global #71 | Herbst 2018

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#71 Herbst 2018

WELTWEITE ZIVILGESELLSCHAFT

Unterwegs in eine bessere Welt

Das Magazin von

Swissaid Fastenopfer Brot für alle Helvetas Caritas Heks


Ja zu den Menschenrechten – Nein zur Selbstbestimmungsinitiative! Nachhaltige Entwicklung findet dort statt, wo sich benachteiligte Bevölkerungsgruppen organisieren und für ihre Rechte stark machen. Doch zivilgesellschaftliche Organisationen, die gerechte soziale Verhältnisse einfordern, leiden weltweit zunehmend unter massiv ausgebauter staatlicher Repression. Dieses beunruhigende Thema ist ein Schwerpunkt dieser global-Ausgabe. Für viele engagierte Menschen gehören Einschüchterungsversuche, sinnlose administrative Auflagen, Reise­ sperren, Verhaftungen und andere staatliche Übergriffe zum Alltag. Auch die lokalen ­Partnerorganisationen der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit, die für die Rechte von Mädchen und Frauen, die Rechte indigener Völker, den Umweltschutz oder gegen die Korruption einstehen, sind von der aktuellen repressiven Tendenz betroffen. Der Jahresbericht des zuständigen UNO-Sonderberichterstatters zeigt, dass sich die ­staatliche Repression gegen progressive Or­ ganisationen der Zivilgesellschaft immer öfter auf neu erlassene Gesetze abstützt, die im Namen diffus definierter Sicherheit, des Kampfs gegen den Terrorismus oder der nationalen Wirtschaftsförderung die Ver­ sammlungs-, Organisations- und Redefreiheit einschränken. Damit stehen diese Gesetze oft in krassem Widerspruch zu den international anerkannten Menschenrechten. Das ­kümmert die betreffenden Regierungen aber nur wenig. Sie argumentieren, nationale Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen hätten selbstverständlich den Vorrang vor internationalen Abmachungen und dem Völkerrecht.

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Die SVP bemüht dieselbe Argumentation, wenn sie gegen «fremde Richter» polemisiert und für ihre sogenannte Selbstbestimmungs­ initiative wirbt. Die Initiative kommt am 25. November zur Abstimmung. Sie will er­ reichen, dass in Zukunft in der Schweiz ­nationales Recht im Widerspruch zu den Menschenrechten stehen darf. Bei einer Annahme der Initiative müsste die Schweiz über kurz oder lang aus der Europäischen Menschenrechtskonvention aussteigen. Sie würde damit zur idealen Ausrede für die autoritären und korrupten Regierungen all jener Entwicklungsund Schwellenländer, in denen bereits heute im Namen nationaler Interessen die Menschenrechte mit Füssen getreten werden. Unser Land verlöre seine Glaubwürdigkeit in der Staatengemeinschaft und könnte sich in internationalen Gremien und der Entwicklungs­ zusammenarbeit nicht mehr ernsthaft für den Schutz der Menschenrechte einsetzen. Darum muss sich die Schweizer Zivilgesellschaft mit aller Kraft gegen die Selbstbestimmungsinitiative der SVP einsetzen! Denn ein überwältigendes Nein zur Initiative wäre nichts anderes als ein klares Ja der Schweiz zu den Menschenrechten.

Mark Herkenrath Geschäftsleiter Alliance Sud

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Foto: Daniel Rihs

AUFTAKT


INHALT

IMPRESSUM global – Politik für eine gerechte Welt erscheint viermal jährlich.

RUEDI WIDMER

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INS BILD GESETZT

«Krieg und Käse» von Tommy Trenchard 6 ENTWICKLUNGSPOLITIK

Ohne Mitsprache der Menschen keine Entwicklung 8 ENTWICKLUNGSPOLITIK

Zivilgesellschaft muss den Widerstand weiter denken 12

Die nächste Ausgabe von «global» erscheint Anfang Dezember 2018. Herausgeberin: Alliance Sud Arbeitsgemeinschaft Swissaid, Fastenopfer, Brot für alle, Helvetas, Caritas, Heks Monbijoustrasse 31, Postfach, 3001 Bern T +41 31 390 93 30 F +41 31 390 93 31 global@alliancesud.ch www.alliancesud.ch Social Media: facebook.com /alliancesud twitter.com /AllianceSud Redaktion: Daniel Hitzig (dh), Kathrin Spichiger (ks) T +41 31 390 93 34 /30 Bildredaktion: Nicole Aeby Grafik: Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik, Zürich Druck: s+z: gutzumdruck, Brig Auflage: 2 400 Einzelpreis: Fr. 7.50, Jahresabo: Fr. 30.—, Studierende: Fr. 20.— Förderabo: mind. Fr. 50.— Tarife Inserate /Beilagen: siehe Webseite Bild Titelseite: Brasilianische Ureinwohner unterwegs in der U-Bahn von Rio de Janeiro zu einer zivilgesellschaftlichen Veranstaltung, die parallel zum UNO-Gipfel Rio+20 ( Juni 2012) stattfand. Foto: Felipe Dana / AP / Keystone

KLIMA UND UMWELT

Der Hitzesommer 2018 als Lehrstück 14 STEUERN UND FINANZEN

Steuervorlage 17: Was kommt nach dem Doping? 18 UNTERNEHMEN UND MENSCHENRECHTE

Die Schweiz, Land der Multinationalen 20 HANDEL UND INVESTITIONEN

Mercosur: «Kornkammer der Welt zu sein, ist kein Geschäftsmodell» 22 KARUSSELL

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INFODOC

Ausstellung: «Grenzen überschreiten – ­Migration und Verschiedenheit» 26

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SIE SIND ALLIANCE SUD Präsidium Bernard DuPasquier, Geschäftsleiter Brot für alle Geschäftsstelle Mark Herkenrath (Geschäftsleiter), Kathrin Spichiger (Mitglied der GL), Matthias Wüthrich Postfach, 3001 Bern T +41 31 390 93 30  F +41 31 390 93 31 mail@alliancesud.ch Regionalstelle Lausanne Isolda Agazzi (Mitglied der GL), Laurent Matile, Mireille Clavien T +41 21 612 00 95  F +41 21 612 00 99 lausanne@alliancesud.ch Regionalstelle Lugano Lavinia Sommaruga (Mitglied der GL), T +41 91 967 33 66  F +41 91 966 02 46 lugano@alliancesud.ch

POLITIK Agenda 2030 Sara Frey T +41 76 388 93 31 sara.frey@alliancesud.ch Entwicklungszusammenarbeit Eva Schmassmann T +41 31 390 93 40 eva.schmassmann@alliancesud.ch Steuer- und Finanzpolitik Dominik Gross T +41 31 390 93 35 dominik.gross@alliancesud.ch Klima und Umwelt Jürg Staudenmann T +41 31 390 93 32 juerg.staudenmann@alliancesud.ch Handel und Investitionen Isolda Agazzi, T +41 21 612 00 95 isolda.agazzi@alliancesud.ch Unternehmen und Menschenrechte Laurent Matile T +41 21 612 00 98 laurent.matile@alliancesud.ch Medien und Kommunikation Daniel Hitzig T +41 31 390 93 34 daniel.hitzig@alliancesud.ch INFODOC Bern Dagmar Aközel, Simone Decorvet, Joëlle Valterio, Emanuel Zeiter T +41 31 390 93 37 dokumentation@alliancesud.ch Lausanne Pierre Flatt (Mitglied der GL), Nicolas Bugnon, Amélie Vallotton Preisig T +41 21 612 00 86 documentation@alliancesud.ch

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AUF DEN PUNKT Blockchain und Entwicklung Viel wird zurzeit über das Potential der Blockchain-Technologie geschrieben. Eine Blockchain ist ein dezentrales Netzwerk, das kryptografisch verschlüsselte Transaktionen in chronologischer Reihenfolge abspeichert. Durch einen Algorithmus und die von den TeilnehmerInnen des Netzwerkes zur Verfügung gestellte Rechenleistung wird die Richtigkeit jeder Transaktion sichergestellt, womit eine zentrale Kontrollinstanz überflüssig wird. Die bekannteste Anwendung der Blockchain-Technologie sind Kryptowährungen wie Bitcoin. Weil durch die Blockchain Transaktionen sicherer und schneller vom Sender zum Empfänger gelangen als in zentral verwalteten Systemen, werden die damit verbundenen Möglichkeiten, Chancen und Risiken auch in Entwicklungskreisen diskutiert.

Unter dem Titel «Blockchain in the Swiss Aid Sector» gibt eine wissenschaftliche Arbeit einen Überblick über Herausforderungen, Chancen und Zukunftsperspektiven der Technologie. Verfasst wurde sie von Isabelle Aebersold im Rahmen des ETH-Nachdiplomstudiums in Entwicklung und Zusammenarbeit (NADEL). Ziel der Studie ist es, einen Überblick zu geben, wie der Schweizer Entwicklungssektor (Private und Bund) das Thema Blockchain diskutiert: Wie gross wird das Veränderungspotential innerhalb des Entwick­ lungs- und humanitären Sektors eingeschätzt und gibt es bereits Pionieranwendungen? Die Studie zeigt, dass hierzulande noch einige Unsicherheit herrscht. Zwar besteht grosses Interesse gegenüber der neuen Technologie, besonders im Bereich der sicheren, schnellen und transparenten Geldüberweisungen. Dennoch befinden sich die meisten Schweizer Entwicklungsakteure noch in einer abwarten-

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den Haltung. Anscheinend ist die operative Reife der Technologie noch nicht genügend fortgeschritten und es fehlt an anwenderfreundlichen Lösun­ gen, welche auf deren Bedürfnisse zugeschnitten sind. So bleibt die Frage im Raum, ob der Schweizer Entwicklungssektor durch diese abwartende Haltung den digitalen Anschluss versäumt. Ebenso diskutabel erscheint auch, ob durch die Blockchain-Techno­ logie die Entwicklungszusammenarbeit tatsächlich revolutioniert würde. Und wenn ja, in welcher Weise?  DH

«Armut auf Rezept» Die neue Oxfam-Studie «Prescription for Poverty» deckt auf, wie US-amerikanische Pharmakonzerne Gewinne in Steueroasen verschieben und sich so um ihren fairen Beitrag zum Gemeinwohl drücken. Allein bei den vier Konzernen Pfizer, Merck, Johnson & Johnson und Abbott beläuft sich der Schaden für Staatshaushalte in Industrie- und Entwicklungsländern in den Jahren 2013 bis 2015 auf jährlich rund vier Milliarden US-Dollar. Oxfam fordert weitreichende Transparenzpflichten und die Schliessung von Steuerschlupflöchern.

