Anthroposophische Perspektiven

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ANTHROPOSOPHISCHE PERSPEKTIVEN

LANDWIRTSCHAFT SERIE: TEIL 12 / 12

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EINFÜHRUNG

Nur noch ein Prozent der deutschen Erwerbsbevölkerung arbeitet in der Landwirtschaft (zu Rudolf Steiners Zeiten Anfang des 20. Jahrhunderts waren es knapp 40 Prozent). Zu unserer gesamtwirtschaftlichen Leistung trägt die heimische Landwirtschaft noch zwei Prozent bei. 17 Millionen Hektar Land werden in Deutschland landwirtschaftlich genutzt, eine Million davon (sechs Prozent) wird biologisch bewirtschaftet, von 22 000 Bauern oder 7,3 Prozent der deutschen Landwirte. Der Anteil der Bio-Produkte am Lebensmittelmarkt in Deutschland umfasst rund vier Prozent. Von den deutschen Bio-Bauern wirtschaften 1 400 auf 50 000 Hektar Land biologisch-dynamisch. Sie sowie 330 zertifizierte Verarbeiter vermarkten ihre Produkte unter dem Markenzeichen »Demeter«. Die Regeln für ihre Arbeit haben sich die Bio-Bauern zunächst selbst gegeben. Seit 1991 regelt ein Gesetz der Europäischen Union Erzeugung, Verarbeitung und unabhängige Drittkontrolle in der Bio-Landwirtschaft, das die Einhaltung entsprechender Vorschriften auch für Importprodukte verlangt. Der biologisch-dynamische Landbau stand 1924 am Beginn der bewusst gestalteten ökologischen Landwirtschaft. Er ist heute in 38 Ländern, auf allen Kontinenten präsent, wird aber nur von einer eher kleinen Anzahl Bauern praktiziert (3 500 Landwirte und 100 000 Hektar Fläche weltweit). Das ganzheitliche Konzept der biologisch-dynamischen Landwirtschaft ist komplex und nicht einfach zu vermitteln. Am besten gelingt dies durch das Beispiel gut geführter Praxisbetriebe, auf denen die Vielfalt der Pflanzenbestände und Tiere den Fachmann (oder die Fachfrau) unmittelbar anspricht. Auch einen Laien kann diese lebendige Vielfalt spontan berühren. Interessierte seien ausdrücklich ermuntert, die Gelegenheit zum Besuch eines biologisch-dynamisch bewirtschafteten Hofes zu nutzen. ››› Manon Haccius

IMPRESSUM Anthroposophische Perspektiven / Zwölfteilige Serie Teil 12: Landwirtschaft biologisch-dynamisch Autorin: Manon Haccius Herausgegeben von: Manon Haccius, Alnatura Produktions- und Handels GmbH, Darmstädter Straße 63, DE-64404 Bickenbach, www.alnatura.de Copyright © 2011 by Alnatura Produktions- und Handels GmbH, Bickenbach Gestaltung: usus.kommunikation, Berlin Abbildungen: Rudolf Steiner Archiv, Dornach Verlag: mfk corporate publishing GmbH, Prinz-Christians-Weg 1, DE-64287 Darmstadt Druck: alpha print medien AG, Darmstadt Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten. Kein Teil des Werks darf ohne schriftliche Genehmigung in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme oder Datenträger verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Herausgebers und des Autors unzulässig.

