1909 Landrichter. 1913 Landgerichtsrat. 1917 StaatsAbb. 10: Helene Bank mit Enkel anwalt. 1923–1939 OberlandesPeter, Anfang der 1930er Jahre. gerichtsrat. 1939 Versetzung in 25


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den Ruhestand, weil er, obwohl evangelisch getauft, als „Mischling 1. Grades“ galt, d. h. zwei (zum Zeitpunkt ihrer Geburt) jüdische Großeltern hatte. 1945 (1. Mai) Ernennung durch die Alliierte Militärregierung zum Oberlandesgerichtspräsidenten (bis 1948). – 1914 bis zu seinem Tode wohnhaft Museumstraße 6, gegenüber dem Anton-Ulrich-Museum in Braunschweig. Lebenslange Freundschaft mit dem Kunsthistoriker Prof. Dr. Karl Steinacker (1872–1944). 1937 schreibt der nationalsozialistische Oberlandesgerichtspräsident Nebelung in die Personalakte Wilhelm Mansfelds: „Seit der Machtübernahme hält sich Mansfeld, der Halbjude ist und unter seiner jüdischen Abstammung leidet, zurück. Seine politische Zuverlässigkeit kann ich nicht bejahen.“ Seine Gesamtbeurteilung lautete: „Sogenannter anständiger Jude.“ 1939 erfolgt seine Pensionierung auf eigenen Wunsch (ein Jahr vor Erreichen der Altersgrenze). Im diesbezüglichen Schriftwechsel wird ausdrücklich erwähnt, daß er „Mischling 1. Grades ist (zwei jüdische Großeltern hat)“.

Seine Söhne: Walter

Hans

(geb. 1908, gest. 6. 2. 1978 Staufen im Breisgau). Zunächst Jurastudium und 1931 Promotion zum Dr. jur. an der Universität Göttingen mit der Dissertation „Der Eigentumsvorbehalt im Konkurs- und Vergleichsverfahren“. Danach Studium der katholischen Theologie, 1934 Konversion zur katholischen Kirche. 1940 Priesterweihe. Kaplan an der Propsteikirche St. Aegidien in Braunschweig, 1949–1967 Generalvikariatsrat (Prälat) beim Bischof in Hildesheim. (geb. 1911). Dr. med., 1945 Amtsarzt in Schaumburg-Lippe, 1989 wohnhaft in Grafing. Beide Söhne hatten Schwierigkeiten, wegen ihrer jüdischen Vorfahren (Urgroßeltern) zum Examen zugelassen zu werden. Dank eines Briefwechsels ihres Onkels, des damaligen Senatspräsidenten beim Reichsgericht Dr. Richard Mansfeld, mit dem Reichsjustizminister Dr. Gürtner über die „Auslegung der Arierbestimmungen des Gesetzes vom 7. April 1933“ wurde dies aber ermöglicht.

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Die Tante: Helene Pfaff („Tante Lenchen“)

Abb. 11: Helene Pfaff mit ihren beiden Brüdern Manfred (links) und Hans (rechts), um 1955.

Peters Tante Helene war eine Schwester seines Vaters und seit 1926 Oberin der Diakonissenanstalt Lutherstift in Frankfurt an der Oder.47 Trotz vieler Warnungen wegen Vergewaltigungen von Ordensschwestern durch sowjetische Soldaten in schlesischen und ostpreußischen Klöstern blieben die Frankfurter Diakonissen 1945 in der Oderstadt. Insgesamt 15 Schwestern weigerten sich, der Aufforderung des Frankfurter Stadtkommandanten nachzukommen und die Stadt zu verlassen. Sie verblieben im Lutherstift, gerieten für sieben Wochen in sowjetische Gefangenschaft und versorgten die nicht transportfähigen Verwundeten; das Lutherstift wurde von sowjetischen Soldaten besetzt. Nach mündlicher Überlieferung schritt Oberin Helene den einmarschierenden sowjetischen Soldaten in der Tracht einer Oberin mit großem Brustkreuz mutig entgegen: Die Soldaten fielen auf die Knie und küßten ihre Hände, den Schwestern geschah nichts. Nach dem Krieg lebte Schwester Helene in der Nähe von Braunschweig und starb in den fünfziger Jahren.

