IBA Hamburg

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WETTBEWERBE: SIA-ARCHITEKTURPREIS 2011 MAGAZIN: «DIE IBA IST EIN DYNAMISIERUNGSTOOL» | RIO+20 | EIN «SATELLITE» IN BASEL

IBA HAMBURG

ENERGIEWENDE 4: DEN HINTERHOF AUFMÖBELN | VIELE SCHRITTE ZUM KLIMAZIEL

SIA: BEITRITTE ZUM SIA | NEUER BETREUER ENERGIEKOMMISSION

NR. 25

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Editorial | 3

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Blick vom «Haus der Projekte» – eine im Rahmen der IBA errichtete Bootswerft zur beruflichen ­Qualifizierung von Jugendlichen – auf das schwimmende IBA-Dock. Im Hinter­grund die Siedlung Veddel des Hamburger Oberbaudirektors Fritz Schumacher aus den 1920er-Jahren (Foto: IBA Hamburg / Martin Kunze)

IBA Hamburg In diesem vierten Teil unserer Energiewende-Reihe blicken wir nach Hamburg, wo im Rahmen einer Internationalen Bauausstellung (IBA) erstmals neben städtebaulicharchitektonischen Verbesserungen auch der energetische Umbau eines ganzen Stadtteils angestrebt wird. IBA finden seit mehr als 100 Jahren in Deutschland statt. In dieser Zeit haben sie sich von einer Werkschau internationaler Architekten zu einem zeitlich konzentrierten Planungsinstrument weiterentwickelt. Die IBA Hamburg beschäftigt sich seit 2006 mit der Entwicklung des Stadtteils Wilhelmsburg, der auf einer Elbinsel gegenüber der Innenstadt und der HafenCity liegt. Unter dem Motto «Sprung über die Elbe» wendet sich Hamburgs Stadtentwicklung damit einem lange als «Hinterhof» vernachlässigten Stadtteil zu, der mit kulturellen, sozialen, städtebaulichen und energetischen Projekten aufgewertet wird («Den Hinterhof aufmöbeln»). Dabei geht es der IBA um ein vielschichtiges Miteinander verschiedener Ansprüche und Nutzungen: Neue Bildungsangebote, Begegnungsorte und attraktiver Wohnraum sollen sowohl die angestammte Bevölkerung im Stadtteil halten als auch neue Schichten anziehen; Industrie- und Infrastrukturflächen werden wieder öffentlich nutzbar. Gleichzeitig verfolgt man das ehrgeizige Ziel, den Stadtteil möglichst vollständig mit Wärme und Strom aus erneuerbaren Quellen zu versorgen («Viele Schritte zum Klimaziel»). Symbolhaft vereinigt sind die Ziele der IBA Hamburg im Energiebunker, einem ehemaligen Flakturm, der architektonisch überzeugend zu einer Zentrale der erneuerbaren Energieversorgung mit Café und Museum umgebaut wird. Neben solchen herausragenden Beispielen beeindruckt die IBA vor allem durch die Vielzahl der Projekte, den kreativen Umgang mit schwierigen Orten und die angestrebte Nutzungspluralität. Den hohen Ansprüchen stehen aber auch «blinde Flecken» gegenüber. So bleiben die Energieprojekte in erster Linie auf technische Massnahmen beschränkt, während der Einfluss des Lebensstils weitgehend vernachlässigt wird. Kaum ein Thema waren auch die Siedlungsverdichtung und eine damit koordinierte Weiterentwicklung des öffentlichen Nahverkehrs. Ausschlaggebend für den langfristigen Erfolg der IBA Hamburg wird sein, inwiefern es gelingt, die Projekte auch über das Abschlussjahr 2013 hinaus weiterzuführen und die noch fehlenden Themen einzubeziehen. Noch am Anfang dieses Prozesses steht die IBA Basel, die letzten Herbst als trinationale Kooperation begonnen hat. Bis 2020 konzentriert man sich dort auf die Handlungsfelder «Landschaftsräume» und «Stadtraum entlang von Mobilitätsachsen». Die Herausforderungen liegen vor allem im bescheidenen Budget und in der Koordination dreier verschiedener Verwaltungssysteme («Die IBA ist ein Dynamisierungstool»). Claudia Carle, carle@tec21.ch, Alexander Felix, felix@tec21.ch

5 wettbewerbe SIA-Architekturpreis 2011

8 magazin «Die IBA ist ein Dynamisierungstool» | Rio+20: «Making it happen»! | Ein «Satellite» zur Kunstmesse

18 Den Hinterhof aufmöbeln Alexander Felix Die insgesamt 60 Projekte der IBA Hamburg zum Umbau des Stadtteils Wilhelmsburg verkörpern die Suche nach einer neuen ökologischen Moderne im Zusammenspiel von Städtebau, Architektur und Energieversorgung.

27 Viele Schritte zum Klimaziel Claudia Carle Ein wesentlicher Pfeiler der IBA Hamburg ist der Klimaschutz durch Reduk­ tion des Energiebedarfs und den Ausbau

erneuerbarer Energien. Darüber hinaus werden Möglichkeiten zur Anpassung an den Klimawandel erprobt.

34 sia Beitritte zum SIA im 1. Quartal 2012 | Kurzmitteilungen | Sitzung der Energie­ kommission 1 / 2012 | Neuer Betreuer Energiekommission

37 firmen 45 impressum 46 veranstaltungen


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VIELE SCHRITTE ZUM KLIMAZIEL

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Den Hinterhof aufmöbeln Titelbild Innenraum des ehemaligen Flakturms, der als Energiebunker umgenutzt wird. Nach der Wiederherstellung der Tragstruktur wird hier die Energiezentrale eingebaut (Foto: IBA Hamburg / Martin Kunze)

2013 wird die Internationale Bauausstellung (IBA) im Hamburger Stadt­ viertel Wilhelmsburg dem Publikum präsentiert. Mit insgesamt 60 Projekten soll der bisher vernachlässigte «Hinterhof» auf der Elbinsel entwickelt ­werden. Wie bei keiner IBA zuvor versucht man in Hamburg das Planungs­ instrument IBA mit sozialer und energetischer Nachhaltigkeit zu verbinden. Insgesamt werden 1200 neue Wohnungen geschaffen. Wie viele eingesessene Bewohner auf den neuen Weg mitgenommen werden, wird sich weisen. Wäre Hamburg 2003 mit seiner Olympia-Bewerbung nicht schon an der innerdeutschen Konkurrenz gescheitert, würden die Olympischen Spiele am 27. Juli 2012 wohl in einem neuen Leichtathletikstadion im Stadtteil Wilhelmsburg gegenüber der Elbphilharmonie eröffnet werden. Stattdessen planten die Verantwortlichen der Stadt, 2013 in Wilhelmsburg eine Internationale Gartenschau (igs) zu veranstalten. Da aber Bedenken darüber bestanden, ob diese Veranstaltung alleine genügen würde, um die Probleme des lange Jahre als «Hinterhof» vernachlässigten Stadtviertels in den Griff zu bekommen, entschied der Senat der Hanse­stadt 2005, zusätzlich eine Internationale Bauausstellung (IBA) zu veranstalten (vgl. Kasten S. 20). Der Stadtteil Wilhelmsburg ist der flächenmässig grösste Hamburgs und liegt südlich der Innenstadt auf der grössten Flussinsel Europas zwischen zwei Elbarmen – der Norder- und der Süderelbe (Abb. 1). Auf etwa 35 km2 befinden sich neben weitläufigen ­Arealen des Hamburger Hafens grosse Industriegebiete. Ausserdem wohnen rund 55 000 Menschen auf der Insel mitten im Grossraum Hamburg. Über weite Flächen hat sich Wilhelmsburg aber einen eher dörflichen Charakter bewahrt.