Für den Bericht wurden die Umsätze, Gewinne und Renditen der vier Pharmakonzerne in 20 ausgewählten Ländern verglichen und ins Verhältnis zur globalen Durchschnittsrendite gesetzt. Dabei stellte sich heraus, dass die untersuchten Konzerne in Ländern mit durchschnittlichem Steuersatz lediglich Renditen von um die sechs Prozent angegeben haben, in Steueroasen wie Belgien, Irland, den Niederlanden oder Singapur die Renditen allerdings bei durchschnittlich 31 Prozent gelegen haben sollen. Abbott weist in Irland sogar eine Rendite von über 75 Prozent aus, will in Indien aber 36 Prozent Verlust gemacht haben.

Die Steueroase Schweiz wird im Bericht nur gestreift. In einer Fussnote heisst es: «Oxfam konnte in abgeschotteten Steueroasen (z.B. Bermudas, Cayman Islands und der Schweiz) keine Steuerdaten erhalten und untersuchte stattdessen Daten aus den Ländern, die Steueroasen sind, aber über einige tatsächliche Produktionsoder Forschungseinrichtungen verfügen. Diese Länder scheinen von den Unternehmen als Drehpunkt (Pivot) genutzt zu werden, um die Gewinne zu verteilen, bevor sie erneut den geheimniskrämerischen Juris­ diktionen zugewiesen werden.» DH

Erster Entwurf zum UN Treaty Ende Juli ist in Genf der erste Entwurf für einen rechtsverbindlichen UNO-Vertrag über Wirtschaft und Menschenrechte veröffentlicht worden. Die Ausarbeitung eines solchen UN-Treatys war 2014 vom UNO-Menschenrechtsrat beschlossen worden. Jetzt hat die Offene Zwischenstaatliche Arbeitsgruppe (OEIGWG) dem Hochkommissar für Menschenrechte einen ersten Entwurf eines Vertragstextes vorgelegt. Der Text wird als Grundlage für die Verhandlungen an der vierten Sitzung der OEIGWG im Oktober 2018 dienen. Der Entwurf konzentriert sich stark auf die Schlüsselfrage des Zugangs zur Justiz und zum Rechtsbehelf für diejenigen, die einen Schaden durch ein Unternehmen geltend machen. Die Einschätzungen über die Wünschbarkeit und Zweckdienlichkeit dieses UNO-Vertrags gehen in der internationalen Staatengemeinschaft weit auseinander (siehe global Nr. 64/ Winter 2016). Es ist anzunehmen, dass der vorliegende erste Entwurf zu einer Änderung im Ton und Inhalt der bisherigen Beratungen beitragen wird. DH

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RUEDI WIDMER

HAUSMITTEILUNG In eigener Sache Jetzt darf es raus: Die Sommerausgabe von global, die erste im neuen Gewand, war eigentlich eine Nullnummer. Nein, nicht inhaltlich, als Nullnummer bezeichnet der Jargon eine Testausgabe, bei der eine neue Aufmachung, neue Inhalte, ein neues Papier ausprobiert werden. Bodara, unsere neuen Gestalter, sowie unsere langjährigen Drucker, s+z in Brig-Glis, haben ganze Arbeit geleistet: Der neue Auftritt von global hat uns auf Anhieb viel Lob einge­ tragen. Danke allen, die uns geschrieben haben, danke allen langjährigen LeserInnen für ihre Treue; und die mehreren Dutzend Neu-AbonnentInnen heissen wir herzlich willkommen! A propos neues Lesepublikum: Wir werden in den kommenden Monaten gezielt Werbung machen, um global breiter bekannt zu machen. Sicher kennen Sie in Ihrer Verwandtschaft oder Bekanntschaft Leute – namentlich auch jüngere –, die sich für Fragen der globalen Gerechtigkeit und für Nord/Süd-Politik interessieren. Danke,

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dass Sie diese auf global aufmerksam machen – natürlich kann man global auch als Geschenk abonnieren; für CHF 20 (Studierende) bzw. CHF 30 pro Jahr – online oder per Mail an global@alliancesud.ch.

Ach ja, eine Einschränkung zum Lob fürs neue global ist zu vermelden: Mehrere LeserInnen schrieben, wie wir dazu kämen, unser Magazin neu in einer Plasticfolie zu verschicken? Das sei mit den von uns vertretenen Inhalten nicht zu vereinbaren. Wir haben die Kritik ernst genommen: Die neue Versandfolie ist nicht mehr aus Plastic, sondern aus reziklierten Kartoffelschalen. Wir haben alles gegeben und diese unter ökologischen Gesichtspunkten bessere Ver­ packungsvariante im Ausland gefunden. Und unsere Druckerei hat gleich eine Rolle Kartoffelfolie von 3 500 Metern Länge eingekauft. Kreislaufwirtschaft geniesst zwar unsere uneingeschränkte Sympathie, vom Verzehr der Folie raten wir jedoch ab. DH

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INS BILD GESETZT

Der vielfach ausgezeichnete britische Fotograf und Journalist Tommy Trenchard arbeitet vor allem in Afrika und im Mittleren Osten. Seine Auftraggeber sind renommierte Medien, NGOs und Private. Trenchard lebt in Kapstadt (Südafrika). Für die Arbeit «Krieg und Käse» ist Trenchard in die Provinz Nord-Kivu in der Demokratischen Republik Kongo gereist. In den sanften Hügeln von Masisi, wo diese Reportage entstand, ist auch der Anblick von Schweizer Braunvieh oder schwarz-weissen Friesländer Kühen durchaus vertraut. Milchwirtschaft wurde hier in den 1950er Jahren von belgischen Missionaren ein­ geführt, welche die lokale Bevölkerung mit der Käseherstellung vertraut machten. Nach dem Genozid im nahen Ruanda brach 1994 Chaos aus, es wurde geplündert, das Vieh getötet. In den frühen 2000er Jahren wurde die Käseproduktion wieder aufgenommen, aber die Korruption, die schlechte Verkehrsinfrastruktur und die Bedrohung durch gewaltsame Konflikte in der Region bleiben grosse Herausforderungen. Doch auch der Optimismus ist gross: «Eines Tages wird kongolesischer Käse auf der ganzen Welt verzehrt werden», sagt ein lokaler Geistlicher.

Produziert wird in Lushebere eine lokale Käsesorte, die nach dem niederländischen Original Masisi Gouda genannt wird. Alle Fotos: Tommy Trenchard/Panos

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ENTWICKLUNGSPOLITIK

In funktionierenden Gesellschaften übernimmt die Zivilgesellschaft die Rolle eines kritischen Gegenübers der Regierung. Weltweit gibt es den Trend, die Räume für Mitbeteiligung und kritische Auseinandersetzung von NGOs zu beschränken oder gar ganz zu schliessen. Eva Schmassmann

Mitsprache ist Voraussetzung für Entwicklung

Der CIVICUS-Monitor misst den Grad der Freiheit der Zivilgesellschaft. geschlossen

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unterdrückt

behindert

eingeschränkt

offen

Erfassung ausstehend

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Wir lesen und hören es fast täglich: Autokraten wie Putin, Orbán oder Erdoğan gehen gewaltsam gegen Proteste vor, lassen kritische Blogger und Journalistinnen verhaften, bedrohen sie mit dem Tod. Gewalt gegen diejenigen, die sich für ihre Rechte einsetzen, ist in vielen Ländern an der Tagesordnung. Dabei wird der Kampf für die eigenen Rechte und die Rechte benachteiligter Menschen immer gefährlicher. Letztes Jahr wurden in 27 Ländern 312 MenschenrechtsaktivistInnen umgebracht. Im gleichen Zeitraum verloren 207 UmweltschützerInnen ihr Leben. Ein Allzeithoch. Auch andere zivilgesellschaftliche Organisationen stehen verstärkt unter Druck. Betroffen sind in erster Linie Organisationen, die sich politisch engagieren, sich kritisch gegenüber der Regierung äussern, mehr Rechenschaft und Transpa-

renz fordern. So wurden etwa in Kenia 2014-2015 rund 1500 NGOs von der Regierung geschlossen. Mitsprache, Transparenz sowie Rechenschaftspflicht der Politik gegenüber der Gesellschaft gehören jedoch zu den Grundlagen nachhaltiger Entwicklung. Denn politische Offenheit und Entwicklung gehen Hand in Hand. So sind Länder, deren Zivilgesellschaft von einem offenen, förderlichen und befähigenden Umfeld profitiert, im Uno-Index der menschlichen Entwicklung (Human Development Index HDI) höher gelistet als autoritäre Länder, deren Zivilgesellschaft in einem eingeengten, beschränkten oder gar völlig geschlossenen Umfeld agieren muss. Wenn NGOs die Arbeit der Regierung machen Von den Restriktionen sind darum auch jene Organisationen betroffen, die Dienstleistungen erbringen und sich für Entwicklung einsetzen, beispielsweise in den Bereichen Bildung oder Gesundheit. Oft füllen sie Lücken, welche Regierungen in Entwicklungsländern nicht füllen, sei es in abgeschiedenen Regionen, aufgrund mangelnder Ressourcen oder wegen schlechter Regierungsführung. Für die Begünstigten ist die Arbeit dieser Organisationen oft überlebenswichtig, weil sie hilft, Grundbedürfnisse zu decken. Um nachhaltige Resultate erzielen zu können, müssen diese Dienstleistungen jedoch begleitet sein von einer politischen Ermächtigung der Begünstigten: Diese müssen in die Lage versetzt werden, ihre Rechte gegenüber der Regierung geltend machen zu können und sich selber für eine Verbesserung ihrer Situation und der Entwicklung in ihrer Region einzusetzen. Um tatsächlich eine nachhal-

Die Alliance Sud-Position Die Entwicklungszusammenarbeit der Schweiz muss sich dem Trend, den Raum der Zivilgesellschaft zu beschneiden, in ihren Partnerländern entgegen stellen. Der Schutz der Zivilgesellschaft ist eine Kernaufgabe der Entwicklungszusammenarbeit. Denn nur wenn eine offene Debatte, eine inklusive, demokratische Willensbildung möglich ist, können Rechte erkämpft und durchgesetzt, Eliten zur Rechenschaft gezogen sowie Missstände überwunden werden; und damit eine nachhaltige Entwicklung für alle realisiert werden. Auch in der Schweiz musste vieles, was uns heute selbstverständlich erscheint, erst erkämpft werden. Sei es das Frauenstimmrecht oder die Rechte für Menschen mit Behinderungen.

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RUBRIK

Studienprogramm NADEL Entwicklung und Zusammenarbeit Frühjahrssemester 2019

Planung und Monitoring von Projekten

25.02. - 01.03.

M4P - Making Markets Work for the Poor

04.03. - 08.03.

Urbanization: Opportunity or Challenge for Fighting Poverty?

27.03. - 29.03.

Towards Food and Nutrition Security

01.04. - 05.04.

