ANTHROPOSOPHISCHE PERSPEKTIVEN
EURYTHMIE SERIE: TEIL 7 / 12
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EINFÜHRUNG
Gemeinsam mit Marie von Sivers entwickelte Rudolf Steiner ab dem Jahr 1912 die Bewegungsund Ausdruckskunst Eurythmie. Marie von Sivers, ab 1914 Marie Steiner, war seit 1902 Steiners engste Mitarbeiterin. In Sprachen und Schauspielkunst ausgebildet, trug sie wesentlich dazu bei, dass bei Tagungen und Kongressen der Theosophen, später der Anthroposophen, das künstlerische Element zum Tragen kam, in den 1920er-Jahren oft in Form von EurythmieAufführungen auf großen Bühnen in Europas Hauptstädten. Kurse für Eurythmisten fanden bis 1924 mit Rudolf Steiner statt, der diese künstlerische Ausdrucksform besonders schätzte. Als »Offenbarung der sprechenden Seele«, als »sichtbarer Gesang« (Ton-Eurythmie) oder als »sichtbare Sprache« (Laut-Eurythmie) wird diese Kunst in Steiners Vorträgen bezeichnet – Kennzeichnungen, die anschaulich zum Ausdruck bringen, um was es geht. 1924 berichtete Steiner über einen der Kurse: »Die Zuhörer … sollten … [erleben] …, wie alle Kunst getragen sein muss von Liebe und Begeisterung. Der Eurythmist kann seine Schöpfung nicht von sich ablösen und sie objektiv vor den ästhetisch Genießenden hinstellen wie der Maler, der Plastiker, sondern er bleibt in seiner Darstellung persönlich darinnen; man sieht an ihm, ob in ihm die Kunst wie ein göttlicher Weltinhalt lebt oder nicht. In unmittelbar künstlerische Gegenwart muss am Menschen der Eurythmist das Künstlerische als anschauliches Wesen hinstellen können.« Andrea Heidekorn ist Eurythmistin und lehrt Eurythmie sowie ihre über das rein Künstlerische hinausgehenden Anwendungsgebiete an der Alanus Hochschule in Alfter. Dass sie mit »Liebe und Begeisterung« dabei ist, spricht aus jeder Zeile, die sie schreibt. ››› Manon Haccius
IMPRESSUM Anthroposophische Perspektiven / Zwölfteilige Serie Teil 7: Eurythmie – Mit der Zeit gehen und gegen den Strom schwimmen Autorin: Andrea Heidekorn Herausgegeben von: Manon Haccius, Alnatura Produktions- und Handels GmbH, Darmstädter Straße 63, DE-64404 Bickenbach, www.alnatura.de Copyright © 2011 by Alnatura Produktions- und Handels GmbH, Bickenbach Gestaltung: usus.kommunikation, Berlin Abbildungen: Rudolf Steiner Archiv, Dornach; Helmut Hergarten (8, Porträt) Verlag: mfk corporate publishing GmbH, Prinz-Christians-Weg 1, DE-64287 Darmstadt Druck: alpha print medien AG, Darmstadt Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten. Kein Teil des Werks darf ohne schriftliche Genehmigung in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme oder Datenträger verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Herausgebers und des Autors unzulässig.