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Entwicklung der ElbinselN Ursprünglich bestand die Insel aus einem Archipel von gut zwei Dutzend Inselchen, von denen nur eine – das heutige Quartier Kirchdorf – ganzjährig bewohnt war. Durch Eindeichungen seit der Mitte des 15. Jahrhunderts haben Generationen von Marschbauern die heutige Insel geschaffen. An die ursprüngliche, von Ebbe und Flut geprägte Tide-Auen-Landschaft erinnert heute nur das Naturschutzgebiet Heuckenlock im Südosten. Durch die Nähe zum Stückguthafen war das Gebiet über lange Zeit eine bevorzugte Wohn-

HEftreihe Energiewende Energie ist ein Topthema des SIA. Die Art und Weise, wie Energie bereitgestellt und wie sie genutzt wird, hat einschneidende Folgen für Gesellschaft und Umwelt. TEC21 widmet der Energie dieses Jahr unter dem Titel «Energiewende» eine Serie von Nummern (vgl. 7/2012, 12/2012 und 15-16/2012). Sie beschäftigen sich mit technischen, gestalterischen, sozialen, ökonomischen, ökologischen und raumplanerischen Aspekten des Umgangs mit Energie. Dabei geht es um nachhaltige Energieversorgung und die dafür nötige ­Infra­struktur, aber auch um die Suche nach nachhaltigen Lebensstilen in einer Gesellschaft nach der Energiewende. Die Beiträge der Heftreihe «Energiewende» stehen auch in einem Dossier auf zur Verfügung.

gegend für einfache Hafenarbeiter. Bis in die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts setzte nach Ankunft eines Bananenfrachters eine kleine Völkerwanderung Richtung Hafen ein, da zur Entladung viele Hände gebraucht wurden. Bei der Sturmflut von 1962 war Wilhelmsburg das am stärksten betroffene Gebiet. Deiche im Norden der Insel brachen, sodass weite bebaute Gebiete überschwemmt und die Menschen in ihren Häusern eingeschlossen wurden. 200 der 315 Toten in Hamburg wurden in Wilhelms­ burg gezählt. In der Folge verstärkte sich eine Diskussion, die seit den 1920er-Jahren geführt wurde: Der westliche Inselteil sollte dem Hafen zugeschlagen und für den Wohnungsbau ganz aufgegeben werden. 1967 beschloss der Hamburger Senat, die Bewohner in neu zu bauende Grosssiedlungen weiter östlich auf der Insel zu übersiedeln. Der Plan wurde ­ llerdings nur ansatzweise umgesetzt. Eine Folge der geplanten Aufgabe war ein verstärkter a Wegzug des Mittelstandes. Hinzu kam der Strukturwandel im Hafen: Durch die Entwicklung hin zum Containerverkehr wurden immer weniger Arbeiter benötigt, sodass in Wilhelmsburg eine Abwärtsspirale aus Arbeitslosigkeit und Armut entstand.

Sprung über die Elbe Im Gegensatz zur Konversion der Hafenanlagen auf dem gegenüberliegenden Elbufer zur HafenCity verfolgen die Verantwortlichen der IBA eine Stadtumbaustrategie: Bei der Ent-


Grafik wird überarbeitet

02 01 Übersichtsplan: Stadtgebiet von Hamburg (hellgrau) mit dem Stadtteil Wilhelmsburg auf der Elbinsel (dunkelgrau) (Plan: wikimedia.commons / Bearbeitung: Red.)

02 Elbinselkarte mit den Standorten der er­ wähnten IBA-Projekte: A neuer Fähranleger Klütenfelder Hafen (Richtung Landungsbrücken), B IBA-Dock, C Haus der Projekte, D Open House, E Reiherstiegviertel (siehe Lageplan S. 21), F Energiebunker, G Energieberg Georgswerder, H Bildungszentrum «Tor zur Welt», I neue Mitte

Wilhelmsburg (vgl. Übersicht S. 24), J Gelände der Internationalen Gartenschau (igs), K Tidepark Kreetsand, L Klimahäuser Haulander Weg, M Naturschutzgebiet Heuckenlock, N Velux Model Home (vgl. S. 37), O Tiefengeo­ thermie Wilhelmsburg (Plan: IBA Hamburg GmbH)


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wicklung des verhältnismässig kleinen Gebiets der HafenCity wurden ehemalige Industrieflächen komplett umgewandelt, alte Nutzungen entfernt oder verlagert und die freigeräumte Fläche zur Bebauung an Investoren verkauft. Ziel der Strategie in Wilhelmsburg hingegen ist laut Uli Hellweg, Geschäftsführer der IBA Hamburg (vgl. Kasten), ein behutsamer Stadtumbau, der die vorhandenen Infrastrukturen und Menschen berücksichtigt. Dabei geht es um eine nachhaltige Innenentwicklung Hamburgs, die an zentralen, aber unterentwickelten Orten, den sogenannten inneren Peripherien, ansetzt und so die wenigen noch vorhandenen innerstädtischen Entwicklungspotenziale nutzt. Anstelle von akupunkturartigen Stadtverbesserungsmassnahmen wie jenen der IBA in Berlin

Internationale Bauausstellungen Internationale Bauausstellungen (IBA) sind ein bislang in Deutschland eingesetztes Instrument der Stadtplanung und des Städtebaus, um durch Projekte im sozialen, kulturellen und ökologischen Bereich mit internationaler Beteiligung von Stadtplanern, Architekten und Landschaftsplanern Impulse zu setzen für einen als erforderlich angesehenen städtebaulichen bzw. landschaftlichen Wandel. Ausgewählte Bauausstellungen: – 1901 fand die erste Internationale Bauausstellung in Darmstadt statt. Sie gilt als ein Meilenstein des deutschen Jugendstils. – 1984 veranstaltete Berlin eine IBA mit den Schwerpunkten «Behutsame Stadterneuerung» und «Kritische Rekonstruktion». – 1999 veranstaltete das Bundesland Nordrhein-Westfalen die Internationale Bauausstellung Emscher Park. Die gesamte Region zwischen Duisburg und Dortmund mit vielen, teils kontaminierten Industriebrachen, wurde in eine Wohn-, Kultur- und Freizeitlandschaft mit ökologischer Ausrichtung umgewandelt. – 2020 will die trinationale Stadtregion Basel durch grenzüberschreitende Projekte die gemeinsame Entwicklung der Region gestalten (vgl. S. 8).

Daten und Fakten IBA Hamburg Struktur: Die IBA Hamburg GmbH wurde 2006 gegründet und wird aus einem Sonderinvesti­ tionsprogramm der Freien und Hansestadt Hamburg mit 90.2 Mio. Euro finanziert. Ausserdem werden knapp 40 private Investoren über 600 Mio. Euro in die Projekte im ­Rahmen der IBA investieren. Ein Kuratorium aus sieben international renommierten Persönlichkeiten berät die IBA auf fachlicher Ebene. Ein Beteiligungsgremium ist mit 24 Bürgern aus dem IBA-Gebiet besetzt. Darüber hinaus gibt es einen Bürgerdialog, der dem öffentlichen Austausch mit den Bewohnern im IBA-Gebiet und allen interessierten Gruppen dient. Geschäftsführer: Uli Hellweg schloss 1976 sein Architektur- und Städtebaustudium an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule – RWTH Aachen ab. Anschliessend arbeitete er in verschiedenen Stadtplanungsabteilungen (Gelsenkirchen, Berlin, Kassel) und war Koordinator für Pilotprojeke bei der Internationalen Bauausstellung Berlin 1984. Seit 2006 ist er Geschäftsführer der IBA Hamburg GmbH.

1984 oder der Separationsstrategie der Moderne setzt die IBA Hamburg auf eine integrierte Planung der Nutzungsmischung und eine enge Verwebung verschiedener Massnahmen. Ein punktuelles Vorgehen könne, laut Hellweg, die Probleme heute nicht mehr lösen, sondern es seien wie in der klassischen Moderne grossflächige, strategische Planungen nötig. Allerdings nicht mehr als Erweiterung vor der Stadt, die neue suburbane Peripherien schaffe, sondern als Entwicklung einer ökologischen Moderne – wie es Hellweg formuliert –, die grossmassstäblich innerhalb der bestehenden Stadt Probleme löse. Zu Beginn der IBA-Planungen wurden diese Ansätze zu drei Leitthemen verdichtet, die im Mittelpunkt der Planungen, Prozesse und Dialoge stehen: – Kosmopolis: Auf soziokultureller Ebene soll die IBA zeigen, welchen Gewinn eine inter­ nationale Stadtbevölkerung für eine Metropole bedeuten kann, wenn nach neuen Wegen des Zusammenlebens gesucht wird. – Metrozonen: Auf der Ebene des Städtebaus soll die IBA demonstrieren, wie «innere Peripherien» (Infrastrukturen und Industrieareale) zu mehrschichtig attraktiven Orten entwickelt werden können. – Stadt im Klimawandel: Hier soll vorgeführt werden, wie eine Stadt wachsen kann und die Umwelt und das Klima dennoch möglichst wenig belastet werden. Ausserdem soll die IBA zeigen, wie eine Stadt am Wasser den Folgen des Klimawandels begegnen kann (vgl. S. 27). Die Umsetzung der Leitthemen erfolgt von der kleineren Elbinsel Veddel im Norden über ganz Wilhelmsburg verteilt bis in den Harburger Binnenhafen im Süden. Dieser Beitrag fokussiert auf die zwei unterschiedlichen Schwerpunkte Reiherstiegviertel und neue Mitte Wilhelmsburg (Abb. 2).