Finanzmanagement von Projekten

09.04. - 12.04.

Aktuelle Entwicklungsdebatte - Die Frage der Politikkohärenz

08.05. - 10.05.

Corporate Responsibility and Development

13.05. - 17.05.

Evaluation von Projekten

20.05. - 24.05.

Auskunft über Zulassung und Anmeldung: www.nadel.ethz.ch 10

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tige Entwicklung zu fördern, muss die Entwicklungsarbeit darum begleitet werden von einer politischen Arbeit dieser Organisationen. Da auch autoritäre Regierungen den Dienstleistungsaspekt von Entwicklungsarbeit – ob auf lokaler, nationaler oder internationaler Ebene – durchaus anerkennen, lassen sie (zumindest vordergründig) unpolitische Nichtregierungsorganisationen oft gewähren. Denn die Finanzierung und Bereitstellung elementarer Grundversorgung durch andere kommt ihnen durchaus zupass. In der internationalen Zusammenarbeit liegt darum die Herausforderung in der Förderung und Unterstützung zivilgesellschaftlicher Akteure, ohne dem Prinzip «Teile und herrsche» der Regierungen Vorschub zu leisten. Es geht darum, die Begünstigten in ihrer politischen Rolle zu stärken, so dass sie den notwendigen Wandel in der Gesellschaft voran bringen können. Gute Lösungen schliessen alle mit ein Die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen ist in der Entwicklungszusammenarbeit seit langem anerkannt. In der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung werden sie explizit als wichtige Partner für die erfolgreiche Umsetzung genannt. In einer funktionierenden Gesellschaft ist es wichtig, dass in einem inklusiven Prozess gemeinsam über Entwicklungsperspektiven verhandelt wird. In einem geschlossenen Prozess innerhalb elitärer Kreise werden hingegen Lösungen favorisiert, von denen wenige profitieren. Je mehr Menschen einbezogen werden, desto inklusiver werden auch die Lösungen. Dies lässt sich besonders gut in ressourcenreichen Ländern erkennen. Je mehr Menschen über Verteilung und Nutzung der natürlichen

Gemeinsamer Lernprozess mit der DEZA In der Schweiz spannen private und öffentliche ­Entwicklungsakteure seit mehreren Jahren zu­sammen, um dem Trend zu shrinking space in Entwicklungsländern gemeinsam entgegen­zutreten. 2016 wurde ein erster gemeinsamer Anlass organisiert. Am 14. September fand in Bern ein weiterer Anlass statt. Anhand von gemeinsam erarbeiteten Fallstudien in Myanmar, Tanzania und Kambodscha wurden konkrete Optionen diskutiert, wie staatliche und private Akteure den Handlungsspielraum ihrer lokalen Partner stärken können.

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Ressourcen entscheiden, desto mehr Menschen profitieren davon. Der erdölreiche Tschad illustriert diesen Zusammenhang gut: Seit Beginn der Ölförderung 2003 sind rund 13 Milliarden US-Dollar in die Staatskasse geflossen. Im Entwicklungsindex der Uno ist das Land jedoch weiter zurückgefallen und belegt aktuell den drittletzten Platz. Vom Gewinn aus dem Erdölexport profitiert eine kleine Elite rund um den Staatspräsidenten Idriss Déby Itno, der sich seit 27 Jahren an der Macht hält. Gemäss CIVICUS, dem globalen Netzwerk für Bürger­ partizipation, ist die Zivilgesellschaft im Tschad unterdrückt. Leave no one behind, der Leitgedanke der Agenda 2030, ist zentral zur Durchsetzung einer nachhaltigen Entwicklung für alle: Niemand darf zurückgelassen werden, alle müssen beteiligt sein. Dieses Motto setzt voraus, dass insbesondere die Schwächsten einbezogen werden. Sie müssen sich selber für ihre Rechte einsetzen können und über Lösungen mitdiskutieren (gemäss dem Grundsatz nothing about us without us – nichts über uns ohne uns). Per Definition ist eine kritische Zivilgesellschaft, die sich für eine nachhaltige und inklusive Entwicklung einsetzt, das Gegenüber der staatlichen Autorität und braucht darum Raum, Anerkennung, Zugang zu Finanzierung und Vertrauen, um diese Rolle konstruktiv spielen zu können. Nicht wegdiskutieren lässt sich das Dilemma, dass sich NGOs zwar ausserhalb staatlicher Strukturen engagieren, gleichzeitig jedoch darauf angewiesen sind, dass diese ihren Raum schützen. Der aktuelle Trend Richtung shrinking space schränkt genau diesen Raum ein. Das erfolgt auf verschiedene Arten: —— Die Regierung stellt übertriebene Anforderungen bezüglich Registrierung und offizieller Anerkennung einer Organisation oder bezüglich Berichterstattung über deren Arbeit. —— Der Zugang zu Finanzierung wird erschwert oder gar verunmöglicht. Sei dies durch Massnahmen im Namen des Antiterrorkampfes oder durch die Stigmatisierung als «ausländische Agentin». —— Gewalt, Androhung von Gewalt oder Zulassen von Gewalt durch Dritte. All dies führt zu einem Klima der Angst und Unsicherheit, das oft zu Selbstzensur führt, so dass sich zivilgesellschaftliche Akteure nicht mehr trauen, eigentlich Selbstverständliches einzufordern oder anzuprangern.

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ENTWICKLUNGSPOLITIK

Nicht nur in autoritär regierten Ländern sind Menschenrechts- und DemokratieaktivistInnen im Visier der Mächtigen. Zeit, um neue Visionen und Strategien zu entwickeln, schreibt Dhananjayan Sriskandarajah.

Den Widerstand weiterdenken

Demonstration in der georgischen Hauptstadt Tiflis gegen das Abhören von Telefonen (März 2016). Foto: CIVICUS

Noch vor wenigen Jahren konnten wir uns am Beginn einer neuen Ära wähnen, in der Menschen, Bürgerinnen und Bürger ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. In der arabischen Welt gab es Volksaufstände, im Westen die Occupy-Bewegung und überall die neuen Möglichkeiten, digitale Kampagnen zu führen; es war eine inspirierende und optimistische Zeit. Aber für jene, die sich täglich mit den Herausforderungen beschäftigen, denen die Zivilgesellschaft ausgesetzt ist, ist die zarte Morgenröte längst durch dunkle Wolken abgelöst worden. Weltweit wird systematisch gegen jene vorgegangen, die sich neue Räume erobert haben. Um

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dieser Entwicklung zu begegnen, müssen wir uns radikal neue Ansätze überlegen, dabei sind Entschlossenheit und Einfallsreichtum gefragt. Die neusten Erkenntnisse aus dem CIVICUS Monitor, einem Instrument, das die Bedingungen für Bürgeraktionen auf der ganzen Welt erfasst, zeigen, dass in 109 Ländern die Bürgerinnen und Bürger mit Problemen konfrontiert sind, wenn sie sich engagieren. Mit zunehmender Tendenz. In den letzten zwölf Monaten sind die Angriffe auf die Grundfreiheiten dreister geworden, und dies auch in Ländern, in denen sie früher die Ausnahme waren. Einschränkungen des Rechts, sich zu organisie-

ren, die Beschneidung von Versammlungs- und Meinungs­äusserungs­freiheit beobachten wir nicht mehr bloss in fragilen Staaten und Autokratien; sie kommen auch in gefestigten Demokratien vor – es ist beunruhigend, wie allgegenwärtig sie geworden sind. Schikanen ohne Ende Die zehn wichtigsten Verletzungen der bürgerlichen Freiheiten auf der ganzen Welt sind heutzutage: Inhaftierung von AktivistInnen, Angriffe auf JournalistInnen, Zensur, Verhinderung oder Auflösung von Protesten, Anwendung übermässiger Gewalt, Belästigung oder Einschüchterung sowie bürokratische

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und legislative Hürden, welche die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen erschweren. Das Vorgehen gegen Bürgerbewegungen ist mittlerweile so verbreitet, dass es aus fast jedem Kontext in unserem Netzwerk zahlreiche Beispiele gibt. Im Iran wurden seit Anfang des Jahres Dutzende von Umweltaktivisten wegen unbegründeter Vorwürfe der Spionage festgenommen, viele davon werden in Einzelhaft und ohne Zugang zu Rechtsbeistand festgehalten. Seit den Protesten von Ende 2017 befinden sich über 150 Schülerinnen und Schüler in Haft, deren Familien von den Behörden unter Druck gesetzt werden, sie und ihre Handlungen öffentlich zu verurteilen. Wer in Guatemala die Menschenrechte verteidigt, lebt gefährlich. Seit Januar wurden 18 Aktivisten getötet und mindestens 135 angegriffen, viele davon bei Protesten gegen die Vertreibung von Grund und Boden, den ihre Gemeinschaften seit Menschengedenken bebaut haben. China als globaler Schrittmacher In China, einem Land, das im globalen Süden häufig als Modell für politische Stabilität und wirtschaftlichen Erfolg gesehen wird, wird das zivilgesellschaftliche Engagement besonders stark ­eingeschränkt. Eine Reihe restriktiver neuer Gesetze zur nationalen Sicherheit und Terrorismusbekämpfung hat zu immer mehr Inhaftierungen von «Dissidenten» geführt. Das neue nationale Geheimdienstgesetz gewährt den Behörden weitreichende Befugnisse zur Überwachung von Personen und Institutionen im In- und Ausland, während das Gesetz über die Aktivitäten ausländischer NGOs es der Polizei ermöglicht, deren Finanzierungsquellen, Personal und Aktivitäten zu kontrollieren. Die unerbittliche Verfolgung von Kritikern hat zu Massenverhaftungen von Anwälten und Aktivistinnen geführt, Websites, die zum friedlichen Dialog aufriefen, wurden geschlossen, regelmässig verhindern Sicherheitskräfte legitime friedliche Proteste.