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EURYTHMIE MIT DER ZEIT GEHEN UND GEGEN DEN STROM SCHWIMMEN
ANDREA HEIDEKORN
Strom und Gegenstrom, Zusammenziehen und Ausdehnen, der Umgang mit Polaritäten überhaupt ist eines der grundlegenden Kennzeichen der eurythmischen Bewegungstechnik. Ähnlich sieht es in der gesamten Eurythmieszene heute aus. Es gibt Tanzpreise und gleichzeitig Unbekanntheit in der Tanzszene, begeisterte und hasserfüllte Waldorfschüler 1 nach dem Eurythmieunterricht, dankbare und zuzahlende Patienten in privaten Praxen, Firmen mit neuartigem Bewegungsangebot, Kurse zur Salutogenese, Aktionen in Fußgängerzonen und in geborgenen Räumen, Bachelorund Masterstudiengänge, mehr Stellenangebote als Absolventen, Schleier und Straßenanzug – so ungefähr könnte die Eurythmieszene heute beschrieben werden. In der vielgestaltigen öffentlichen Bewegungsszene spielen Eurythmisten in der Regel im kammermusikalischen Rahmen
ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG Hans Fors, Eurythmist und Eurythmieforscher, Norwegen: Eurythmie entstand am Anfang des 20. Jahrhunderts als Ergebnis der Suche nach einer Tanzkunst, die den »ganzen Menschen« – Körper, Seele und Geist – einbezieht. Rudolf Steiner schuf die Grundlagen dieser ebenso faszinierenden wie heilsamen Bewegungskunst zwischen 1912 und 1919 mit einer Gruppe junger Frauen, hauptsächlich in Dornach, Schweiz. Ab 1919 gab es große Tourneen und Aufführungen im ganzen deutschsprachigen Europa, in England und auch in Skandinavien. Das Dornacher Eurythmieensemble trat auf großen Theaterbühnen oder in Konzerthallen an die Öffentlichkeit. Die Presse reagierte mit viel Aufmerksamkeit, genauso wie auf Mary Wigman und andere Tänzerinnen und verglich die Eurythmie ganz selbstverständlich mit allen Erscheinungen
mit. Große Aufführungen, Tourneen mit kooperierenden Ensembles, mit Orchestern und Rezitatoren sind ein mit viel Anstrengung organisiertes und noch immer relativ wenig in der Öffentlichkeit wahrgenommenes Ereignis.
WAS IST EURYTHMIE? Der Mensch selbst ist das Instrument des Tänzers, und in jeder Bewegungs- oder Tanzart wird dieses Instrument in spezifischer Weise gespielt. Eurythmie offenbart ein humanistisches Menschenbild, von Steiner mit vier Qualitäten beschrieben: der physische Körper, die Kräfte und Energien, dazu Seele und Geist. Eurythmie ist, weil sie diese Qualitäten als Basis benutzt, ein sehr »menschliches« Tanzen.
modernen Tanzes. Nach Steiners Tod 1925 wurden die Tourneen unter Marie Steiners Leitung weitergeführt. Die Eurythmie entwickelt sich dadurch schnell. Die erste Eurythmie-Schule 1922 in Stuttgart steigerte das Interesse für Eurythmie weiter. 1927 wurde eine Ausbildung in Dornach geschaffen, die auch heute noch besteht. 1930 wurde das Eurythmieensemble der Goetheanum-Bühne zum dritten Tanzkongress in München eingeladen. Aus unbekannten Gründen sagte man aber die Aufführung ab. Die Eurythmie wurde in den Dreißigerjahren in Deutschland verboten, und die EurythmieSchule in Stuttgart musste schließen. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute die Waldorfschulbewegung eigene Bühnen, und die Eurythmie erhielt Aufmerksamkeit mehr im Kreis anthroposophisch orientierter Menschen. Eine Ausnahme war Else Klink in Stuttgart. Sie brachte die Eurythmie mit dem Ensemble der wiedereröffneten Eurythmie-Schule als Bühnenkunst auf eine neue Stufe. Auch
1 Ich nutze weibliche und männliche Formen abwechselnd, um sie nicht immer doppelt nennen zu müssen und sie aber auch nicht zu vernachlässigen.
wurden Eurythmieausbildungen weltweit eingeführt. Viele von ihnen unterhielten eigene Bühnenensembles, die ein reges Tournee- und Aufführungsleben vor allem in anthropsophisch interessierten Einrichtungen entwickelten. Heute ist die Eurythmie als Bühnenkunst in der Tanzszene immer noch ziemlich unbekannt. Die Bewegungskonzepte aus den 1920er-Jahren sind in der Eurythmie nach wie vor deutlich zu spüren, aber es gibt seit etwa zwei Jahrzehnten auch Versuche, diese Konzepte zu ändern. Progressive, individuelle und sich in der allgemeinen Öffentlichkeit verortende Ansätze vor allem von kleinen Ensembles und Solisten suchen den Kontakt und die produktive Auseinandersetzung mit Kollegen. Reformierte erweiterte Ausbildungs- und Studienangebote, die sich mit ihrem besonderen Angebot in das staatliche Bildungssystem integrieren, öffnen die Eurythmie, hin zu einem modernen Berufsangebot über weltanschauliche Zusammenhänge hinaus.