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LANDWIRTSCHAFT BIOLOGISCH-DYNAMISCH MANON HACCIUS

DIE SITUATION MITTE DER 1920ER-JAHRE Die biologisch-dynamische Landwirtschaft – zunächst als anthroposophische Landwirtschaft bezeichnet – ist zu Pfingsten 1924 entstanden. Rudolf Steiner gab damals für Landwirte – ausdrücklich Personen mit einem Grundverständnis der Anthroposophie – einen acht Vorträge umfassenden Kurs auf Gut Koberwitz in der Nähe von Breslau. Dies tat er auf intensives Drängen von Landwirten, die Steiner um Hinweise zur Verbesserung der Fruchtbarkeit von Pflanzen und Tieren und zur Steigerung der Qualität der erzeugten Nahrungsmittel baten. Mitte der 1920er-Jahre befasste sich Sir Albert Howard in Indien intensiv mit der Kompostwirtschaft, um der armen Landbevölkerung zu helfen, mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln mehr Nahrung auf ihren kargen, knappen Äckern zu erzeugen. Und Lady Eve Balfour suchte auf ihrem Gut in Großbritannien die Zusammenarbeit mit Medizinern und Naturwissenschaftlern aus ähnlichen Fragen heraus, wie sie die deutschen Landwirte zu ihren Bitten an Steiner veranlasst hatten: Die Qualität der Nahrung, so hatten diese aufmerksamen Beobachter damals festgestellt, sank. Ihre Fähigkeit zu gesunder Ernährung von Mensch und Tier nahm ebenso ab wie die Fruchtbarkeit, Gesundheit und Ertragsfähigkeit von Böden, Pflanzen und Tieren. Das Thema einer lebensgemäßen Weiterentwicklung der Landwirtschaft lag in jener Zeit in der Luft. Nur wenige Jahre vorher, 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, war in Deutschland das Haber-Bosch-Verfahren entwickelt worden. Unter Einwirkung hoher Drücke und Temperaturen gewinnt man dadurch mit Stickstoff aus der Luft mineralische Stickstoffverbindungen. Dies zum einen für die Rüstungsindustrie, zum anderen als Mineraldünger für die Landwirtschaft. Stickstoffsalze fördern die pflanzliche Masseentwicklung besonders eindrücklich; sie ändern jedoch zugleich umfassend die Zusammensetzung und Qualität der erzeugten Produkte. Bis zu Haber-Bosch war Stickstoffdünger ein äußerst knappes Gut in der Landwirtschaft. Er stand über den Mist der landwirtschaftlichen Tiere und aus Ernterückständen der Pflanzen nur sehr begrenzt zur Verfügung. Oder er wurde von weither eingeführt, entweder in Form bergmännisch in Südamerika gewonnener Salpetersalze oder als Guano (Vogelkot). Nun gab es Stickstoffdünger günstig und reichlich (heute gilt unter Wissenschaftlern das weltweite Stickstoffgleichgewicht als völlig aus dem

Programmheft des landwirtschaftlichen Kursus von Rudolf Steiner auf Gut Koberwitz im Juni 1924

Lot gebracht). Gleichzeitig stellte die chemische Industrie damals mehr und mehr Substanzen (Giftstoffe) zur Verfügung, die man zur Unterdrückung unerwünschter Pflanzen (»Unkräuter«), Insekten oder Mikroorganismen (»Schädlinge«) einsetzen konnte. Erste ungute Folgen des Umgangs mit Agrarchemie führten die Landwirte zu ihren grundsätzlichen Fragen nach einer zukunftsfähigen und menschengemäßen Weiterentwicklung der Landwirtschaft.*

LANDWIRTSCHAFT GESTALTET LANDSCHAFT Uns umgibt praktisch eine reine Kulturlandschaft. Nicht vom Menschen beeinflusste oder geformte Natur gibt es in Deutschland so gut wie gar nicht mehr. Durch landwirtschaftliche Aktivitäten wird der größte Teil unserer * Hinweis: Viele Aspekte der folgenden Ausführungen (Fruchtfolge, organische Düngung, Verzicht auf Agrarchemie) gelten für alle Formen der biologischen oder gleichsinnig ökologisch genannten Landwirtschaft, auch wenn die Autorin nur den biologisch-dynamischen Landbau ausdrücklich nennt.