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Dass so viele andere Länder dem chinesischen Modell nacheifern, wird zum Problem. Denn der Erfolg Chinas beruht auf der Verletzung grundlegendster Rechte der chinesischen Bevölkerung. Heute stellt diese Tatsache eine echte Bedrohung für die Bürgerrechte auch in anderen Teilen des globalen Südens dar. Und trotz alledem bleibt die Geschichte der Zivilgesellschaft nicht eine der Entmachtung, sondern eine des entschlossenen Widerstands. Allein im letzten Jahr haben wir gesehen, wie sich die Menschen in einem Land nach dem anderen auf neue und kreative Weise engagiert haben, um die bürgerlichen Freiheiten zu verteidigen, für soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte und fortschrittliche Werte zu kämpfen, angemessene Dienst­leistungen zu verlangen, sich gegen Korruption, Wahlbetrug und Verfassungsfälschung auszusprechen; die Bürgerinnen und Bürger sind sich in ihrer nachhaltigen Entschlossenheit einig, dass sie einen positiven Wandel herbeiführen wollen. Dabei waren und sind wir durchaus erfolgreich, doch es braucht noch mehr als den täglichen Widerstand. Wenn wir daran gehindert werden, uns zu wehren und zu entfalten, so müssen wir darauf überzeugende, tragfähige Antworten und Alternativen haben. Die Zivilgesellschaft ist gefordert, eine positive Vision für eine andere, bessere Welt zu formulieren. Um eine solche Vision zu erarbeiten, müssen sich die Akteure der Zivilgesellschaft lokal, national und international vernetzen, Online-Aktivismus mit ­Offline-Aktionen verknüpfen, gemeinsame Anliegen finden und in progressiven Allianzen zusammenarbeiten. Und wir müssen uns weigern, den internationalen Rahmen unserer Arbeit preiszugeben. Denn wir wissen, dass die heutigen Probleme nicht mit natio­ nalistischen Konzepten gelöst werden ­können, nein, sie erfordern einen fortschrittlichen, auf die Menschen aus­ gerichteten Multilateralismus. Wir müssen die demokratischen Institutionen wieder aufbauen, dafür sorgen,

dass die Stimmen ausgegrenzter Gruppen und lokaler Gemeinschaften in Regierungen gehört werden, die heute von Partnerschaften zwischen Regierung und Privatsektor dominiert werden; wir müssen für starke, unabhängige Medien eintreten, die auf einem gemeinsamen Interesse an Transparenz und Rechenschaftspflicht beruhen; und wir werden weiterhin und unermüdlich für ein offenes Internet und eine digitale Welt kämpfen, in der unsere demokratischen Rechte geschützt und gewahrt werden. In all diesen individuellen, miteinander verbundenen Kämpfen ist es unsere Pflicht, das Gesamtbild nicht aus den Augen zu verlieren. Die grosse Herausforderung sind nicht die kurzfristig gegen uns gerichteten Angriffe, es geht um mehr: Uns verbindet die Vorstellung einer partizipativeren, substantiellen Demokratie für eine radikal veränderte Welt. Dr. Dhananjayan ­Sriskandarajah ist General­sekretär von CIVICUS, der globalen ­Allianz der Zivilgesellschaft und Mitglied des hochrangigen UNO-Gremiums für digitale Zusammenarbeit. Ende Jahr wechselt er als neuer CEO zu Oxfam UK. Foto: zVg

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KLIMA UND UMWELT

Sommer 2018. Hitze, Dürre, Millionenschäden. Klimaextreme in der nördlichen Hemisphäre. Es könnte, es müsste die Trendwende in der Wahrnehmung des Klimawandels sein. Sogar in der Schweiz. Jürg Staudenmann

Ein Sommer als Lehrstück

Ein Geschwisterpaar verfolgt vom Dach des Autos seiner Eltern das Feuer in Lake Elsinore (Kalifornien), 9. August 2018.  Foto: Patrick Record / AP / Keystone

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Der Hitzesommer 2018 hat vor Augen geführt, wie verwundbar der Planet Erde ist. Die Medien überschlagen sich mit bebilderten Meldungen zu Gluthitze, ausgetrockneten Bächen und anhaltender Dürre, die selbst die westliche Agrarindustrie in die Knie zwingt. Katastrophale Grossbrände in Griechenland, Kalifornien und – zum ersten Mal überhaupt – am schwedischen Polarkreis können quasi live mitverfolgt werden. Die mediale Aufmerksamkeit richtete sich nicht bloss auf die verschiedenen Wetter-Rekorde und Klima-Extremereignisse, sondern auch auf die Gleichzeitigkeit dieser Extreme und die Tatsache, dass sich diese in der nördlichen Hemisphäre abspielten. Für Abermillionen Menschen im globalen Süden sind durch den Klimawandel verstärkte Wetterkapriolen seit Jahren bittere Realität. Doch die Hilferufe von pazifischen Inselgemeinschaften, akut bedrohten Küstenbewohnern Asiens oder das stumme Leiden von Subsistenz-Bäuerinnen im subsaharischen Afrika dringen kaum je in unsere Stuben. Werden sie in Zukunft im Norden – dort wo Klimapolitik gemacht wird – mehr Gehör erhalten? Es ist kaum anzunehmen: Was die Schweiz angeht, so werden wir den Sommer 2018 primär wegen des angenehm mediterranen Lebensgefühls in Erinnerung behalten. Medienberichte im Aus- und Inland kommentierten und analysierten ausgiebig. Saleemul Huq schrieb im Daily Star (Dhaka, Bangladesch) vom «Tipping Point»; er meint damit nicht nur, dass sich der Klimawandel nicht mehr abwenden lässt, er weist auch darauf hin, dass die Prognosen der Klimawissenschaft von der Realität eingeholt worden sind. Den Umgang mit Hitze sieht Amy Fleming im Guardian als «das nächste grosse Ungleichheitsthema» und stellt die schutzlos der Hitze ausgesetzten Obdachlosen in Quebec, Gebärenden in Manila, urbanen Slumbewohnerinnen in Kairo und 80‘000 Syrien-Flüchtlinge im jordanischen Za’atari gegenüber; und vergisst

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In Ahmedabad (Indien) soll eine Klimaanlage Kühlung bringen. Mai 2018. Foto: Amit Dave / Reuters

nicht zu erwähnen, dass die Trockenheit im syrischen Nordosten ein Auslöser für den Bürgerkrieg war. Grundsätzlicher wird Georg Diez im SPIEGEL, der unter dem Titel «Klimawandel und Kapitalismus» fordert, unser Lebensstil müsse verhandelbar sein. Das Phänomen der Erderwärmung lenke ab vom eigentlichen Thema der sozialen Ungleichheit, die zusammen mit der ökologischen ins Zentrum rücken müsse. Im «postkolonialen Treibhaus» erkennt Charlotte Wiedemann in der taz auch Anzeichen dafür, dass die «vor allem weiße Täterschaft» die Erderwärmung endlich auch als Gerechtigkeitsthema wahrnehme. In seinem Kommentar «Der Sommer 2018 ist ein Weckruf, der nicht ungehört verhallen darf» spricht NZZ-Wissenschaftsredaktor Christian Speicher vom «Hitzesommer, wie er bald zur Norm werden könnte». Und schreibt einen Satz, den man gerne auf NZZ-Weltformatplakaten lesen würde: «Wir sind noch viel zu wenig an die neue Realität angepasst» – der Klimawandel ist also die neue Realität und wir müssen uns daran anpassen. Beide Botschaften fanden bis jetzt im Bun-

deshaus (und im Medien-Mainstream) keine Mehrheiten. Die politische Kaste weltweit hat Markus C. Schulte von Drach im Bund im Visier, wenn er eine «Revolution der Vernunft» anmahnt. Und die Brücke von Klima- und Sozial- zur Entwicklungspolitik schlägt Bettina Dyttrich in der WOZ: Die u.a. vom Finanzplatz abhängige Schweizer Wirtschaft glaube sich wenig verwundbar. Doch statt sich auf die gemeinsame Herausforderung im «Raumschiff Erde» zu besinnen, dominierten hierzulande wie im globalen Norden generell weiterhin Egoismus und Abschottung. Fernsehen SRF berichtet über das Dilemma des Landwirtes und Chefs der Emmentaler SVP-Sektion, Nationalrat Andreas Aebi, der merkt, «dass etwas passiert», die Parteilinie verlässt und zu Protokoll gibt, den Klimawandel auf dem eigenen Hof zu spüren. Bewegt sich die Schweizer Politik? Noch in den Sommerferien meldet sich der Bauernverband zu Wort. Nach dem Kältefrühling 2017, der grosse Teile der Obsternte vernichtet hat, kommen die Bauern und Bäuerinnen ob der diesjährigen, regenfreien Rekordhitze zuneh-

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mend ins Schwitzen. Heuwiesen ­verwandeln sich in mediterrane Staublandschaften, das Winterheu muss verfüttert statt aufgestockt, vereinzelt gar Vieh notgeschlachtet werden. Der Ruf nach staatlicher Nothilfe – eine Lockerung der Zölle für Heuimporte und sofortige Subventionen – just aus jener politischen Ecke, die sich einer kohärenten Klimapolitik bis heute verweigert hat, lässt aufhorchen. Auch in der ersten Sitzung der Umweltkommission des Nationalrats nach der Sommerpause hinterlässt die Hitze Spuren. Entgegen der bundesrätlichen Vorlage ist die Besteuerung von Kerosin und Treibstoffen, ja gar die Finanzierung von Klima-Anpassungsmassnahmen plötzlich kein Tabu mehr. Beginnt die Vernunft gegenüber den Interessen der Erdöl- und Autolobby die Oberhand zu gewinnen? Deren Versuch, sprithungrigen SUVs auch im neuen CO2-Gesetz freie Fahrt in den Schweizer Markt zu verschaffen, scheitert fürs Erste. Doch die Ernüchterung folgt auf dem Fuss: Das Bundesamt für Strassen (ASTRA) gibt bekannt, dass es neue Strassennormen brauche, sprich breitere Strassen, weil ja die Autos immer grösser würden. Dass der Hitzesommer dazu beiträgt, dass die Schweizer Politik in Zukunft über den Tellerrand – sprich die Landesgrenzen – hinaus schaut, dass der Klimawandel nicht nur als Phänomen der Südhalbkugel gesehen wird, bleibt einstweilen eine vage Hoffnung. Sicher ist, dass die helvetische Erinnerung an den Sommer 2018 davon geprägt sein wird, dass man «trotz herrlichem Sommerwetter» nicht grillieren und kein 1. August-Feuerwerk zünden durfte. Es ist diese bestbekannte Mischung aus Ignoranz und Opportunismus, die schon bald wieder die politischen (und viele privaten) Agenden bestimmen wird. Oder um nochmals Bettina Dyttrich zu zitieren: «Viele europäische Linke empören sich über koloniales Unrecht und finden es gleichzeitig völlig normal, mehrmals im Jahr um die halbe Welt zu fliegen.»