Umbau im Reiherstiegviertel Das Reiherstiegviertel (Abb. 3) westlich der Reichsstrasse – und damit nach 1962 zur Aufgabe vorgesehen – ist ein Quartier, dessen Bevölkerung einen sehr hohen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund aufweist: durchschnittlich 55 %, unter Jugendlichen sogar über 70 %. Im Quartier wohnen Menschen aus über 70 Ländern, und das Strassenbild bietet eine bunte Mischung – vom türkischen Bäcker über afrikanische Läden bis zum portugiesischen Fischlokal. Aus den Zuwanderern von gestern sind die Ladenbesitzer von heute geworden – und die Pensionierten von morgen. Hier setzt das Projekt Veringeck an: Die Altenpflegeeinrichtung hat sich auf die Bedürfnisse von türkischstämmigen Wilhelmsburgern spezialisiert und bietet eine ambulante Tagespflege, seniorengerechte Wohnungen und eine Wohn-Pflege-Gemeinschaft für demenzkranke türkische Senioren an. Im Erdgeschoss befinden sich ein öffentliches Café und ein türkisches Dampfbad (Abb. 4). Weiter südlich, auf der Vering- und der Weimarer Strasse, gelangt man in das sogenannte Weltquartier, eine ehemalige Arbeitersiedlung aus den 1930er-Jahren, die sich wie etliche Siedlungen in Wilhelmsburg im Besitz der gemeinnützigen städtischen Siedlungs-Aktiengesellschaft SAGA GWG befindet. Zusätzlich zu einer energetischen Sanierung wurden die Wohnungsgrössen und -grundrisse an heutige Bedürfnisse angepasst. Die für das Hamburger ­Strassenbild charakteristischen Backsteinfassaden erhielten nach langen Diskussionen eine Aussendämmung, die mit roten Klinkerriemchen verkleidet wurde. Zur Erweiterung der Wohnflächen wurde eine Balkonzone an die Häuser angebaut, deren Verkleidung – aus ­Kosten- und Unterhaltsgründen – aus Schichtpressstoffplatten mit Holzoptik besteht. Auf


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03 03 Lageplan Reiherstiegviertel. Umbauten / Um­ nutzungen im Bestand (rot), Neubauten (orange) (Plan: IBA Hamburg) 04 Modellprojekt «Veringeck»: für Senioren mit und ohne Migrationshintergrund Bauherrschaft: GbR Veringeck, Hitzacker (D); Architektur: Gutzeit + Ostermann Architekten, Hamburg (Foto: IBA Hamburg / Bernadette Grimmenstein) 05 – 06 Siedlung Weltquartier aus energetisch sanierten Mehrfamilienhäusern und neu gestal­ tetem Weimarer Platz mit Pavillon für Quartiers­ nutzungen Bauherrschaft: SAGA GWG, Hamburg; Architektur: kfs-Architekten, Lübeck; Knerer und Lang, Dresden; Gerber Architekten, Hamburg; petersen pörksen partner architekten und stadtplaner, Hamburg; Kunst + Herbert Architekten, Hamburg; dalpiaz + giannetti architekten, Hamburg (Fotos: IBA Hamburg, Martin Kunze) 07 Bildungsprojekt «Sprach- und Bewegungs­ zentrum» am Rotenhäuser Feld

Bauherrschaft: GWG Gewerbe im Auftrag von SBaH – Schulbau Hamburg; Architektur: eins:eins architekten, Hamburg (Visualisierung: IBA Hamburg / Projektverfasser) 08 Lageplan «Open House», Mst. 1:5000. 09 Das gemeinschaftlich geplante «Open House» liegt am nördlichen Rand des Reiherstiegviertels (vgl. Plan S. 19). Das Gebäude mit 44 Wohnun­ gen wurde von einem Investor, einer Genossen­ schaft und einer Baugemeinschaft gemeinsam errichtet und bricht formal aus der Blockrand­ bebauung aus. Jeder Gebäudeflügel beherbergt unterschiedliche Wohnungstypen – von öffentlich geförderten Geschosswohnungen bis zu frei finanzierten Stadthäusern Bauherrschaften: Schanze eG, Steg Hamburg mbH, Baugemeinschaft Schipperort; Architektur: Onix, Groningen (NL) (Wettbewerb); ARGE Onix / Kunst + Herbert, Hamburg (Entwurf und Planung) (Plan: IBA Hamburg / Projektverfasser; Foto: IBA Hamburg / Martin Kunze)

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dem neu gestalteten Weimarer Platz mitten in der Siedlung wurde ein Pavillon errichtet, der flexibel nutzbare Räume für verschiedene Nachbarschaftsaktivitäten bietet (Abb. 5 – 6). Von den 820 Wohnungen der Siedlung sind 753 Teil des IBA-Sanierungskonzepts. Insgesamt werden 67 Wohnungen modernisiert, 402 umgebaut und 284 Wohnungen im Passivhaus­ standard neu gebaut. Der Primärenergiebedarf im Quartier soll dadurch von 300 auf 71 kWh/m2 im Jahr sinken. Entsprechend der IBA-Qualitätsvereinbarung und gemäss Aus­ sage der SAGA sollen nach dem Umbau alle Bewohner in ihre Wohnungen zurückkehren können. Laut aktuellen Zahlen der IBA wohnen in den bislang rund 150 fertiggestellten ­Wohnungen 38 % Rückkehrer (d.h. Mieter, die weggezogen und wieder zurückgezogen sind) und 60 % Mieter, die aus anderen Bauabschnitten des Weltquartiers in die fertiggestellten Wohnungen umgezogen sind. Die autonomen Gentrifizierungsgegner vom Arbeitskreis Umstrukturierung Wilhelmsburg (AKU), die sich sehr kritisch mit der IBA auseinandersetzen, befürchten in ­ihrem Blog1 hingegen, dass bis zu 80 % der Menschen nicht mehr zurückkehren werden, da sie sich die Mieten der grösseren, modernisierten Wohnungen nicht leisten können. Zudem kritisiert der AKU die von der IBA durchgeführten Bewohnerbeteiligungen als «oberflächlich». Aus immobilienwirtschaftlicher Sicht weist der Wohnungsbestand im Reiherstiegviertel im Vergleich zum Hamburger Durchschnitt einen deutlichen qualitativen Rückstand auf. Daher ist das Umbauprinzip, das im Rahmen der IBA verwirklicht wird, hier deutlich zu sehen. Dennoch tritt die IBA mit dem Slogan «Wohnen heisst bleiben» an. Um dieses Ziel zu kontrollieren, setzt die IBA auf ein eigenes Monitoring. Zudem verfügt die Stadt Hamburg mit einer Erhaltungssatzung über ein Instrument, Modernisierungsverdrängung zu verhindern. Gezielt neue Bewohnerschichten ins Quartier locken soll hingegen der idyllisch am Nordrand des Quartiers gelegene Wohnungsneubau «Open House». Der im Grundriss Y-förmige ­Baukörper mit 44 Wohnungen wurde von einem Investor, einer Genossenschaft und einer Baugemeinschaft gemeinsam errichtet. Entsprechend beherbergt jeder Gebäudeflügel unterschiedliche Wohnungstypen – von öffentlich geförderten Mietwohnungen bis zu frei finanzierten Stadthäusern. Um die Einbindung ins Quartier zu fördern, befindet sich im Zentrum ein Gemeinschaftsraum, der von den Bewohnern und Nachbarn aus dem Quartier für verschiedene Aktivitäten gemietet werden kann (Abb. 8 – 9). Am angrenzenden Rotenhäuser Feld entsteht ein Sprach- und Bewegungszentrum, um speziell die Integration von Zuwanderern und ihren Kindern zu verbessern. Bewohner aller Altersgruppen können dort Deutsch und andere Sprachen in Kombination mit Bewegung lernen. Eine grosse Sporthalle, Bewegungs- und Seminarräume sowie ein Café sollen dieses Haus zu einem Ort der Vernetzung machen (Abb. 7).