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Lebensumgebung außerhalb der Ortschaften geprägt. Das gilt zum einen für die sichtbare Seite unserer Naturumgebung. Als schön und ansprechend empfinden wir vielfältig gegliederte und abwechslungsreich bewachsene Felder, Wiesen und Weiden, zu denen auch die Bereiche zwischen diesen Flächen, zum Beispiel Gehölzraine oder -inseln und Wälder, kleinere und größere fließende oder stehende Gewässer gehören. Wir erleben sie als schöner, sie geben uns eher ein Gefühl von Heimat als ausgeräumte Landschaften mit riesigen Feldern oder eintönigen Kulturen. Zum anderen betrifft die Beeinflussung unserer natürlichen Lebensumgebung durch die Landwirtschaft die eher »unsichtbare« Seite der Natur: Boden, Wasser und Luft. Vielleicht sollte man diese nicht als unsichtbar, sondern stattdessen als die unbeachtete, die als selbst verständlich genommene Seite der Naturumgebung ansprechen. Schon die Bezeichnung ökologische Landwirtschaft drückt ihren engen Bezug zur umgebenden Natur aus. Ökologie ist die Wissenschaft vom Naturhaushalt. Dass eine Landwirtschaft erst dann ein harmonisches Ganzes ist, wenn auch die zu ihren Flächen gehörenden unbewirtschafteten Areale und die nicht direkt genutzte Tierwelt, wie Insekten und Vögel, ihren Raum haben und Beachtung finden, beschreibt Rudolf Steiner im zweiten Vortrag seines landwirtschaftlichen Kurses. Die Schädigungen, die von einer chemisch-technisch geprägten Landwirtschaft auf die für unser Überleben wichtigen Ressourcen Boden, Wasser und Luft ausgehen,

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kannten die frühen Ökologen noch nicht. Auch nicht das Phänomen der ausgeräumten Landschaft durch umfangreiche Flurbereinigungsmaßnahmen. Das vielfältige Schädigungspotenzial der modernen, konventionellen Landwirtschaft und ihrer politischen Gestalter zeigte sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts in voller Deutlichkeit und seither immer ausgeprägter. Durch Verzicht auf Agrarchemikalien und durch eine ganzheitliche Gestaltung der Landwirtschaft mittels vielgliedriger Fruchtfolgen, mit einem an die Flächen angepassten Viehbesatz und örtlich oder regional erzeugtem Futter für diese Tiere bietet die biologisch-dynamische Landwirtschaft Heilungschancen für zerstörte Landschaften. Und sie hilft durch ihr Beispiel beziehungsweise durch ihre Forderungen verhindern, dass es zu weiteren Zerstörungen kommt. Landwirtschaft lässt sich nicht standardisieren; sie muss je nach den örtlichen Gegebenheiten bei Böden und Gelände, Wasserverfügbarkeit, Temperaturen sowie Ausprägung der Jahreszeiten immer wieder anders gestaltet werden.

»[…] Sie […] können […] die Vorstellung haben, dass allem Lebendigen ein […] mehr oder weniger festes oder mehr oder weniger fluktuierendes kohlenstoffartiges Gerüst zugrunde liegt, auf dessen Bahnen sich das Geistige bewegt durch die Welt.« Rudolf Steiner im Vortrag am 11. Juni 1924


STANDORTGEBUNDENHEIT DER LANDWIRTSCHAFT Die Standortgebundenheit der Landwirtschaft ist ihr immanenter Widerspruch gegen eine globalisierte Einheitsbewirtschaftung mit nur wenigen Kulturpflanzen, immer den gleichen technischen und chemischen Hilfsmitteln und den geballten Tierhaltungsformen der konventionellen Landwirtschaft. Letztere bringen den Tieren unendliches Leid und zeigen schädliche Auswirkungen auf Boden, Grundwasser und Luft. Denn die Ausscheidungen der Tiere stellen in dieser Masse ein gewaltiges Entsorgungsproblem und Schädigungsmittel dar, während sie bei der flächengebundenen Tierhaltung des biologischdynamischen Landbaus wertvoller Dünger und wesentlich für die Bodenfruchtbarkeit sind. Die biologisch-dynamische Landwirtschaft sieht landwirtschaftliche Viehhaltung nicht nur nicht als ein schädliches Element der Landwirtschaft an; sie verlangt vielmehr sogar, dass stets Tiere auf einem Betrieb (oder auf dem Partnerbetrieb einer Kooperation) gehalten werden. Nur dann läuft ein solcher Betrieb nachhaltig rund. Landwirtschaft arbeitet mit dem natürlichen Rhythmus des Werdens und Vergehens im Jahreslauf. Dem Beschleunigen, Vereinfachen, Normieren der Abläufe durch technische oder chemische Mittel sind enge Grenzen gesetzt. Wo man doch versucht, diese zu durchbrechen, mehren sich die Probleme durch Abfall oder Rückstände, und es entstehen Gesundheits- oder Qualitätsprobleme. Dem biologisch-dynamischen Landbau ist ein wesensgemäßer Umgang mit den Lebewesen ein zentrales Anliegen. Dazu passt nicht, was Konzept der konventionellen Landwirtschaft geworden ist: die Pflanzen mit in die Bodenlösung gegebenen Salzen zu ernähren, die Tiere, die sich ja durch Bewegungsvermögen und -drang sowie durch Empfindungsfähigkeit auszeichnen, auf engem Raum in großer Zahl in Ställen zusammenzusperren und sie durch Hormongaben und bestandsweite Medikamentierung »fit« für diese Haltungsformen zu machen.