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Ausgetrockenes Feld im Kanton Zürich, Juli 2018. Foto: Ennio Leanza / Keystone

Politorakel Claude Longchamp prophezeit im Gespräch mit Dennis Bühler von der Republik, dass sich der Klimawandel kaum gegen andere Themen wie das Verhältnis zur EU, die Rentenreform oder die Unternehmensbesteuerung bis zu den Parlamentswahlen wird behaupten können; es sei denn, wir erlebten 2019 «eine Wiederholung dieses Sommers». Im Interview mit der SonntagsZeitung bedauert die Psychologin Vivianne Visschers, dass der Klimawandel eben nur einer von vielen Faktoren sei, die unser Verhalten be-

stimmten. Eine Verhaltensänderung scheitere zunächst am damit verbundenen Preis – im monetären und im übertragenen Sinn. Komme dazu, dass der Mensch den unmittelbaren Nutzen seines heutigen Handelns viel stärker gewichte als dessen zukünftige Auswirkungen. Der Nord-Süd-Unterschied Zu hoffen ist, dass sich nicht nur beim Bauernverband die Einsicht durchsetzt, dass sich Geschäft und Gesellschaft an die unvermeidbaren Klimaveränderun-

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gen anpassen müssen. Eine Erkenntnis notabene, die für bäuerlich geprägte Gesellschaften im globalen Süden längst zur Priorität geworden ist. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass diese nicht auf staatliche Nothilfe, geschweige denn auf systematische Unterstützung in ihrem Kampf gegen die Klimaveränderungen setzen können. Genau darum verpflichtete das Pariser Klimaübereinkommen die westliche Welt, jährlich mindestens 100 Milliarden US-Dollar für die internationale Klimafinanzierung bereit zu stellen. Wie Alliance Sud seit Jahren betont, beträgt der gerechte Anteil der Schweiz daran rund 1 Milliarde Franken pro Jahr. Dies entspricht nicht nur unserem Anteil von 1% am Einkommen der Industriestaaten, sondern auch unserem Klimafussabdruck. Es darf nicht länger sein, dass die ausserhalb der Landesgrenzen entstehenden, fast doppelt so grossen grauen Emissionen unserer importierten Konsumgüter weiterhin ausserhalb des nationalen Verantwortungsbewusstseins des politischen Mainstreams liegen. Es ist höchst zynisch, die Finanzierung von Massnahmen gegen die katastrophalen Auswirkungen der hauptsächlich vom Westen verursachten Klimaveränderung weiterhin als «Angelegenheit der Entwicklungsländer» abzutun. Oder wie es Dietmar Mirkes im luxemburgischen Magazin «Brennpunkt Drëtt Welt» treffend ausdrückt, dass wir weiterhin Tag für Tag «Fahrerflucht begehen». Ein in der Schweiz mantramässig ins Feld geführtes Argument gegen die Aufstockung unserer völkerrechtlich geschuldeten Klimafinanzhilfe – der angebliche Widerstand des Volkes gegen jegliche Mobilisierung von zusätzlichen Finanzmitteln – ist diesen Sommer widerlegt worden. Gemäss einer Umfrage der Schweizerischen Energiestiftung (SES) finden sechzig Prozent der Bevölkerung, dass zum Beispiel die derzeitige Steuerbefreiung und Subventionierung des Flugverkehrs nicht nur abgeschafft, sondern – im Gegenteil – eine Flugticketabgabe eingeführt werden soll. Ein

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Drittel der Befragten wäre bereit, für einen innereuropäischen Flug fünfzig Franken oder mehr zu bezahlen. Und knapp die Hälfte würde mit den Einnahmen (nebst inländischen Klima- und Forschungs-Projekten) explizit Klimaschutz- und Anpassungsmassnahmen in Entwicklungsländern unterstützen wollen. Das passt zur Mitte September von Alliance Sud veröffentlichten Studie (siehe Kastentext). Sie hat verschiedene

Instrumente der Mobilisierung zusätzlicher Mittel geprüft und kommt zum Schluss, dass die angestrebte Klima­ finanzierungs-Milliarde nicht nur im Bereich des Möglichen liegt, sondern vergleichsweise geringe, verursachergerechte Zusatzkosten mit sich bringen würde. Alleine eine Flugticketabgabe in der gleichen Grössenordnung, wie sie heute in Grossbritannien bereits er­ hoben wird, könnte 1 Milliarde Franken pro Jahr generieren.

So kann die Schweizer Klimafinanz-Milliarde mobilisiert werden Eine neue, von Alliance Sud in Auftrag gegebene Studie – sie ist auf der Alliance Sud-Website zugänglich – zeigt auf, wie zusätzliche Unterstützungsbeiträge an dringend notwendige Klimaschutz- und Anpassungsmassnahmen in den ärmsten und verwundbarsten Entwicklungsländern verursachergerecht finanziert werden können. Die Studie analysiert elf innovative Ansätze und kommt zum Schluss, dass die auf der Basis des Pariser Klimaabkommens zu mobilisierende Klimafinanz-Milliarde der Schweiz politisch plausibel und tragbar ist. Mit einem Mix der vor­ geschlagenen Instrumente lassen sich die Kosten – getreu dem Verursacherprinzip – auf verschiedene CO2-Emittenten abwälzen. Womit diese Instrumente auch die erwünschte Lenkungswirkung entfalten würden. Im Kontext der aktuellen Revision des CO2-Gesetzes stellt die Studie insbesondere die Einführung einer Flugticket­ abgabe, die Zweckbindung der CO2-Abgabe sowie deren Ausweitung auf Benzin und Diesel, eine Abgabe auf ausländische Emissionszertifikate, die Erhöhung der Mineralölsteuer sowie eine Ersatzabgabe für CO2-befreite Unternehmen zur Diskussion. Gegen einige der in der Studie vorgestellten Finanzierungsinstrumente haben Politik und Verwaltung in den letzten Jahren verfassungsrechtliche Bedenken ins Feld geführt. Alliance Sud wird diesen in Kürze mit einem juristischen Gutachten begegnen.  JS

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STEUERN UND FINANZEN

Referendum zur Steuervorlage 17 hin oder her: Die progressiven Kräfte in der Steuerpolitik müssen für den Schweizer Fiskus eine nachhaltige Alternative zum Gewinnverschiebungsdoping aus dem Ausland entwickeln. Dominik Gross

Ein Nein zu Doping reicht nicht mehr

Briefkastenfirmen gehören seit achtzig Jahren zum Schweizer Geschäftsmodell.   Foto: Niklaus Stauss / Keystone

Ausgerechnet die NZZ, das Leibblatt des Unternehmensstandorts Schweiz, brachte es in ihrer Besprechung der ­Alliance Sud-Studie  1 zur Steuerreform 17 (SV17) auf den Punkt. «Im Kern geht es aus Schweizer Sicht um die Abwägung zwischen ‹Steuergerechtigkeit› und Maximierung der Steuererträge. […] Bei Steuerprivilegien gilt Ähnliches wie beim Doping im Radsport: Es gibt manche Argumente dagegen, doch die Kernargumente dafür (‹die anderen machen es auch› oder ‹ich kann mir einen Vorteil verschaffen›) sind oft unwiderstehlich.» Exemplarisch zeigt die seit 2014 laufende Debatte zur dritten Unternehmenssteuerreform seit 1998, wie tief die Schweizer Unternehmenssteuerpolitik tatsächlich im Dopingsumpf steckt. Im Unterschied zu den beiden vorherigen Reformen von 1998 und 2008 hätte die aktuelle ursprünglich nicht eine weitere Aushöhlung der lückenlosen Besteuerung von Unternehmensgewinnen und damit Milliardenge-

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schenke für multinationale Konzerne in der Schweiz bringen sollen. Vielmehr wollte die damalige Finanzministerin ­Eveline Widmer-Schlumpf auf Drängen der OECD, der EU und der G20-Staaten bestehende Schlupflöcher stopfen und unfaire Sondersteuerregime abschaffen. Das Reformprojekt unter dem Namen Unternehmenssteuerreform III (USR III) baute die rechte Mehrheit im Parlament 2016 jedoch so um, dass sie dieses Ziel dreist torpedierte und in sein Gegenteil verkehrte: Statt einer Korrektur alter Fehler aus der USR II und der USR I sollte es weitere Milliardengeschenke für Konzerne auf Kosten des Service public in der Schweiz und weltweit geben. Im Februar 2017 scheiterte dieses Projekt an der Urne folgerichtig deutlich. Eineinhalb Jahre später hat das eidgenössische Parlament die SV17 verabschiedet, die sich kaum von der an der Urne gescheiterten USR III unterscheidet, wenn es um Anreize für Gewinnverschiebungen aus Entwicklungsländern geht. Das zeigte Alliance Sud in ihrer Mitte

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September publizierten Studie anhand von zwei Steuerdumpingvehikeln, welche die aktuelle Reform überdauern werden. Ob die Stimmberechtigten die Reform bei einer erneuten Referendumsabstimmung schlucken werden, sei dahingestellt. Aus entwicklungspolitischer Sicht sind wir jetzt jedenfalls wieder ungefähr dort, wo wir vor dem Abstimmungskampf gegen die USR III schon einmal waren. Für eine echte steuerpolitische Alternative Unabhängig von der Frage, ob ein erneutes Referendum gegen die Steuervorlage 17 inhaltlich und strategisch sinnvoll ist, zeigt die Steuerdebatte der vergangenen Jahre: Wollen die VerfechterInnen von Steuergerechtigkeit und globaler wirtschaftspolitischer Verantwortung der Schweiz tatsächlich einen Schritt weiter kommen, dann müssen sie ein steuerund wirtschaftspolitisches Gegenprojekt zur «Steueroase Schweiz» entwickeln. Es muss darum gehen, diesem Land einen Ausweg aus seinem während achtzig Jahren praktizierten Geschäftsmodell weisen, das ausländischen Reichtum zum eigenen Vorteil verwaltet und auch stark davon lebt, Unternehmensgewinne in der Schweiz zu versteuern, die anderswo erwirtschaftet werden. Ein solches Gegenprojekt ist aus zwei Gründen dringend: Zuerst einmal, weil der Preis, den eine Steueroase bezahlen muss, je höher wird, desto tiefer die Besteuerung der Unternehmensgewinne sinkt. Und das tut sie im globalen Massstab mittlerweile seit vierzig Jahren. Die Schweiz ist mit ihrem jetzigen Geschäftsmodell gezwungen, andere Standorte in der Abwärtsspirale stets weiter zu unterbieten. Irgendwann ist dieser Vorsprung gegenüber Konkurrenzstandorten – auch Beggar-thy-neighbour-Politik, also Seinen-Nachbarn-zum-Bettler-machen-Politik genannt – nur noch mit massiven Kürzungen bei der öffentlichen Finanzierung der eigenen gesellschaftlichen Aufgaben tragbar. Will die Schweiz – und vor allem ihre Kantone – weiterhin an ihrer Tiefsteuerpolitik für Konzerne festhalten, so wird es über kurz oder lang weitere massive Abstriche bei der öffentlichen Finanzierung der Gesundheitsversorgung, in den Schulen und Universitäten, bei der Energie- und Verkehrsinfrastruktur und dem unkommerziellen Kulturangebot geben. Die Ungleichverteilung der Vermögen in der Schweiz wird zudem weiter zunehmen, weil die gegenwärtige Unternehmenssteuerpolitik vor allem die in- und ausländischen Aktionäre der hier ansässigen Konzerne begünstigt. Eine weltinnenpolitische Allianz der Zivilgesellschaft Die Frage der zukünftigen Unternehmenssteuerpolitik – und das ist der zweite Punkt – ist deshalb sehr wesentlich auch eine entwicklungs- und globalpolitische. Die Schweiz darf nicht länger auf ein Steuersystem setzen, das anderen Ländern Steuereinnahmen entzieht. Sie muss vielmehr einen Umbau ihrer Unternehmenssteuerpolitik in Angriff nehmen, der dazu beiträgt, dass die UNO-Nachhaltigkeitsziele