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Der Mensch ist ein vieldimensionales Wesen, er vereinigt in sich Stoffe, die durch den ständig stattfindenden Stoffwechsel in einem lebendigen Zusammenhang gehalten werden. Dieser Zusammenhang konstituiert den lebendigen Organismus, lässt ihn in stetem Wandel wachsen, sich entwickeln und bei Verletzungen heilen, und steht in engem Zusammenhang mit der Natur um uns herum. Jeder Organismus hat ganz charakteristische Qualitäten: Der menschliche läuft aufrecht auf der Erde, hat einen mit der Schwerkraft kommunizierenden Bauplan in Skelett und Muskulatur der Beine mit enormer äußerer Beweglichkeit. Er hat in der Regel den Kopf oben, der wesentlich weniger äußere, dafür starke innere Beweglichkeit zeigt, waches Bewusstsein, Denken und einen starken Bezug zu den aktiven Sinnen, zum Beispiel Augen und Ohren. In der Mitte des menschlichen Organismus, im Rumpf, liegen die inneren Organe, sind die Organe für Puls und Atem und sphärisch bewegliche Arme, die, befreit von
AUSBILDUNG UND STUDIUM Gedanken von Stefan Hasler, Leiter des Fachgebiets Eurythmie an der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn: »Fort«-Bewegung, die einfach von einem Ort zum anderen geht – das ist eine Qualität. Bewegung, die sich zwischendurch verändert, zeigt etwas ganz anderes. Erst durch eine Veränderung ist Aktivität, Seele, Umstellung gefragt. Das ist für mich wirkliche innere Bewegung. Bewegung des Geistes kann nur so sein. Insofern partizipieren wir an etwas Spirituellem, wenn wir uns der Veränderungen bewusst werden, wenn wir Veränderungen bewusst gestalten. Eurythmieausbildung ist zunächst einmal die Ausbildung einer Persönlichkeit. Wir wollen heute eigenständige, selbstständige innovative Bürger. Genau dies wird den ganzen Tag durch Bewegung, Musik und Sprache geübt. Philosophie und Anthroposophie geben die Grundlage dazu. Die ganze Welt ruft nach Prozessorientierung. Das ist das wichtigste Thema in der Eurythmie. Damit beruflich tätig zu sein, heißt wirklich in der Gegenwart aktiv zu sein und für die Zukunft zu gestalten.
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der Schwerkraft, seelischen Ausdruck möglich machen. Dieser spezifisch menschliche Organismus in seiner belebten Vielgliedrigkeit, in Balance zwischen Schwerkraft und Umkreis, mit qualitativ sehr unterschiedlich bewegbaren Gliedmaßen, mit unendlichen Möglichkeiten seelischen Ausdrucks und geistiger Sinngebung, ist das Instrument des Eurythmisten. Alle eurythmischen Bewegungen werden aus diesem qualitativen inneren Zusammenhang von Strukturen, Kräften und Bezügen entwickelt. Eurythmie ist immer auf allen Ebenen tätig: körperlich in Bewegung, energetisch im Fließen, Stauen, Auflösen, Zusammenballen von kinetischer lebendiger Kraft, emotional in der Wahrnehmung und Durchsetzung der Bewegung mit Empfindung, Gefühl und Ausdruck, sowie intentional mit einer steten Sinnstiftung innerhalb der Bewegungsfolgen und Choreografien. Diese Bewegungsform ermöglicht vom elementarsten Stadium in der Arbeit mit Amateuren bis zur komplexen professio-
Eurythmie ist ein Beruf mit einhundert Prozent Aussicht auf Arbeit. Jede Richtung ist möglich. Ein eigenes Berufsbild, das man sich ganz individuell selbst formt, ist genauso möglich wie feststehende klare Berufsbilder, zum Beispiel eines Eurythmielehrers an der Waldorfschule, eines Eurythmietherapeuten an einem Klinikum. Für diese weite Spanne bilden wir durch ein differenziertes, modernes Bachelor- und Masterprogramm aus. Jede Eurythmieausbildung hat ihr eigenes Profil. Gespräch mit Eva-Maria Koch, Studentin im dritten Ausbildungsjahr an der Alanus Hochschule in Alfter: Warum studierst Du Eurythmie? Ich habe mich in der 13. Klasse während des Abiturs ohne Kunst nicht wie ein Mensch gefühlt. Mir hat echt was gefehlt, und ich wusste plötzlich, dass das, was mich geformt, mir Freude gebracht, mich hat wachsen lassen, die Kunst, das Theaterspielen war, und dann war klar: Ich will so was mit Menschen machen. So viele haben oder kennen das gar nicht … Das muss (s)ich ändern. Es gibt so viel mehr. Es bringt mich zu mir, macht mich wach für die Welt, lässt mich nicht »egal« sein! Mich hat zu der Zeit unglaublich