DIE PRODUZENTEN SIND BODEN, PFLANZEN UND TIERE Unser Essen setzt sich zum größten Teil aus landwirtschaftlichen Erzeugnissen zusammen. Die eigentlichen Produzenten sind jedoch nicht die Bauern, sondern die Böden, die Pflanzen und die Tiere. Ihrem Wachstum, ihrer Fortpflanzung, ihrer Fruchtbarkeit und Lebendigkeit verdanken wir letztlich, dass wir Essen haben. Früchte, Samen, Milch und Eier – all diese Produkte entstehen natürlicherweise im Rahmen der Fortpflanzung von Pflanzen und Tieren. Der Landwirtschaft treibende Mensch gestaltet die Bedingungen, sodass die gewünschten Pflanzen gut wachsen, die Tiere mit den bevorzugten Eigenschaften sich vermehren können und gedeihen. Den Überschuss entnimmt er zur eigenen Nahrung.

»Düngen heißt den Boden verlebendigen«, sagt Rudolf Steiner in seinem landwirtschaftlichen Kurs. Dies ist das Düngekonzept des biologischdynamischen Landbaus: Der Bauer ernährt das Bodenleben, nicht die Pflanzen, wie es die Agrarwissenschaften seit Jahrzehnten lehren. Das große Wunder und »perpetuum mobile« jeglicher Art von Landwirtschaft ist die Photosynthese der Pflanzen, also das Sich-Bilden der pflanzlichen Substanz am Sonnenlicht aus Wasser und Kohlendioxid. So lange die Sonne scheint, Wasser da ist, die Temperaturen stimmen und Kohlendioxid vorhanden ist, wachsen und entwickeln sich Pflanzen, bilden zunächst grüne Blätter, dann Blüten und schließlich Früchte beziehungsweise Samen. Von der grünen Pflanzensubstanz ernähren sich Mensch und Tier ebenfalls. Grundnahrungsmittel der Menschen praktisch überall auf der Welt ist Getreide, dessen Samen gewonnen, aufbereitet und verzehrt werden. In unseren Breiten sind es in erster Linie Weizen und Roggen, aus denen wir unser Brotgetreide gewinnen. In anderen Weltgegenden sind Mais oder Reis die Grundnahrungsmittel, ebenfalls Getreide, deren Samen verzehrt werden. Pflanzliche Reste, die auf dem Feld verbleiben, ernähren das Bodenleben, das heißt Mikroorganismen, Insekten, Regenwürmer. Auch die Ausscheidungen der landwirtschaftlichen Tiere, die als Dünger ausgebracht werden, fördern das Bodenleben und ernähren es. Das Bodenleben macht die eigentliche Bodenfruchtbarkeit aus, verstanden als die Fähigkeit eines Bodens, nachhaltig, das heißt Jahr um Jahr, gute Erträge zu liefern. Düngen heißt den Boden verlebendigen, sagt Steiner im vierten Vortrag des landwirtschaftlichen Kurses. In kürzester Form ausgedrückt ist dies das Düngekonzept des biologisch-dynamischen Landbaus: Der Bauer ernährt das Bodenleben, nicht die Pflanzen, wie es die Agrarwissenschaften seit Jahrzehnten lehren. Der Landwirt düngt so, dass die düngenden Substanzen über das belebte Erdige, nicht das tote Mineralische den Pflanzenwurzeln zur Verfügung stehen. Mineralien, die in die Bodenlösung gegeben werden, von wo die Pflanzen sie dann aufnehmen müssen, sind ja nicht lebendig.