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der Agenda 2030 erreicht werden können. Die Umsetzung dieser Ziele kostet weltweit 5000 bis 7000 Milliarden US-­ Dollar pro Jahr. Mit der sofortigen und ersatzlosen Streichung der alten Sondersteuerregime und der Einführung von weiteren Massnahmen, die Gewinnverschiebungen aus dem Ausland in die Schweiz nachhaltig stoppen und gleichzeitig den innerschweizerischen Steuerwettbewerb bremsen, könnte die Schweiz einen äusserst effektiven Beitrag zu einer sozial und ökologisch nachhaltigen Entwicklung der Welt leisten. Die SV17 ist aber kein Schritt in diese Richtung, sondern – dank der Verknüpfung mit der AHV-Finanzierung – im allerbesten Fall eine mittelfristige Wohlstandsabsicherung im Inland auf Kosten der Welt. Angesichts der aktuellen globalen Entwicklungen ist das aber ein äusserst bescheidener politischer Anspruch: Wenn die Weltgemeinschaft in den nächsten fünfzehn Jahren nicht fähig wird, der drohenden Klimakatastrophe, der explodierenden globalen Vermögensungleichheit und einem neuen transnationalen Nationalismus und Rassismus politische Paradigmenwechsel entgegenzusetzen, die von den Bevölkerungen mitgetragen werden, wollen wir uns lieber nicht vorstellen, in was für einer Welt unsere Kinder 2050 werden leben müssen. Um diese globalpolitischen Herausforderungen zu bewältigen, braucht es auch öffentliche Finanzierungen, also Steuereinnahmen. Raus aus dem Doping, aber wie? Als führende globale Finanz- und Handelsdrehscheibe hat die Schweiz in dieser Beziehung gewichtige wirtschaftspolitische Hebel in der Hand. Entsprechend gross ist auch die Verantwortung der progressiven, klima- und zukunftsbewussten politischen Kräfte in der Schweiz, zumindest den Versuch zu unternehmen, dieses Land in Richtung einer weltverträglichen und auch auf globaler Ebene sozial und ökologisch nachhaltigen Finanz-, Handels- und Steuerpolitik zu bewegen. Der Umstand, dass das gegenwärtige Geschäftsmodell der Steueroase Schweiz weder aus innennoch aus aussenpolitischer Perspektive eine Zukunft hat, die der Allgemeinheit dient, zeigt die strategische Richtung einer denkbaren neuen zivilgesellschaftlichen Allianz für eine neue Schweizer Finanz- und Steuerpolitik auf: Diese Strategie muss von einer weltinnenpolitischen Perspektive ausgehen, deren Ziel eine ökologisch-demokratische Gesellschaft ist. Oberstes Ziel muss der soziale Ausgleich sein; und zwar gleichermassen auf der lokalen, regionalen, nationalen und globalen Ebene. Die Ausgangsfrage für die Arbeit an einer neuen Schweizer Unternehmenssteuerpolitik könnte deshalb lauten: Wer ist auf das Doping tatsächlich angewiesen und wie schaffen wir den Ausstieg, ohne dass der hiesige Radsport tatsächlich zum Erliegen kommt? 1 Alliance Sud (Hg.): Steuervorlage 17. Vorwärts in die Vergangenheit, Bern 2018.

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UNTERNEHMEN UND MENSCHENRECHTE

Schweizer Konzerne sind wichtige Akteure auf den Weltmärkten. Nicht zuletzt auch in Entwicklungsländern, die unter schwacher Regierungsführung leiden. Vier Grafiken von Gastautor Markus Mugglin

Kleine Schweiz ganz gross Verantwortungsvolles unternehmeri­ sches Verhalten zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht nur in der Konzernzen­ trale, sondern auch in Tochtergesell­

schaften und Niederlassungen praktiziert wird. Ein spezielles Augenmerk ver­dienen dabei die Geschäftsbeziehungen zu Dritten, ganz speziell wenn diese in

1. Hauptsitz und Schaltzentrale in der Schweiz – zu Hause vor allem rund um den Globus: Grosse Schweizer Konzerne beschäftigen sehr viel mehr Personen im Ausland als in der Schweiz. Nestlé

2. Die Globalisierung der Schweizer Wirtschaft schreitet ungebremst voran. Konzerne schaffen mehr Arbeitsplätze im Ausland als in der Schweiz. 2016

96,9%

Glencore

537 520

99,5%

ABB

2 044 079

+ 8,6%

99,3%

Novartis

Bereichen tätig sind, die mit besonderen (Menschenrechts-) Risiken verbunden sind.In diesem Punkt ist die Schweiz zu globaler Verantwortlichkeit aufgerufen.

+ 51,6%

2004 1 353 114

495 774

89,7%

SGS

99,6%

Roche

85,1%

LafargeHolcim

98,5%

Kühne Nagel International

99,5%

UBS

2,5

2

1,5

1

Beschäftigte Schweiz

0,5

0

0,5

1

1,5

2

2,5

Beschäftigte Ausland

Anteile am gesamten Personalbestand im Ausland nach Region 2004

2016

9,8%

3,3%

3,5%

8,6%

66,0%

Schindler

15,7%

92,0%

Credit Suisse

24,4%

55,2 %

63,7% 71,0%

100

80

60

40

Beschäftigte Schweiz

20

0

20

40

60

80

100

Beschäftigte Ausland

Die meisten grossen multinationalen Konzerne beschäftigen vergleichsweise nur wenige Personen in der Schweiz. Bei den elf Konzernen mit den höchsten Beschäftigungszahlen macht deren Anteil meistens weniger als 5% aus. Etwas höher ist er bei den Pharmamultis Novartis und Roche sowie insbesondere den beiden Grossbanken UBS und CS. «Als Standort einiger der wichtigsten multinationalen Unternehmen und Sportverbände der Welt sieht es die Schweiz als ihre Pflicht an, sich besonders für die Achtung der Menschenrechte durch die Privatwirtschaft einzusetzen.» (Botschaft des Bundesrates zur Volksinitiative «Für

«Norden»: «Süden»:

Nordamerika/Europa/Japan/Australien Asien (ohne Japan) Afrika Lateinamerika

Schweizer Konzerne wachsen beschäftigungsmässig stärker im Ausland als in der Schweiz. Seit 2004 haben sie im Inland 41’746 neue Arbeitsplätze geschaffen, im Ausland hat die Zahl ihrer Beschäftigten 16½ mal so stark zugenommen, nämlich um 690’965 Stellen. Bemerkenswert: Am meisten neue Arbeitsplätze gab es in Asien (ohne Japan), dort fiel die Expansion am grössten in China und Indien aus. In diesen beiden Schwellenländern befinden sich mit fast 186‘000 neuen Stellen über ein Viertel der insgesamt im Ausland neu geschaffenen Jobs. Das sind dreimal mehr als die neuen Stellen in Lateinamerika und Afrika zusammen.

verantwortungsvolle Unternehmen – zum Schutz von Mensch und Umwelt», Seite 17)

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3. Schweizer Rohstoffunternehmen pflegen enge Geschäftsbeziehungen mit erdölexportierenden afrikanischen Staaten mit schwachen Regierungen und hoher Kapitalflucht. Es sind Länder, deren Ölreichtum die Bevölkerung arm macht.

4. Die Schweiz ist weltweit führend im Handel mit Gold, ein Rohstoff, der für Schmuggel und kriminelle Aktivitäten besonders anfällig ist. Sie ist für afrikanische Gold-Länder oft der wichtigste bis drittwichtigste Absatzmarkt.

Anteil Erdöl an Staatseinnahmen

Anteil der Goldverkäufe in die Schweiz am Export des Landes

(1)

Äquatorialguinea

28%

Gabun

19%

Südsudan

18%

Tschad

Burkina Faso

85

22%

Nigeria

(2)

11%

65

17

Ghana

55

1

Mauretanien

76

Mali

72

Tansania

64,0% 25,3% 16,3% 12,2% 9,5%

Kamerun

7%

30

7

Republik Kongo (Brazzaville)

7%

58

6

70

5

0

12

(1) Exportmarkt Schweiz Rang (2) Governance-Rang unter 89 Ländern

Angola

3%

Ghana

2%

0

5

13

10

15

20

25

30

(1) Governance-Rang von 89 Ländern (2) Kapitalflucht-Rang unter 30 Ländern Afrikas

Die Schweizer Rohstoffhändler sind gross im Geschäft mit den staatlichen Erdölunternehmen afrikanischer Länder mit schwacher Regierungsführung (Governance) und hoher Kapitalflucht. Sie sind in mehreren Ländern die wichtigsten Abnehmer von Rohöl. Ihre Zahlungen machen beträchtliche Anteile der Einnahmen der meist despotisch regierten Länder aus. Da sie ihre Geschäftsbeziehungen nur sehr selektiv offenlegen, begünstigen sie die Korruption. Die Eliten schaffen grosse Reichtümer ausser Landes statt sie in die Entwicklung des Landes zu investieren.

Elfenbeinküste

4,9%

10

20

30

40

50

60

(1)

(2)

1

20

1

24

2

35

3

49

3

82

6

28

70

Gold ist attraktiv für kriminelle Akteure, schreibt die OECD in der Studie «The Economy of Illicit Trade in West Africa». Die Schweiz gehört zu den wichtigsten Kunden von Gold aus westafrikanischen Ländern. Für Burkina Faso und Ghana ist sie der wichtigste Exportmarkt überhaupt, für Mauretanien der zweitwichtigste und für Mali der drittwichtigste. Auch für das ostafrikanische GoldLand Tansania ist sie der drittwichtigste Absatzmarkt. Die OECD warnt: Auch wenn die Schweiz ihre Sorgfaltsstandards verbessert hat, könnten kriminelle Akteure weiterhin versuchen, über die Schweiz Gold in legale Kanäle zu schmuggeln. Als weltweit grösster Standort für die Raffinierung von Gold stellen sich besondere Sorgfalts- und Rechenschaftspflichten bezüglich der Herkunft des Goldes.