Neubauschwerpunkt Wilhelmsburg Mitte Als weiterer Bildungsschwerpunkt entsteht in Wilhelmsburg Mitte das Schulzentrum «Tor zur Welt» (Abb. 10). Es vereint drei Schulen und verschiedene weitere Bildungs- und Beratungseinrichtungen an einem zentralen Ort. Das Herz der Anlage bildet ein Multifunktionszentrum. Hier finden Erwachsenenbildung, Familienförderung, Jugendhilfe und Schulberatung statt. Ein Elterncafé soll als informeller Treffpunkt dienen. Daneben verköstigt künftig eine Kantine die etwa 1400 Schüler, Lehrer, Mitarbeiter und Gäste. Neben Kunst- und Musikräumen ­ ntsteht zudem ein grosser Veranstaltungsraum mit Bühne, mit dem das «Tor zur Welt» zue gleich auch ein Begegnungsort für das Quartier wird. Westlich des Bahntrassees und vom modernisierten S-Bahnhof Wilhelmsburg aus über eine Fussgängerbrücke (Abb. 11) angebunden befindet sich das neue Dienstleistungs- und ­Verwaltungsgebäude der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU) von Sauerbruch Hutton Architekten und den Gebäudetechnikern Reuter Rührgartner (Abb. 23). Der Neubau ist das grösste Hochbauprojekt im Rahmen der IBA: Der Bau besteht aus einem gut 45 m ­hohen Turm mit zwölf Etagen und zwei fünf- bzw. sechsgeschossigen Flügelbauten. Auf einer Bruttogeschossfläche von etwa 61 000 m2 entstehen über 1000 Arbeitsplätze. Das Verwaltungsgebäude mit seinen farbenfrohen Fassaden erreicht durch die Verknüpfung von aktiven


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und passiven Massnahmen einen Primärenergieverbrauch von 70 kWh/m2 (DNGB-Zertifizierung «Gold» für die Entwurfsphase). Ein weiträumiges öffentliches Foyer empfängt die Besucher und dient künftig zur Präsentation des über 100 m2 grossen Hamburger Stadtmodells. Im Bereich des Zugangs zur Internationalen Gartenschau (igs) 2013 stellt die IBA auf vier Themenfeldern Modelle für den Wohnungsbau im 21. Jahrhundert vor. Diese «Bauausstellung in der Bauausstellung» soll mit realisierten Fallstudien Anschauungs- und Diskussionsobjekte liefern und idealerweise eine neue Bautypologie begründen, wie die zunächst hoch umstrittenen «case study houses» im Nachkriegsamerika. Die Bauausstellung widmet sich vier Themenbereichen, für die mehrstufige, an Investoren, Planer und Materialhersteller gerich­

10 Ein zentrales Projekt im Themenfeld Kosmo­ polis ist das Bildungszentrum «Tor zur Welt». Fünf Einrichtungen bilden eine «Lernstadt», die an die Wilhelmsburger Zentrumsbauten aus den 1970er-Jahren angrenzt. Am westlichen Rand des Bildungszentrums neben der MaximilianKolbe-Kirche liegt das «Haus der Jugend» (vgl. TEC21 45/2011, S. 14 und 15) Bauherrschaft: GWG Gewerbe im Auftrag von SBH – Schulbau Hamburg; Architektur: bof-Architekten und Breimann & Bruun Landschafts­ architekten, Hamburg (Visualisierung: Projektverfasser)

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tete Auswahlverfahren durchgeführt wurden, mit dem Ziel einer Teambildung für die Umsetzung. Obwohl bislang fast nur Baustellen zu sehen sind, sollen die Häuser rechtzeitig zum IBA-Jahr 2013 fertiggestellt sein. Insgesamt bildet die Bebauung dieser Sonderausstellung ein lockeres Schachbrettmuster, das als urbaner Park das grüne Erbe von Wilhelmsburg bewahren will. Drei «Smart Material Houses» zeigen neuartige Materialien in der Anwendung. Die Fassaden sind bei einem Wohnhaus mit Bioreaktoren bestückt – plattenförmigen Glas­ elementen an Südwest- und Südostfassade, in denen Mikroalgen zur Biomasseproduktion wachsen. Bei einem weiteren Projekt dienen begrünte Fassadenelemente als sommerlicher Hitzeschutz, die im Gebäudeinneren durch Latentwärmespeicher (PCM) unterstützt werden. Blickfang eines dritten Prototyps sind flexible Fotovoltaikelemente (Abb. 12 – 14). Mit vier «Smart Price Houses» führt die IBA Lösungen für kostengünstiges innerstädtisches Bauen vor. Bis auf einen Bau setzten alle Beispiele auf vorgefertigte Holzkonstruktionen mit familien­ freundlichen Grundrissen. Das radikalste Konzept setzt auf den Selbstausbau: Es werden nur das Betontragwerk sowie die Kerne zur Verfügung gestellt, und die künftigen Bewohner bauen sich ihre Einheit samt Fassade selbst aus (Abb. 15 – 18).


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11 11 Übersicht über das Neubaugebiet Mitte westlich vom S-Bahnhof Wilhelmsburg mit der «Bauausstellung in der Bauausstellung» und der Fläche der Internationalen Gartenschau (igs) im Vordergrund A Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt B Hybrid Houses C Smart Material Houses D Smart Price Houses E Water Houses F Ärztehaus G Haus der Inselakademie H Wohnhäuser I Wälderhaus J Pflegeheim K Sporthalle L Schwimmbad  M Umbau S-Bahnhof Wilhelmsburg und Neubau Fussgängerbrücke N Verlegung Wilhelmsburger Reichsstrasse (Visualisierung: IBA Hamburg / bloomimages; Abb. 12 – 20: IBA Hamburg / Projektverfasser)

Wie Wohnen und Arbeiten von morgen aussehen können, zeigen drei «Hybrid Houses», die an wechselnde Bedürfnisse der Benutzer angepasst werden können: Ein Projekt erzeugt die Flexibilität durch verschieden ausgerichtete Einheiten, die nach Bedarf kombiniert werden können, während das andere Konzept auf einer doppelten Erschliessung basiert und so das Nebeneinander von Wohnen und Arbeiten in einem Haus ermöglicht. Ein weiteres Hybrid House wurde bereits im Herbst 2011 fertiggestellt und dient der igs als Ausstellungs- und Verwaltungszentrum. Nach dem Ausstellungsjahr kann es als Büro- oder Wohnhaus weiter genutzt werden (Abb. 19 – 21). Die «Water Houses» präsentieren ein Konzept für das Bauen mit Wasser. Leider überzeugt das Konzept ökologisch nur teilweise: In einem neu geschaffenen Regenwasserbecken entsteht ein Gebäudeensemble aus vier Kuben mit jeweils drei dreigeschossigen Wohnungen und einem neungeschossigen Turm mit 22 Wohnungen, die allerdings nur so aussehen, als ob sie im Wasser schwimmen würden (Abb. 22). Die Wassernähe ist hauptsächlich ein attraktives gestalterisches Element, während die Beschäftigung mit Bauen in hochwasser­ gefährdeten Gebieten bzw. Überflutungsflächen nach der Verlegung der Reichsstrasse bei den Klimahäusern Haulander Weg im Wilhelmsburger Süden zum Thema wird (vgl. S. 31). Komplettiert wird Wilhelmsburg Mitte durch den Wohn-, Dienstleistungs- und Hallenkomplex am Eingang der Gartenschau mit insgesamt 35 000 m2 Bruttogeschossfläche. Neben einem neuen Schwimmbad entstehen eine Sporthalle, das Wälderhaus, das Haus der Inselaka­de­ mie, zwei weitere Wohngebäude, ein Seniorenzentrum und ein Ärztehaus (Abb. 11).