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Damit der Boden fruchtbar bleibt, damit unerwünschte Pflanzen und Tiere sich nicht überproportional vermehren und damit genug Futter für die Tiere erzeugt werden kann, bedarf es einer geeigneten Fruchtfolge, also des geordneten Nebeneinanders der Feldfrüchte auf einem Betrieb, das zugleich ihr zeitliches Nacheinander auf den verschiedenen Flächen ist. Das EU-Bio-Gesetz verlangt ausdrücklich eine weit gestellte Fruchtfolge. Der Wechsel von Feldfrüchten, die dem Boden Gutes tun und Futter für die Tiere sein können, und solchen Kulturen, die zehren oder als »abtragend« bezeichnet werden, ist zentral für den biologisch-dynamischen Landbau. Früher war dieser Wechsel Kernelement des landwirtschaftlichen Handwerkswissens; heute müssen auf biologisch-dynamische Landwirtschaft umstellende Bauern »Fruchtfolge« erst wieder lernen. Eine Tierhaltung, die dem Flächenumfang des Hofes angepasst ist, erzeugt nur so viel Dünger, dass er nicht zum schädlichen Abfall wird. Im Durchschnitt entspricht dies in unseren Breiten einer sogenannten Großvieheinheit (etwa einer Milchkuh von 600 Kilogramm Gewicht) je Hektar. In dieser Menge gehaltene Tiere kann der Bauer im Wesentlichen von seinen eigenen Flächen ernähren und muss nicht Futter von anderswo zukaufen. Heute verlangt auch der EU-Gesetzgeber, dass Bio-Bauern ihre Tiere überwiegend mit selbst erzeugtem Futter ernähren.

DER LANDWIRTSCHAFTSBETRIEB ALS LEBENDIGER ORGANISMUS Für die Gestaltung der Stoffflüsse auf einem Bauernhof formuliert Steiner das Ideal des möglichst geschlossenen Betriebskreislaufes. Ein Ideal- und Leitbild, das sich nicht vollständig realisieren lässt. Denn der Landwirt erzeugt ja Produkte, die den Betrieb verlassen und verlassen sollen. Das Leitbild wird aber stets dafür sorgen, dass die Hereinnahme von Stoffen in den Betrieb von außen mit Augenmaß geschieht, im Sinne von Stärkungsmaßnahmen oder als »Arzneimittel«. Ein solches gibt man in möglichst geringer Dosis und geht sparsam damit um. Anders die konventionelle Landwirtschaft heute, die mit den chemisch-technischen Mitteln Unerwünschtes unterdrückt und vermeintlich Fehlendes ergänzt, was fatale »Neben«wirkungen auf Landwirtschaft und Umwelt entfaltet, denen man mit weiteren Maßnahmen und mit einer Fülle an Vorschriften zu Leibe rückt, die ihrerseits Kontrolle und Überwachung nötig machen. Noch ein weiteres Konzept führt Steiner ein, das beim Gestalten einer Landwirtschaft leiten soll. Sie wird als Organismus angesprochen. Mit allen ihren Elementen, auch der nicht wirtschaftlich genutzten Natur entspricht sie einem komplexen Organismus höherer Ordnung, dessen einzelne Bereiche als Organe zu verstehen