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Der Freund: Helmut Schuseil („Helmut“, „H.“) Helmut Schuseil (geb. 5. 11. 1924 in Braunschweig) war der beste Freund Peter Pfaffs, mit dem er gemeinsam auf die Schule (und in eine Klasse) gegangen war. Schuseil wurde bereits im Oktober 1942 zur Stammkompanie des Landesschützen-Ersatz-Bataillons 11 eingezogen, wo er vermutlich seine Grundausbildung absolvierte (siehe auch Peters Brief an seinen Vater vom 19. 10. 1942 [Nr. 154, S. 239]). Im Januar 1943 war Schuseil beim 2./Landesschützen-Ausbildungs-Bataillon 11 mit Standort Hildesheim eingesetzt. Im April 1943 war er dem 1./Landesschützen-Bataillon 711 (der 411. Division in Bergen-Belsen48 unterstellt) zugeteilt. Danach ist Schuseil beim 4./Landesschützen-Bataillon 739 nachweisbar, das zur Kriegsgefangenenbewachung dem „Kommandeur der Kriegsgefangenen im Wehrkreis XI“ (in Celle) unterstellt war. Am 3. 4. 1945 geriet Schuseil als Gefreiter in Osnabrück in westalliierte Gefangenschaft und wurde am 27. 6. 1946 entlassen.49 Im August 1944 trafen sich Helmut Schuseil und Peter Pfaff zuletzt in Bergen (siehe Brief Peters vom 18. 8. 1944 an seine Mutter [Nr. 98, S. 146]). Schuseil starb vermutlich 1959. In diesem Jahr (1959) schrieb Ella Pfaff in einem fiktiven Brief an ihren gefallenen Sohn: „Dir war Freundschaft ein Heiligtum. Als Du in das reine andere Dasein gingest, mußte Dir Dein Helmut-Freund nachfolgen. Denn mit Dir ging ihm nun wiederum die Reinheit seiner ganzen Welt verloren.“

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3. BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO ( LITAUEN )

April bis August 1943 Juristische Grundlage für die Einführung der Arbeitsdienstpflicht war ein von der Reichsregierung am 26. Juni 1935 erlassenes Gesetz über den „Reichsarbeitsdienst“ (RAD), dessen § 1 lautete: „Der Reichsarbeitsdienst ist Ehrendienst am deutschen Volke.“ Alle Männer zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr hatten eine zunächst sechsmonatige Dienstzeit abzuleisten. Im Laufe des Zweiten Weltkrieges wurde sie ständig verkürzt und betrug zum Schluß nur noch sechs Wochen, die ausschließlich zur militärischen Ausbildung genutzt wurden. Zu den Aufgaben des RAD vor dem Krieg gehörten vor allem Kultivierungs- und Deichbauarbeiten,Tätigkeiten in der Landwirtschaft, im Krieg auch Bau von Wegen und Brücken. Reichsarbeitsführer Konstantin Hierl (1875– 1955) ließ sich von der Vision leiten, daß die gemeinsame Arbeit im kameradschaftlichen Lagerleben und auf der Arbeitsstelle der Jugend ein besonderes Gemeinschaftserlebnis vermitteln könne. Unter gleichen Bedingungen sollten sich Söhne und Töchter aus allen Schichten des Volkes gegenseitig in einer echten „Volksgemeinschaft“ kennen und achten lernen.50 Wenige Wochen nach seinem Abitur wurde Peter Pfaff im April 1943 zu einem viermonatigen Einsatz beim „Reichsarbeitsdienst“ verpflichtet. Er wurde nach der seit Ende 1941 zum „Reichskommissariat Ostland“ gehörigen litauischen Stadt Kauen (Kaunas) eingezogen. Führungsprinzip war es beim RAD damals, die jungen Männer in Gebiete fern von ihrer Heimat einzusetzen. Zu dem „Reichskommissariat Ostland“ gehörten seit der Besetzung des Baltikums durch deutsche Truppen im Juni 1941 die „Generalbezirke“ Lettland, Litauen und Estland und „Weißruthenien“ (die Umgebung von Minsk).51 Entsprechend ihrer wechselvollen Geschichte hatte die litauische Stadt Kaunas unterschiedliche Namen (Kowno, Kaunas, Kauen): 1795–1915 war Kowno seit der 3. polnischen Teilung unter russischer Herrschaft. 1915–1918 deutsche Besatzung „Militärverwaltung Litauen“ mit Gouverneur in Kowno. 1920–1940 war Kaunas die provisorische Hauptstadt der neugegründeten Republik Litauen, nachdem die traditionelle Hauptstadt Wilna (litauisch Vilnius) 1920 von Polen besetzt worden war. 1939 (22. März) wird Litauen in dem geheimen Zusatzabkommen zum Hitler-StalinPakt der sowjetischen Interessensphäre zugeschlagen. 1940 (15. Juni) russische Truppen besetzen Litauen mit seiner damaligen Hauptstadt Kaunas („Litauische Sozialistische Sowjetrepublik“ innerhalb der UdSSR). 1941 (24. Juni) – 1944 (30. Juli) deutsche Besatzung; offizieller deutscher Name Kauen.52 1944–1990 ist Litauen wieder unter russischer Verwaltung (Sowjetrepublik). 1990 Unabhängigkeit der Republik Litauen von der Sowjetunion. 2004 Beitritt zur EU und NATO; Kaunas ist mit etwa 360 000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Litauens.