Ein Strassenraum wird freigespielt Wie ein Nebenprodukt der IBA wird in Wilhelmsburg mit der Verlegung der Wilhelmsburger Reichsstrasse auch ein grosses Infrastrukturprojekt realisiert (Abb. 11): Der Stadtteil wird heute in Nord-Süd-Richtung von der Wilhelmsburger Reichsstras­se (knapp 60 000 Fahrzeuge pro Tag) und einem stark befahrenen Bahntrassee durchschnitten, die nur rund 400 m voneinander entfernt liegen, und weiter im Osten von einer Autobahn (ca. 130 000 Fahrzeuge


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12 Passivhaus «BIQ»: Mikroalgen in den Fassa­ denelementen erzeugen Biomasse, die als Biogas genutzt werden kann. Ein Wärmetauscher nutzt die gleichzeitig gesammelte Wärme Bauherrschaft: Otto Wulff Bauunternehmung, Strategic Science Consult; Architektur: Splitterwerk – Label für Bildende Kunst, Graz (A);
 Arup, Berlin;
B + G Ingenieure, Frankfurt 13 «Smart ist Grün»: Passivhaus plus mit begrünten Fassadenelementen, Sonnenenergie­ nutzung und Latentwärmenspeichern Bauherrschaft: Behrendt Wohnungsbau, Hamburg & Sparda Immobilien; Architektur: zillerplus Architekten, München 14 «Soft House»: Passivhaus-Holzbau mit flexi­ blen PV-Membranen, die durch Verdrehen der Sonne nachgeführt werden und Schatten werfen Bauherrschaft: Patrizia Immobilien, Augsburg (D); Architektur: Kennedy & Violich Architecture, Boston (USA), 360grad + architekten, Hamburg 15 «Case Study Hamburg»: gestapelte Holzmodule Bauherrschaft: Engel & Völkers Development,

Hamburg; Wettbewerb:
Adjaye Ass., London (GB); Realisierung:
planpark architekten, Hamburg 16 «Woodcube» aus Vollholzwänden und -decken Bauherrschaft / Realisierung: PP, Hamburg; Architektur: Institut für urbanen Holzbau, Berlin 17 «Grundbau und Siedler» zum Selbstausbau Bauherrschaft: Primus Developments, Hamburg; Architektur: BeL Sozietät für Architektur, Köln 18 «Case Study #1»: Stadtvilla aus Fertigteilen Bauherrschaft: SchwörerHaus, HohensteinOberstetten (D); Architektur: Fusi & Ammann ­Architekten, Hamburg 19 Hybrid House mit Maisonetten aus Ost-Westund Nord-Süd-Modulen zum Arbeiten (unten) und Wohnen (oben) Bauherrschaft: HTP Hybrid House, Hamburg; Wettbewerb: Brandlhuber + NiehüserS, Berlin; Realisierung: Kleffel Papay Warncke Architekten, Hamburg 20 Hybrid House mit doppelter Erschliessung, durch die Wohnen und Arbeiten horizontal oder vertikal separiert werden kann

Bauherrschaft: Wernst Immobilien mit Deutsche Immobilien, Hamburg; Architektur: Bieling Architekten, Hamburg 21 «igs Hybrid House» Bauherrschaft: Otto Wulff Bauunternehmung, Hamburg / wph Wohnbau und Projektentwicklung, Hamburg; Architektur: Nägeliarchitekten, Berlin (Foto: IBA Hamburg / Bernadette Grimmenstein) 22 «Water Houses» in einem 4000 m2 grossen Regenwasserbecken Bauherrschaft: Hochtief, Solutions formart, Hamburg; Architektur: Schenk + Waiblinger Architekten, Hamburg (Visualisierung: IBA Hamburg / Hochtief Solutions formart / moka studio) 23 Neubau der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU) Bauherrschaft: Sprinkenhof AG; Architektur: ARGE Sauerbruch Hutton Generalplanungsges., Berlin / Reuter Rührgartner Planungsges. für Gebäudetechnik, Rosbach (D); Planung: Obermeyer Planen + Beraten, Hamburg (Visualisierung: Sauerbruch Hutton Architekten / Sprinkenhof AG)


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pro Tag). Schon vor einigen Jahren äusserten Bewohner den Wunsch, die Strasse zum Bahn­ trassee hin zu verlegen. Den Stein ins Rollen brachte der Instandsetzungsbedarf der Reichsstrasse, vor allem aufgrund des schlechten Zustandes einiger Brücken. Im Rahmen der Instandsetzung für 60 Mio. Euro hätte man die Reichsstrasse gleichzeitig den heute geltenden Standards anpassen, von derzeit 14 auf 26 m verbreitern und mit Lärmschutzeinrichtungen ausrüsten müssen. Ausserdem wäre die bereits teilweise erhöht auf einem Damm verlau­ fende Strasse zu einer noch massiveren städtebaulichen Barriere geworden. Wie Uli Hellweg erläutert, habe die IBA daher den Vorschlag einer Verlegung der Reichsstrasse wieder in die Diskussion eingebracht und den Hamburger Senat davon überzeugen können, dass das Geld so besser investiert sei. Die Strasse soll nun – der alten Bewohneridee entsprechend – an die westliche Seite des Bahntrassees verlegt werden, da dieses nicht mehr in voller Breite benötigt wird. Damit auch für die Anwohner der Bahnlinie keine Verschlechterung eintritt, werde die Stadt Hamburg ergänzend zu den vom Bund finanzierten Lärmschutzmassnahmen ­entlang der Strasse zusätzliche Lärmschutzmassnahmen entlang der Bahnlinie ergreifen, erläutert Hellweg. Dies soll die Lebensqualität von rund 7000 Menschen verbessern. Trotzdem sind einige Anwohner skeptisch und befürchten – unter Berufung auf eine Stellungnahme der Verkehrspolizei – eine mögliche Zunahme des Verkehrs allgemein und eine zusätzliche Belastung einiger Wohnstrassen im nördlichen Anschlussbereich. Nach der Verlegung 2015/16 kann der südliche Abschnitt der alten Wilhelmsburger Reichsstrasse rückgebaut werden, sodass ein zusammenhängender Stadtpark entsteht, wie etliche Landschaftsarchitekten im Wettbewerb für das Gartenschaugelände vorgeschlagen hatten. Im nördlichen Teil wird die Strasse als ebenerdig verlaufende Erschliessungsstrasse zurückgebaut. Mit diesen Massnahmen wird ein fast 124 ha grosses Gebiet freigespielt, in dem sich die Lebensqualität der Anwohner verbessern wird und wo neuer Wohnraum entstehen kann.

Bedenken trotz sanfter Tour

Anmerkung 1 http://aku-wilhelmsburg.blog.de/ Weitere Informationen www.iba-hamburg.de

Um Wilhelmsburg zu entwickeln, hat die Stadt Hamburg mit der IBA eines der stärksten Werkzeuge gewählt, das die deutsche Baukultur kennt. Obwohl die Bürgerbeteiligung dabei mehr Raum erhielt als bei vorangegangenen Bauausstellungen, regt sich auch Widerstand. Etliche Bewohner nehmen die IBA als Mittel zur Gentrifizierung ihres Stadtteils wahr. Tatsächlich ist wohl unvermeidbar, dass die durch die IBA angestossenen Massnahmen die Attraktivität des «Hinterhofs» erhöhen und so zumindest mittel- und langfristig deutliche Auswirkungen auf den dortigen Immobilienmarkt haben. Die Inszenierung der IBA wird zudem die Aufmerksamkeit – nicht nur vieler Hamburger – auf Wilhelmsburg lenken und so für weiteren Zuzug sorgen. Deshalb weisen IBA-Kritiker auf andere Hamburger Planungsinstrumente wie das Rahmenprogramm Integrierte Stadtteilentwicklung (RISE) hin, das weniger öffentlichkeitswirksam funktioniert. Es ist hinsichtlich Analyse und Konzepten durch ähnlich komplexe Handlungsansätze geprägt wie eine IBA und bündelt die Anstrengungen der Fachbehörden und Bezirksämter gebietsbezogen. Die sozialen Veränderungen sind trotz IBA-Monitoring der Immobilienentwicklung und mög­ licher Erhaltungssatzungen seitens der Stadt nicht aufzuhalten und wohl auch erwünscht. Dabei wird sich die IBA daran messen lassen müssen, inwiefern sie ihr eigenes Motto ­«Wohnen heisst bleiben» auf längere Sicht einlöst und die eingesessenen Bewohner auf den eingeschlagenen Weg mitnehmen kann. Für erstaunlich leise Kritik sorgt auch die Tatsache, dass im Rahmen der IBA keine längerfristigen Verdichtungsperspektiven entwickelt wurden, die sinnvoll mit der ÖV-Erschliessung verknüpft sind, sondern dass man darauf setzt, noch vorhandene Freiflächen im Süden mit relativ lockeren Baustrukturen zu besetzen. Allerdings ist nicht auszudenken, wie eine Olympiade über Wilhelmsburg hereingebrochen wäre. Die Umstrukturierung wäre vielleicht – ähnlich wie in London – radikaler erfolgt und die Entwicklung für das Quartier weniger flächendeckend und nachhaltig ausgefallen. Alexander Felix, felix@tec21.ch