Quellen Grafik 1 Handelszeitung 21.06.2018 und 12.07.2018 / Geschäftsberichte 2017 Grafik 2 SNB Grafik 3 Fallstudie «Big Spenders», 2014 (1) Natural Resource Governance Institute. Der von diesem Institut erstellte Index misst die Qualität, mit der 81 ressourcen reiche Länder ihre Bodenschätze bewirtschaften. Im Index werden 81% der weltweiten Öl-, 82% der Gasvorkommen und ein bedeutender Teil der weltweiten Mineralienvorkommen erfasst. (2) Political Economy Research Institute Massachusetts Grafik 4 https://atlas.media.mit.edu/de/

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HANDEL UND INVESTITIONEN

In den Mercosur-Staaten empören sich weite Kreise über Freihandelsverhandlungen mit der EU. Befürchtet wird der Verlust von Industrie-Jobs zugunsten einer Wirtschaft, die vom Export von Rohstoffen lebt. Nicht anders liegt der Fall mit der EFTA. Isolda Agazzi

«Die Kornkammer der Welt zu sein, ist kein Geschäftsmodell»

Rinderzucht für den Fleischexport im Departement Treinta y Tres in Uruguay. Foto: Jörg Böthling

Die Verhandlungen um einen Freihandelsvertrag zwischen der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA (Schweiz, Island, Norwegen, Liechtenstein) und den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay sind in Lateinamerika kaum auf dem Radar der Zivilgesellschaft. Die Mehrheit der Verbände und der Gewerkschaften realisiert gar nicht, dass seit vergangenem Jahr unter Ausschluss der Öffentlichkeit auch mit der EFTA verhandelt wird. Daran hat sich auch nach dem Besuch einer von Bundesrat Johann Schneider-­Ammann angeführten Delegation wenig geändert. Ganz anders die Freihandelsverhandlungen mit der EU, die auf den erbitterten Widerstand von Gewerkschaften, NGOs, ParlamentarierInnen,

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aber auch der Arbeitgeberorganisationen stossen. 1995 lanciert, zwischen 2004 und 2010 blockiert, haben die Verhandlungen mit der Regierungsübernahme durch liberale Kräfte in der Region vor einigen Jahren wieder starken Auftrieb erhalten. Zwar werden diese Verhandlungen hinter verschlossenen Türen geführt, dank vereinzelter Leaks in der EU sowie aus den Erfahrungen mit anderen Verhandlungen wissen wir jedoch, dass die Befürchtungen der Zivilgesellschaft des Mercosur auch auf den Prozess mit der EFTA zutreffen. Unerforschte sensible Sektoren Die Coordinadora de Centrales Sindicales del Cono Sur – die Vertretung der Gewerkschaftsbewegung im Mercosur – und der Europäische Gewerk-

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schaftsbund lehnen einen Vertrag zwischen Ländern bzw. Wirtschaftsräumen auf unterschiedlichem Entwicklungsniveau ab, der keine besondere und differenzierte Behandlung der weniger entwickelten Länder vorsieht. Sie bedauern, dass es keine Studien über die Auswirkungen des Vertrags auf sensible Sektoren gibt, die es erlauben würden, Schutzmassnahmen für Jobs einzubauen, die von der Aufhebung oder Verlegung bedroht wären. Denn ein zu drastischer oder zu schneller Abbau von Zöllen droht die Industrie- und Handelspolitik der Mercosur-Staaten auf dem falschen Fuss zu erwischen. Deren Industrien sind zu wenig wettbewerbsfähig, um billigeren Importen aus der EU oder der Schweiz Stand zu halten und müssen geschützt werden. Studien zur Folgenabschätzung verlangen in der Schweiz auch Alliance Sud sowie Public Eye und sie werden darin von der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats unterstützt. Doch der Bundesrat hat dieses Ansinnen in seiner Antwort auf eine entsprechende Interpellation von National­rätin Maya Graf kategorisch zurückgewiesen; er will nur Hand bieten zu einer Studie, welche die Auswirkungen einer stärkeren Liberalisierung bestimmter Agrarprodukte auf die Umwelt überprüft. KMUs gefährdet Die argentinischen Gewerkschaftszentralen ihrerseits weisen jeden Vertrag mit der EU zurück, denn er bedeute das Ende einer nationalen Industrie. Sie betonen, ein Abkommen hätte negative Auswirkungen auf die nationale Produktion im Allgemeinen und auf einige strategische Sektoren ganz speziell; erwähnt werden die Technologie, das Transportwesen zu Wasser, die öffentlichen Werke, das Beschaffungswesen, medizinische Labors, die Automobilindustrie und regionale Wirtschaftsstrukturen. Auch bemängeln sie, dass kleine und mittlere Unternehmen (KMU) durch den Vertrag ungenügend geschützt würden. Die Schweiz schielt auf den riesigen Mercosur-­ Markt, der 275 Millionen KonsumentInnen umfasst und noch relativ abgeschottet ist. Die Zölle auf Industrieprodukte liegen im Durchschnitt bei 7 Prozent, sie können aber bis 35 Prozent betragen. Sie hofft vor allem, ihre Exporte in den Bereichen Chemie, Pharma und Maschinen erhöhen zu können. In seltener Übereinstimmung untereinander haben die Arbeitgeberverbände des Mercosur eine Erklärung verabschiedet, in der sie mit harten

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Worten transparente Verhandlungen fordern und Bedingungen stellen, die es betroffenen Sektoren erlauben, sich an neue Gegebenheiten anzupassen. Und, das Abkommen müsse dem unterschiedlichen Entwicklungsniveau der Vertragspartner Rechnung tragen. Sie verlangen eine «Klausel zur industriellen Entwicklung» sowie die Bewahrung verschiedener Instrumente, um den Arbeitsmarkt zu schützen. In einem Artikel mit dem Titel «Die Kornkammer der Welt zu sein, ist kein Geschäftsmodell» hat der Argentinier Julio René Sotelo, Mitglied des Mercosur-Parlaments, die dem Vertrag zu Grunde liegende Logik in Frage gestellt. Das Abkommen würde aus dem Mercosur zulasten der eigenen Industrie einen Exporteur von Agrarrohstoffen machen, wovon allein in Argentinien 186‘000 Jobs betroffen wären. Damit einher gingen der Verlust von nationaler Souveränität, aber auch Risiken für die regionale Integration. In einem Land mit galoppierender Inflation – in Argentinien kostete Ende 2017 ein US-Dollar noch 19 Pesos, Anfang September 2018 waren es fast 40 –, wo importierte Produkte fast täglich etwas teurer werden, ist die Abhängigkeit von Importen ein grosses Thema. Agroindustrie zulasten der Kleinbauern In einem im Februar 2018 publizierten Beitrag betonte die Alianza Biodiversidad, ein Zusammenschluss von zwölf regionalen NGOs, vom Abkommen mit der EU (und der EFTA) würden vor allem die Agrar-Rohstoffe exportierenden Eliten des Mercosur profitieren, die auf gesteigerte Rinderund Soja-Verkäufe setzten. Werde der Vertrag unterzeichnet, würden sich die Probleme, welche die Agroindustrie jetzt schon verursache, noch verschärfen: die Abholzung von Wäldern, die Vertreibung von Bauern, die Verschmutzung durch Agrochemikalien, die Zerstörung regionaler Wirtschaftsstrukturen, der Verlust von Nahrungssouveränität und sinkende Nahrungssicherheit. Kleinbäuerliche Familienbetriebe produzieren heute den Grossteil der Nahrung in der Region. Das Modell, das der Vertrag durchsetzen wolle, helfe der Nahrungsmittelindustrie, den Boden zu kontrollieren, und führe zu noch mehr Gewalt, Kriminalisierung und Verfolgung, unter der die bäuerlichen Gemeinschaften der Region heute schon litten, kritisiert die Alianza. Die Gewerkschaften des Mercosur befürchten, dass gelockerte Herkunftsregeln zu Produktionsverlagerungen in Drittländer führen, wo Arbeits-

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In Uruguay wird in grossem Stil Monsanto-Genmais als Futtermittel für den Export nach China angebaut. Foto: Jörg Böthling Rinder unterwegs zum Schlachthof des brasilianischen Mafrig-Konzerns.   Foto: Jörg Böthling

rechte weniger respektiert werden. Sie verurteilen die Liberalisierung in strategischen Bereichen, darunter die öffentlichen Dienste, und beklagen die geplante Stärkung von Patentschutzrechten, die es schwieriger und teurer machen würde, Generika auf den Markt zu bringen. Einsatz von Generika verzögert sich Wie es die bittere Erfahrung im Nachbarland ­Kolumbien gezeigt hat, ist diese Angst nicht unbegründet. Aufgrund des Freihandels- und Investitionsschutzabkommens wehrte sich vor einigen Jahren das Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) gegen die Absicht Bogotas, ein Generikum von Glivec auf den Markt zu bringen, einem Krebs-Medikament von Novartis. Die Schweiz verfügt bereits über Investitionsschutzabkommen mit Argentinien, Paraguay und Uruguay – nicht hingegen mit Brasilien, das mit keinem einzigen Staat ein solches Abkommen geschlossen hat. Die im Abkommen vorgesehene Verlängerung der Rechte an geistigem Eigentum über die heute von der Welthandelsorganisation (WTO) vorgesehenen zwanzig Jahre hinaus würde es Schweizer Unternehmen erleichtern, Klagen gegen die vier Mercosur-Länder einzureichen. Das geplante Freihandelsabkommen schliesst auch den Beitritt zur UPOV-Konvention von 1991 ein. Das Kürzel steht für International Union for the Protection of New Varieties of Plants; die Konvention erschwert den Austausch und den Ge-

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brauch von Saatgut durch die Bauern, sie hat zu einer Privatisierung des Saatguthandels geführt; und dies in Ländern, in denen der Einsatz von genveränderten Organsimen bereits heute weit verbreitet ist. Schliesslich würden europäische bzw. Schweizer Unternehmen im Mercosur Zugang erhalten zu den Ausschreibungsverfahren der öffentlichen Hand. Staatsbetriebe werden im Vertrag wie kommerzielle Unternehmen behandelt und müssen sich ausländischer Konkurrenz stellen, die Staaten verlieren damit ihre Steuerungsrolle. Der argentinische Ökonom Claudio della Croce fasst es so zusammen: Produzentenverbände, NGOs, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, soziale Bewegungen, PolitikerInnen und Angehörige des Parlaments haben es bis jetzt geschafft, die Unterzeichnung eines für den Mercosur ungünstigen Freihandelsabkommens mit der EU zu verhindern. Es wird sich zeigen, ob es eher der EFTA oder der EU gelingen wird, das zu ändern. Oder keiner von beiden.