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BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO

Abb. 12: Militärische und zivile Gliederung der besetzten Ostgebiete 1941–1944. Kowno gehört mit Litauen zum „Reichskommissariat Ostland“. Abb. aus: Tessin 16,3, S. 200.

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BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO

Entsprechend der Stadt hat auch der durch Kaunas fließende Fluß unterschiedliche Namen in den verschiedenen Sprachen: Nemunas (litauisch), Njemen (polnisch, russisch) und Memel (deutsch). Peter verwendet in seinen Feldpostbriefen interessanterweise die alte russisch-polnische Bezeichnung „Kowno“ und nicht den offiziellen deutschen Namen „Kauen“; nur den Fluß bezeichnet er deutsch als „Memel“. Abbildung 13 zeigt Peter Pfaff im Sommer 1943 mit einem Kameraden am Ufer der Memel. Auf seiner Uniform ist am linken Oberarm das Dienststellenabzeichen des RAD (der „Ärmelspaten“) zu erkennen: ein nach unten gerichteter (weißer) Spaten mit folgenden (roten) Ziffern auf Abb. 13: Peter Pfaff mit einem Kameraden schwarzem Grund: 15 (oben) und in der Uniform des Reichsarbeitsdienstes am darunter 6. Diese Ziffern bedeuten Memelufer, Sommer 1943. im damaligen Sprachgebrauch „Reichsarbeitsdienstabteilung 6/15“ und zeigen die Gliederung des damaligen RAD. Der RAD der männlichen Jugend war in 40 „Arbeitsgaue“ unterteilt. Die wichtigste organisatorische Einheit war die „Abteilung“ (mit 216 Arbeitsmännern und Führern), die in einem geschlossenen Barackenlager untergebracht war. Arbeitsgau I: Ostpreußen (bestand aus den Arbeitsgruppen 10–17 und 19) mit etwa 15 000 Männern. Führer des Arbeitsgau I war Generalarbeitsführer Martin Eisenbeck (geb. 13. 2. 1895 in Trebschen, Kreis Züllichau-Schwiebus), der seit 1942 auch „Der Bevollmächtigte des Reichsarbeitsführers im Reichskommissariat Ostland“ war.53 Arbeitsgruppe 15: ca. 2000 Mann; Führer: Arbeitsführer Müller (?). Abteilung 6/15: ca. 216 Arbeitsmänner ; Abt.-Führer war ein „Oberfeldmeister“. Die RAD-Abteilung 6/15 war nachweislich seit 1939 in Dönhofstädt (K 15 mit 6 Abteilungen) stationiert.54 K 15 war seit Juni 1942 in Kauen im „Reichskommissariat Ostland“ tätig.55 Arbeitstrupp: ca. 18 Mann.

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BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO

1. An die Eltern Kowno, den 24. 4. 43. Lieber Vater, liebe Mutti! Heute ist nun Vater als Urlauber der erste Anwärter auf den TriumviratBrief. Eine Woche Arbeitsdienst ist vergangen. In dem Gedanken, daß Ihr beiden hinter mir steht, bin ich glücklich, wo ich auch bin. Wäre es noch viel mehr, wenn wir drei zusammenkuschelten, aber wir müssen eben das hinnehmen, was auf uns zukommt, und gar nicht grübeln, wieso, weshalb. O, Ihr ahnt nicht, wie das Arbeitsmanndasein56 blöde macht, stur wie ein Panzerkreuzer arbeite ich immer vor mich hin. Trotzdem ist das Leben fast erholsam, weil man keine belastende Verantwortung hat. Man hat aufzupassen, daß das Spind genau nach der Spindordnung geschichtet ist, man hat nur: „Jawoll“ zu sagen, auch wenn man mit „nasser Sack“ oder „blöder Pfeifenkopf“ angeredet wird. „Jawoll, Herr Unterfeldmeister, Pfeifenkopf!“ Aber das gedankenlose Leben drückt mich etwas nieder, weil es so furchtbar unproduktiv ist, und oft grübele ich daran herum, wie ich die Zeit irgendwie viel nützlicher hinbringen könnte. Bei dem Exerzieren oder Stubendienst kann man sich einfach nicht mit Problemen beschäftigen, auch wenn man sich noch so viel Mühe gibt. Schließlich denkt man nur noch – Mittagessen – Abendpause – und zählt die Minuten bis zu dieser Zeit, guckt immer wieder nach der Uhr. Das körperliche Arbeiten ist vorläufig ungewohnt und macht meinen kleinen Geist entsetzlich müde. In den kurzen Atempausen wirft man sich aufs Bett und denkt nicht mehr nach, was es eigentlich Wesentliches in der Welt gibt. Ich kann einfach nicht nach dem Dienst den „Faust“ aus dem Spind holen und meinen Kopf aus dem Alltag herausstrecken. Ich komme mir dann irgendwie schwach vor, weil ich mich nicht dazu aufraffen kann. Aber ich muß doch zuerst und zuletzt Euch schreiben, Euch auf dem Laufenden halten, damit Ihr mein Leben mitleben könnt. Euch auch wird es wahrscheinlich wichtiger sein, daß Euer Söhnlein Euch schreibt, anstatt daß es über den „Faust“ nachdenkt. Sagt mir bloß ein Rezept gegen dies Stehenbleiben der geistigen Entwicklung. Ihr wißt doch sonst alles???! Heute ist ‚Heiligabend‘ vor Ostern57. Früher hörten wir immer die Osterglocken läuten oder waren bei Onkel Karl in der Kirche. Ich versuche, dem Österlichen nachzugehen. Sitze unter einer großen Eiche58 am Memelufer (unsere Kaserne liegt direkt am Fluß59) und habe in dieser Freistunde meinen Briefblock mit an den Strand genommen, damit ich 32


BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO

Euch einen kleinen Osterbesuch machen kann. Daß Ihr nicht mit mir diese herrlichen Bilder des Memelstrandes erlebt! Sonst macht das Soldatenleben alles hart, nackt und atemlos. Aber in solch einem Schauen, in solchen besinnlichen Stunden an der Memel bricht alles aus mir heraus, was ich in mir habe. Es ist ein richtiger Sommerabend, warm und fast schwül. Und alles so ruhig, kein Wort zu hören, kein Motorengeräusch, kein Gefluche von Vorgesetzten: trügerischer Friedensaugenblick in dem Meer von Kampf und Kummer. Ich vergesse für diesen kurzen Augenblick die Wirklichkeit. Ach, Muttilein, so etwas wünsche ich Dir, vielleicht würde es Dir helfen, das

Wiese Memelberg

Abb. 14: Ausschnitt aus dem „Stadt- und Verkehrsplan von Kowno. Grundlagen: Kauno Miesto Ülanas 1 : 15 000,Verlag Spaudos Fondas. Feldpostnummer: 07016. Abt. Mil.-Geo. 1941“. Markierung der Wiese von Abb. 16 und 17 sowie des Memelberges Abb. 18 und 19. 33


BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO

Heimweh nach Mann und Söhnlein zu tragen. Nur Wehmut wäre in Dir, weil Du sie nicht teilnehmen lassen kannst an Deiner stillen erhebenden Stunde in der Natur. Die Sonne geht gerade als brennende Kugel im Strom unter und läßt ihre Glut über das weite Wasser hinströmen. Diese Farbenmischung von weichem Grauschleier und dem feurigen Rot läßt mich erschauern, als käme ich hinter ein göttliches Geheimnis. Ohne in mir es hervorzulocken, höre ich die Melodie aus der „Träumerei“ von Schumann60. Daß mir doch nur das Wort ein klein wenig zur Verfügung steht, um wiederzugeben, – nicht Musik, nicht Malerei! Wenn ich das geliebte Zivil einmal wieder tragen werde, werde ich am Instrument sitzen, werde zeichnen, werde malen, mich in allem zu vervollkommnen suchen nach meiner Art und meinen Gaben. Habe ich es denn gar nicht gewußt, wie wichtig es ist, jede Sekunde des Daseins auszutrinken – mir kommt es vor, als ob ich jetzt erst begriffe, was Freisein heißt. Gott schenke uns Freiheit. Damit wir ihm danken können mit allem in uns. Ich habe einen Hunger danach, ihm zu danken für alles Geistige in der Welt. Ich möchte mein Chemiebuch verschlingen, ich möchte mit Dir mathematische Probleme wälzen,Vater, ich möchte mit Dir musizieren, Mutti – ich möchte – und bin doch erst eine Woche im Arbeitsdienst. Gott sei Dank rast hier durch den permanenten Betrieb die Zeit mehr als in Deutschland. Und paßt auf, Ende Juni klingelt’s plötzlich bei Euch, und Euer Söhnlein steht als Zivilist mit Koffer und sonstiger Habe vor der heimatlichen Hütte, nimmt seine Mutti in den Arm, läßt sich in der Badewanne schrubben und lebt, lebt, lebt! Ja, nun muß ich aber rasch wieder in die Kaserne und mich einsperren lassen. Aber an der Memel oder in der Kaserne Ich bleibe immer bei Euch! Peter.