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viele schritte zum klimaziel Der Klimaschutz ist im Rahmen des Leitthemas «Stadt im Klimawandel» ein wesentlicher Pfeiler der IBA Hamburg. Zunächst wurde mit einer Studie ausgelotet, ob und bis wann sich Strom- und Wärmebedarf des Stadtteils Wilhelmsburg erneuerbar decken lassen. Dem ehrgeizigen Ziel nähert man sich nun mit einer Vielzahl von Projekten. Zu den auffälligsten gehören zwei «Unorte» aus der Vergangenheit – ein Flakturm und eine Deponie –, die ne­ ben der Produktion erneuerbarer Energie neu auch als Erholungsraum und Mahnmal dienen. Ergänzend zum Klimaschutz erprobt die IBA im vom Wasser geprägten Stadtteil auch Möglichkeiten der Anpassung an den Klimawandel. neue Wasser- und VeloWege Die Insel Wilhelmsburg liegt nicht nur zwischen zwei Armen der Elbe, sondern wird auch von einem weit verzweigten System von Entwässerungskanälen durchzogen. Diese Lage am Wasser soll in mehrfacher Hinsicht besser genutzt werden – als Erholungsgebiet und für zusätzliche Verkehrsverbindungen, die die Nachteile der Insellage mildern. Ein wichtiger Entwicklungsschwerpunkt ist der Spreehafen im Norden der Insel. Das 11 ha grosse Gebiet ist von einem Zollzaun umgeben und war bisher nur über zwei Zolldurchlässe zugänglich. Die beschlossene Verkleinerung des zollfreien Gebiets im Hamburger Hafen hat Ende 2008 aber den Weg frei gemacht für eine Öffnung des Spreehafens. Vor zwei Jahren wurde der Zaun an zwei Stellen ­bereits geöffnet, 2013 soll er ganz entfernt ­werden. Damit sind der Damm und das Ufer nun öffentlich zugänglich. Auf einem neuen Fussund Veloweg lässt sich das Hafengebiet umrunden. Er schafft gleichzeitig eine bessere Veloverbindung in die HafenCity und die Innenstadt (vgl. Lageplan S. 19). Dank der Einrichtung eines neuen Fähranlegers beim Spreehafen ab Herbst 2012 wird Wilhelmsburg ausserdem als neue Station von den öffentlichen Fährlinien ab den Landungsbrücken auf der Nordseite der Elbe angefahren. Bisher ist Wilhelmsburg nur über eine S-Bahn-Linie mit dem Zentrum von Hamburg verbunden. Das Kanalnetz der Insel soll im Rahmen der IBA und der Internationalen Gartenschau (igs) als Erholungsgebiet besser zugänglich gemacht werden. Dafür werden einige der Kanäle ausgebaut oder instand gesetzt. Auch das bisherige «Stückwerk» an Velowegen wird zu einem rund 30 km langen Rundkurs um die Insel verbunden. Trotz den Verbesserungen äussert sich der Verein «Zukunft Elbinsel Wilhelmsburg» beim Verkehr kritisch zur Bilanz der IBA: Unter anderem würden, anders als bei Grossveranstaltungen sonst üblich, für IBA und igs weder neue SBahn-Haltestellen noch neue Busverbindungen oder ein höherer Takt eingeführt.

Städten kommt eine zentrale Rolle beim Kampf gegen den Klimawandel zu: Obwohl sie nur 2 % der globalen Landfläche einnehmen, beherbergen sie mehr als die Hälfte der Weltbe­ völkerung und sind für rund 70 % der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich.1 Entsprechendes Gewicht hat der Klimaschutz daher im Rahmen der IBA Hamburg. Im «Klimaschutzkonzept Erneuerbares Wilhelmsburg» wurde zunächst untersucht, ob und unter welchen Rahmenbedingungen sich der Energiebedarf im IBA-Gebiet aus erneuerbaren Quellen decken lässt.2 In die Berechnung des künftigen Wärme- und Strombedarfs floss eine ganze Palette von Parametern ein: Prognosen der Bevölkerungsentwicklung, Neubaupotenziale, mögliche Instandsetzungsraten und -tiefen. Welcher Anteil davon sich regenerativ decken lässt, wurde anhand von verschiedenen Optionen für die Nutzung erneuerbarer Energien eruiert. Das Konzept zeigt, dass unter Annahme eines sogenannten «Exzellenzszenarios», das von einer Erhöhung der derzeitigen Sanierungsraten in einzelnen Gebäudesegmenten sowie einer konsequenten Förderung erneuerbarer Energieerzeugung ausgeht, sich bereits 2025 der Strombedarf von Wilhelmsburg vollständig erneuerbar decken lässt; bis 2050 wäre dies auch für 85 % des Wärmebedarfs der Fall. Nicht enthalten ist darin allerdings der Beitrag des Verkehrs, der Industrie sowie von Konsum und Lebensstil. Der Weg zur Umsetzung des Exzellenzszenarios ist ein Weg der vielen kleinen und grösseren Schritte, der im Rahmen der weitgehend bestehenden Gebäude und Strukturen die Möglichkeiten zur Reduktion des Energiebedarfs und zur Produktion erneuerbarer Energie ausschöpft. Bei grossen Projekten wie der Instandsetzung des Weltquartiers oder dem Neubau der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (vgl. «Den Hinterhof aufmöbeln», S. 18) sorgen Qualitätsvereinbarungen zwischen IBA und Bauherrschaft dafür, dass die Vorgaben der Energieeinsparverordnung von 2009 um mindestens 30 % unterschritten werden. Um auch Besitzer kleiner Häuser zur energetischen Sanierung ihrer Gebäude zu motivieren, wurde die IBA-Kampagne «Prima-Klima-Anlage» geschaffen, die neben fachlicher Beratung finanzielle Unterstützung anbietet.

Vom Kriegsrelikt zum Energiebunker Eines der grösseren Projekte zum Ausbau erneuerbarer Energien, das zudem bei einem Rundgang durch das Quartier sofort ins Auge fällt, ist der sogenannte Energiebunker (Abb. 1, 2, vgl. Lageplan S. 19 und TEC21-Dossier «Bauen für die 2000-Watt-Gesellschaft», März 2010). Dieser trutzige, 42 m hohe ehemalige Flakturm aus dem Zweiten Weltkrieg ragt als Fremdkörper aus dem Quartier heraus. Errichtet wurde er 1943. Neben den auf dem Dach installierten Flugabwehrgeschützen diente er auch als Luftschutzbunker. 1947 wurde


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das Innere des Gebäudes durch die britische Armee gesprengt, um es unbenutzbar zu machen. Fast unzerstört erhalten geblieben ist jedoch die zwei bis vier Meter dicke äussere Hülle aus Stahlbeton. Nun erhält das mittlerweile denkmalwürdige Gebäude eine neue Funktion. Dafür mussten zuerst durch eine neue Öffnung in der Fassade 25 000 t Schutt ausgeräumt und das durch die Sprengung beschädigte Tragwerk wiederhergestellt werden (vgl. inneres Titelbild S. 17). Ausserdem werden die durch Korrosion beschädigten Betonoberflächen erneuert. Zeitgleich beginnt derzeit der städtische Energieversorger Hamburg Energie mit der Umwandlung zum Energiebunker. Dazu gehören thermische Solarkollektoren auf dem Dach und eine Fotovoltaikanlage an der Südfassade mit einer Fläche von insgesamt knapp 3000 m2. Im Inneren werden ein Blockheizkraftwerk Strom und Wärme aus Biogas und ein Heizkessel Wärme aus Holzschnitzeln produzieren. Ein 2000 m3 grosser Wasserspeicher dient zur Zwischenspeicherung von Wärme, um Produktions- und Verbrauchsspitzen im ­Tagesverlauf auszugleichen. Gleichzeitig kann dadurch die Betriebszeit des Blockheizkraftwerks erhöht und somit auch mehr Strom erzeugt werden. In einem weiteren Ausbauschritt soll zusätzlich die Abwärme eines nahe gelegenen Industriebetriebes eingespeist werden. Der Energiebunker wird zunächst das benachbarte «Weltquartier» mit über 800 Wohnungen (vgl. «Den Hinterhof aufmöbeln», S. 18) mit Wärme versorgen. Der Strom wird in das Hamburger Verteilnetz eingespeist. Mittelfristig soll der Energiebunker fast 3000 MWh Strom und