aufgeregt, dass so viele Menschen schlafen, dass ihnen so vieles egal ist! Und hast Du gefunden, was Du gesucht hast? Ich habe das Gefühl, durch die Eurythmie wie durch verschiedene Schichten tiefer in die Welt zu kommen. Die Welt wird immer reicher, ich sehe, höre, fühle immer mehr, immer differenzierter, feiner, vielfarbiger! Ich lerne mich kennen: körperlich, emotional, fühlend und frei spielend. Ich gehe Fragen nach: Wer bin ich, wer will ich sein, wie sehen mich andere, wie kann ich mich zeigen, will ich mich zeigen? Interessant dabei ist, dass ich mit meinen Bedürfnissen dabei nicht direkt im Vordergrund stehe, sondern sich das alles an einem Inhalt, dem Musikstück, dem Gedicht, einer Bewegungsform entzündet. Das bedeutet: Balance finden in mir, mit mir und dem Inhalt, mit den anderen aus der Gruppe. Und auch: Entscheidungen zu treffen. Und was möchtest Du nach dem Abschluss unternehmen? Ich schwanke zwischen den Möglichkeiten, anderen Menschen dieselben Erfahrungen zu ermöglichen oder die Bühnenszene zu revolutionieren.
Für die Eurythmieaufführungen wurden in der ersten Zeit eigens Programme gemalt. Im Sommer 1924 entstand das Aquarell »Urtier« / »Urmensch«. Rudolf Steiner stellt dar, wie sowohl der Mensch als auch das Tier auf dieselbe Urform zurückgehen.
nellen künstlerischen Präsentation tiefe innere Erfahrung, reiche Gestaltung und spielerische Freiheit. Naturzusammenhänge, Farben, seelische Metamorphosen, Sprache und Dichtung, Klang und Musik, geistige Inhalte – alles das kann eurythmisch getanzt und am Menschen und zwischen Menschen im Ensemble Bewegung werden. Beziehung, Prozesse, Zusammenhänge zwischen Kräften, Menschen, Mensch und Welt, unterschiedlichste Themen zu gestalten, zu verwandeln und zu zeigen, dies sind Grundlagen und zugleich Ziele eurythmischer Kunst. Eine so in der Basis interdisziplinär angelegte Tanzkunst bietet reiche Möglichkeiten für Kunst, Pädagogik, Therapie und soziale Gestaltung. Der Kunstbegriff ist hier ein erweiterter und bezieht sich auf den eurythmischen Prozess generell, der sich in den unterschiedlichen Bereichen jeweils anders auswirkt.
EXKURS: KUNST – KURZE BESCHREIBUNG EINER AUFFASSUNG Kunst, als etwas spezifisch Menschliches, als eine Tätigkeit, die nicht auf Nutzen, auf Anwendbarkeit oder Didaktik ausgerichtet ist, sondern sich im freien Spiel der gestaltenden Kräfte entfaltet, so aufgefasst, spielt sich nicht nur auf der Bühne ab. Wir können in jedem Le-
bensgebiet zum Künstler werden, der sich auf seine freie menschliche Mitte bezieht. »Freie Kunst« ist etwas sehr Individuelles. Ich schaffe Kunst, jemand anderes genießt sie, nimmt sie entgegen. Zwischen Publikum und tätigem Künstler geschieht etwas Freies, Neues, Ungeahntes. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Für den pädagogisch tätigen Künstler geht es entweder um Kunstvermittlung, das heißt ich bringe meinen Studenten künstlerische Techniken bis zur Fähigkeitsbildung bei, und am Ende eines Eurythmiestudiums sollte man Eurythmie grundlegend erlernt haben. Andererseits nutze ich künstlerische Techniken, beispielsweise in der Schule, um Kindern eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen. Für die Eurythmie würde das bedeuten: Waldorfschüler, die jahrelang Eurythmieunterricht haben, beherrschen zwar eurythmische Grundtechniken, aber sie sind durch die kontinuierliche gemeinsame Arbeit vor allem innerlich und äußerlich beweglicher, wacher, achtsamer für Prozesse geworden.