2. An Helmut Schuseil Kowno, dritter Ostertag61 [1943] Lieber H., Gestern Abend las ich grade einen herrlichen Spruch aus meinem Gedichtbüchlein: „Wenn sich zwei Menschen so über alle Begriffe gut sind, so stehen ihre Seelen in nahen geheimnisvollen Beziehungen und wissen vieles voneinander und spüren ihre Körper, auch wenn sie fern sind, und verstehen viel Unerklärliches. Und oft reden ihre Seelen mit34


BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO

einander, leis und laut. Und da wissen sie von dem tiefsten Gott, denn sie wissen von dem Tiefsten in ihrer Brust und schenken sich’s.“ Manchmal hab ich tolle Sehnsucht nach Dir und nach unserem schönen Zweier-Leben mit guten Gesprächen. Ich denke noch zu gern an unsre gemeinsamen Jahre, an das Hüttenleben, an die herrlichen Fahrten und das gemeinsame „Gepiesacktwerden“ auf der geliebten Penne. Du musst eigentlich von mir denken, ich wäre ein wenig romantisch angehaucht. Aber weisst Du, wenn du so im Soldatenleben völlig versturst, dann bricht alles Andre, was über den Horizont des RAD geht, heraus. Und Du kannst es doch mal ertragen? Manchmal kann ich es vor Heimweh nicht aushalten, nach dem warmen Nest. Besonders weil das Einleben mit den Kameraden garnicht einfach ist. Weisst Du, abends ist mir manchmal sauübel, wenn ich diese Schweinigeleien höre. Eine Fantasie! einfach toll! Ich habe den Menschen mehr Idealismus zugetraut. Aber wie die Tiere stürzen sie sich auf die heissersehnte Nahrung, und wer ein gutes Herz hat, der wird bald mager. So bin ich jetzt auch ein nackter Egoist geworden. Ging Dir das bei Deinen lieben Kameraden nicht auch so? Aber ich hab mich jetzt so langsam eingelebt und bin auch ziemlich glücklich. Man lebt wie ein Kind und sorgt nur für den Augenblick. Und so wehmütig mich das Heimweh auch macht, ich ertrage den Schmerz gern, weil ich mich bei meinen Menschen so geborgen fühle. Du musst jetzt von mir denken: schlapper Weichling! ohne jede Haltung!, aber ich halte es für Unsinn, sich irgendeine heroische Maske aufzusetzen und sich seines Heimwehs zu schämen. Und bei Dir darf ich doch sein wie ich wirklich bin. Eben geht die Sonne gerade als feurige Kugel in dem nie endenwollenden Memel-Strom unter und gießt ihre blutigrote Glut über die unzähligen kleinen weissen Schaumkronen. Weisst Du, alles Unschöne und Unebene wird durch den dunstig-grauen Nebel ausgeglichen, der sich über die ganze Landschaft gesenkt hat. Diese Farbenmischung von dem hellen Grau und dem dunkelroten Sonnenschein! Das wäre etwas für Dein Landschaftsauge!

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BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO