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sind, die sich wechselseitig brauchen und fördern. Die Idee eines Organismus höherer Ordnung war neu zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Erstmals äußerte sie der Gewässerökologe Thienemann. Der Agrarökonom Theodor Brinkmann, auch er ein Zeitgenosse Steiners und ein Pionier der landwirtschaftlichen Betriebslehre, sprach vom wohlproportionierten organischen Betrieb, den eine Landwirtschaft darstellen solle. Steiner führt seinen Gedanken jedoch noch einen entscheidenden Schritt weiter und wählt das Bild der landwirtschaftlichen Individualität. Jeder landwirtschaftliche Betrieb wird als eine Individualität, als etwas Einmaliges, Unverwechselbares verstanden, als solche soll sie entwickelt werden. Präparate auf der Basis von Heilpflanzen, die Steiner nennt (zum Beispiel Schafgarbe, Kamille, Brennnessel) und zu deren Zubereitung er Hinweise gibt, unterstützen die Düngungsmaßnahmen beziehungsweise die wachsenden Pflanzen (vierter und fünfter Vortrag des landwirtschaftlichen Kurses). Die Heilpflanzen, ferner die Substanzen Kiesel und Rindermist werden in bestimmte tierische Hüllenorgane gegeben und während einer jeweils spezifischen Zeit des Jahreslaufes in den Boden gegeben oder dem Sonnenlicht ausgesetzt. Zur Anwendung kommen diese Präparate in geringsten Mengen (in homöopathischen Dosen) auf dem bearbeiteten Boden vor der Aussaat, auf dem wachsenden Pflanzenbestand, oder sie werden dem Dünger zugesetzt. Die auf die Flächen ausgebrachten Präparate werden vor der Anwendung eine Stunde lang rhythmisch in Wasser gerührt, ein Prozess, wie er auch in der Arzneimittelherstellung zur Anwendung kommt. Die Wirkungsweise der biologisch-dynamischen Präparate wird als für das Pflanzenwachstum kräftigend und harmonisierend beschrieben, dies besonders an Standorten oder in Jahren, an denen die Bedingungen für das landwirtschaftliche Gedeihen suboptimal sind. Ein Landwirtschaftsbetrieb ist ein Organismus, also ein lebendiges Ganzes. Er ist nicht, wie es heute konventionell verstanden wird, eine Art industrieller Produktionsbetrieb, den man sich linear denkt, mit präzise gesteuertem Input auf der einen und Output auf der anderen

Ein Landwirtschaftsbetrieb ist ein Organismus, ein lebendiges Ganzes. Er ist nicht, wie es heute konventionell verstanden wird, eine Art industrieller Produktionsbetrieb, den man sich linear denkt, mit präzise gesteuertem Input auf der einen und Output auf der anderen Seite.


Seite. In einer Landwirtschaft geht es vielmehr darum, zu verstehen, wie sich die einzelnen Teilbereiche gegenseitig fördern und entstehende Einseitigkeiten ausgleichen können. Der als Organismus aufgefasste und im Ideal als geschlossen gedachte Betriebskreislauf führt auch dazu, dass es, anders als im linear funktionierenden Betrieb, keinen Abfall, keine zu entsorgenden Schadstoffe mit Zerstörungspotenzial gibt. Das, was im Landwirtschaftsbetrieb an irgendeiner Stelle »abfällt«, wird gesammelt, aufbereitet, mit den Präparaten versehen und dem Kreislauf wieder zugeführt. Ein Landwirtschaftsbetrieb ist durch Vielfalt gekennzeichnet. Mit landwirtschaftlich genutzten Flächen sind traditionell und heute vor allem in den Bio-Betrieben deutlich mehr verschiedene Pflanzen- und Tierarten assoziiert, als ein gleich großes Stück unbearbeiteter Natur am gleichen Ort aufweisen würde. Die Produktivität der kultivierten Natur übersteigt die des natürlichen Standortes um ein Vielfaches. Diese Biodiversität weiß man heute als einen Wert an sich zu schätzen; die konventionelle, industrialisierte Landwirtschaft kann mit solcher Vielfalt nicht aufwarten. Sie trägt stattdessen beträchtlich