01+02 Der Flakturm aus dem Zweiten Weltkrieg erhält eine neue Funktion als Energiebunker und Mahnmal: 1 Geschichts- und Dokumentationszentrum 2 Café 3 Fahrstuhl 4 ehemaliges Treppenhaus 5 ehemalige Munitionskammern 6 Solarthermieanlagen 7 Fotovoltaikanlage 8 Wärmespeicher 2000 m3 9 Energiezentrale mit Holzschnitzelkessel und Biogas-Blockheizkraftwerk 10 ehemalige Eingangshalle Bauherrschaft: IBA Hamburg GmbH / Hamburg Energie; Architektur: Hegger Hegger Schleiff HHS Planer + Architekten AG, Kassel; Energie­ konzept: Averdung Ingenieurgesellschaft mbH, Hamburg (Visualisierung 1: IBA Hamburg /  Projektverfasser)

ca. 22 500 MWh Wärme aus erneuerbaren Quellen erzeugen. Damit können etwa 1000 Haushalte mit Strom und 3000 Haushalte des nördlichen Reiherstiegquartiers mit ­Wärme versorgt werden. Als eines der am dichtesten bebauten Gebiete von Wilhelmsburg ist es prädestiniert für eine solche Lösung. Neben seiner neuen Funktion als Leuchtturm der erneuerbaren Energieversorgung von Wilhelmsburg soll der Bunker aber auch weiterhin Mahnmal bleiben. Daher werden in einem der Gefechtstürme eine Ausstellung zu dessen Geschichte sowie ein Café eingerichtet werden. Öffentlich zugänglich wird auch eine um die Gefechtstürme herum führende Aussen­ terrasse in rund 30 m Höhe. Von dort fällt der Blick auf den Energieberg Georgswerder (vgl. TEC21-Dossier «Bauen für die 2000-Watt-Gesellschaft», März 2010). Dieser ist mit knapp 40 Metern nicht nur ähnlich hoch wie der Energiebunker, sondern vollzieht im Moment auch einen ähnlichen Funktions- und Imagewechsel.

Von der Altlast zum Energieberg Bis 1979 wurden auf dem 45 ha grossen Areal Hausmüll, giftige Industrieabfälle wie Lacke und Farben sowie Rückstände aus der Produktion von Pflanzenschutzmitteln deponiert. Als wenige Jahre nach Schliessung der Deponie hochgiftiges Dioxin austrat und in Grund- und Oberflächengewässer gelangte, musste die Deponie zwischen 1984 und 1995 aufwendig


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03 Die ehemalige Deponie bleibt eine Altlast, wird aber gleichzeitig zur Energieproduzentin mit Wind- und Fotovoltaikanlagen sowie zum öf­ fentlich zugänglichen Erholungsgebiet mit einem Rundweg um den Gipfel Bauherrschaft: Freie und Hansestadt Hamburg, Hamburg Energie und REpower, Arbeitskreis Georgswerder, Bezirksamt Hamburg-Mitte; Architektur: Konermann Siegmund Architekten, Hamburg (Hochbau), Häfner / Jiménez, Büro für Landschaftsarchitektur, Berlin (Landschaft) (Foto: Aufwind Luftbilder / Visualisierung: bloom­ images)

gesichert werden: Die Oberfläche wurde mit Kunststoffbahnen abgedichtet, damit kein Niederschlagswasser mehr in den Deponiekörper eindringt. Grund- und Sickerwasser aus der Deponie werden an der Basis gesammelt und gereinigt. Das Deponiegas, das einen hohen Methananteil aufweist, wird über ein Drainagesystem gesammelt und an die benachbarte Kupferhütte geliefert. Bereits damals wurden auch vier Windkraftanlagen aufgestellt. Die IBA verfolgt nun zwei Ziele bei der Entwicklung des Areals: Zum einen wird die Erzeugung er­ neuerbarer Energie ausgebaut, zum anderen wird das bisher streng abgeschottete Gelände schrittweise wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht und ins Quartier integriert. Zum Ausbau der Energieerzeugung wurden drei der bestehenden kleineren Windkraftanlagen Anfang Dezember 2011 durch eine grössere Anlage (3400 kWp) ersetzt. Die vierte kleine Anlage mit 1500 kWp blieb bestehen (Abb. 3). Für den Bau des Fundaments der neuen ­Anlage wurde die Kunststoffdichtungsbahn geöffnet und ein 6 m tiefes Loch mit 23 m Durchmesser ausgehoben. Nach dem Bau eines flachen, auf dem Müllberg schwimmenden ­Betonfundamentes, wurde die Dichtungsbahn sorgfältig daran angeschlossen. Das Gewicht des neuen Fundamentes samt Auffüllung aus Glasgranulat durfte dabei des Gewicht des entnommenen Mülls nicht übersteigen. Zweites neues Element ist eine rund 10 000 m2 grosse Fotovoltaikanlage am Südhang der Deponie mit einer Leistung von 700 kWp. Wind- und PV-Anlagen werden insgesamt ungefähr 4000 Haushalte mit Strom versorgen. Eine Wärmepumpe nutzt ausserdem die Wärme des gereinigten Grundwassers für die Beheizung des Betriebs- und Informationsgebäudes. Aus dem Rasenschnitt von der Deponieoberfläche lässt sich Biogas gewinnen. Für die Umgestaltung der Deponie zu einem Ausflugsziel wurde im Rahmen der IBA ein landschaftsarchitektonischer Wettbewerb ausgelobt. Das Siegerprojekt der Landschaftsarchitekten Häfner/Jiménez aus Berlin mit Konermann Siegmund Architekten aus Hamburg, ein auf Stelzen angeordneter Rundweg um den Gipfel, wird derzeit gebaut. Der Weg wird nachts beleuchtet und soll zum weithin sichtbaren neuen Wahrzeichen werden. Entlang des Rundweges informieren verschiedene Stationen über die Deponie und ihre Sanierung, über regenerative Energienutzung und Recyclingprozesse. Auch ein neu errichtetes Informationszentrum, das bereits letztes Jahr eingeweiht wurde, greift diese Themen auf und entspricht damit einem starken Wunsch aus dem Quartier, dass hier kein Landschaftsidyll entstehen solle, sondern die Geschichte der Deponie präsent bleiben müsse. Direkt an das Informationszentrum schliesst auch eine Halle an, in der Grund- und Sickerwasser kontrolliert und gereinigt werden. Die Besucher können einen Blick auf die aufwendige Technik werfen, die es noch über Jahrzehnte zur Sicherung der Deponie braucht. Auch wenn die gesamte Deponie ab nächstem Jahr bis auf wenige Bereiche zumindest tagsüber für die Öffentlichkeit zugänglich sein wird, bleibt sie ein Ort, der die Auswirkungen menschlichen Handelns doku-


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mentiert, aber gleichzeitig eine Möglichkeit aufzeigt, belastete Standorte wieder zu integrieren und nutzbar zu machen, selbst wenn aus Kostengründen keine Beseitigung der Problemstoffe machbar ist.