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»Das Maß, in dem ich mich bewege, und die Art, in der ich mich bewege, bestimmen, was ich von mir und der Welt draußen weiß: Das Wissen um unseren Körper beruht in hohem Maße auf unseren Handlungen.« Deane Juhan, 1997 Der Heilkünstler stellt seine Fähigkeiten und Techniken altruistisch für den kranken Menschen zur Verfügung. Er gibt sich ganz dem für die Heilung nötigen Ablauf hin. Im sozialkünstlerischen Prozess begegnen sich freie Individuen mit ihren Fähigkeiten, die auf ganz unterschiedlichen Gebieten liegen können, und entfalten in einem gemeinsamen Gestaltungsvorgang kreativ neue innere und äußere Kompetenzen im gemeinsamen Prozes. Was dabei sichtbar oder dokumentierbar entsteht, ist nicht im Vordergrund. Es kann sich um einen reinen »Übweg« handeln, den Menschen miteinander gehen, es können aber durchaus auch bühnenwirksame Gestaltungen dabei herauskommen. Das Ziel ist die Verwandlung der persönlichen und sozialen Wirklichkeit.
EURYTHMIE IST KUNST … Eurythmie ist auf der Bühne so lebendig wie die Künstler, die sie ausüben. Die starke Einbindung in die anthroposophische Gesellschaft, eine inhaltliche Überfrachtung mit Idealen und Ideen, die Kraft kostende Aufbauarbeit neuer Eurythmieausbildungen nach dem Zweiten Weltkrieg sowie ein Schutzbedürfnis, die Substanz der Eurythmie zu bewahren, hat die Entwicklung einer spielerischen, mutigen Eurythmieszene lange Jahre eher erschwert. Beobachtet man die zeitgenössische Tanz- und Bewegungslandschaft genauer, so ist die Suche nach individuellem und gleichzeitig menschlich-verbindendem Ausdruck, das Umgehen mit Energien, Kräften und Naturzusammenhängen, die innige und evolutive Verbindung zu Sprache und Geist mittlerweile ein normales Phänomen. Eurythmisten sind in guter Gesellschaft. Im kulturellen Zusammenhang haben sich Tänzer weitestgehend emanzipiert und zu sehr differenzierten, oft in keiner Weise vergleichbaren Ausdrucksformen gefunden. Ein Austausch mit der Tanzszene, die in sich vielgliedrig, disparat und mehrschichtig ist, kann auf verschiedenen Ebenen sinnvoll sein und als Einladung emp-
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funden werden, die Eurythmie überhaupt wirklich als Kunst zu betrachten. Das heißt nichts Fertiges zu finden, sondern als Eurythmist frei zu gestalten, im Spiel ohne Angst und ohne doppelten Boden, im Dialog mit dem Publikum fantasievoll künstlerisches Potenzial zu entfalten. Die neue Eurythmistengeneration scheint gerne darauf zuzugehen. Ein Einbinden, Vernetzen und Austauschen mit anderen Bewegungskünstlern wird zu mehr Transparenz, Kollegialität und gesunder Konkurrenz führen. Tanzwissenschaft, -geschichte, -ästhetik sind im allgemeinen Wissenschaftsbetrieb recht neu, und wir sollten Eurythmiewissenschaft, -geschichte und -ästhetik direkt als Teil davon begreifen. Ganz nebenbei kann so das vieldimensionale Menschenbild der Eurythmie ein Teil der Gesellschaft werden. Ihre Besonderheit, jede Bewegung unter qualitativen Aspekten zu empfinden und zu gestalten, ihre intensive Nähe zu den Wirkfaktoren von Sprache und Musik sowie ihre spirituelle Tiefgründigkeit vermögen grundlegenden Bedürfnissen der Moderne zu entsprechen.