3. An die Mutter Kowno, 26. 4. 43 Liebe Mutti! Damit Du von meiner Reise hierher genau erfährst: Durch den Schlitz des Viehwagens sah ich die litauische Landschaft vorbeiziehen. Litauen wäre für mich das letzte Land, in dem ich wohnen möchte. Kurz nach der Grenze62 beginnt schon die eintönige Landschaft. Während Ostpreußen noch durch das viele Wasser und die Sonne sich herrlich bot, so erschreckte Litauen durch die flache unendliche Steppe. Kleine verfallene Katen, furchtbar schmutzig, spärliche Baumgruppen bringen wenig Abwechslung. Die Litauer siedeln nicht in Dörfern, sondern nur in Einzelgehöften, besser Einzelhöhlen. Die Dächer sind mit Stroh, Schilf oder verbogenem Wellblech bedeckt. Alles ist verfallen. Ställe scheint man nicht zu kennen. Das Vieh tummelt sich mit im menschlichen Wohnbereich. Nie aufhörend, die Landschaft abstoßend machend, sind die Moore. Überall fast steht das braune Wasser, in dem auf unendlich vielen kleinen Inseln magere Bäume wachsen. Ihr denkt: Kulturschutzgebiet?! Ach nein, vollkommen regellos, kulturlos mit wildem Unterholz wächst alles. Die Menschen wirken äußerst ärmlich mit ihren dreckigen, zerrissenen Kleidern. Sie sind groß, grobknochig und ungeschlacht.63 Einen schönen Menschen sah ich noch nicht. Die Bevölkerung ist sehr deutschfeindlich, wir bekommen darum wenig Ausgang. Ich bin einmal in das Elendsviertel Kownos64 gekommen: die Häuser windschief, zum Teil von den Russen durchschossen. Ein wüster Anblick! Die Hausbewohner sitzen, in Tücher gehüllt, doch sieht man, daß sie unterernährt sind, vor ihren Türen. Die Kirchen wirken wie riesige, mit weißem Mörtel beklatschte Bauplätze, einen Stil zu erkennen, ist nicht möglich. Aus diesem Land läßt sich auf keinen Fall Reichtum zaubern. Der einzige und doch nur kärgliche Besitz sind gewisse Holzbestände. Eben betrachte ich mir mein Osterpäckchen. Ach, Geliebte, leckere Kekse, deren Fett von Deiner Karte abgespart ist. Du beschenkst mich, wo ich doch eigentlich an der Reihe wäre. Gute Nacht, ich träume mich mit Dir auf unsere Insel. Dort feiern wir. Dein kleines Söhnlein, das so dankbar ist, daß Du es geboren hast.

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BRIEFE VON PETER PFAFF AUS KOWNO

4. An den Vater Kowno, 5. Ostertag [27. 4. 1943] Lieber Vater! Heute Abend bin ich scheußlich müde. Wir stehen jeden Morgen um 5 auf, Frühsport, und jeden Abend um 9 zu Bett. Aber mindestens jede zweite Nacht kommen die russischen Flieger, und wir müssen in einem feuchten Luftschutzgraben oft 4 Stunden sitzen. Da kommst du bald auf den Hund. Und trotzdem ist das Leben sehr erholsam, da merke ich immer wieder, was das geistige Leben doch anstrengt. Abends bin ich zwar zum Umfallen müde, weil ich das körperliche Training nicht gewohnt bin. Da mußt Du mich mal trösten. Aber sonst schaff ich es, mit allem. Auch mit den Kameraden. Weißt Du, das macht mich furchtbar traurig, Kameradschaft gibt es nur bis zu einer bestimmten Grenze. Jeder denkt doch nur an sich, und den Glauben an den guten Kern der Menschen kann man hier völlig verlieren. Ich habe immer gedacht, daß es etwas Liebe und Selbstaufopferung auch schon unter jungen Menschen gäbe. Aber diese Menschen haben Freunde gar nicht nötig, sie leben nur für sich ganz allein und werden so tolle Egoisten. Da verschwindet der letzte Funke Gemeinschaftsgeist. Motto: wer hat, der hat. Scheußlich! Ich bin auch schon so geworden, sonst wäre ich schon längst verhungert.Vielleicht wird das Zusammenleben an der Front erträglicher. Aber Du ahnst gar nicht, wie das Leben öde wird, wenn man gar nicht geliebt wird und auch gar keinen liebhaben kann. Da muß ich schon mein Herz ganz in die Briefe an Dich und Mutti und an alle unsere lieben Menschen hineintun. Schreib viel und gut, ich hab Dich ja so nötig und gern! Nun kann ich meine Augen kaum noch aufhalten. Schlaf schön! Immer Dein kleiner Sohn.