Energieverbund Wilhelmsburg Mitte Deutlich unscheinbarer als Energiebunker und Energieberg kommt ein weiterer Beitrag zur erneuerbaren Energieversorgung von Wilhelmsburg daher – der Energieverbund Wilhelmsburg Mitte. Er wird die derzeit dort entstehenden Neubauten mit ingesamt 140 000 m2 Bruttogeschossfläche, die alle mindestens dem Standard «EnEV 2007 –50 %»3 entsprechen, vernetzen, in einem späteren Ausbauschritt auch Bestandsbauten. Aus den solarthermischen Anlagen der einzelnen Gebäude bzw. einer Bioreaktorfassade (vgl. S. 25, Abb. 12) wird dezentral Wärme in dieses Netz eingespeist. Eine Energiezentrale mit Blockheizkraftwerk (BHKW) und Spitzenlastkessel sichert den Betrieb bei geringer Einspeisung oder hohem Bedarf ab. Durch den Zusammenschluss so verschiedener Wärme­ nutzer wie Wohn- und Bürogebäuden, Hotels und Schulungszentren, Schwimm- und Sporthallen mit ganz unterschiedlichen Wärmebedarfsprofilen kommt es zu einer Verstetigung der Nachfrage. Das hat den Vorteil, dass der Anteil der Solarthermie höher liegen kann als bei einer Einzelversorgung der jeweiligen Gebäude. Im Gegenzug kann die Anlageleistung des Spitzenlastkessels geringer dimensioniert werden.

Projekt für Tiefengeothermie-kraftwerk Neben dem Ausbau der Energieerzeugung aus Wind und Sonne ist auf der Elbinsel auch ein Tiefengeothermie-Kraftwerk geplant, das ca.130 °C warmes Thermalwasser aus Sandsteinschichten in 3500 m Tiefe zur Wärmeversorgung und evtl. auch zur Stromerzeugung nutzen soll. Dafür wurde 2010 der Untergrund mittels Reflexionsseismik genauer untersucht. Dabei senden Vibratorfahrzeuge Schallwellen aus, die von den Gesteinsschichten reflektiert und durch Messgeräte an der Oberfläche aufgezeichnet werden. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf Lage, Mächtigkeit und Eigenschaften der Schichten im Untergrund ziehen. Die

04 Mit dem Tidepark Kreetsand wurde neuer Überflutungsraum für die im Wechsel der ­Ge­zeiten ansteigende und abfliessende Elbe ­geschaffen. Diese dynamische Landschaft ist für Erholungsuchende zugänglich 1 Parkeingang Nord 2 Holzsteg «Tidebogen» 3 «Tidesand»: magere Sandflur mit Holzsteg 4 Parkplatz/Zugang Mitte 5 Hinweisinstallation Tidepark 6 Auwald 7 «Tidefang»: Natursteinrampe mit Wasserrin­ nen auf verschiedenen Referenzhöhen und Treppe 8 Deichhöhenweg mit Bänken 9 an Pfählen befestigte schwimmende Inseln zeigen die Fliessrichtung des Wassers an 10 Parkeingang Süd Bauherrschaft: Hamburg Port Authority; Landschaftsarchitektur: Studio Urbane Landschaften, Hamburg (Plan: Projektverfasser) 04


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Ergebnisse waren positiv: «Die Hauptförderschicht ist gross genug, dass sie in 3500 Meter Tiefe ausreichend förderfähiges Tiefenwasser birgt», gab IBA-Geschäftsführer Uli Hellweg bekannt. Die Trägergesellschaft GTW Geothermie Wilhelmsburg GmbH, zu der auch die IBA Hamburg gehört, geht von einer möglichen Leistung von 7 bis 14 MW aus. Damit könnten bis zu 3000 Haushalte versorgt werden. Bis zum Sommer 2012 prüft die GTW nun, ob die Energiegewinnung aus Tiefengeothermie in Wilhelmsburg auch realisierbar ist. Der nächste Schritt wäre dann eine erste Tiefenbohrung.

Anpassung an den Klimawandel Ergänzend zum Klimaschutzkonzept, das einen Beitrag zur Minimierung des Klimawandels 05

leisten soll, beschäftigt sich die IBA auch mit der Anpassung an den Klimawandel. Von ihrer Geschichte her seien die Elbinseln für dieses Thema prädestiniert, sagt Uli Hellweg. Denn seit je mussten Grund und Boden dem Wasser abgerungen und davor geschützt werden. Mit dem Anstieg des Meeresspiegels und damit auch des Wasserstandes der Elbe wird sich dieses Problem verschärfen. Die Strategie, die man heute auch in der Schweiz verfolgt, ist aber nicht mehr der absolute Schutz vor dem Wasser, sondern mehr Raum für das Wasser und ein Nebeneinander von Hochwasserschutz und anderen Funktionen (vgl. TEC21 10/2012). Drei IBA-Projekte zeigen dies exemplarisch. Da ist zum einen das Projekt des Tideparks Kreetsand im Osten von Wilhelmsburg. Das bereits rückgedeichte, 30 ha grosse Gebiet wird voraussichtlich noch dieses Jahr tiefer gelegt, sodass es als Überflutungsraum für die Gezeiten zur Verfügung steht. Auf diese Weise lässt sich der Wasserstand bei Flut senken und die Hochwassergefahr reduzieren. Das im Wechsel der Gezeiten mal trockene, mal überflutete Gebiet soll gleichzeitig als Erholungsgebiet dienen (Abb. 4). Nicht nur am Rand der Insel drückt bei besonders hoher Flut das Wasser gegen die Deiche, sondern auch das Grundwasser steigt dann und überflutet tief liegende Bereiche im Innern der Insel. «Bisher versucht man das über Pumpwerke in den Griff zu bekommen, was aber absurd ist, weil dann beim ohnehin grössten Druck auf die Deiche noch mehr Wasser nach aussen gepumpt wird», erläutert Uli Hellweg. Stattdessen wolle man nun vermehrt Reten­ tionsflächen schaffen. Die «Klimahäuser Haulander Weg» werden auf Stelzen und mit erhöhten Zugangsstegen in einer solchen Retentionsfläche gebaut (Abb. 5). Ein anderes mögliches Konzept für den Umgang mit wechselnden Wasserständen illustriert das IBA-Dock, die auf der Elbe schwimmende Zentrale der IBA (vgl. Titelbild). Das drei­ stöckige Gebäude mit Büro- und Ausstellungsräumen wurde auf einem 50 × 26 m grossen Stahlbetonponton ­errichtet und hebt und senkt sich jeweils mit der Tide um rund 3.5 m. Nach dem Ende der IBA kann das Dock an einen neuen Ort transportiert werden. Damit auch niedrige Brücken passierbar werden, lassen sich die Aufbauten in Modulbauweise abbauen.

05 Die Klimahäuser Haulander Weg werden auf Stelzen in einer Retentionsfläche zu stehen kommen, die bei Flut vom parallel ansteigenden Grundwasser geflutet wird Architektur: Spengler Wiescholek Architekten Stadtplaner, Hamburg (Visualisierung: Projektverfasser)

Anmerkungen  1 UN-HABITAT: Cities and Climate Change. Global Report on Human Settlements, 2011 2 Internationale Bauausstellung IBA Hamburg GmbH (Hrsg.): Energieatlas – Zukunftskonzept Erneuerbares Wilhelmsburg. Jovis Verlag, Berlin, 2010 3 Der Neubaustandard nach der Energieeinsparverordnung von 2007 wird um 50 % unterschritten

Über das Ende der IBA hinaus Die Projekte, welche die IBA innerhalb des Themenbereichs «Stadt im Klimawandel» angestossen hat, sind vor allem durch ihre Vielzahl, die kreative Nutzung schwieriger Orte und Vorreiterprojekte wie das Geothermiekraftwerk beeindruckend. Sie zeichnen sich auch ­dadurch aus, dass neben den Klimazielen immer auch die Erhöhung der Lebensqualität im Quartier mitgedacht wurde. Neben den städtebaulichen Projekten werden daher auch sie dafür sorgen, dass sich das Image von Wilhelmsburg wandelt. Es bleibt zu hoffen, dass mit dem Abschluss der IBA Ende 2013 dieser Elan nicht versandet, aufgegleiste Projekte wie das Geothermiekraftwerk tatsächlich realisiert und neue initiiert werden, auch in von der IBA nur am Rande bearbeiteten Bereichen wie dem Verkehr. Denn mit den im Rahmen der IBA bis 2013 realisierten Projekten werden in Wilhelmsburg nur 14 % des Wärmebedarfs und 54 % des Stromes selbst und erneuerbar erzeugt werden. Bis zur Erreichung der Ziele aus dem Exzellenzszenario – vollständig erneuerbare Deckung des Strombedarfs bis 2025, 85 % erneuerbare Deckung des Wärmebedarfs bis 2050 – ist es also noch ein weiter Weg. Claudia Carle, carle@tec21.ch


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