DAS »LIEBLINGS-HASSFACH« IN DER WALDORFSCHULE? Meine eigene Schulbiografie spielte sich in einem mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasium in Bayern ab – was ich später als Dilemma von Eurythmielehrerinnen an Waldorfschulen erlebte, war damals an meiner alten Schule das Dilemma der Musik-, Kunst- und Religionslehrerinnen. Künstlerische und ethische Fächer wirken nur aus sich selbst, aus der fachlichen Faszination und aus der authentischen Person ihrer Schöpfer, der Kunstoder Musiklehrer, aus ihrer persönlichen und fachlichen
Aus der Zusammenarbeit von Rudolf Steiner mit den frühen Eurythmistinnen entstanden Eurythmieformen zu Sprüchen, Gedichten und Musik. Diese Formen beschreiben die Grundlage einer Raumgebärde. Im September 1922 zeichnete Rudolf Steiner eine Eurythmieform zum Regentropfen-Prélude von Frédéric Chopin (Prélude, Des-Dur, Op. 28, Nr. 15).
ZUR SOZIALEURYTHMIE Gespräch zwischen Ephraim Krause und Andrea Heidekorn: Beschreibst Du bitte Dein Bild von Sozialeurythmie? Es geht darum, Menschen Freiräume im eurythmischkünstlerischen Handeln zur Verfügung zu stellen, um sich selber zu gestalten, zu wachsen. Eurythmie entfaltet sich im Dazwischen – zwischen Menschen, Mensch und Natur, Mensch und Sprache und so weiter – da erlebe ich etwas wie einen frei verantwortlich zu gestaltenden plastischen dynamischen Wärmeprozess. Was ist Deine aktuellste Erfahrung mit Eurythmie in sozialen Arbeitsfeldern? Ich bin zum Beispiel momentan in der Studienbegleitung tätig. Grundlagen der Eurythmie mit Betriebswirtschaftsstudenten zu entwickeln, ist aufregend und immer wieder neu. Wie erweitern sich die Selbstwahrnehmung, das Prozessbewusstein und auch die Möglichkeiten sozialer Gestaltung durch eine Bewegungskunst wie die Eurythmie? Auf solche Fragen bekomme ich da in jeder Stunde neue Antworten! Firmen engagieren mich, um mit Mitarbeitern künstlerisch zu arbeiten. In Unternehmen oder in Projekten tätig zu sein, öffnet weite Räume für Hilfe und Unterstützung in Personalcoaching, Teamund Organisationsentwicklung, Bewusstseins- und Achtsamkeitstraining. Außerdem begleite ich gerade eine Masterstudentin bei ihren ersten Schritten, eurythmische Angebote an Offenen Ganztagsschulen durchzuführen. Die Eu-
rythmie wird dort ganz selbstverständlich Seite an Seite mit Tanz unterrichten, voll akzeptiert und eingebunden. Das begeistert mich. Dafür arbeite ich gerne mit unseren Studenten. Jetzt gerade arbeite ich mit Amateuren und Eurythmisten an einem Bühnenprojekt in Kooperation mit dem Rheinischen Landesmuseum Bonn – es heißt »Wieder geboren« und setzt Renaissance und Moderne durch die Themen Individualisierung und Verantwortung über Dichtung, Musik und Choreografie in Beziehung. Kannst du noch andere Arbeitsfelder für Sozialeurythmie nennen? Eurythmie mit Senioren ist zum Beispiel ein sehr ausbaufähiges Gebiet und tief sinnvoll. Ein Bereich, der in den nächsten Jahren immer dringlicher werden wird. In künstlerischer Bewegung lässt sich leicht an Erinnerungen, an innere Schätze anknüpfen, man bleibt wacher, verbundener mit dem eigenen Körper und dem Leben. Aber auch da, wo jemand »herausfällt« aus dem gängigen Biografiemuster – wegen Erschöpfung, in der Rehabilitation, oder krasser wegen Straftaten im Gefängnis und so weiter –, überall kommt es darauf an, neu die Mitte zu finden, die eigene Quelle für Kraft und innere Wertschöpfung und gemeinsame Auswege zu entwickeln und zu gestalten. Wie wird man Sozialeurythmist? Man muss Eurythmist sein, seine Mittel gut kennen und beweglich sein. Wir nennen das Studium in unserem Masterstudiengang in Anlehnung an Annemarie Ehrlich, eine große Pionierin der Sozialeurythmie, »Umbildung«.