5. An die Mutter Kowno, 30. 4. 43 – – – – [Briefanfang fehlt] Mutti – das ist Deutschlands Zukunft. Hiermit soll die Front gehalten werden. Man könnte heulen über so viel Zuchtlosigkeit. Wie Wenige haben doch innere Zucht in den Knochen. Ich will mich nicht besser dünken, aber wir leben anders und haben an schöneren Dingen unsere Freude. So bin ich jetzt aus der Kaserne zu Dir und in Deinen Schutz geflüchtet. Ein Mann umarmte mich eben in scheußlicher Weise auf der Treppe, und in meinem Zorn habe ich ihm eine Ohrfeige geklebt. In sol37


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cher Stunde denke ich mit um so größerer Wehmut an die schönen Zeiten zu Hause, an die herrlichen Menschen, die ich in mir aufgenommen habe. Mit der Wucht einer Springflut fühle ich die Einsamkeit hervorbrechen. Aber es ist wohl gut, daß ich lerne, mich zu behaupten. Und wenn die Welt voll Teufel wär – man muß sich selbst treu bleiben. Ich habe es mir geschworen, ein völlig sicherer selbständiger Mensch zu werden, will mir von meinem Inneren her den Maßstab geben, nach dem ich handle. Das ist die große Kunst, um die ich mich bemühen muß, sonst ersticke ich hier in dem Wust der Wilden. Wenn jede meiner Taten vor meinem Gewissen, vor Gott, vor Euch Eltern sich verantworten läßt, dann kann mir jedes negative Urteil eines anderen gleich sein. Gott verlangt, daß wir uns selbst beurteilen oder auch verurteilen. Und erst wenn diese strenge tägliche Zucht erreicht ist, darf man Mensch zu sich sagen. Viel Kraft gehört dazu, um solche Menschwerdung an sich selbst zu vollziehen. Helft mir, helft, dem Ziel nur einen kleinen Schritt näherzukommen. Dein Peter.

6. An Helene Pfaff Kowno, 30. 4. 43. Liebe Tante Lenchen! Nun bin ich schon fast zwei Wochen ein kleiner Arbeitsmann in Kowno, und Du hast noch gar keinen Gruss von mir bekommen, obwohl ich sehr oft an Dich gedacht habe. Aber die Freizeit ist wahnsinnig knapp, den ganzen Tag wird man herumgejagt, man kann kaum Atem holen. Morgens um 5 h beginnt das Leben schon, und dann geht es mit kurzen Pausen bis zum Abend um 9 h: Gewehrausbildung, Spatenarbeit, Sport und Ordnungsdienst. Abends wirft man sich dann völlig ausgepumpt aufs Bett und denkt gar nicht mehr ans Schreiben. Aber trotzdem sollst Du einen Gruss bekommen, damit Du weisst, wie sehr ich an Dich denke. Früher warst Du für mich eben die Tante, die Tante, die ich ganz gern mochte. Aber es ist jetzt ja so ganz anders, seit ich bei Dir in Bukow65 war und Dich so richtig kennengelernt habe. Vorher haben wir uns ja nur bei grösseren Verwandtenfeiern und grossen Sitzungen gesehen. Nun bist Du mir nicht nur die Tante, sondern bist mir eine richtige Freundin geworden, bei der ich mich so geborgen weiss und die mich auch ein ganz klein wenig mag. Das macht mich so glücklich, gerade jetzt, wo ich nicht mehr im kuscheligen Nest bei Mutti bin, sondern wo mich das Leben etwas härter angepackt hat, und ich so ganz allein auf mich selbst gestellt bin. Da einen Menschen zu haben, der hilft! Dafür kann man gar nicht genug dankbar sein. Ich glaube, es ist nicht so recht passend, wenn man seiner 38


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Tante eine so platte Liebeserklärung macht. Aber ich darf Dir doch ehrlich sagen, was ich denke? Dein Leben ist doch auch nur durch Liebegeben und Empfangen erfüllt.Weisst Du, dieses Leben erzieht zu einem frommen Menschen und zu einem Christen. Früher glaubte ich, dass ich doch auch ohne einen Stellvertreter und einen Vermittler einen lieben Gott, einen Vater habe, weil ich die Liebe doch immer um mich sah, bei Mutti, bei Vater oder bei Dir. Aber, wenn ich hier meine Kameraden sehe, dann kann man nicht mehr an den guten Kern bei den Menschen, an die Liebe untereinander glauben. Da merkt man, dass es den Gott der Liebe nicht unbedingt geben muss, sondern dass wir kleinen Menschen doch einen Vermittler nötig haben. Früher hatte ich nur eine Sehnsucht nach der Sehnsucht nach dem lieben Gott, weil mein herrliches geborgenes Leben mich nicht direkt zu ihm zwang. Aber hier bin ich ein kleiner frommer Mensch geworden und versuche auch manchmal zu beten, und schäme mich, dass ich es früher nicht tat. Nun kann ich meine Augen nicht mehr offen halten. Jetzt ist Zapfenstreich. Ich schreibe bald mehr. Ich habe Dich scheusslich lieb! Dein Peter