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Fotos: zVg

KARUSSELL Den Bundesräten Pascal Couchepin, Didier Burkhalter und zuletzt Ignazio Cassis hat der frühere SDA-Journalist JeanMarc Crevoisier (Foto) als Informationschef gedient. Im Lauf des nächsten Jahres wird der Leiter von InfoEDA einen neuen Posten bei der Schweizer UN-­ Mission in New York antreten. Seinen letzten grossen Auftritt hatte Crevoisier unlängst in der SRF-Infosendung «10vor10»: Er verbot einem Radiojournalisten, seinem Dienstherrn eine kritische Frage zur Lockerung des Waffenexports in Bürgerkriegsländer zu stellen. Pech für ihn, dass der elektronische Service public der SRG SSR dies transparent machte. Crevoisiers NachfolgerIn soll laut Stellenausschreibung (noch) weniger JournalistIn und mehr ManagerIn sein. Erwartet wird, dass die neue Leitung Informationsstrategie und -konzept des Aussendepartements neu entwickeln und umsetzen wird. Von grösster strategischer Bedeutung ist die Stellenbesetzung für die DEZA, die seit 2008 nur noch via InfoEDA kommunizieren darf. Die Wahl dürfte auch einen Hinweis darauf geben, in welche Richtung sich die erratische Entwicklungspolitik von Ignazio Cassis weiter entwickelt. Stabswechsel im Zentralvorstand, dem strategischen Leitungsorgan von Helvetas. Auf Elmar Ledergerber folgt die frühere grüne Nationalrätin Therese Frösch (Foto) als Präsidentin. Frösch war bereits seit fünf Jahren Helvetas-Vizepräsidentin. «Zeitgemässe Entwicklungszusammenarbeit» heisse für sie, «konkret und messbar Menschen zu unterstützen und Politik und Wirtschaft in enger Zusammenarbeit mit lokalen Partnern so zu beeinflussen, dass die

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Ärmsten profitieren.» Zum neuen Vizepräsidenten wählten die Mitglieder den ehemaligen Alliance Sud-­ Geschäftsleiter Peter Niggli. Neu im Helvetas-Zentralvorstand nimmt Jörg Frieden (Foto) Einsitz. Frieden war über dreissig Jahre in der Entwicklungs- und Migrationspolitik tätig, u.a. als Vizedirektor des Bundesamts für Migration, als Leiter der Globalen Zusammenarbeit der DEZA sowie als Schweizer Exekutivdirektor der Weltbank. Auch Solidar Suisse hat die strategische Führung neu bestellt. Als Präsident des Stiftungsrats folgt der Genfer SP-Nationalrat Carlo Sommaruga (Foto) auf Hans-Jörg Fehr, der die Organisation seit 2008 präsidiert hat. Beim Amtsantritt gab sich Aussenpolitiker Sommaruga kämpferisch: «Als Präsident von Solidar Suisse ist meine Aufgabe auch, den isolationistischen Tendenzen der Schweiz entgegenzutreten. Es kann keine Entwicklung geben ohne eine soziale Globalisierung, die Rechtsstaatlichkeit und eine gerechte Verteilung der Ressourcen einschliesst.» Werner Thut (Foto), während sieben Jahren Senior Advisor in der Abteilung Analyse und Politik in der DEZA und dort zuständig für Kohärenz-, darunter insbesondere Rohstofffragen, sowie unlautere und illegale Finanzflüsse, wechselt nach Tiflis (Georgien). Er tritt dort die Stelle eines stellvertretenden Leiters des ­Schweizer Regionalprogramms für den Südkaukasus an. Thuts Nachfolge in Bern ist Véronique Bourquin, die zuletzt als stv. Kooperations-­ Regionaldirektorin für das Horn von Afrika in Nairobi stationiert war.

Markus Glatz, bisher stv. Chef des Stabs Südzusammenarbeit, wird neu stv. Leiter der Ostasienabteilung. Er löst dort Denise Lüthi ab, die einen unbezahlten Urlaub bezieht. An seine Stelle im Stab tritt Juliane Ineichen, bisher Kooperationschefin an der Botschaft in Harare. Guido Beltrani, bisher Kooperationschef der «Kohäsionsmilliarde» in der Botschaft in Warschau, wird neu Leiter des Kompetenzzentrums Privatsektorförderung in der Abteilung Latein­ amerika und Karibik. In Warschau abgelöst wurde er von Roland Python. Christoph Jakob, bisher für das Globalprogramm Wasser am UN-Büro der Schweiz in Genf tätig, wird neu stv. Chef Evaluation und Controlling im Direktionsstab der DEZA in Bern. Er löst Ruedi Felber ab, der als stv. Kooperationschef ins Kobü für den Tschad in N’Djamena gewechselt hat. Stefan Klötzli heisst der neue Regionalkoordinator Südostasien und Pazifik bei der Politischen Direktion des EDA. Der neue Leiter der Abteilung Asien und Pazifik bei der Politischen Direktion ist Botschafter Raphael Nägeli. Er hat Botschafter Johannes Matyassy abgelöst, der neu Leiter der Konsularabteilung des EDA ist. Jean-Luc Virchaud, bisher Botschafter der Schweiz in Haiti, wird neu Chef IZA des Programmbüros in Bukavu (Demokratische Republik Kongo). Seine Nachfolge als Botschafterin in Haiti angetreten hat Geneviève Federspiel, die bisher Kooperationschefin im Kobü Honduras in ­Tegucigalpa war. Ersetzt wurde sie dort durch Peter Sulzer.

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INFODOC

«Grenzen überschreiten – ­ Migration und Verschiedenheit»

Blick zurück und Blick voraus in ein (noch) unbekanntes Land.  Foto: Alberto Campi

Zum vierten Mal realisiert Alliance Sud InfoDoc Lausanne eine Ausstellung zum Jahresthema des Dokumentationszentrums, dieses Jahr zu Migration. Erstmals wird die Ausstellung gleichzeitig von Alliance Sud InfoDoc Bern in digitaler Form umgesetzt. Die Ausstellung «Grenzen überschreiten – Migration und Verschiedenheit» will ein breites Publikum in die wichtigsten Fragen der weltweiten Migration einführen. Grenzen gibt es geo-

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graphische wie auch kulturelle, Migrantinnen und Migranten überschreiten Landesgrenzen, aber auch kulturelle Grenzen, wenn sie sich in einem Zielland niederlassen. Die Ausstellung mit Plakaten der Studierenden der Walliser Schule für Gestaltung (ECAV), den Fotos von Alberto Campi, den Karten von Philippe Rekacewicz und den Texten von Amina Abdulkadir setzt sich in künstlerischer Weise mit diesen Grenzen auseinander.

Die Ausstellungen in Bern und Lausanne werden jeweils durch weiteres Hintergrundmaterial ergänzt. Digitale Ausstellung: Alliance Sud ­InfoDoc, Monbijoustrasse 29, 3011 Bern, 18.10.2018 – 21.12.2018, Mo – Fr 13h30 – 17h30 Ausstellung: Alliance Sud I­nfoDoc, Av. de Cour 1, 1007 Lausanne, 18.10.2018 – 21.12.2018, Mo – Fr 08h30 – 17h30

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© Sina Achermann

Vernissage zur digitalen Ausstellung: «mittendrin und ausgeschlossen» Am 25. Oktober wird die digitale Ausstellung in Bern mit der Spoken Word-­ Performance «mittendrin und ausgeschlossen» von Amina Abdulkadir eröffnet. Die 1985 in Somalia geborene und heute in Basel lebende Autorin und Bühnenkünstlerin emigrierte als Vierjährige mit ihrer Familie in die Schweiz.

Mutlimedia – gesucht und gefunden Zur raschen Veranschaulichung eines Themas sind kurze Videos oder packende Web-Dokumentationen oft besser geeignet als ausführliche Hintergrundlektüre. Täglich durch­ suchen die sechs DokumentalistInnen von Alliance Sud InfoDoc das Web nach Videos und multimedialen Ressourcen wie Web-Dokumentationen, Infografiken und Blogs mit entwicklungs­ politischem Fokus. Diese aktuellen Materialien werden frei zugänglich auf der Webseite von Alliance Sud zur Verfügung gestellt. Namentlich das jüngere Zielpublikum von Alliance Sud InfoDoc schätzt das breite Multimediaangebot zum Einstieg in ein entwicklungspolitisches Thema, da diese Inhalte auf den Sozialen Medien rasch geteilt und für Vorträge oder Präsentationen im Unterricht eingesetzt werden können. Das auf der Website präsentierte Material ist sorgfältig ausgewählt und überprüft mit dem Ziel, auch komplexe Themen auf kurzweilige Art zu veranschaulichen. Ob sie Multimediainhalte gezielt zu einem bestimmten Thema und Land suchen wollen oder unser Angebot einfach schnuppernderweise kennenlernen wollen, entscheiden Sie über die Suchfunktion. Mehr Infos: www.alliancesud.ch/de/infodoc/­ ressourcen/multimedia

© Arnaud Stadtmann

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ZAHLEN UND FAKTEN

Die Schweiz und das Klima Jährliche Treibhausgas-Emissionen der Schweiz in Megatonnen pro Jahr (Mt/Jahr)

CO2-Gesetz

Die Schweizer Klimapolitik klammert zusätzliche Emissionen von über 1150 Mt CO2 eq/Jahr aus, die von in der Schweiz ansässigen Personen oder Unternehmen ausserhalb der Landesgrenzen entstehen. Gemäss Residenzprinzip ist die Schweiz dafür ebenfalls verantwortlich.

Territorialprinzip

Realität

Residenzprinzip

«Inland» 48,1

Finanzplatz (Anteil CH)

535

Direktinvestitionen

270

Portfolioinvestitionen

230

Pensionskassen

50

importierte graue Emissionen

55

internationale Flüge 10–25

(umfasst gemäss Territorialprinzip nur Verkehr, Wohnen, Landwirtschaft, Abfall und Industrie innerhalb der Schweizer Grenzen)

«Inland»

50

TOTAL >1200 Schweizer Klimapolitik

aktueller Fahrplan Bundesrat –1% pro Jahr

Reduktion bisher 5,7

geplante Reduktion bis 2030 gegenüber 1990

inklusive zugekaufte, ausländische Emissionsgutschriften

–30% –50%

16,1 Mt/Jahr

26,9 Mt/Jahr

–1,3% –2,2%

Der Bundesrat schlägt im neuen CO2-Gesetz vor, die rein inländischen Emissionen bis 2030 um 30% gegenüber 1990 zu reduzieren. Gegenüber den gesamten Schweizer Treibhausgas-Emissionen entspricht dies einer Reduktion von lediglich 1,3%. Mit dem vorgesehenen Zukauf von ausländischen Reduktions-Zertifikaten will der Bundesrat bis 2030 zusätzlich rund 10,8 Mt CO2 eq/Jahr Reduktion geltend machen. Selbst damit verringern sich die von der Schweiz gesamthaft verursachten Emissionen gerade mal um 2,2%. Quellen: Bundesamt für Statistik, Klima-Allianz, Oxfam

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Infografik: mirouille

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