»Das Fruchtfleisch eines Apfels oder eines Pfirsiches, das wir essen, bildet sich unter der Einwirkung von Planetenkräften. Wenn wir als Gärtner oder Bauer das Wachstum von Pflanzen beeinflussen wollen, dann müssen wir Rücksicht nehmen auf diese Kräfte. Auf eine große Zahl von Pflanzen, und das sind vor allen Dingen jene, die man gewöhnlich zu den Unkräutern zählt, obwohl sie manchmal außerordentlich wirksame Heilkräuter sind, auf diese Pflanzen haben den größten Einfluss die Mondkräfte.« Rudolf Steiner im Vortrag am 14. Juni 1924

zum Schwund der Arten bei, die einst durch die landwirtschaftliche Betätigung des Menschen entstanden sind. Diese Arten aber helfen uns dabei, die Reagibilität unseres Systems der Nahrungserzeugung gegenüber den sich immer stärker, rascher und unvorhersehbarer ändernden Naturgegebenheiten zu erhalten.

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WIR ESSEN DIE PRODUKTE DER LANDWIRTSCHAFT Durch Atmung und Ernährung nehmen wir die Stoffe der Erde in unseren Organismus auf, verbinden uns auf diese Weise engstens mit ihr. Die Substanzen, die wir in uns aufnehmen, und die durch sie vermittelten Kräfte sollen uns nützlich sein und uns fördern, gerade auch hinsichtlich unserer geistigen Entwicklungs- und Freiheitsfähigkeit. Das gelingt am besten, wenn unsere Nahrung einer Landwirtschaft entstammt, die als ein Organismus gedacht und gestaltet wird. Und es gelingt nur dann richtig, wenn in der landwirtschaftlichen Produktion keine Giftstoffe oder zum Beispiel gentechnisch veränderten Organismen verwendet werden, wie sie die Natur nicht kennt und deren Spuren in der Nahrung sich nicht verhindern lassen. Albrecht Daniel Thaer, ein Zeitgenosse Goethes, hat die Landwirtschaft als »ein Gewerbe wie jedes andere auch« bezeichnet. Zu seiner Zeit wird das richtig gewesen sein. Heute ist aber klar, dass die Landwirtschaft gerade kein Gewerbe wie jedes andere ist, dass sie nicht allein nach wirtschaftlichen Kriterien betrieben werden kann und dass sie der Spezialisierung und Arbeitsteiligkeit enge Grenzen setzt. Denn ein Organismus braucht die Vielfalt seiner Organe, um sich gesund, fruchtbar und nachhaltig entfalten zu können, um uns gesunde Nahrung zu spenden und um seine Leistungen für die Ressourcen Biodiversität, Boden, Wasser und Luft auch in der Zukunft erbringen zu können.

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»Nun, eine Landwirtschaft erfüllt eigentlich ihr Wesen im besten Sinne des Wortes, wenn sie aufgefasst werden kann als eine Art Individualität für sich, eine wirklich in sich geschlossene Individualität […] Das heisst, es sollte die Möglichkeit herbeigeführt werden, alles dasjenige, was man braucht zur Hervorbringung, innerhalb der Landwirtschaft selbst zu haben […].« Rudolf Steiner im Vortrag am 10. Juni 1924

DIE AUTORIN Dr. Manon Haccius, geboren 1959 in Hamburg, Studium der Agrarwissenschaften in Göttingen, Berlin, Fort Collins (Colorado, USA) und Kiel, Promotion im Fachgebiet Tierzucht 1986, Arbeit für die Verbände des ökologischen Landbaus national und international von 1987 bis 2000; seit April 2000 Mitarbeiterin des Bio-Handelsunternehmens Alnatura, dort leitend für Qualität, Recht und Nachhaltigkeit verantwortlich.

LESE-TIPPS Koepf, Herbert H. / Schaumann, Wolfgang / Haccius, Manon: »Biologisch-Dynamische Landwirtschaft«, Ulmer Verlag, Stuttgart, 1996. Schaumann, Wolfgang: »Rudolf Steiners Kurs für Landwirte – Eine Einführung«, SÖL-Sonderausgabe Nr. 46, Deukalion Verlag, Holm, 1996. Ders.: »Das Lebendige in der Landwirtschaft«, herausgegeben vom Forschungsring für BiologischDynamische Wirtschaftsweise, Darmstadt, 2002.

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