Kompetenz. Nirgendwo entlädt sich das komplette Potenzial der Schüler, Lehrer als Menschen in ihrer Fähigkeit, Mensch zu sein und zu bleiben, auf die Probe zu stellen, stärker und hemmungsloser als in diesen Fächern. Alle anderen Fächer, wie Mathematik und Werken, spiegeln scheinbar viel direkter und benotbarer die eigenen fachlichen Fähigkeiten und Fortschritte der Schülerinnen wider und lassen oft ihre persönlichen Fähigkeiten ganz außen vor – Anpassung, gutes Funktionieren genügt häufig. Das ist weder in Kunst noch in Religion oder Ethik der Fall. In diesen Fächern stellt sich die Frage an die Persönlichkeit und Fachkompetenz der Lehrerin. Es stellt sich also auch eine Frage an ihre Ausbildung. Souveräne, freie, kreative und kraftvolle Eurythmieleh-
Wir helfen bei der Umbildung eurythmischer Fähigkeiten, um sie in persönlichen und sozialen Prozessen transparent und zielsicher nutzen zu können. Natürlich ist ein weiterer Schwerpunkt die Reflexion des eigenen und des kollegialen Tuns, der eigene Schulungsweg. Und dann die Hilfe zur Existenzgründung und Gestaltung der eigenen Berufsbiografie – was sind meine Stärken, wie mache ich sie sichtbar, bis in die Prospektgestaltung, wie finde ich Arbeitsstellen, wie baue ich sie aus? Das Masterstudium zur Sozialeurythmie ist deshalb berufsbegleitend – man arbeitet, entwickelt sein Arbeitsfeld und wird dabei kompetent begleitet. Wie findet man seine Arbeitsplätze im Sozialen? Sozialeurythmist zu sein ist etwas für Abenteurer und Unternehmerpersönlichkeiten. In der Regel schafft man sich sein eigenes Berufsfeld. Oft hat man es mit neuen Menschengruppen zu tun, mit Aufgaben, die man noch nicht zu lösen hatte. Es bleibt spannend, jeden Tag neu, und das Ergreifen einer Aufgabe hängt immer eng mit der eigenen Person zusammen. Trotzdem oder gerade um dieses »Einzelkämpfertum« in einen Zusammenhang zu stellen, bauen wir jetzt ein Netzwerk auf und haben einen gemeinsamen Flyer herausgegeben. Sozialeurythmie sehe ich auch als Teil der wachsenden Community Dance Bewegung. Ein spannender und sehr befriedigender Beruf!
rer bieten schon immer einen begeisternden Unterricht. Gerade die Eurythmie fügt dem Reigen der Bewegungsfächer ein starkes Angebot hinzu. Für die Pädagogik wird immer deutlicher: »… das Maß, in dem ich mich bewege, und die Art, in der ich mich bewege, bestimmen, was ich von mir und der Welt draußen weiß: Das Wissen um unseren Körper beruht in hohem Maße auf unseren Handlungen« (Deane Juhan, „Körperarbeit«, 1997, Seite 396). Bewegungserfahrungen in unterschiedlichsten Formen sind wichtig für eine differenzierte selbstbewusste menschliche Entwicklung. Gibt uns der Sport die Möglichkeit, Kraft, Ausdauer, akrobatische Feinheit und SiEURYTHMIE
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cherheit zu trainieren, so ermöglicht Tanz eine Verbindung von innerer und äußerer Ästhetik, Musikalität und Gemeinsamkeit. Man denke nur an so unterschiedliche Ausprägungen wie irischen Volkstanz, Standardtanz oder Breakdance – jede Form fordert und fördert einen anderen ästhetisch-rhythmischen Umgang mit meinem Instrument. Eurythmie fügt dem allem eine selbstverständliche Integration von Geist, Intention, Ausdruck und fühlender Achtsamkeit in das lebendig bewegte Körperinstrument hinzu und unterstützt die Sinnestätigkeit und eine aktive, übende Verbindung mit den Sprachkräften. Für eine harmonische kraftvolle Entwicklung menschlicher Individualität auf der Grundlage eines gesunden integrierten Körperbewusstseins und Bewegungspotenzials ist der Dreiklang Sport, Tanz, Eurythmie absolut wünschenswert. Öffentliche Schulen schaffen Bewegungs-, Tanz- und Eurythmieangebote neu, Waldorfschulen sollten sie nicht abschaffen, um Menschen vom Kindergarten an beweglich und achtsam aufwachsen zu lassen.
