DIGITALE RECHTE KÜNSTLICHE INTELLIGENZ
Wie dich deine Daten verraten Eine kleine Geschichte des Überwachungskapitalismus. Oder wie aus Daten ein Rohstoff der Vermarktung wurde und wie sich das wieder ändern lässt. Ein Essay von Uwe Oestermeier
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ie US-Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff bezeichnet mit dem Begriff »Überwachungskapitalismus« eine Spielart des Kapitalismus, der persönliche Daten zum Rohstoff der Vermarktung macht. Dazu gehören Daten über Produktvorlieben, Kaufverhalten, Bonität, Interessen, sexuelle Orientierung, politische Einstellungen, soziale Identität sowie intime Gesundheitsdaten, Suchanfragen und Kontakte. Wo die digitale Sphäre mit dem physikalischen Raum verschmilzt, kommen noch Orts-, Biometrie-, Kamera- und Sensordaten in Fahrzeugen, Smartphones, sogenannten Smart Cities und dem Internet der Dinge hinzu. Ein Geflecht von privatwirtschaftlichen Plattformen, Händler_innen und Werbefirmen nutzt diese Daten, um Milliarden Menschen einer fast totalen Überwachung und einem ständigen Wettbewerbs- und Bewertungsdruck zu unterwerfen. Die Geschichte dieser historisch beispiellosen Wirtschaftsform lässt sich grob in drei Phasen einteilen.
Entstehung (2000–2007) Als die Dotcom-Blase im März 2000 platzte, standen die Google-Gründer Larry Page und George Brin vor einem
18 AMNESTY JOURNAL | 01/2022
Dilemma. Sie hatten ihre Suchmaschine gratis angeboten und deren Wachstum mit Verlusten erkauft. Nun drängten nervös gewordene Wagniskapitalgeber auf ein tragfähiges Geschäftsmodell. 1998 hatten Page und Brin noch argumentiert, »dass werbefinanzierte Suchmaschinen von Natur aus auf die Werbetreibenden und nicht auf die Bedürfnisse der Verbraucher ausgerichtet sein werden«. Page und Brin gaben dem Druck nach. Am 23. Oktober 2000 erschien die erste Anzeige auf Google. 2002 führte Google ein Bezahlmodell ein, wonach die Werbetreibenden nur zahlen mussten, wenn die Werbung auch angeklickt wurde (pay per click). Dieses Bezahlmodell war ein wichtiger Wettbewerbsvorteil gegenüber der traditionellen Anzeigenwerbung und wurde beispielsweise von der Werbefirma DoubleClick schon länger genutzt. Page und Brin gingen einen entscheidenden Schritt weiter. Sie kombinierten dieses Bezahlmodell erstmals mit OnlineAuktionen, die auf mathematischen Verhaltensvorhersagen beruhten. Google versteigerte die Werbeplätze jedoch nicht einfach an die Meistbietenden. Stattdessen wurden die besten Werbeplätze den Firmen zugewiesen, deren Werbung den größten Gewinn erwarten ließ, weil Nutzer_innen darauf reagierten. Die unscheinbare Formel »Profit = Preis pro Klick mal Klickwahrscheinlichkeit« setzte eine unerbittliche Marktlogik in Gang: Je
besser Googles Prognosen wurden, desto höher wurden die Einnahmen. Persönliche Daten wurden zu einer Art Goldstaub, dessen Abbau erst im industriellen Maßstab wertvoll wird. Immer neue Rohstoffquellen wurden erschlossen, um festzustellen, was Menschen wann wie und wo machen. Werbefreie Dienste wie Google Mail (2004) und Google Maps (2005) lieferten umfassende Personenprofile. Eine Zeit lang konnte Google sein Erfolgsrezept geheim halten, aber spätestens als Sheryl Sandberg 2007 von Google zu Facebook wechselte, wanderte das Know-how auch zu dem 2004 von Mark Zuckerberg gegründeten Online-Netzwerk. Das Netzwerk erfasste neben dem individuellen Verhalten auch Verbindungen zwischen Menschen, wodurch neue Formen gezielter Werbung angeboten werden konnten, etwa über Telefonnummern oder Menschen mit ähnlichen Vorlieben. Die USA und ihre Verbündeten hatten nach 9/11 ebenfalls ein vitales Interesse an den Daten. Sie sicherten sich den Zugang über Gesetze, deren Reichweite und
Viele Menschen scrollen pro Tag mehr als 170 Meter auf ihren Handys.