7. An die Mutter Kowno, 2. 5. 43. Verstehst Du das, Mutti – Ich will hier glücklich sein, will das Zusammenleben mit den Kameraden erreichen. Ich glaube, alles Zusammengewürfeltsein von Menschen muß erst die Schrecksekunde durchmachen. Wir fangen nun an, aufeinander eingespielt zu sein, und rein schon aus nüchterner Überlegung blüht langsam das Kameradschaftsgefühl auf. Noch ist es nicht das Sichgernmögen, sondern kühle Überlegung: helfe ich Dir, hilfst Du mir, gibst Du mir, geb ich Dir auch. Das alte Lied von der Wurst und der Speckseite. Aber dadurch verschwinden doch erstmal die Spannungen, der unangenehme, oft böse Ton. Jeder geht auf den anderen ein. Denk Dir, Dein Sohn ist Porträtzeichner des Zuges geworden, dadurch sehr beliebt, weil jeder gern ein Bild für seine „Kleine“ oder seine Mutti haben möchte. Einmal, mir war’s zu schwer, an Dich zu schreiben – – –, habe ich den nettesten Jungen hier, auf den Namen Heini hörend, aufs Korn genommen. In zwei Stunden war ein gutgelungenes Bild fertig, ähnlich im Äußeren und, vielleicht weil ich ihn gern habe, auch im Ausdruck sprechend. Die Kameraden, die so etwas noch nicht gesehen hatten, waren platt, und nun wollte jeder gezeichnet werden. Wie beim Frisör 39


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ging’s, immer der Reihe nach, pro Nase zwei Stunden. Natürlich sind nicht alle Bilder gleich gut geworden, zum Teil sind die Gesichter noch so unausgeglichen, so verschlafen – aber bei den meisten kann man doch sagen: Er ist’s. Es dauerte nicht lange, da wußten davon die Vormänner, daß Arbeitsmann Peter zeichnen kann. Ich wurde mit Aufträgen überschüttet, daß es fast nicht zu bewältigen war. So komme ich mit vielen Menschen in nähere Berührung, denn beim Zeichnen läßt sich gut miteinander sprechen. Heute hatte mich der eine Vormann eigentlich zum Strafdienst (Karren von Kübeln) bestimmt, weil ich einen Witz im Glied gemacht hatte. Ein anderer Vormann aber, der noch gezeichnet werden wollte, setzte sich für mich ein: Künstler fahren keine Sch- , kommt gar nicht in Frage. So habe ich gekünstlert und nicht gekarrt, und der Unterfeldmeister hat mein Werk beäugt und von seinem Bild eine Postkartenvergrößerung für seine Frau bestellt. Es geht mir durch mein bißchen Talent recht gut, auch ernährungsmäßig, denn jeder will gern meine Mühe durch ein Stückchen Brot oder etwas Marmelade wiedergutmachen. Gestern haben wir zum erstenmal gebadet. Es sah herrlich aus, als sich auf einen Pfiff hin hundert hübsche schlanke Nackedeis die steilen Betonufer hinabstürzten und sich in die kalten Fluten warfen. Die ganze Käfigluft wurde ausgetobt. Die Memel hat einen schönen Wellengang, besonders, wenn – wie gestern – ein toller Wind bläst. Am Tag vorher hatten wir Geländedienst. Im frischen Drillichanzug ging es mit Fotoapparaten, Brotbeuteln und Spaten los, frühmorgens, die Sonne hatte noch nicht die rechte Lust, uns schwitzen zu lassen, und hüllte sich taktvoll in einen zarten Nebelschleier, der uns so frisch machte und uns gut marschieren ließ. Es ist etwas Besonderes, fast Erhebendes, in einer langen Kolonne singend mit blitzendem Spaten eingereiht zu sein. Die Gemeinsamkeit fängt aus dem Nichts heraus an zu sprechen und stärkt erst unbewußt, dann eindringlich das Lebensgefühl. Nachher gingen wir im Gänsemarsch mit 20 Metern Abstand, und so war ich plötzlich allein und konnte einmal über alles nachdenken, was mich bewegt. Die Ruhe ist hier selten und muß in jedem Bruchteil einer Sekunde ausgenutzt werden. Die hohen Bäume berührten sich, einen Dom bildend, und Gott ging durch seinen Wald. Ich mußte beten. Die Gedanken erreichten Dich und Vater. Wir waren uns ganz nah. Dein Petja.

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