THERAPIE UND HEILKUNST Bewegungskünste gehen heute mannigfache Wege, und die therapeutische Wirkung von nicht nur motorischer, sondern außerdem noch achtsam geführter sinnvoller Bewegung ist längst Erfahrungswert. Untersuchungsreihen werden gestartet, um auch dem gängigen Wissenschaftsideal entsprechende Nachweise zu erbringen. Das europäische Gesundheitssystem und seine Gesetzgebung fordern Beweise, Eingliederung und Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Behandlungs- und Heilmethoden. Auf diesem Weg gilt es für die Heileurythmie, aus Gründen der internationalen Vergleichbarkeit heute oft Eurythmietherapie genannt, eine Berufsidentität offensiv zu fassen und vertreten. Hier ist besonders ein starker öffentlicher Bezug gefragt und die Erweiterung der Ausbildung auf Masterniveau zu begrüßen, die es staatlichen Organen leichter macht, mit therapeutischen Angeboten umzugehen, die nicht dem Mainstream entsprechen. In der Eurythmietherapie werden eurythmische Bewegungen bis in medizinische Wirksamkeit verstärkt. Indikationen werden mit dem verantwortlichen Arzt ausgearbeitet. Die Therapie selbst wird in Klinken, Therapeutika oder individuellen Praxen angeboten. Die Abrechnung über die Krankenkasse ist möglich. Nicht nur auf dem Feld organischer Erkrankungen, sondern auch im funktionalen und psychischen Bereich sind die Wirkungen der Heileurythmie deutlich spürbar. Gerade auch der intensive persönliche Kontakt zwischen Patient und begleitendem Heileurythmisten macht diese Art von Therapie zu etwas ganz Besonderem.
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EURYTHMIE IN SOZIALEN ARBEITSFELDERN Eurythmisten bewegen sich in den letzten Jahrzehnten mit vielfältigsten Angeboten bewusst in den soziokulturellen Raum hinein. Einerseits gibt Vitaleurythmie Bewegungen, die jeder eigenverantwortlich im Alltag üben kann, um sich frisch und lebendig zu erhalten. Dies ist ein wichtiges Thema salutogenetischer Prophylaxe und ein Grenzgebiet zur Heileurythmie. Eurythmie in sozialen Arbeitsfeldern wird andererseits überall dort eingesetzt, wo einseitige Bewegungsabläufe oder Gewohnheiten Ausgleich erfahren sollen, innovative Ideen und Kreativität gefragt sind. Eurythmisten, die hier tätig sind, stellen Menschen aller Lebensalter und in unterschiedlichsten Situationen die Möglichkeiten der Eurythmie als Schulungsmittel zur Entwicklung persönlicher, fachlicher, sozialer und methodischer Kompetenzen zur Verfügung.
DIE AUTORIN Andrea Heidekorn, geboren 1959, Eurythmie, Musik, Gesang, Chorleitung, FocussingBegleitung, Kulturpädagogik. Universitätsstudium in Bonn von Musikwissenschaft, Germanistik und Kunstgeschichte. Kantorenexamen in Bayern. Elementarer Tanz und Bewegungspädagogik im Orff-Schulwerk Deutschland. Seminare und künstlerische Interventionen in Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen. Interdisziplinäre Kunstprojekte im öffentlichen Raum. Professorin für Eurythmie an der Alanus Hochschule in Alfter.
LESE-TIPPS: Wennerschou, Lasse: »Was ist Heil-Eurythmie?«, 4. Auflage, Verlag am Goetheanum, Dornach 2004. Groot, Cara: »Marie Savitch«, Verlag am Goetheanum, Dornach 1989. Brater, Michael / Heidekorn, Andrea: »Eurythmie in sozialen Arbeitsfeldern: Arbeitsbereiche, Aufgaben und Qualifikationsbedarf der Sozialeurythmie – ein Forschungsbericht«, Verlag am Goetheanum, Dornach 2011.
WEITERE INFORMATIONEN: Berufsverband der Eurythmisten in Deutschland e.V.: www.eurythmie-info.de Berufsverband Heileurythmie e.V.: www.berufsverband-heileurythmie.de Informationen zur Sozialeurythmie: www.sozialeurythmie.net
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